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Die Wache stürzte ins Gewehr, noch schlaftrunken, indem sie sich ordnete, und schon schlugen die beiden Tamboure um die Wette den Lärmtrommeln zu, welche von einem entfernten Teile der Stadt her den Generalmarsch wirbelten. Gesindel, Frauen, Bauern, Kinder, Soldaten, die zu den Versammlungsorten stürzten, füllten bald den Platz mit Geschrei und Staub. Einen Augenblick gab Stephan, der es nun auch ratsam hielt, sich unter das dichteste Gedränge zu mischen, dem täuschenden Wahne Raum, die Preußen wären im Anmarsch, Friedrich vor den Toren; nur zu bald erwies sich indes der Auftritt als eine Täuschung. Die Österreicher hatten sich eigenmächtig einquartiert. Man warf die Bürger zu den Türen hinaus und was ihnen von der Familie und den Sachen nicht anstand, hinterher. Ihr Geschrei wurde für sträfliche Widersetzlichkeit erklärt, es kam zu Mißhandlungen, offener Plünderung, und während der Alarm sich über die weite Residenz verbreitete, wurde in einzelnen Teilen derselben wie in einer durch eine wilde Soldateska im Sturm genommenen Stadt verfahren. Langgehegte Wut und Gier gegen die Hauptstadt ihres Todfeindes ließ sie da eine Pflicht suchen, wo die russischen Generäle nichts als Insubordination fanden.
Stephan drängte mit und wurde gedrängt aus einem Stadtviertel in das andere, er sah, wie sie Warenvorräte des Kaufmanns aus den Fenstern warfen, fast nur, um die kostbaren Stoffe zu zerreißen und zu zertreten. – Wenige gewannen dabei – er sah oder hörte, denn der Anblick scheuchte ihn zurück, wie kannibalische Beutelust in der geplünderten Jerusalemskirche auch die Särge einer Gruft erbrach. Mehr als einmal war er daran, sich zu verraten, das preußische Blut wallte in ihm auf. Die Massen, in die er in unbesonnener Aufwallung Feuer bringen wollte, retteten ihn aber jedesmal, indem sie ihn in ihrem trägen Strom verbargen. Jetzt sank er, abgespannt, hungrig und durstig, auf eine vor einem Branntweinladen hinausgeschobene Bank, gleichgültig, was der darinnen tobende Lärm bedeutete. Sie drohten, lachten, schlugen, fluchten; Österreicher, Kosaken, Einwohner, Männer und Frauen durcheinander. Eine kreischende Frauenstimme machte sich besonders vernehmbar wie der Gesang, zu dem der Lärm der anderen nur der Chor war.
Stephan wartete, bis sie ausgetobt hätten, um für Geld und gute Worte einige Erfrischung zu erhalten. Er saß, die Stirn in die Hand gestützt, als unter noch gesteigertem Lärm der ganze Inhalt der Budike sich rückwärts auf die Straße ergoß. Ein kleiner Tambour fiel ihm vor Lachen fast auf den Leib, die Österreicher jodelten ein Wiener Spottlied, die Kosaken wieherten vor Lust, und die Straßenjugend jauchzte vor Jubel. Sie hatten ja nichts zu verlieren, jedes neue Schauspiel war ein Gewinn. Aus der Ladentür zerrte man am Schweif ein ausrangiertes Kosakenpferd, und darauf reitend, aber rückwärts, den Schweif statt Zaum und Zügel in der Hand, saß halb angebunden das Ziel der Ausgelassenheit, der Triumph der Lust: ein widerwärtig ausgeschmücktes, zornsprühendes altes Weib. Die Haube hatte man ihm verkehrt aufgesetzt, die grauen Haare flatterten im Winde, ein zerfetzter Husarenpelz war ihm als Korsett über den Leib gezogen und ein großer Kurierstiefel über den einen Fuß gestülpt.
