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Mitternacht war längst vorüber und die Ruhe in das Schloß zurückgekehrt, als es leise an die Zimmertür der Komtesse klopfte. Vom Sofa aufspringend, öffnete sie dem Vater. Ihre aufgeregten Sinne hatten den behutsamen Gang schon weither erkannt. Es war ihr erstes Willkommen ohne Zeugen.
Der Graf drückte leise die Tür hinter sich zu, und machte mit dem Finger an den Lippen das Zeichen des Schweigens; die heitere Miene des alten Hofmanns war aber nicht geeignet, Schrecken einzuflößen.
»Mein Vater, was soll die Vorsicht?«
»Es hat mich niemand gesehen.«
»Ist es etwas Verdächtiges, wenn ein Vater zu seiner Tochter kommt?«
»Nicht so laut, liebes Kind, diese Wand nach den Zimmern des Obristen ist nicht massiv.«
»Der König ist wieder fort?«
»Mit allen Zeichen der Huld; es ist alles geordnet.«
»Der Himmel sei gelobt!« atmete Eugenie auf.
»Ich erkannte meine Tochter diese Nacht nicht wieder. Wo hast du die Klugheit gelernt?«
»Vater!« rief die Gräfin heftig, ein Schmerzgefühl zuckte plötzlich sichtbar durch ihre zarte Gestalt; die Tränen brachen heraus mit krampfhaftem Ungestüm. Der Vater führte sie nach dem Sofa.
»Immer wieder deine Mutter«, sagte er mit sanftem Vorwurf, »Unser Blut stammt daher, meine Mutter war eine Florentinerin; wäre das lebendige Gefühl das einzige, was wir aus Italien herüberbekommen! O, Sie hätten es nicht gewagt vor meiner Mutter, Sie hätten es auch nicht vor mir gewagt! Sie stahlen sich fort, Sie wagten nicht, mir es mitzuteilen. Ach, mein Vater, es wäre entsetzlich gewesen!«
Der Graf ging an die Tür und schob den Riegel vor. Als er zurück kam, setzte er mit nicht ganz verhehltem Unwillen das Gespräch fort. »Hättest du mir früher und deutlicher deine Sinnesänderung auseinandergesetzt, hoffe ich, wir würden ans verständigt haben. Der Kammerherr ist ein ungeschickter Unterhändler, auch er hat zu wenig im Kabinette gearbeitet, um die Worte zu wählen. Überdies wollte sich der eitle Mann wahrscheinlich bei dir wichtig machen. Die Sache stellt sich viel einfacher. Was kann ich dafür, wenn der König mir dies und jenes vertraut! Bin ich gebunden, das zu verschweigen? Bin ich nicht vielmehr, als kursächsischer Untertan, verpflichtet, was ich in Erfahrung gebracht, was der Sache, zu der mein Souverän sich neigt, von Nutzen sein könnte, seine Freunde wissen zu lassen? Was habe ich anderes getan! Ja, noch mehr, als der König mich aufforderte, ihn in den Park zu begleiten, riet ich ihm ab. Je mehr ich dagegen redete, um so fester bestand er darauf. Kann ich dafür? Wäre der Coup geglückt, der österreichische Deserteur nicht dazwischen gekommen, konnte mir jemand vorwerfen, daß ich daran Schuld war? – In solchen Fällen, wo der Zufall eintritt, fordert die Klugheit, sich nicht töricht gegen das so Entschiedene zu sträuben. – Noch mehr, mein Kind: ohne mich zu rühmen, darf ich mir die Rettung des Königs bei dieser Affäre allein anrechnen. Der Weg, den uns der Ungar, welcher die Situation zu kennen vorgab, durch den Park führte, hätte den König geradesweges in die Hände der Kroaten geführt. Ich, vertraut mit den Anlagen, leitete den Fürsten und seine Suite fast wider ihren Willen, den einzig sicheren durch das sogenannte Labyrinth, und ich kann sagen: ohne mich wäre der König in diesem Augenblick in Dauns Händen. Es versteht sich, daß du davon keinen Gebrauch machen wirst, unserer Freunde am Hofe wegen.«
»Und wenn Sie das beruhigt, warum diese ängstliche Miene? Was eilen wir nicht hinunter, was erzählen Sie es nicht den preußischen Offizieren? Friedrich muß Ihnen Stern und Band umhängen.«
