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Die Nacht in Varennes

An diesem 21. Juni 1791 betritt Marie Antoinette, im sechsunddreißigsten Jahre ihres Lebens und im siebzehnten Königin von Frankreich, zum ersten Mal das Haus eines französischen Bürgers. Es ist die einzige Unterbrechung zwischen Palast und Palast und Gefängnis und Gefängnis. Der Weg geht zuerst durch die Butike des Krämers, die ranzig nach abgestandenem Öl, nach getrockneter Wurst und scharfen Gewürzen riecht. Eine knarrende Hühnerstiege hinauf schreiten hintereinander der König, oder vielmehr der unbekannte Herr mit der falschen Perücke, und jene Gouvernante der angeblichen Baronin Korff in den obern Stock; zwei Zimmer, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, niedrig, arm und schmutzig. Vor die Tür stellen sich sofort, neuartige Garde, höchst unähnlich der schimmernden von Versailles, zwei Bauern mit Heugabeln in den Händen. Alle acht, die Königin, der König, Madame Elisabeth, die beiden Kinder, die Gouvernante und die beiden Kammermädchen, stehen und sitzen in diesem engen Raum. Die Kinder, todmüde, werden in ein Bett gebracht und schlafen sofort ein, von Madame de Tourzel behütet. Die Königin hat sich auf einen Sessel gesetzt und den Schleier über das Gesicht gezogen; niemand soll sich rühmen dürfen, ihren Zorn, ihre Erbitterung gesehen zu haben. Nur der König beginnt sofort, sich häuslich einzurichten, er setzt sich ruhig zu Tisch und schneidet mit dem Messer mächtige Stücke Käse ab. Keiner spricht ein Wort.

Endlich klappern Hufe auf der Straße, aber gleichzeitig erklingt auch der wild fortspringende Schrei von Hunderten: »Die Husaren! die Husaren!« Choiseul, gleichfalls durch falsche Nachrichten genarrt, ist endlich gekommen, schlägt sich mit ein paar Säbelhieben den Weg frei und sammelt seine Soldaten um das Haus. Die Ansprache, die er ihnen hält, verstehen die braven deutschen Husaren nicht, sie wissen nicht, um was es geht, sie haben nicht mehr begriffen als die beiden deutschen Worte »Der König und die Königin«. Aber immerhin, sie gehorchen und traben die Menge so scharf an, daß der Wagen aus der Menschenumklammerung für einen Augenblick befreit ist.

Hastig klirrt der Herzog von Choiseul die Treppen hinauf und macht seinen Vorschlag. Er ist bereit, sieben Pferde freizugeben. Der König, die Königin und das Gefolge sollen sie besteigen und inmitten seiner Truppe rasch aus dem Ort sprengen, bevor sich die Nationalgarde der Umgebung gesammelt habe. Stramm verbeugt sich der Offizier nach seinem Bericht: »Majestät, ich erwarte Ihre Order.«