Sah er recht, hörte er recht? Die Frau mußte er kennen. Die Gassenbuben riefen ihren Namen. Der Name war ihm nicht fremd. Sangen sie nicht ein Spottlied, das er kannte?
Waren zwanzig Jahre ein Traum gewesen? War die bedrängte Frau, die gefoppte Reiterin, die Unholdin, die Zielscheibe rohen Witzes, sie, die den Mund aufsperrte, als wollte sie sich mit der ganzen Soldateska beißen, die mit der Faust jetzt den Gassenbuben, jetzt Himmel und Erde drohte, nicht dieselbe Krämerfrau und Verwandte, welche ihn so oft an den Ohren gekniffen hatte, dieselbe, die mit zu seinem Entlaufen aus Berlin Veranlassung gewesen war? Unwillkürlich fühlte er eine Röte im Gesicht, er mochte nicht ihrem häßlichen Blicke begegnen; ja, es war dieselbe Frau. – Aber er war doch ein anderer!
»Was hat sie denn begangen?« fragte er vor sich hin, und ein paar Knaben, ungefähr wie er vor zwanzig Jahren, beeilten sich, ihm zu antworten. Die Sache war für sie wichtiger als die Einnahme von Berlin, und daß den Häusern ihrer Eltern die Plünderung drohte. Stephan erfuhr wenigstens das mit Gewißheit, die Straße von Berlin hatte seit zwanzig Jahren ihre Sitten nicht gewechselt; zur Sache selbst nicht mehr, als daß die greise Unholdin im Vertrauen auf ihre unverwüstliche Lunge und großen Hände auch mit den Feinden ihres Königs angebunden hatte. Obwohl vor jenen ein Korps von zwanzigtausend tapferen Preußen nach Spandau abgezogen war und der Magistrat kapitulierte, war ihre Streitlust nicht gebrochen. Allein das Glück ist nicht immer gerecht. Die Widerbellerin – und wenn die Jungen recht hatten, hatte sie sogar gegen die Kosaken ausgeschlagen – war von dem Soldatengericht zu dem beschriebenen Triumphzuge verdammt worden. Der wälzte sich nun fort durch die Straßen, und Stephan, ohne zu wissen, wie er dazu kam, war mit dem Strome fortgetrieben.
Ja, es war die alte Frau Kurzinne, aus deren Munde Schmähungen sich ergossen wie in der Zeit ihres Glückes, ein dunkler, mächtiger, unaufhaltsamer Strom, der alles überflutete, worauf er traf, ihre Peiniger, die Gassenjungen, die Nachbarn, die aus den Fenstern zuschauten, den Magistrat, Freund und Feind. Da mußte sie in der Menge einen Gegenstand gewahren, der besonders wert schien, daß sie den letzten Vorrat Ingrimm aus ihrer kochenden Brust auf ihn entlade.
Gebückt schlich inmitten einiger österreichischer Soldaten eine abgelebte Gestalt an der Mauer fort. Das hagere Olivengesicht, kaum mehr noch als Knochen und Haut, doch mit einem Paar Augen, dem Neid und der Mißgunst abgestohlen, blickte aus einem abgeschabten braunen Rocke hervor, der doppelt den Leib bedecken konnte, um den er schlotterte. Der Mann wankte an einem Stocke und schien halb Gefangener, halb Führer seiner militärischen Begleitung zu sein. Als er, um den Strom vorüberzulassen, sich an die Mauer stellte und nach den Teilnehmern am Zuge schielte, begegneten sich die Blicke der Frau und des Mannes. Die der ersteren fingen neuen Feuerstoff, während der letztere, von der apathischen Gleichgültigkeit des Alters gedrückt, dazu nicht mehr fähig sein mochte.
»Warum denn den Kopf zur Erde, da wir ein reicher Mann sind? – Wollen wir einen Schluck Goldwasser bei mir trinken? Da ist nichts mehr zu schlucken, Herr Advokat, andere haben geschluckt.«
Da tauchte also wieder eine Gestalt aus der Jugend auf! – Ein leibhaftiges Gespenst! Hier hatte schon die Nemesis gewaltet.
