Willibald Alexis
Cabanis
Willibald Alexis

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2. Der Geist in der Kirche

Die Jäger waren heute unzufrieden von der Jagd zurückgekehrt; vom Schneegestöber durchweicht und geblendet, hatten sie wenig Glück gehabt. Ihr Mißbehagen ging in die Unterhaltung über, und jedermann schien vergnügt zu sein, als die Gespensterstunde anbrach. Es hatte noch nicht sechs Uhr vom Turm geschlagen, als die Diener schon die Wandleuchter anzündeten, die Fensterläden schlössen, das Kaminfeuer hell auflodern ließen und Stühle und Kanapees darum setzten.

Was den Erzählungen an Wärme abging, konnte der starke Punsch ersetzen, den das Fräulein den durchnäßten Jägern brauen mußte. Der unheimliche Abend konnte nicht geeigneter zu der Bestimmung, die man ihm gegeben hatte, gedacht werden. Der Sturm heulte und sauste im Kamin, daß man das Feuer mußte ausgehen lassen. Beim Kohlenschein hörten sich die Geschichten noch besser an.

Der Fähnrich hatte es übernommen, eine Begebenheit zu erzählen, welche seinem Großvater in einer verschneiten Dorfkirche um Mitternacht begegnet sein sollte, als er im Schwedenkrieg Kurier ritt. Der Erzähler ritt aber selbst Kurier und suchte, wo er an Risse und Klüfte kam, durch Lachen und Spott seiner Verlegenheit hinüberzuhelfen, wodurch er sich und den anderen die Wirkung verdarb, die doch bei dem Stoff seiner Erzählung nicht leicht zu verfehlen schien. Denn während unseres Fahnenjunkers Ahnherr, ein wackerer brandenburgischer Feldjunker, hoch ermüdet an den Stufen des Altars schlief, schritt der Große Kurfürst selbst im dunklen Kirchenschiff auf und ab, kniff seinen Kurier ins Ohr, daß er sich aufmachen sollte. Aber jedesmal, wenn der Junker, davon erschrocken, aufwachte, war alles verschwunden. Erst beim dritten Male, als der alte Herr so stark mit den stählernen Fingern gekniffen hatte, daß dem Kurier noch lange nachher das Ohrläppchen weh tat, sprang er wirklich in die Höhe. Der Vollmond schien durch die hohen Fenster auf eine Kirche, so leer wie vorhin, aber neben ihm stand etwas Lebendiges – sein Pferd, das sich vom Türpfosten losgerissen und das Allerheiligste betreten hatte. Schon war der Feldjunker geneigt, sein Tier und nicht seinen Kurfürsten für den weckenden Geist zu halten, als er zu seinem Erstaunen draußen eine frische Pferdespur im hohen Schnee bemerkte, die geradeswegs nach dem kurfürstlichen Lager führte, von wo doch der hohe Herr, Geist oder Leib, hergekommen sein müßte, wenn er es unternommen hätte, seinen Kurier am Ohrläppchen zu zupfen; weshalb er aber dies Geschäft übernommen hatte, ergab sich sehr bald, denn der Kurier bemerkte, als er wieder auf seinem Gaul saß, daß der Wind längst nach Abend umgesprungen und in einen lauen Tauwind ausgeartet war. Er hatte aber einen langen See zu passieren, und als er mit Herzensangst und Todesschweiß nur noch ein paar Schritte vom Ufer entfernt war, krachte es hinter ihm, und wie er sich umdrehte, trieben schon die großen Schollen, und der Mond spiegelte sich im offenen Wasser. »Ich wette«, schloß der Junker, »mein Großvater selig hatte ein starkes Abendbrot eingenommen, ehe er sich auf den Weg machte, und was im Magen zuviel war, stieg ihm über Nacht zu Kopf, und er hat rechtschaffen geträumt. Sein Ohrläppchen aber tat ihm auf ganz natürliche Weise weh, da er's mit dem Kopf auf die scharfe Steinschwelle drückte, und kein Kurfürst von Brandenburg hat sich um Mitternacht in eine zerstörte Dorfkirche begeben, um einen schlafenden Kurier aufzuwecken.«

»Meinen Sie, Junker?« fragte der alte Obrist Klippfisch, den Wunden und Jahre noch einsilbiger und schweigsamer gemacht hatten.

»Herr Obrist wollen doch nicht behaupten, daß ein Kurfürst von Brandenburg in höchsteigener Person um Mitternacht einsam in einer Dorfkirche spazierengehen kann?« sagte der Fähnrich, zu der Kühnheit durch den fragenden Blick ermutigt, welchen auch der General auf den Obristen warf.

»Wenn ich's nun selbst gesehen hätte?« entgegnete dieser.

