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Mit seinem Falkenblick hat Napoleon den entscheidenden Denkfehler Marie Antoinettes im Halsbandprozeß festgestellt. »Die Königin war unschuldig, und um ihre Unschuld öffentlich bekannt zu geben, wollte sie, das Parlament sollte Richter sein. Das Ergebnis war, daß man die Königin für schuldig hielt.« In der Tat: bei dieser Gelegenheit hat zum erstenmal Marie Antoinette ihre Selbstsicherheit verloren. Während sie sonst, ohne den Blick zu wenden, verächtlich an dem übelriechenden Schlamm von Schwätzereien und Verleumdungen vorbeischritt, sucht sie diesmal Zuflucht bei einer Instanz, die sie bisher mißachtet hatte: beider öffentlichen Meinung. Jahrelang hatte sie so getan, als hörte und merkte sie nichts von dem Surren der vergifteten Pfeile. Indem sie jetzt in plötzlichem, fast hysterischem Zornausbruch Gericht fordert, verrät sie, wie lange und wie heftig ihr Stolz schon gereizt war: nun soll dieser Kardinal Rohan, der sich am weitesten vorgewagt hat, als der Sichtbarste für alle büßen. Aber verhängnisvollerweise ist sie die einzige, die noch an eine feindselige Absicht des armen Narren glaubt. Sogar in Wien schüttelt Joseph II. zweifelnd den Kopf, als seine Schwester ihm Rohan als Erzverbrecher schildert: »Ich habe den Großalmosenier als den denkbar leichtfertigsten und verschwenderischsten Menschen erkannt, aber ich gestehe, daß ich ihn niemals einer Gaunerei oder einer derart schwarzen Niedertracht für fähig gehalten hätte wie jener, deren man ihn jetzt beschuldigt.« Noch weniger glaubt Versailles an Rohans Schuld, und bald entsteht ein merkwürdiges Munkeln, mit dieser brutalen Verhaftung wolle die Königin bloß einen unbequemen Mitwisser abschütteln. Der von ihrer Mutter eingeimpfte Haß hat Marie Antoinette zu unbedacht losfahren lassen. Und bei der ungeschickt heftigen Bewegung fällt ihr der schützende Herrschermantel von der Schulter; sie entblößt sich selber dem allgemeinen Haß.
Denn jetzt endlich können sich alle heimlichen Gegner um eine gemeinsame Sache sammeln. Marie Antoinette hat vorwitzig in ein ganzes Schlangennest gekränkter Eitelkeiten gegriffen. Louis Kardinal von Rohan ist – wie konnte sie es vergessen! – Träger einer der ältesten und ruhmvollsten Namen Frankreichs und mit andern Feudalgeschlechtern, vor allem den Soubises, den Marsans, den Condés durch gemeinsames Blut verbunden; alle diese Familien fühlen sich selbstverständlich tödlich beleidigt, daß einer der Ihren wie ein gemeiner Taschendieb im Palast des Königs verhaftet wurde. Entrüstet ist ferner die hohe Geistlichkeit. Einen Kardinal, eine Eminenz, wenige Minuten, bevor er die Messe vor dem Antlitz des Herrn lesen soll, im großen Ornat der Kirche durch einen groben Haudegen festnehmen zu lassen! Bis nach Rom wird Beschwerde geführt: sowohl der Adel als die Geistlichkeit empfinden sich in ihrem ganzen Stande beschimpft. Kampfentschlossen tritt ferner die mächtige Gruppe der Freimaurerei in die Arena, denn nicht nur ihren Gönner, den Kardinal, sondern auch den Gott der Gottlosen, ihr Oberhaupt, den Meister vom Stuhl, Cagliostro, haben die Gendarmen in die Bastille geholt; jetzt winkt endlich Gelegenheit, der Allherrlichkeit von Thron und Altar ein paar