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Nur ein Gebot gilt dir: Sei rein.
»Passio nuova oder Leidenschaft der Rechtlichkeit«, so sollte der Titel eines von Nietzsche früh geplanten Buches lauten. Er hat es nie geschrieben, aber – was mehr ist – er hat es gelebt. Denn leidenschaftliche Redlichkeit, eine fanatisch, eine passionierte, bis zur Qual emporgespannte Wahrhaftigkeit ist die schöpferische Urzelle von Nietzsches Wachstum und Verwandlung.
Redlichkeit, Rechtlichkeit, Reinlichkeit – man ist ein wenig überrascht, gerade bei dem »Amoralisten« Nietzsche keinen absonderlicheren Urtrieb zu entdecken als gerade, was auch Bürger stolz ihre Tugend nennen – Ehrlichkeit, Redlichkeit bis ans kühle Grab, eine rechte und echte Armeleute-Tugend des Geistes also, ein durchaus mittleres und konventionelles Gefühl. Aber bei Gefühlen ist die Intensität alles, der Inhalt nichts; und dämonischen Naturen ist es gegeben, auch den längst eingefriedeten und temperierten Begriff noch einmal empor in eine unendliche Anspannung zurückzureißen. Sie geben selbst den unbetontesten, den abgenutztesten Elementen das Feuerfarbene und Ekstatische des Überschwangs: was ein Dämonischer ergreift, wird immer wieder neu chaotisch und voll unbändiger Gewalt. Darum hat die Redlichkeit eines Nietzsche nicht das mindeste zu tun mit der ins Korrekte abgeflauten Rechtlichkeit der Ordnungsmenschen – seine Wahrheitsliebe ist ein Wahrheitsdämon, ein Klarheitsdämon, ein wildes, jagdhaftes, beutegieriges Raubtier mit den feinsten Instinkten der Witterung und den gewalttätigsten der Raublust. Eine Nietzsche-Rechtlichkeit hat nicht ein Zollbreit mehr gemein mit dem haustierhaften, gezähmten, durchaus temperierten Vorsichtsinstinkt der Händler und ebensowenig mit der vierschrötigen bullenhaften Michael-Kohlhaas-Redlichkeit mancher Denker, die, mit Scheuklappen, nur auf eine, nur auf ihre Wahrheit tollwütig losstürzen. So gewalttätig, so brutal oft Nietzsches Wahrheitsleidenschaft ausbrechen mag, so ist sie doch immer zu nervenhaft, zu kultiviert, um je borniert zu werden: niemals rennt sie sich fest, niemals hakt sie sich ein, sondern durchaus flammenhaft zuckt sie weiter von Problem zu Problem, jedes aufzehrend und durchleuchtend und doch von keinem gesättigt. Herrlich ist diese Zweiheit: nie setzt bei Nietzsche die Leidenschaft aus, niemals die Redlichkeit. Vielleicht hat noch nie ein so großes psychologisches Genie gleichzeitig so viel ethische Stetigkeit, so viel Charakter gehabt.