Aber Befehle zu geben, rasche Entscheidungen zu treffen, war niemals Sache Ludwigs XVI. Ob Choiseul sich verpflichten könne, parlamentiert er herum, daß bei diesem Durchbruch nicht eine Kugel seine Frau, seine Schwester, eines seiner Kinder treffen könne? Ob es nicht doch empfehlenswerter wäre zu warten, bis man auch die andern in den Wirtshäusern zerstreuten Dragoner gesammelt hätte? Mit diesem Hin und Her vergehen Minuten, kostbare Minuten. Auf den Strohsesseln der kleinen düstern Stube sitzt die Familie, sitzt die alte Zeit, und zögert und verhandelt. Aber die Revolution, das junge Geschlecht, wartet nicht. Aus den Dörfern kommen, von den Sturmglocken wachgeschreckt, die Milizen heran, die Nationalgarde ist vollzählig versammelt, von den Wällen hat man die alte Kanone heruntergeholt und die Straßen verbarrikadiert. Die versprengten Soldaten wiederum, seit vierundzwanzig Stunden sinnlos im Sattel herumgejagt, lassen sich gern Wein reichen und verbrüdern sich mit der Bevölkerung. Immer mehr füllen sich die Straßen mit Menschen. Als ob die gemeinsame Ahnung entscheidender Stunden tief bis in das Unterbewußtsein der Massen hinunterreichte, stehen in der ganzen Umgebung die Bauern, die Häusler, die Schäfer, die Arbeiter vom Schlafe auf und marschieren nach Varennes, uralte Frauen nehmen aus Neugier ihre Krückstöcke, um einmal den König zu sehen, und jetzt, da der König sich offen zu erkennen geben muß, sind sie alle entschlossen, ihn nicht aus ihren Mauern zu lassen. Jeder Versuch, frische Pferde vor den Wagen zu spannen, wird vereitelt. »Nach Paris, oder wir schießen, wir erschießen ihn in seinem Wagen«, toben wilde Stimmen dem Postillon entgegen, und mitten in diesen Tumult schlägt abermals die Sturmglocke. Neuer Alarm dieser dramatischen Nacht: ein Wagen ist aus der Richtung Paris gekommen, zwei der Kommissare, welche die Nationalversammlung aufs Geratewohl in alle Richtungen des Landes ausgeschickt hat, um den König zu stellen, haben die Fährte glücklich gefunden. Grenzenloser Jubel begrüßt die Boten der gemeinsamen Macht. Jetzt ist von Varennes die Verantwortung genommen, jetzt brauchen nicht mehr die kleinen Bäcker, Schuster, Schneider und Fleischer dieses armen Städtchens Weltschicksal zu entscheiden: die Sendlinge der Nationalversammlung sind da, der einzigen Autorität, die das Volk als die ihre anerkennt. Im Triumphzug führt man die beiden Boten in das Haus des wackern Krämers Sauce und die Treppe hinauf zum König.

Unterdes ist die furchtbare Nacht allmählich zu Ende gegangen, es ist halb sieben Uhr früh geworden. Von den beiden Abgesandten ist einer, Romeuf, blaß, befangen und seines Auftrags wenig froh. Als Adjutant Lafayettes hat er oft den Wachdienst in den Tuilerien bei der Königin gehabt, immer war Marie Antoinette, die alle ihre Untergebenen mit ihrer natürlichen gutmütigen Herzlichkeit behandelt, ihm wohlgesinnt gewesen, oft hat sie und auch der König mit ihm fast freundschaftlich gesprochen; im innersten Herzen hat dieser Adjutant Lafayettes nur einen Wunsch: die beiden zu retten. Aber das Verhängnis, das unsichtbar dem König entgegenarbeitet, will, daß man ihm auf seine Mission einen zweiten, sehr ehrgeizigen und durchaus revolutionstreuen Begleiter, namens Bayon, mitgegeben hat. Im geheimen hat Romeuf, kaum daß er die Spur gefunden hatte, versucht, seine Fahrt zu verzögern, um dem König einen Vorsprung zu lassen, aber Bayon, der unerbittliche Späher, sitzt ihm im Nacken, und so steht er jetzt errötend da, voller Furcht, der Königin das verhängnisvolle Dekret der Nationalversammlung zu überbringen, das befiehlt, die königliche Familie anzuhalten. Marie Antoinette kann ihre Überraschung nicht unterdrücken: »Was? Sie, mein Herr? Nein, das hätte ich nicht gedacht!« In seiner Verlegenheit stammelt Romeuf, ganz Paris sei in Aufregung, das Staatsinteresse verlange, daß der König zurückkehre. Die Königin wird ungeduldig und wendet sich ab, sie spürt hinter dem wirren Geschwätz etwas Böses. Endlich verlangt der König das Dekret und liest, daß seine Rechte von der Nationalversammlung aufgehoben seien und jeder Kurier, der die königliche Familie antreffe, alle Maßnahmen zu ergreifen habe, um eine Fortsetzung der Reise zu verhindern. Die Worte: Flucht, Festnahme, Gefangensetzung sind zwar geschickt vermieden. Aber zum ersten Mal bekundet mit diesem Dekret die Nationalversammlung, daß der König nicht frei, sondern ihrem Willen Untertan ist. Sogar Ludwig der Schwerfällige erfaßt diese welthistorische Umstellung.