kräftige Steine in die Fenster zu werfen. Begeistert dagegen von der ganzen Affäre ist das von allen Festen und pikanten Skandalen der höfischen Welt sonst ausgeschlossene Volk. Endlich einmal wird ihm ein großes Schauspiel beschert: ein leibhaftiger Kardinal als öffentlich Angeklagter und im purpurnen Schatten der Bischofstoga, eine wahre Mustersammlung von Gaunern, Schwindlern, Zutreibern, Fälschern und überdies im Hintergrunde – ein Hauptspaß! – die stolze, die hochmütige Österreicherin! Ein amüsanteres Sujet konnte allen Glücksrittern der Feder und des Stifts, den Pamphletschreibern, den Karikaturenzeichnern, den Zeitungsausrufern nicht geschenkt werden als der Skandal der »schönen Eminenz«. Selbst der Aufstieg Montgolfiers, der einer ganzen Menschheit eine neue Sphäre erobert, hat in Paris, nein, in der ganzen Welt, kein solches Aufsehen erregt wie dieser Prozeß einer Königin, der langsam zum Prozeß gegen die Königin wird. Da schon vor der Verhandlung die Verteidigungsreden nach dem Gesetz zensurfrei in Druck erscheinen dürfen, werden die Buchläden gestürmt, die Polizei muß einschreiten. Nicht Voltaires, nicht Jean Jacques Rousseaus, nicht Beaumarchais' unsterbliche Werke erleben in Jahrzehnten solche Riesenauflagen wie diese Plaidoyers in einer einzigen Woche. Siebentausend, zehntausend, zwanzigtausend Exemplare werden den Kolporteuren noch druckfeucht aus den Händen gerissen, in den ausländischen Botschaften haben die Gesandten den ganzen Tag Pakete zu schnüren, um ohne Zeitverlust die neuesten Spottschriften über den Versailler Hofskandal ihren kameradschaftlich neugierigen Fürsten zu schicken. Alles will Alles lesen und gelesen haben, wochenlang gibt es kein anderes Gespräch, die tollsten Vermutungen werden blindlings geglaubt. Zum Prozeß selbst kommen ganze Karawanen aus der Provinz, Edelleute, Bürger, Advokaten; in Paris lassen die Handwerker ihre Verkaufsläden stundenlang im Stich. Unbewußt spürt der untrügliche Instinkt des Volkes: hier wird nicht nur Gericht gehalten werden über eine einzelne Verfehlung, sondern aus diesem kleinen schmutzigen Knäuel rollen sich selbsttätig alle die Fäden auf, die nach Versailles führen, der Unfug der Lettres de cachet, dieser eigenwilligen Haftbefehle, die Verschwendung des Hofes, die Mißwirtschaft in den Finanzen, alles kann jetzt aufs Korn genommen werden, zum erstenmal kann die ganze Nation durch eine zufällig aufgerissene Latte in die Geheimwelt der Unnahbaren blicken. Es geht um mehr in diesem Prozeß als um ein Halsband, es geht um das bestehende Regierungssystem, denn diese Anklage kann, wenn geschickt gewendet, zurückprellen gegen die ganze herrschende Klasse, gegen die Königin und damit gegen das Königtum. »Welch ein großes und vielverheißendes Ereignis!« ruft einer der heimlichen Frondeure im Parlament aus. »Ein Kardinal als Gauner entlarvt! Die Königin in einen Skandalprozeß verwickelt! Welcher Schmutz an dem Bischofstab und dem Zepter! Welch ein Triumph für die Idee der Freiheit!«
Noch ahnt die Königin nicht, welches Unheil sie mit einer einzigen übereilten Geste entfesselt hat. Aber wo ein Gebäude morsch und längst unterhöhlt ist, genügt es, einen einzigen Nagel aus der Wand zu ziehen, und das ganze Haus bricht zusammen.