Darum ist Nietzsche zum Klardenker ohnegleichen prädestiniert: wer selber Psychologie als eine Leidenschaft versteht und betreibt, empfindet sein ganzes Wesen mit jener Wollust, die man einzig Vollendetem entgegenbringt. Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, diese – ich sagte es ja schon – bürgerliche Tugend, die man sonst als notwendiges Ferment des geistigen Lebens sachlich empfindet, genießt man bei ihm wie Musik. Klarheit wird hier zu Magie. Dieser halbblinde, mühsam vor sich hin tappende, dieser eulenhaft im Dunkel lebende Mensch hatte in psychologicis einen Falkenblick, jenen Blick, der in einer Sekunde raubvogelhaft aus dem unendlichen Himmel seines Denkens auf das feinste Merkmal, auf die verzitterndsten, verschwindendsten Nuancen mit unfehlbarer Sicherheit niederstößt. Vor diesem unerhörten Erkenner, vor diesem einzigen Psychologen hilft kein Verbergen und Verstecken: sein Röntgenblick dringt durch Kleider und Haut und Fleisch und Haar bis ins Innerste jedes Problems hinab. Und genauso, wie seine Nerven auf jeden Druck der Atmosphäre wie ein präziser Apparat reagieren, so zeichnet sein gleich durchnervter Intellekt mit gleich fehllosem Rückschlag jede Nuance im Moralischen auf. Nietzsches Psychologie kommt gar nicht aus seinem diamantharten und klaren Verstand, sie ist immanenter Teil jener übersensiblen Wertempfindlichkeit seines ganzen Körpers, er schmeckt, er wittert – »mein Genie ist in meinen Nüstern« – alles nicht ganz Reine, nicht ganz Frische in menschlichen und geistigen Angelegenheiten absolut funktionell: »Mir eignet eine vollkommen unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeitsinstinktes, so daß ich die Nähe oder das Innerlichste, die Eingeweide jeder Seele physiologisch wahrnehme – rieche.« Mit unfehlbarer Sicherheit wittert er heraus, wo etwas mit Moralin, Kirchenweihrauch, Kunstlüge, Vaterlandsphrase, mit irgendeinem Narkotikum des Gewissens durchsetzt ist; er hat einen überscharfen Geruchssinn für alles Faulige, Brackige und Ungesunde, für den Armeleutegeruch im Geistigen; Klarheit, Reinheit, Sauberkeit bedeuten darum für seinen Intellekt so sehr notwendige Existenzbedingung, wie für seinen Körper – ich schilderte es früher – reine Luft mit klaren Konturen: hier ist wirklich Psychologie, wie er es selber fordert, »Auslegung des Leibes«, Verlängerung einer Nervendisposition ins Zerebrale. Alle andern Psychologen scheinen neben dieser seiner divinatorischen Sensibilität irgendwie dumpf und plump. Selbst Stendhal, der mit ähnlich zarten Nerven instrumentiert war, kann sich ihm nicht vergleichen, weil ihm die leidenschaftliche Betonung, der vehemente Ausschlag fehlt: er notiert nur lässig Beobachtungen, indes Nietzsche mit der ganzen Wucht seines Wesens sich auf jede einzelne Erkenntnis stürzt, so wie der Raubvogel aus seiner unendlichen Höhe auf ein winziges Getier. Einzig Dostojewski hat noch ähnlich hellsichtige Nerven (gleichfalls aus einer Überspannung, aus einer krankhaften, schmerzhaften Sensibilität); aber Dostojewski steht wieder hinter Nietzsche an Wahrhaftigkeit zurück. Er kann ungerecht sein und übertreiberisch mitten in seinem Erkennen, indes Nietzsche auch in der Ekstase nicht einen Zoll seiner Rechtlichkeit preisgibt. Nie war darum ein Mensch vielleicht so sehr naturbestimmter, geborener Psychologe, nie ein Geist so sehr zum feinempfindlichen Druckmesser für die Meteorologie der Seele zugeschliffen; nie hatte die Erforschung der Werte ein so präzises, ein so sublimes Instrument.