Aber er wehrt sich nicht. »Es gibt keinen König von Frankreich mehr«, sagt er mit seiner schläfrigen Stimme, als ginge ihn selbst die Sache nicht viel an, und legt zerstreut das Dekret auf das Bett, in dem die erschöpften Kinder schlafen. Da aber reißt sich Marie Antoinette plötzlich auf. Wenn ihr Stolz berührt, ihre Ehre bedroht ist, dann wächst immer dieser Frau, die in allen Kleinigkeiten kleinlich, in allen Äußerlichkeiten äußerlich war, eine plötzliche Würde zu. Sie zerknüllt das Dekret der Nationalversammlung, das sich anmaßt, über sie und ihre Familie zu verfügen, und schleudert es verächtlich zur Erde: »Ich will nicht, daß dieses Blatt meine Kinder beschmutzt.«

Schauer überläuft die kleinen Beamten bei dieser Herausforderung. Um eine Szene zu vermeiden, hebt Choiseul das Blatt Papier rasch auf. Alle in diesem Zimmer sind gleich betroffen, der König über die Kühnheit seiner Frau, die beiden Abgesandten über ihre peinliche Stellung; bei allen ist die Stimmung unentschieden. Jetzt macht der König einen scheinbar verzichtenden, in Wirklichkeit hinterhältigen Vorschlag. Nur zwei, drei Stunden möchte man ihn hier ausruhen lassen, dann fahre er nach Paris zurück. Sie müßten doch selbst sehen, wie müde die Kinder seien, nach zwei so furchtbaren Tagen und Nächten bedürfe man ein wenig der Ruhe. Romeuf versteht sofort, was der König will. In zwei Stunden wird die ganze Kavallerie Bouillés hier sein, und hinter ihr Infanterie und Kanonen. Da er innerlich den König retten will, erhebt er keinen Einwand: schließlich enthält sein Auftrag nichts anderes als den Befehl, die Reise aufzuhalten. Das hat er getan. Aber der andere Kommissar, Bayon, merkt schnell, was hier gespielt wird, und beschließt, Hinterhältigkeit mit Hinterhältigkeit zu erwidern. Er stimmt scheinbar zu, schlendert lässig die Treppe hinunter, und da ihn die Menge aufgeregt umringt und fragt, was beschlossen sei, seufzt er scheinheilig: »Ach, sie wollen nicht abreisen ... Bouillé ist schon nahe, sie warten auf ihn.« Diese paar Worte spritzen Öl ins schon lodernde Feuer. Das darf nicht sein! Nicht mehr sich betrügen lassen! »Nach Paris! Nach Paris!« Die Fenster klirren von dem Getöse, verzweifelt dringen die Magistratspersonen, vor allem der unglückliche Krämer Sauce, auf den König ein, er müsse fort, sonst könnten sie nicht mehr für seine Sicherheit bürgen. Die Husaren sind ohnmächtig eingekeilt in der Masse oder zum Volk übergegangen, im Triumph wird der Wagen vor die Tür geschleppt und eingespannt, um jedes Zögern zu verhindern. Und nun beginnt ein erniedrigendes Spiel, denn es geht doch nur um Viertelstunden. Ganz nahe müssen die Husaren Bouillés schon sein, jede Minute, die man rettet, kann das Königtum retten: also nur jetzt mit allen, auch den unwürdigsten Mitteln die Abreise nach Paris verzögern. Selbst Marie Antoinette muß sich beugen und zum erstenmal in ihrem Leben bitten. Sie wendet sich an die Gattin des Krämers und fleht sie an, ihr zu helfen. Aber diese arme Frau hat Angst um ihren Mann. Tränen in den Augen, klagt sie, es sei ihr furchtbar, einem König, einer Königin von Frankreich das Gastrecht in ihrem Hause verweigern zu müssen, aber sie habe selber Kinder, und ihr Mann werde es mit seinem Leben büßen – sie hat ahnungsvoll recht, die arme Frau, denn es hat dem unglücklichen Krämer den Kopf gekostet, daß er in jener Nacht dem König half, ein paar Geheimpapiere zu verbrennen. Immer wieder zögern der König und die Königin mit den unglücklichsten Ausflüchten herum, aber die Zeit rinnt und verrinnt, und die Husaren Bouillés zeigen sich nicht. Schon ist alles bereit, da erklärt Ludwig XVI. – wie tief ist er gesunken, um solche Komödien spielen zu müssen! –, er wünsche noch etwas zu speisen. Kann man einem König eine kleine Mahlzeit verweigern? Nein, aber man beeilt sich, sie ihm zu bringen, nur um keine Verzögerung herbeizuführen. Ludwig XVI. knabbert ein paar Bissen, Marie Antoinette schiebt den Teller verächtlich zur Seite. Jetzt gibt es keine Ausflucht mehr. Da ein neuer, der letzte Zwischenfall: schon steht die Familie in der Tür, da fällt eine der Kammerfrauen, Madame Neuveville, in simulierten Krämpfen zu Boden. Sofort erklärt Marie Antoinette herrisch, sie ließe ihre Kammerfrau nicht im Stich. Sie ginge nicht, bevor ein Arzt geholt werde. Aber auch der Arzt – ganz Varennes ist ja auf den Beinen – kommt früher als die Truppen Bouillés. Er gibt der Simulantin ein paar beruhigende Tropfen; nun läßt sich das traurige Spiel nicht weiter fortsetzen. Der König seufzt und schreitet als erster die enge Hühnertreppe hinunter. Ihm folgt mit verbissenen Lippen, am Arme des Herzogs von Choiseul, Marie Antoinette. Sie ahnt, was ihnen allen auf dieser Rückfahrt bevorsteht. Aber mitten in ihren eigenen Sorgen denkt sie noch an den Freund: ihr erstes Wort an Choiseul bei seiner Ankunft war gewesen: »Meinen Sie, daß Fersen sich gerettet hat?« Mit einem wirklichen Mann an der Seite wäre auch diese Höllenreise zu überstehen; es ist nur schwer, unter lauter Schwächlingen und Verzagten allein stark zu bleiben.