»Bist du rasend?«
»Ich wollte, ich wäre es, wenn das Lebensklugheit heißt. Schwindelt Sie denn nicht, Vater, an dem Abgrunde – es ist unten so fürchterlich hohl und leer, und so schlüpfrig der Boden unter Ihren Füßen.«
»Du phantasierst. Aufregung und Angst der Nacht – geh zu Bett ...«
»Es sind keine Phantasien. Sind Sie denn glücklich bei den Intrigen? Quält Sie die Größe, das Glück dieses Friedrich, das Unglück des Landes, o, dann lassen Sie uns auswandern zum Könige nach Warschau, nach Italien in unser Stammland. Lassen Sie uns unser Vaterland mit uns nehmen, fechten Sie dafür, aber nur nicht dieses Spiel, diese Verschwörungen ...«
»Das sind Exaltationen des Gefühls.«
»So lassen Sie es gehen, wie es geht. Greifen Sie nicht ein mit Plänen von vorgestern auf übermorgen in die eines Giganten, auf den eine Welt erwartungsvoll sieht, dessen Tritte den Gang von Generationen bestimmen, dem noch Jahrhunderte nachstaunen werden. Wär' er durch Ihre Künste gefallen, Sie hätten keinen Ruhm und keinen Lohn davon. Mein Vater, bleiben Sie ein Patriot, aber sagen Sie sich los von den Künsten dieses Hofes, dieses Ministers, der nur intrigieren kann, wo er handeln sollte, der nach Freunden sucht und den Feinden die Hand reicht, der mit seinem Scharfblick die Gewebe einer Spinne, die sie noch spinnen soll, voraussieht, aber nicht die offenen, blutenden Wunden seines Vaterlandes.«
Mit immer heiterer Miene hatte der Graf sie angehört. Um seine Mundwinkel schwebte ein schlaues Lächeln: »So hoffe ich doch endlich auf den Beifall meiner Tochter rechnen zu können, wenn ich ihr gestehe, daß auch mir der Ausgang von gestern nur willkommen ist. Ja, es war ein törichtes Beginnen, das ich nur unserem grillenfängerischen Marquis zuschreiben kann. Mag er fortan allein sorgen, wie er seinem närrischen Haß gegen die Könige von Preußen Luft schafft, es ist nicht die Sache eines klugen Mannes, sich in ein so gefährliches Spiel mischen, das nach jeder Bataille anders ausschlägt, als man dachte, und alle Berechnung zuschanden macht.«
Ein Blick der Verwunderung antwortete ihm. Er nahm eine Prise und fuhr fort:
»Es muß drüben schlimmer stehen, als wir glauben, wie käme sonst der ungarische Offizier vor einer entscheidenden Schlacht auf den Gedanken überzugehen?«
»Zweifeln Sie an seiner Redlichkeit? Den jungen Mann scheint die feurigste Begeisterung für Friedrich hingerissen zu haben.«
Der Graf lächelte: »Aus Begeisterung, meine liebe Eugenie, desertiert kein Husarenoffizier. Sie müssen drüben das Vertrauen verloren haben ungeachtet ihrer pompösen Manifeste und trotz der Heereszüge, mit welchen die Kaiserin von Rußland die preußischen Erblande überschwemmen will. Auch der geschickte General Werner hat, wie du weißt, den österreichischen Dienst quittiert. Es ist etwas daran; vielleicht weiter, als wir ahnen. Mein Kind« – er faßte ihre Hand –, »man spricht von einem Tausch. Friedrich wünscht das Königreich Preußen, was die Russen ohnedies haben, loszuwerden, und dafür die sächsischen Kurländer. Um ein Nichts läuft kein General über. Wir könnten, ja es ist sogar wahrscheinlich, wir werden preußisch werden.«
»Meint man das?«
»Der Monarch war ungemein gütig gegen mich. Selbst wenn der Überläufer sich meines Namens entsänne, der König würde dem unzuverlässigen Menschen nicht glauben. Er ist – und er kann es wirklich sein – von meiner reinen Ergebenheit für seine Person überzeugt. Eugenie, ich habe einen Plan ...«, er hielt freundlich ihre Hände und blickte ihr forschend ins Gesicht.