»Was vor hundert Jahren geschehen ist! So alt sind Sie doch noch nicht.«

»Alt genug, Fahnenjunker, um etwas gesehen zu haben, wovon Ihr Euch nichts träumen laßt.«

»Obrist Klippfisch kommandierte schon vor Turin unter dem Dessauer seinen Zug«, bemerkte der General. »Unser wackerer Kamerad hat vielleicht auch gesehen, gleich manchem seiner Grenadiere, wie Prinz Leopold die blauen Bohnen im Ärmel auffing. Nicht, Obrist, der Dessauer war stichfest?«

»Der Herzog glaubte an einen allmächtigen und allwissenden Gott über ihm, ehrte die Kirchen, betete vor jeder Bataille und war dann fest in jeder Attacke.«

»Dann muß der Gottseibeiuns Seine Majestät unsern Allergnädigsten festgemacht haben«, lachte der Fähnrich, »denn seit er König ist, ist er in keine Kirche gekommen, es sei denn, um den Feind 'rauszuhauen.«

Ein mißbilligender Blick des Generals traf den Fähnrich. »Wißt Ihr das gewiß, daß König Friedrich nie in eine Kirche getreten ist?« fragte der Obrist.

»Wenigstens hat er da nichts mit Geistern zu schaffen gehabt, wie sein Ahnherr, der Große Kurfürst, der meinen Großvater als Geist ins Ohrläppchen gekniffen hat«, sprach der Fähnrich, der in der Punschlaune jenen Blick wohl nicht bemerkt hatte, etwas dreist. »Oder haben Herr Obrist das mal mit angesehen?«

»Ich hab' es.«

Es klang so feierlich, daß man allgemein aufmerksam wurde. »Sie wollen uns doch keine Geistergeschichte mit Friedrich dem Zweiten in Verbindung bringen?« bemerkte der General.

»Es kommt darauf an, wofür Euer Exzellenz es nehmen wollen«, entgegnete der Obrist. »Ich habe so gut wie einer gehört, was sie von seiner Freigeisterei sagen, allein ich habe von je meine eigenen Gedanken darüber gehabt, meinend, daß des Menschen Lippen nicht allemal aussprechen, was da drinnen sich regt. Manchen, der greuliche Flüche ausstößt, habe ich schon still inbrünstig in seinem Kämmerlein beten gehört. Und der König, dachte ich, über dessen Haupt Gottes Hand so sichtbarlich ist, um den solche gläubigen Helden standen, wie der graue Schwerin, Schmettau, Ziethen, der sollte nicht mehr hoffen in seinen Gott als die gepuderten Wetterfahnen aus Frankreich, die um ihn mit Gänseflügeln schnattern? – Haben Sie ihm, meine Herren Kameraden, nur einmal ins Gesicht geschaut, wenn's heiß herging, wie er da die Augen stier hinhält und der helle Glanz wie ein paar Morgensterne durch Rauch und Staub dringt? Solch ein Glanz kommt aus voller Brust, drinnen es gesund aussieht, und geschrieben stand darauf, was freilich keiner von seinen Franzosen lesen mag: ›Der alte Gott ist doch mit mir.‹ Laßt ihn nur spotten auf die Allianz, das ist für die anderen lockeren Leute um ihn; wenn's not tut, weiß er doch so gut wie einer, auf wen er bauen kann.«

Der General warf, als alles schwieg, eine billigende Phrase hin, er sprach etwas von der gläubigen Erziehung, die der König als Prinz genossen habe, und von der Religiosität seines hochseligen Vaters – augenscheinlich mehr, um spöttische Bemerkungen der jüngeren Leute abzulenken, als weil er selbst darauf einging.

»Meinen daher Exzellenz«, sprach der alte Kriegsmann, »Majestät selbst brauchten niemals eine Herzstärkung oder geistige Magentropfen, wenn's da flau wird?«

»Von uns weiß mindestens keiner, wo er die Flasche stehen hat«, bemerkte ein Offizier.

Der alte Obrist tat, als hörte er es nicht, und sah vor sich hin. Dann hub er an: »Es war eine Schlacht geschlagen; welche, darauf kommt's nicht an. Eine blutige Schlacht; als die Sonne sich hinter dem Morast dunkelrot niedersenkte, war's noch nicht entschieden. Mich hatte man fortgetragen, als der Todesengel schon nach mir griff, aber ein anderer Engel, der Engel der Gnade, war ihm noch in den Arm gefallen. Man brachte mich in eine Kirche und legte mich auf eine Bank; mich nicht allein, es wurde ringsum voll, Bänke, Kirchenstühle und die nackten Fliesen unten. Man hatte doch Rücksicht vor den Offizieren; wir lagen wärmer – auf den Bänken. Schmerz und Durst und Frost kehrten sich aber nicht an die Rangordnung. Es war ein fürchterlicher Gottesdienst in der Nacht; die alten Granitmauern bebten von den Kanonenschlägen, der Sturm sauste um den Kirchturm, und die Glocke summte dumpf herunter. Von den Brandfackeln in der Runde glühten die Fenster, und die bunten katholischen Heiligen aus alter Zeit sahen auf die Sterbenden und die Toten hernieder und hörten auf die Fluchenden, die Betenden und die Wimmernden und zitterten selbst wie das Glas, worauf sie gebrannt standen. Wieviel fürchterlicher war da der Todesengel als in der Hitze der Schlacht! –