Vor Gericht wird die geheimnisvolle Büchse der Pandora sachte aufgetan. Ihr Inhalt verbreitet einen nicht eben rosigen Geruch. Als vorteilhaft für die Diebin erweist sich einzig der Umstand, daß der edle Gatte La Motte rechtzeitig mit den Resten des Halsbands Reißaus nach London nehmen konnte; damit fehlt das optische Beweisstück, und einer kann den Diebstahl und Besitz des unsichtbaren Objekts auf den andern abschieben und dabei unterirdisch immer die Möglichkeit durchscheinen lassen, vielleicht befinde sich sogar jetzt noch das Halsband in den Händen der Königin. Die La Motte, welche ahnt, daß die vornehmen Herren die Sache auf ihrem Rücken austragen werden, hat, um Rohan lächerlich zu machen und den Verdacht von sich abzulenken, den ganz unschuldigen Cagliostro des Diebstahls beschuldigt und in den Prozeß gewaltsam hineingezerrt. Vor keinem Mittel scheut sie zurück. Ihren plötzlichen Reichtum erklärt sie frech und schamlos damit, daß sie die Geliebte Seiner Eminenz gewesen sei – und jeder kenne doch die Freigebigkeit dieses zärtlichen Priesters! – Schon wird die Angelegenheit zumindest peinlich für den Kardinal, da gelingt es endlich, Hand auf die Helfershelfer Rétaux und die »Baronin d'Oliva«, die kleine Modistin, zu legen, und durch ihre Aussagen wird alles klar.
Über einen Namen aber wird in Angriff oder Verteidigung immer ängstlich hinweggehuscht: über den der Königin. Sorgfältig hütet sich jeder Angeklagte, Marie Antoinette auch nur im geringsten zu belasten, selbst die La Motte – sie wird später anders sprechen – weist den Gedanken, die Königin habe das Halsband erhalten, als verbrecherische Lästerung zurück. Gerade aber dieser Umstand, daß sie alle wie auf Vereinbarung mit so tiefen Verbeugungen und so verehrungsvoll von der Königin reden, wirkt auf die mißtrauische Öffentlichkeit im Gegensinn; immer mehr verbreitet sich das Gerücht, es sei Parole ausgegeben, die Königin zu »schonen«. Bereits munkelt man, der Kardinal habe großmütig die Schuld auf sich genommen; und die Briefe, die er so hastig und diskret habe verbrennen lassen, – ob die wirklich alle Fälschungen gewesen seien? Ob nicht doch etwas – man weiß zwar nicht was – aber doch etwas, etwas, etwas brenzlich in dieser Angelegenheit für die Königin sei? Es hilft nichts, daß sich die Tatsachen völlig klären, semper aliquid haeret; gerade weil vor Gericht ihr Name nicht genannt wird, steht Marie Antoinette unsichtbar mit vor Gericht.
Am 31. Mai soll endlich das Urteil gefällt werden. Seit fünf Uhr morgens staut sich die Menge unübersehbar vor dem Justizpalast, das linke Ufer allein vermag sie nicht zu fassen, auch der Pont-Neuf und das rechte Seineufer starren von ungeduldigen Menschen; mit Mühe hält berittene Polizei die Ordnung aufrecht. Schon unterwegs fühlen die vierundsechzig Richter an den aufgeregten Blicken, an den leidenschaftlichen Zurufen der Zuschauer die Wichtigkeit ihres Spruches für ganz Frankreich; aber die entscheidende Mahnung erwartet sie im Vorzimmer des großen Beratungssaales, der »grande chambre«. Dort stehen in Trauerkleidung neunzehn Vertreter der Familien Rohan, Soubise und Lothringen bei ihrem Kommen Spalier und verneigen sich vor den vorbeischreitenden Richtern. Keiner sagt ein Wort, keiner tritt vor. Ihr Gewand, ihre Haltung sprechen alles aus. Und diese stumme Beschwörung, das Gericht möge mit seinem Spruch der Familie Rohan die bedrohte Ehre wiedergeben, wirkt gewaltig auf die Ratsherren, die selbst zum Großteil dem Hochadel Frankreichs angehören; ehe sie die Beratung beginnen, wissen sie schon: Volk und Adel, das ganze Land wartet auf einen Freispruch des Kardinals.