Aber für vollendete Psychologie genügt es nicht, das feinste, schneidendste Skalpell, das erlesenste Instrument des Geistes zu besitzen – auch die Hand des Psychologen muß stählern sein, geschmeidiges und hartes Metall, sie darf nicht zittern und zurückzucken bei ihren Operationen. Denn Psychologie ist mit Begabung noch nicht erschöpft, sie ist vor allem auch Sache des Charakters, jenes Mutes, »alles zu denken, was man weiß«, sie ist im idealen Fall wie bei Nietzsche Erkenntnis fähigkeit, gepaart mit einer ganz urhaften männlichen Kraft des Erkenntnis willens. Der wirkliche Psychologe muß dort, wo er sehen kann, auch sehen wollen, er darf nicht aus einer sentimentalen Nachsicht, einer privaten Ängstlichkeit und Scheu vorbeisehen und vorbeidenken oder sich von Rücksichten und Sentimenten einschläfern lassen. Bei ihnen, den gerechten Wägern und Wächtern, »deren Aufgabe das Wachsein ist«, darf es keine Konzilianz geben, keine Gutmütigkeit, keine Ängstlichkeit, kein Mitleid, keine der Schwächen (oder Tugenden) des bürgerlichen, des mittleren Menschen. Ihnen, den Kriegern, den Eroberern des Geistes, ist es nicht erlaubt, auf ihren verwegenen Patrouillengängen irgendeine Wahrheit, die sie ertappen, gutmütig entwischen zu lassen. In Dingen der Erkenntnis ist »Blindheit nicht Irrtum, sondern Feigheit«, Gutmütigkeit ein Verbrechen, denn wer Rücksicht hat auf Scham und Wehetun, Furcht vor dem Geschrei der Entblößten, vor der Häßlichkeit der Nacktheit, der entdeckt niemals letztes Geheimnis. Jede Wahrheit, die nicht bis zum Äußeren geht, jede Wahrhaftigkeit ohne Radikalismus hat keinen ethischen Wert. Deshalb auch Nietzsches Härte gegen alle, die aus Trägheit oder Denkfeigheit die heilige Pflicht zur Entschlossenheit versäumen, deshalb sein Zorn gegen Kant, daß er den Gottbegriff durch eine heimliche Tür in sein System wieder einschleichen ließ, darum sein Haß gegen alles Blinzeln und Augenzudrücken in der Philosophie, gegen den »Teufel oder Dämon der Unklarheit«, der die letzte Erkenntnis feige verschleiert oder verwischt. Es gibt keine abgeschmeichelten Wahrheiten großen Stils, keine zutraulich und lockend herausgeplauderten Geheimnisse: nur mit Gewalt, Kraft und Unerbittlichkeit läßt sich die Natur ihr Kostbarstes abringen, nur mit Brutalität werden in der Moral des »großen Stils« die »Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen« gestellt. Alles Verborgene fordert harte Hände, unerbittliche Intransigenz: ohne Redlichkeit gibt es kein Erkennen, ohne Entschlossenheit keine Redlichkeit, keine »Gewissenhaftigkeit des Geistes.« »Wo meine Redlichkeit aufhört, bin ich blind; wo ich wissen will, will ich auch redlich sein, nämlich hart, strenge, enge, grausam und unerbittlich.«
Diesen Radikalismus, diese Härte und Unerbittlichkeit hat der Psychologe in Nietzsche nicht geschenkt bekommen vom Schicksal wie seinen falkenhaften Blick: ihn hat er erkauft um den Preis seines ganzen Lebens, seiner Ruhe, seines Schlafes, seiner Bequemlichkeit. Von Anfang an eine weiche, gütige, umgängliche, eher heitere und durchaus wohlgesinnte Natur, muß sich Nietzsche erst durch eine spartanische Gewaltsamkeit des Willens unzugänglich und unerbittlich gegen das eigene Gefühl machen: sein halbes Leben hat er gleichsam im Feuer verbracht. Man muß tief in ihn hineinsehen, um die ganze Schmerzhaftigkeit dieses sittlichen Prozesses nachfühlend zu erleben. Denn mit dieser »Schwäche«, mit seiner Milde und Güte brennt Nietzsche auch alles Menschliche aus, das ihn mit den Menschen verbindet; er verdirbt sich seine Freundschaften, seine