Die Kanonenschläge verhallten, die Mauern standen wieder fest; aber das Todesröcheln, das letzte Wimmern, Aufstöhnen, das Kreischen der Verdurstenden nach Wasser, eines Verblutenden nach dem Feldscher klangen schrecklicher. Es hörte uns niemand, und die Glocke oben am morschen Turmgebälk brummte fort, und die roten, blauen und grünen Heiligen oben zitterten fort, als hätten sie Zähneklappern. Ich hatte auch gerufen und geseufzt nach dem Wundarzt, nach einem, der mir einen Mantel überdeckte, nach einem Trunk Wasser. – Ich hatte gerufen, geschrien, gebetet. Vergebens. Uns hörte kein Mensch, und der Todesengel kam immer näher, und es ward stiller umher. – Nun dacht' ich: du bist ein alter Kriegsmann, sieh ihm still ins Gesicht! Ich zwang mich, und es ging. Die Wunden und der Gaumen brannten nicht mehr so arg. – Ich hatte noch Zeit. – Um was sollt' ich noch beten? Um mich alten, zerhauenen und zerstochenen Kriegsgesellen, der nicht Kind, nicht Kegel hatte, nichts auf Erden sein nannte als sein Bataillon, die alle Taugenichtse sind? – Nein, dacht' ich, wozu darum das bißchen Atem, das dir der liebe Gott noch ließ, verschleudern? Bet' um was anderes, das mehr wert ist. – Was konnte das sein, als mein König? – Ich strengte mich an, betete für ihn nach dem Gesangbuch und aus dem Herzen, daß er leben bleiben möchte, allezeit seine Feinde schlagen und wie ein Sieger aus dem langen Kriege herausgehen. – Mir wurde nun leichter ums Herz. – Da mußte draußen ein Regiment vorüberziehen, aus ihrem Spiel merkt' ich: sie konnten nicht geschlagen sein. Nun kamen auch Leute in die Kirche, und mancher von den Todwunden ging noch mit dem frohen Geleitsbrief in die andere Welt über: Friedrich hatte gesiegt! Auch mich verband ein Feldscher, leichthin, und wie er 'nausging, sagte er kopfschüttelnd: ›Der kann auch ans Abschiednehmen denken!‹ Von wem sollte ich's? Da erwachte in mir der Wunsch: deinen König Friedrich möchtest du noch einmal sehen. War mir doch der erste Wunsch gewährt, ich betete wieder, und mir vergingen die Sinne. –

Ich schlug die Augen auf, und wie es so still und helldunkel um mich her war und die Orgeltöne ums Hirn schwirrten, glaubte ich, ich sei schon da angelangt, wohin wir alle müssen. Aber es war das Kirchengewölbe, die goldene Leuchterkugel baumelte glänzend über mir, die bunten Heiligen waren ins Dunkel zurückgetreten, die Kirchenfenster flimmerten nur vom Widerschein der Kerzen am Altar, und die Orgel spielte: Befiehl du deine Wege. Sonst war's totenstill und leer ringsum, und nur ein Mann stand allein mitten im Schiff, mir den Rücken zugekehrt und die Hände drauf und rührte sich nicht. – Das Lied war aus. Der Mann drehte sich um, und es war Friedrich. – Meine Herren, es war der König Friedrich, der in der Schlacht die Feinde geschlagen hatte, der hier allein stand, aber es war nicht der König Friedrich, den Sie kennen. Die Augen, den Blick haben Sie niemals gesehen. Der drang durch Granitmauern und Erdschichten, der muß, wenn er sich aufwärts kehrte, mein' ich, durch die Wolken bis in die Sterne geschaut haben. – Der Küster aber hatte sich umgedreht und wagte nicht zu fragen. ›Spiel' Er noch was!‹ sagte der König, und nun wagte der Küster zu fragen: ›Euer Majestät, was für eine Melodie?‹ – ›Die von der festen Burg‹, antwortete der König, sah aber nicht auf, und weil nun der Küster anhub zu spielen: ›Ein' feste Burg ist unser Gott‹, ging der König mit langsamen Schritten das Kirchenschiff auf und ab und wiegte mit dem Kopf, und als es aus war, nickte er noch einmal, daß der Kantor wieder anheben sollte, und es war mir in dem Augenblick, als wär' ich nicht mehr auf Erden, und die Geister der gefallenen Preußen hätten Audienz bei ihrem König, und nun, wenn er stillstände, würde auch auf mich sein Blick fallen und er mich rufen, aufzustehen und aufs neue ihm Treue zu schwören für eine andere Welt. Aber er sah mich nicht und sah doch gerade auf mich hernieder, und der Blick der Augen war wie ein Medikament, denn sie leuchteten nicht mehr stier und starr, vielmehr friedlich, und mir kam es vor, als schwebte etwas von Lächeln um seine Lippen.«

Der Obrist schwieg, alle anderen schwiegen auch.

»Hat die Geschichte damit ein Ende?« fragte jemand.

»Mir kommt sie wie ohne Ende vor«, antwortete der Graubart.


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