Aber doch, sechzehn Stunden lang dauert die Beratung, siebzehn Stunden müssen die Rohans und die Zehntausende auf der Straße warten, von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends. Denn die Richter stehen vor einer weittragenden Entscheidung. Über die Betrügerin ist der Spruch von vornherein gefällt, ebenso über ihre Helfershelfer, und die kleine Modistin, die lassen sie gerne laufen, weil sie so hübsch und ahnungslos in das Venusboskett hineingetölpelt ist. Die wirkliche Entscheidung geht ausschließlich um den Kardinal. Ihn freizusprechen, weil er erwiesenermaßen selbst betrogen wurde und kein Betrüger ist, sind alle einig; Meinungsverschiedenheit herrscht bloß über die Form dieses Freispruchs, denn daran hängt eine große politische Sache. Die Hofpartei verlangt – und nicht mit Unrecht –, dieser Freispruch müsse verbunden sein mit einer Rüge für »sträfliche Vermessenheit«, denn nichts anderes sei es seitens des Kardinals gewesen, zu glauben, eine Königin von Frankreich werde sich heimlich mit ihm ein Stelldichein in einem dunklen Boskett geben. Für diesen Mangel an Ehrerbietung vor der geheiligten Person der Königin fordert der Vertreter der Anklage seine demütige und öffentliche Entschuldigung vor der grande chambre sowie Niederlegung seiner Ämter. Die Gegenpartei, die Antiköniginpartei, dagegen wünscht Einstellung des Verfahrens. Der Kardinal sei betrogen worden, also ohne Makel und Schuld. Ein solcher völliger Freispruch trägt einen Giftpfeil im Köcher. Denn wenn man dem Kardinal zubilligt, er habe aus dem allbekannten Verhalten der Königin solche Heimlichkeiten und Selbständigkeiten für denkbar halten können, so ist damit der Leichtsinn der Königin öffentlich angeprangert. Ein schweres Gewicht liegt in der Waagschale: betrachtet man das Verhalten Rohans zumindest als Respektlosigkeit gegen die Monarchin, so ist Marie Antoinette für den erlittenen Mißbrauch ihres Namens entschädigt; spricht man ihn völlig frei, so verurteilt man gleichzeitig moralisch die Königin.
Das wissen die Richter des Parlaments, das wissen beide Parteien, das weiß das gierig ungeduldige Volk: diese Entscheidung entscheidet über mehr als über einen einzelnen unbeträchtlichen Fall. Hier kommt keine private Angelegenheit zum Austrag, sondern die zeitpolitische, ob das Parlament Frankreichs die Person der Königin noch als »geheiligt«, als unantastbar betrachte oder als eine den Gesetzen ganz genau so wie jeder andere französische Bürger unterstellte; zum erstenmal wirft die kommende Revolution einen morgenrötlichen Lichtschein in die Fenster jenes Gebäudes, das auch die Conciergerie enthält, jenes schaurige Gefängnis, aus dem Marie Antoinette zum Schafott geführt werden wird. Im gleichen Hause hebt an, was im gleichen endet. Im selben Saal wie die La Motte wird später die Königin sich zu verantworten haben.
Sechzehn Stunden beraten die Richter, erbittert streiten die Meinungen und nicht minder die Interessen. Denn beide Parteien, die königliche und die antikönigliche, haben alle Minen springen lassen, nicht zuletzt die goldenen; seit Wochen sind alle Parlamentsmitglieder beeinflußt, bedroht, bearbeitet, bestochen und gekauft, und schon singt man in den Straßen:
Si cet arrêt du cardinal
Vous paraissait trop illégal
Sachez que la finance
Eh bien
Dirige tout en France,
Vous m'entendez bien!