Beziehungen, seine Bindungen, und sein letztes Stück Leben wird allmählich so heiß, so weißglühend in der eigenen Flamme, daß jeder sich die Hand verbrennt, der an ihn rühren will. So wie man mit Höllenstein eine Wunde ätzt, um sie rein zu erhalten, so beizt Nietzsche sein Gefühl gewaltsam aus, um es rein, um es redlich zu bewahren; er behandelt sich selbst schonungslos mit dem rotglühenden Eisen seines Willens zur äußersten Wahrhaftigkeit: auch seine Einsamkeit ist darum eine erzwungene. Aber als echter Fanatiker gibt er alles preis, was er liebt, selbst Richard Wagner, dessen Freundschaft ihm heiligste Begegnung gewesen; er macht sich arm, er macht sich menscheneinsam und verhaßt, einsiedlerisch und unglücklich, nur um wahr zu bleiben, nur um das Apostolat der Redlichkeit vollkommen zu erfüllen. Wie bei allen Dämonischen wird die Leidenschaft – bei ihm jene der Redlichkeit – allmählich monomanisch und zehrt in ihrer Flamme den ganzen Besitz seines Lebens auf; wie alle Dämonischen kennt er schließlich nichts mehr als diese eine Leidenschaft. Man lasse darum doch endlich die schullehrerhafte Frage: Was wollte Nietzsche, was meinte Nietzsche, welchem System, welcher Weltanschauung strebt er zu? Nietzsche wollte nichts: in ihm genießt eine übermächtige Leidenschaft zur Wahrheit sich selbst. Sie weiß von keinem »Um zu« – Nietzsche denkt nicht, um die Welt zu verbessern oder zu belehren, noch um sie oder sich zu beruhigen: sein ekstatischer Denkrausch ist Selbstzweck, Selbstgenuß, eine ganz private, eine vollkommen selbstsüchtige und elementare Wollust wie jede dämonische Leidenschaft. Niemals geht es bei diesem ungeheuren Kraftaufwand um eine »Lehre« – er ist längst hinaus über »die edle Kinderei und Anfängerei des Dogmatisierens« – und noch weniger um eine Religion. (»In mir ist nichts von einem Religionsstifter. Religionen sind Pöbelaffären.«) Nietzsche treibt Philosophie wie eine Kunst, und als echter Künstler sucht er darum nicht Resultate, kalte Endgültigkeiten, sondern nur einen Stil, den »großen Stil in der Moral«, und ganz als Künstler erlebt und genießt er alle Schauer der plötzlichen Inspirationen. Vielleicht, ja, wahrscheinlich bleibt es darum ein Wortirrtum, Nietzsche einen Philosophen, also einen Freund der Sophia, der Weisheit, zu nennen. Denn der Leidenschaftliche ist immer unweise, und nichts war Nietzsche fremder, als zum gewohnten Philosophenziel zu kommen, zu einer Schwebe des Gefühls, zu einer Rast und Entspannung, zu einer Tranquillitas, einer gesättigten »braunen« Weisheit – zu dem starren Standpunkt einer einmaligen Überzeugung. Er »braucht und verbraucht« Überzeugungen, wirft wieder weg, was er gewinnt, und wäre darum besser ein Philaleth genannt, ein leidenschaftlich Passionierter der Aletheia, der Wahrheit, jener jungfräulichen grausamen Versuchergöttin, die immer wie Artemis ihre Liebhaber in ewige Jagd treibt, um ihnen doch hinter allen ihren zerrissenen Schleiern immer unerreichbar zu bleiben. Wahrheit, wie Nietzsche sie versteht, ist eben keine starre, keine kristallene Form der Wahrheit, sondern der feurig glühende Wille zum Wahrsein und Wahrbleiben, eine Lebenserfüllung im Sinne der höchsten Fülle: Nietzsche will nie und niemals glücklich, immer aber wahrhaftig sein. Er sucht nicht (wie neun Zehntel aller Philosophen) die Rast, sondern als Knecht und Höriger des Dämons den Superlativ aller Erregung und Bewegung. Jeder Kampf aber um das Unerreichbare steigert sich zum Heldischen und alles Heroische wiederum notwendig empor in seine heiligste Konsequenz, in den Untergang.