»Ist es Ihr eigener?«
»Ganz mein eigener. Wollte doch einmal meine Tochter auf meine Wünsche eingehen, wollte sie doch einmal überzeugt sein, daß ihr Vater stets ihr Bestes vor Augen hat. Nur einmal, Eugenie, mit vernünftigem Blick um dich geschaut, laß deine alten und die italienischen Poeten, laß die schwärmende Patriotin fort, und versetze dich in das unglückliche Kursachsen, in die zerstörten Güter deines Vaters, in unser aller zerrütteten Wohlstand – betrachte die schrecklichen Aussichten. – Es ist augenfällig, welchen Eindruck du auf den Rittmeister von Izwitz gemacht. Sein Auge verfolgt dich bei jeder Bewegung, und er meint es ernst. Er ist keine verwerfliche Partie. Dem schönen, beliebten jungen Manne aus einer der ältesten reichsten Familien steht eine glänzende Karriere bevor ...«
»Wann faßten Sie diesen Plan, lieber Vater?«
»Er ist auf dem Wege, erklärter Günstling des Königs zu werden, vielleicht ein zweiter Winterfeld. Seine Majestät unterhielten sich gestern noch eine Viertelstunde französisch mit ihm, und beim Abschied klopfte er ihm auf die Schulter. Du hättest sehen sollen, wie die höchsten Stabsoffiziere ihm eine Achtung zeigten, die zu deutlich bewies, was sie von seinem Avancement erwarteten.«
»Ich will noch nicht heiraten.«
»Wann denn?«
»Wenn ich einen Mann finde, dem ich trauen kann.«
»Eugenie, wann willst du heiraten?«
»Wenn Friede ist.«
»Du willst ja immer Krieg.«
»Ich bin müde. Ich will schlafen gehen.«
»Du willst dich nicht entschließen?«
»Um des Himmelswillen, soll ich mich denn entschließen am Vorabend einer Schlacht? Bedenken Sie, mein Vater, wenn sie entscheidet, wenn Friedrich verliert, wenn er fiele, gefangen würde, wenn wir Kurfürstlich bleiben, wenn man Untersuchungen anstellt, wer es mit den Preußen gehalten! Ist der Rittmeister dann noch eine gute Partie? Bedenken Sie, wär' es nicht schrecklich dann, wenn ich einen preußischen Bräutigam hätte, und ich gebe Ihnen mein Wort, ich ließe, wenn ich ihn auch vorher wie die Sünde gehaßt, dann nicht von ihm. – Soll ich Sie ins Verderben stürzen? Ach, mein Vater, Sie sind nicht vorsichtig genug, das ist es ja. Ich aber bin müde, sehr müde, der Hahn hat schon dreimal gekräht. – Trennen wir uns; ich will von Ihrem Plan träumen – träumen gewiß, denn darüber nachdenken kann ich nicht, wahrhaftig nicht, lieber Vater, Ihnen zu Liebe, es schadet der Liebe, gehen Sie, überlassen Sie mich mir selbst.«
Der Vater kannte seine Tochter. Er ging so still, wie er gekommen, nachdem er sie auf den Scheitel geküßt. Sie saß nun da auf dem Sofa, die Stirn in beiden Händen wiegend. Zuweilen lachte sie auf. Es war so still, daß sie über sich selbst erschrak. Ein Lichtschein, der plötzlich hell aufflackerte, weckte sie aus ihren Träumen. Amalie stand vor ihr mit übereinandergeschlagenen Armen, und blickte sie mit ihrer gewöhnlichen Miene an, von der man nicht genau wußte, ob es Spott war.