Schließlich rächt sich die langjährige Gleichgültigkeit des Königs und der Königin gegen das Parlament; zu viele sind unter den Richtern, die meinen, es sei Zeit, der Autokratie einmal eine gründliche und unüberhörbare Lektion zu erteilen. Mit sechsundzwanzig Stimmen gegen zweiundzwanzig – die Partie geht knapp aus – wird der Kardinal »ohne jeden Tadel« freigesprochen, ebenso sein Freund Cagliostro und die kleine Palais-Royal-Modistin. Auch gegen die Helfershelfer zeigt man Milde, sie kommen mit bloßer Landesverweisung davon. Die Zeche zahlt die La Motte, mit Stimmeneinheit verurteilt, vom Henker mit Ruten gezüchtigt, mit einem »V« (»voleuse«) gebrandmarkt zu werden, um dann auf Lebenszeit in der Salpêtrière zu verschwinden.
Aber auch eine, die nicht auf der Anklagebank saß, wird mit dem Freispruch des Kardinals verurteilt, und zwar gleichfalls auf Lebenszeit: Marie Antoinette. Von dieser Stunde an ist sie der Verleumdung und dem hemmungslosen Haß ihrer Gegner schutzlos preisgegeben.
Ein Erster stürmt mit dem Urteil aus dem Gerichtssaal, Hunderte folgen und rufen ekstatisch den Freispruch auf die Gasse. So stark schwillt der Jubel an, daß sein Brausen zum andern Ufer hinüberdringt. »Es lebe das Parlament« – ein neuer Ruf statt des gewohnten: »Es lebe der König« – durchdonnert die Stadt. Die Richter haben Mühe, sich gegen die dankbare Begeisterung zu wehren. Man umarmt sie, die Frauen der Halle küssen sie, Blumen werden auf ihren Weg gestreut; großartig beginnt der Siegeszug der Freigesprochenen. Zehntausend Menschen folgen wie einem triumphierenden Feldherrn dem nun wieder in Purpur gekleideten Kardinal in die Bastille, wo er diese Nacht noch verbringen soll; bis zum Morgengrauen warten und jubeln dort immer erneute Scharen. Nicht minder wird Cagliostro vergöttert, und nur polizeilicher Befehl kann verhindern, daß die Stadt zu seinen Ehren illuminiert. So feiert – bedenkliches Zeichen – ein ganzes Volk zwei Männer, die nichts anderes für Frankreich getan und geleistet haben, als das Ansehen der Königin und des Königtums auf tödliche Weise zu schädigen.
Vergebens bemüht sich die Königin, ihre Verzweiflung zu verbergen; dieser Peitschenhieb mitten ins Gesicht ist zu scharf, zu öffentlich niedergesaust. Ihre Kammerfrau findet sie in Tränen aufgelöst, Mercy meldet nach Wien, ihr Schmerz sei »größer, als der Anlaß vernünftigerweise zu begründen scheint«. Immer stärker im Instinkt als im bewußten Nachdenken hat Marie Antoinette sofort das Nicht-wieder-Gutzumachende dieser Niederlage erkannt; zum erstenmal, seit sie die Krone trägt, ist ihr eine Macht stärker als ihr Wille entgegengetreten.
Aber noch hält der König die letzte Entscheidung in Händen. Noch könnte er durch eine energische Maßnahme die beleidigte Ehre seiner Frau retten und den dumpfen Widerstand rechtzeitig einschüchtern. Ein starker König, eine entschlossene Königin müßten ein dermaßen meuterisches Parlament nach Hause jagen; so hätte Ludwig XIV. gehandelt und vielleicht noch Ludwig XV. Aber Ludwig XVI. hat nur matten Mut. Er wagt sich nicht an das Parlament, sondern schickt nur, um seiner Gattin eine Art Genugtuung zu geben, den Kardinal in die Verbannung und Cagliostro außer Landes – eine halbe Maßregel, die das Parlament verärgert, ohne es wirklich zu treffen, und die Justiz beleidigt, ohne die Ehre seiner Frau wiederherzustellen. Unentschlossen wie immer tut er das Mittlere, das sich in der Politik jederzeit als das Fehlerhafteste erweist. Damit ist die schiefe Bahn betreten, und bald erfüllt sich in dem verbündeten Geschick der beiden Gatten der alte Habsburgerfluch, den Grillparzer so unvergeßlich in den Versen gestaltet:
Das ist der Fluch von unserem edlen Haus,
Auf halben Wegen und zu halber Tat
Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben.