Denn ganz unausweichlich muß eine solche fanatische Überspannung des Redlichkeitsverlangens, eine so unerbittliche und gefährliche Forderung wie jene Nietzsches, mit der Welt in einen mörderischen, selbstmörderischen Konflikt geraten. Alles Leben ist im letzten auf Konzilianz, auf Nachgiebigkeit angelegt (was Goethe, der in seinem Wesen das Wesen der Natur so weise wiederholte, frühzeitig erkannte und nachbildete). Es bedarf, um sich im Gleichgewicht zu erhalten, ebenso wie die Menschen der Mittelzustände, der Nachgiebigkeiten, der Kompromisse und Paktierungen. Und wer die durchaus unnaturhafte, die absolut anthropomorphe Forderung stellt, in dieser Welt nicht mitoberflächlich, nicht mitkonziliant, nicht mitnachgiebig zu sein, wer sich gewaltsam loslösen will aus dem durch Jahrtausende gewobenen Netz von Bindungen und konventionellen Vereinbarungen, tritt ungewollt in tödliche Gegnerschaft zur Gesellschaft und zur Natur. Je unerbittlicher ein einzelner die Forderung stellt, es »ganz rein haben zu wollen«, um so feindseliger stellt sich die Zeit gegen ihn ein. Ob er nun wie Hölderlin darauf besteht, das vorwiegend prosaische Leben einzig dichterisch zu führen, oder wie Nietzsche, die unendliche Verwirrung der irdischen Zusammenhänge »klar zu denken« – in jedem Fall bedeutet solches unweise, aber heroische Verlangen eine Empörung gegen Sitte und Regel und treibt den Verwegenen in unüberbrückbare Isoliertheit, in einen herrlichen, aber aussichtslosen Krieg. Was Nietzsche die »tragische Gesinnung« nennt, die Entschlossenheit zum Äußersten in irgendeinem Gefühl, greift über vom Geist in das Schicksal und erzeugt die Tragödie. Jeder, der vom Leben ein einzelnes Gesetz erzwingen will, der in diesem Chaos der Leidenschaften eine einzige, seine Leidenschaft durchsetzen will, wird einsam und als Einsamer vernichtet – ein törichter Schwärmer, wenn er unbewußt handelt, ein Held, wenn er die Gefahr kennt und sie dennoch herausfordert. Nietzsche, so leidenschaftlich er in seiner Redlichkeit ist, gehört zu den Wissenden. Er kennt die Gefahr, in die er sich begibt, er weiß vom ersten Augenblick, von der ersten geschriebenen Schrift an, daß sein Denken um ein gefährliches, ein tragisches Zentrum kreist, daß er ein gefährliches Leben lebt, aber – als der wahrhaft tragische Held des Geistes – liebt er das Leben nur um dieser Gefahr willen, die ihm das seine vernichtet. »Baut eure Häuser an den Vesuv«, ruft er den Philosophen zu, um sie zu höherer Schicksalsbewußtheit zu spornen, denn »der Grad der Gefährlichkeit, mit der ein Mensch mit sich selber lebt«, ist für ihn das einzige gültige Maß aller Größe. Nur wer das Ganze im erhabenen Spiel um das Ganze einsetzt, kann die Unendlichkeit gewinnen, nur wer sein eigenes Leben riskiert, seiner engen Erdenform den Wert einer Unendlichkeit geben. »Fiat veritas, pereat vita«, möge es uns das Leben kosten, wenn nur die Wahrhaftigkeit verwirklicht wird: die Leidenschaft ist mehr als das Dasein, der Sinn des Lebens mehr als das Leben selbst. Mit ungeheurer Macht reißt der Ekstatiker allmählich diesen Gedanken ins Große und weit über sein eigenes Schicksal hinaus: »Wir alle wollen lieber den Untergang der Menschheit als den Untergang der Erkenntnis. « Je gefahrvoller sein Schicksal wird, je näher schon in dem immer höheren Himmel des Geistes er den Blitz über sich hängen fühlt, um so herausfordernder, um so schicksalslustiger wird sein Verlangen nach diesem letzten Konflikt. »Ich kenne mein Los«, sagt er knapp vor dem Untergang, »es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, und geheiligt war« – aber Nietzsche liebt diesen letzten Abgrund alles Wissens, und sein ganzes Wesen drängt dieser tödlichen Entscheidung entgegen. »Wieviel Wahrheit kann der Mensch ertragen?« das war die Frage des tapferen Denkers ein ganzes Leben hindurch – aber um dieses Maß der Erkenntnisfähigkeit ganz zu ergründen, muß er die Zone der Sicherheit überschreiten und die Stufe erreichen, wo der Mensch sie nicht mehr erträgt, wo die letzte Erkenntnis tödlich wird, wo das Licht zu nahe kommt und das Schauen blendet. Und gerade diese letzten Schritte empor sind die unvergeßlichsten und mächtigsten in der Tragödie seines Schicksals: nie war sein Geist heller, seine Seele leidenschaftlicher, sein Wort mehr Jubel und Musik, als da er sich wissend und wollend von der Höhe seines Lebens in die Tiefe der Vernichtung stürzt.