Die königliche Familie steigt ein. Noch immer hoffen sie auf Bouillé und seine Husaren. Aber nichts. Nur das dröhnende Getöse der Massen rund um sie her. Endlich setzt sich die große Karosse in Bewegung. Sechstausend Menschen umringen sie, ganz Varennes marschiert mit seiner Beute, und nun lösen sich Wut und Angst in lauten Triumph. Umbraust von den Liedern der Revolution, umlagert von der proletarischen Armee, steuert das Unglücksschiff der Monarchie von der Klippe weg, an der es gestrandet war.

Aber zwanzig Minuten nur, noch ragt die Staubwolke auf der Landstraße hinter Varennes als Säule in den heißen Himmel hinauf, da jagt es schon vom andern Ende der Stadt in scharfem Galopp heran, Kavallerie, ganze Schwadronen. Endlich sind sie da, die Husaren Bouillés, die vergeblich ersehnten! Eine halbe Stunde lang, wenn der König sich noch gehalten hätte, und sie hätten ihn in die Mitte seiner Armee genommen, bestürzt wären heimgezogen, die jetzt jubeln. Aber als Bouillé hört, der König habe mutlos nachgegeben, zieht er die Truppen zurück. Wozu noch ein nutzloses Blutvergießen? Auch er weiß, das Schicksal der Monarchie ist durch die Schwäche des Monarchen entschieden, Ludwig XVI. nicht mehr König und Marie Antoinette nicht mehr Königin von Frankreich.


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