Eine große Entscheidung ist für den König unwiederbringlich versäumt. Eine neue Epoche hat mit dem Urteil des Parlaments gegen die Königin begonnen.
Auch gegen die La Motte wendet der Hof das gleiche verhängnisvolle Verfahren der Halbheit an. Auch hier bestand zwiefache Möglichkeit: entweder großmütig der Verbrecherin die grausame Strafe zu ersparen das hätte vortrefflichen Eindruck gemacht – oder andernfalls die Züchtigung möglichst öffentlich vollziehen zu lassen. Aber wiederum flüchtet sich die innere Verlegenheit in eine mittlere Maßregel. Zwar stellt man feierlich die Gerüste auf und verheißt damit dem ganzen Volk das barbarische Schauspiel der öffentlichen Brandmarkung, schon werden die Fenster der umliegenden Häuser zu phantastischen Preisen vermietet; jedoch im letzten Augenblick erschrickt der Hof vor seinem eigenen Mut. Um fünf Uhr morgens, also absichtlich zu einer Stunde, da Zeugen nicht zu befürchten sind, schleppen vierzehn Henker die gellend Schreiende und wütend um sich Schlagende zur Treppe des Justizpalastes, wo ihr das Urteil, gestäupt und gebrandmarkt zu werden, verlesen wird. Aber man hat eine rasende Löwin gepackt, die hysterische Frau stößt ein schrilles Heulen aus, ihre Lästerungen gegen den König, den Kardinal, das Parlament wecken die Schläfer im ganzen Umkreis, sie schnappt, sie beißt, sie stößt mit den Füßen, schließlich ist man gezwungen, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, um das Brandzeichen aufprägen zu können. In der Sekunde aber, da der feurige Stempel ihre Schulter berührt, wirft sich die Gefolterte konvulsivisch empor, ihre ganze Nacktheit zum Gaudium der Zuschauer entblößend, und das brennende »V« fährt statt auf die Schulter auf ihren Busen. Aufheulend beißt das rasende Tier dem Henker mitten durch sein Wams, dann bricht die Gepeinigte ohnmächtig zusammen. Wie einen Kadaver schleppt man die Besinnungslose in die Salpêtrière, wo sie gemäß dem Urteil lebenslang in sackgrauer Leinwand und Holzpantinen arbeiten soll, einzig von schwarzem Brot und Linsen genährt.