»Wo kommst du her? – Woher so spät auf?«
»Ich war auf Befehl Ihres Vaters bei dem schönen Kammerherrn und sprach dem Armen Mut ein; er war aber so matt vor Angst, daß er die Gabel nicht an den Mund bringen konnte. Morgen wird er auf einem Mistwagen durch die Vorposten transportiert, und er kann sich nicht über die Equipage beklagen, denn er gehört dahin, weil man ihn nicht mehr braucht.«
Eugenie war zur vollkommenen Besinnung erwacht. Ein ernst zürnender Blick auf die Gesellschafterin begleitete ihre Frage: »Warst du gestern abend auch bei dem Kammerherrn?«
Eine leise Röte flog über das Gesicht des Fräuleins; die Miene wechselte aber so wenig, wie die Lippen ihren spöttischen Ausdruck verloren: »Ich meinte, Komtesse, wir wären übereingekommen, das Sittenrichtern anderen zu überlassen, und das bißchen Freiheit, was man den Frauen bei der Schöpfung ließ, unter uns bis aufs äußerste zu verteidigen. Wenn wir alle so lammfromm werden sollen, wie der gute Herr Gellert in Leipzig es von der Menschheit will, da halte ich es in Sachsen nicht aus und gehe nach Polen. Ein bißchen Ruchlosigkeit tut fürs Leben wahrhaftig not.«
»Es wird vielleicht anders, ganz anders, als wir denken. Es blickt ein Strahl ...«
»Verlieben Sie sich nicht in den König von Preußen. Er ist fünfzig Jahr von Natur und zehn darüber durch seine Schuld.«
»Närrin!«
»Ich bitte Sie, um alles in der Welt, Komtesse, Kusine, Gebieterin, jagen Sie die Grillen fort; es wird sonst Ernst bei Ihnen, ich kenne das. Lassen Sie den König Friedrich seine Feinde schlagen, mit der Feder oder dem Degen, lassen Sie ihn die besten französischen Verse machen, die Welt bekehren, wenn er Lust hat, eine neue Ära der Geschichte anfangen, und Gott weiß was, meinethalben machen Sie ihn selbst zum Gott wie den Alexander und räuchern ihm, aber nur verlieben Sie sich nicht in den alten Friedrich, der nichts liebt als Tabak und Windhunde.«
»Ich will zu Bett gehen.«
»Tun Sie beizeiten etwas dagegen, es ist mein voller Ernst. Verlieben Sie sich in Fleisch und Blut. Ich schlage Ihnen zum Exempel den ungarischen Offizier vor, der aus purer Begeisterung für den König von Preußen desertiert ist. Es scheint doch ein Stückchen von einem Mann an ihm zu sein, etwas Bizarres, was wir brauchen können. Auch ist er Husar und jetzt ein bißchen verwundet, was aber nicht weit her ist ...«
»Amalie, gute Nacht!«
Die Gesellschafterin machte eine feierliche Verbeugung und fragte, ob die gnädige Komtesse noch etwas zu befehlen hätte? Eugenie, vielleicht um wieder gutzumachen, wo ihr herber Ton gekränkt hatte, fragte, ob nichts seit des Königs Abreise passiert sei?
»Nichts von Bedeutung. Seine Majestät zeigten sich nur etwas ungnädig gegen den Ungarn.«
»Das war ja nur eine Kleinigkeit. Der arme Mensch verlangte so dringend seinen König zu sehen, wie er ihn nannte, daß man wirklich den Monarchen mit der unbescheidenen Bitte behelligen mußte. Wie sich aber erwarten ließ, sagten Seine Majestät, sie könnten nicht mit jedem Überläufer konversieren, und ritten ab. Das hat man der beteiligten Person brühwarm, und soviel ich erfahren, nicht mit den schonendsten Ausdrücken hinterbracht, worüber er außer sich gewesen sein soll. Er hat beinahe gerast und sich einmal im Fieber den Verband aufreißen wollen. ›Mein König will nichts von mir wissen. Ich muß ihn sprechen – er muß aussprechen, ob ich recht tat‹ und dergleichen hat er phantasiert, aber nicht ungarisch, sondern deutsch. Als er sich etwas beruhigt, hat er den Offizieren das Versprechen abgepreßt, morgen über ihn ein Ehrengericht zu halten. Das soll nun heute Mittag vor sich gehen, und ich wünsche ihm alles Glück, denn es wäre wahrhaftig schade, wenn der junge, hübsche Mensch um sein Leutnantspatent käme, denn wenn er wieder zurückdesertiert, drüben, glaube ich, nehmen sie ihn nicht mehr an, wenigstens hängen sie ihn vorher an den Galgen.«
Amalie entfernte sich, und Eugenie suchte den lang entbehrten Schlaf.