Kaum werden die grauenhaften Einzelheiten dieser Züchtigung bekannt, so wendet sich alle Sympathie mit einem Ruck der La Motte zu. Während fünfzig Jahre vorher – man lese es bei Casanova nach – der ganze Adel mit seinen Damen bei der Folterung des schwachsinnigen Damiens, der Ludwig XV. mit einem winzigen Federmesser geritzt hat, vier Stunden zusah und sich ergötzte, wie dieses unglückliche Stück Mensch mit glühenden Zangen gezwickt, mit siedendem Öl verbrüht und nach einer endlosen Agonie, indes sich ihm die Haare, plötzlich weiß geworden, auf dem Kopfe sträuben, auf das Rad geflochten wurde, ist ebendieselbe, im Zeichen der Mode philanthropisch gewordene Gesellschaft mit einemmal voll rührender Teilnahme für die »unschuldige« La Motte. Denn man hat jetzt glücklich eine neue und gar nicht gefährliche Form gefunden, gegen die Königin zu frontieren: indem man offensichtliche Sympathie für das »Opfer«, für die »arme Unglückselige« zur Schau trägt. Der Herzog von Orléans veranstaltet eine öffentliche Sammlung, der ganze Adel sendet in das Zuchthaus Geschenke, Tag für Tag fahren vornehme Karossen vor der Salpêtrière auf. Besuch bei der abgestraften Diebin gilt als der »dernier cri« der Pariser Gesellschaft. Mit Staunen aber erkennt die Äbtissin eines Tages unter den gerührten Besucherinnen eine der besten Freundinnen der Königin, die Prinzessin von Lamballe. Ist sie aus eigenem Antrieb gekommen oder, wie sofort die Leute tuscheln, im geheimen Auftrag Marie Antoinettes? Jedenfalls wirft dieses unangebrachte Mitleid auf die Sache der Königin einen peinlichen Schatten: Was bedeutet diese auffällige Teilnahme? fragen alle. Drückt die Königin das Gewissen? Sucht sie heimlich Verständigung mit ihrem »Opfer«? Das Raunen wird nicht still. Und als wenige Wochen später auf geheimnisvolle Weise – unbekannte Hände haben ihr nächtlich die Gefängnistüren aufgetan – die La Motte nach England flüchtet, herrscht nur eine Stimme in ganz Paris: die Königin hat ihre »Freundin« gerettet aus Dank dafür, daß sie vor Gericht ihre Schuld oder Mitschuld in der Halsbandaffäre großmütig verschwiegen.
In Wirklichkeit war die Ermöglichung der Flucht der La Motte der perfideste Streich, den die verschworene Sippe aus dem Hinterhalt führen konnte. Denn jetzt ist nicht nur dem geheimnisvollen Gerede vom Einverständnis der Königin mit der Diebin Tür und Tor aufgetan, sondern ihrerseits kann die gezüchtigte La Motte sich von London aus als Anklägerin aufspielen, die schamlosesten Lügen und Verleumdungen ungestraft drucken lassen, und mehr sogar, sie kann, da Unzählige in Frankreich und Europa auf »Enthüllungen« solcher Art lauern, endlich wieder viel Geld verdienen. Gleich am Tag ihrer Ankunft bietet ihr ein Londoner Drucker große Summen; vergebens sucht der Hof, der jetzt die Tragweite von Verleumdungen erkannt hat, den vergifteten Pfeil abzufangen; die Favoritin der Königin, die Polignac, wird abgesandt, um das Schweigen der Diebin gegen zweimalhunderttausend Livres zu erkaufen; aber die gerissene Gaunerin betrügt noch ein zweitesmal den Hof, sie nimmt das Geld, läßt aber ohne Zögern dann einmal, zweimal, dreimal, in immer veränderten Formen und mit immer neuen sensationellen Zudichtungen ihre »Memoiren« erscheinen. In diesen Memoiren steht alles, was ein skandalsüchtiges Publikum zu hören hofft, und noch mehr: der Prozeß vor dem Parlament sei eitle Spiegelfechterei gewesen, man habe die arme La Motte auf das niederträchtigste preisgegeben. Selbstverständlich habe niemand anders als die Königin das Halsband bestellt und von Rohan empfangen, sie aber, die reine Unschuld, habe nur aus Freundschaft das Verbrechen auf sich genommen, um die verunglimpfte Ehre der Königin zu schützen. Auf welche Weise sie mit Marie Antoinette so befreundet geworden sei, auch dies erklärt die unverfrorene Lügnerin genau so, wie es die lüsterne Bande erklärt wissen will: more lesbico, Intimität aus dem Bett. Es hilft nichts, daß jedem unbefangenen Blick sich die meisten dieser Lügen schon durch ihre plumpe Aufmachung entlarven, etwa wenn die La Motte behauptet, Marie Antoinette habe mit dem Kardinal Rohan schon als Erzherzogin zur Zeit seiner Gesandtschaft ein Liebesverhältnis gehabt – denn jeder Gutwillige kann sich an den Fingern abzählen, daß Marie Antoinette zur Zeit der Wiener Gesandtschaft Rohans längst Dauphine in Versailles war. Aber die Gutwilligen sind spärlich geworden. Das große Publikum dagegen liest entzückt die Dutzende nach Moschus duftenden Liebesbriefe der Königin an Rohan, welche die La Motte in ihre Memoiren einfälscht, und je mehr Perversitäten sie von ihr zu erzählen weiß, um so mehr will man erfahren. Schmähschrift folgt jetzt auf Schmähschrift, eine übertrifft die andere an Laszivität und Gemeinheit; bald erscheint eine öffentliche »Liste all jener Personen, mit denen die Königin in ausschweifenden Beziehungen gestanden habe«; sie enthält nicht weniger als vierunddreißig Namen beiderlei Geschlechts, Herzoge, Schauspieler, Lakaien, den Bruder des Königs neben seinem Kammerdiener, die Polignac, die Lamballe, und endlich kurz und bündig »toutes les tribades de Paris«, einschließlich der ausgepeitschten Straßendirnen. Aber diese vierunddreißig erschöpfen bei weitem nicht alle Liebespartner, welche die künstlich aufgeregte Meinung der Salons und der Gasse Marie Antoinette zuschreibt; hat sich die erotisch schweifende Phantasie einer ganzen Stadt, einer ganzen Nation erst einmal einer Frau, sei sie Kaiserin oder Filmdiva, Königin oder Opernsängerin, bemächtigt, so dichtet sie ihr heute wie damals lawinenhaft alle erdenkbaren Exzesse und Perversionen zu, um in anonymem Orgasmus und mit scheinbarer Entrüstung ihre erträumten Lüste mitzugenießen. Ein anderes Libell, »La vie scandaleuse de Marie Antoinette«, weiß von einem kräftigen Panduren zu berichten, der bereits am österreichischen Kaiserhof die unstillbaren »fureurs utérines« (dies der geschmackvolle Titel eines dritten Pamphlets) der Dreizehnjährigen beschwichtigt habe; ausführlich wird das »Bordel Royal« (ein anderer Pamphlettitel) mit seinen »mignons et mignonnes« der entzückten Leserschaft an Hand von zahlreichen pornographischen Kupferstichen geschildert, welche die Königin mit den verschiedenen Partnern in aretinischen Liebesposen entblößen. Immer höher spritzt die Jauche, immer gehässiger werden die Lügen, und jede wird geglaubt, weil man alles von dieser »Verbrecherin« glauben will. Zwei, drei Jahre nach dem Halsbandprozeß ist Marie Antoinette bereits unrettbar als die laszivste, verworfenste, hinterhältigste, tyrannischste Frau in ganz Frankreich berüchtigt; die abgefeimte und gebrandmarkte La Motte dagegen gilt als unschuldiges Opfer. Und kaum setzt die Revolution ein, so versuchen die Klubs, die geflüchtete La Motte unter ihrem Schutz wieder nach Paris zu bringen, um den ganzen Halsbandprozeß künstlich noch einmal aufzurollen, diesmal aber vor ihrem Revolutionstribunal mit der La Motte als Anklägerin und Marie Antoinette auf dem Armesünderstuhl: nur der plötzliche Tod der La Motte – sie stürzt sich in einem Anfall von Verfolgungswahn 1791 aus dem Fenster – hat verhindert, daß diese großartige Schwindlerin im Triumph durch Paris getragen und ihr das Dekret verliehen wurde, »sie habe sich um die Republik verdient gemacht«. Ohne diesen Eingriff des Schicksals hätte die Welt eine noch viel groteskere Justizkomödie miterlebt als den Halsbandprozeß: die La Motte als umjubelte Zuschauerin bei der Hinrichtung der von ihr verleumdeten Königin.