Als der Advokat – das beste, was er tun konnte! –, gleichgültig blieb, erhob sie ihre Stimme:
»Taub will er sein und mich nicht verstehen. Ich will ihm aber ins Ohr schreien, bis dem alten Schuft das Zwerchfell platzt. – Wer das ist, wollt ihr wissen? – Ein Rabulist, ein Winkelschreiber, ein Geizhals, ein Betrüger, ein Gauner, hat Vormundschaftsakten gestohlen, eine rechtschaffene Frau geheiratet, um sie um ihr alles zu bringen, konfisziert ist er, kontemniert, in Spandau gesessen, ja unterm Galgen wäre sein Sitz, wenn es Gerechtigkeit gäbe, Schlipalius heißt er, und mein Mann ist er.«
Als dies bei der Menge nur eine halbe, bei dem Manne gar keine Wirkung hervorbrachte, fuhr sie fort:
»Wenn er nicht verstehen will, ich weiß ein Mittel. Schreit ihm ins Ohr: wo er seine Geldsäcke vergraben hat, das versteht er gleich. O, wenn ich das Gericht gewesen wäre, als er Armut schwur! Schwören kann man alles, was man muß. Soll mich wundern, ob die kaiserlichen Generäle auch so lange Eselsohren haben wie unser Magistrat und die hohe Obrigkeit, Gott steh' mir bei! – Der Filz ist ein reicher Mann, so wahr ich hier auf'm Pferde sitze, ein steinreicher Kerl, aber sie haben sich ein X für ein U machen lassen, einen Zopf, eine Nase bis nach Köpenick drehen lassen, die Langohren! Er kann noch Blut lassen, wenn man ihn recht zapft, so blaß er aussieht. Faßt ihn nur ordentlich an, er verträgt schon was, der Witwendieb, der Waisenschinder. Reißt ihm nur die Weste auf, den Rock auf, da sitzt es, Banknoten und Verschreibungen. Seine Seele ist längst verschrieben.«
Er blieb gelassen und ruhig, während die gierigen Blicke aller derjenigen, welche das Weib verstanden hatten, seine Mienen und seinen ärmlichen Anzug musterten. Der österreichische Korporal aber kommandierte: »Marsch! Wir haben nach anderen Dingen zu suchen.«
»Nach anderen Dingen!« schrie die Reiterin auf. »Hört ihr's? Er will angeben? – Was denn? – Sein Geld? Wo das liegt, wird er euch nicht auf die Nase binden. Seiner Nachbarn ihres? – Die haben keines mehr. Hört ihr's, Leute, Frau Stadtwachtmeisterin, Herr Klempnermeister. Jungens, seht, so sieht ein räudiger Hund aus, ein Spitzbube an Gott und seinem König, ein Malefikant an der hohen Obrigkeit. Der da, der da will den Feinden angeben, wo treue Diener ihres Königs Gut versteckt haben. Seht ihn doch an. Merkt ihn euch, Jungens, so hustet er, so blinzelt er mit den Wimpern, so zwickt er mit den Fingern, merkt ihn euch, den Schleicher, wenn der König zurückkommt, den Judas, den Witwenschinder, den gelben Aktenschlund, den grünen Aktendieb, Schlipalius heißt er, und mein Mann ist er.«
Die letzten Worte erreichten nicht mehr ihre Adresse. Die österreichische Wache hatte ihren Schützling fortgerissen. Stephan, dem es für einen Augenblick in den Sinn gekommen war, irgend etwas zugunsten seiner ehemaligen Verwandten zu tun, war schnell auf andere Gedanken gebracht. Der Advokat Schlipalius wollte Kassengut angeben. Es trieb ihn dem verhaßten Menschen nach, daß er, durch das Gewühl sich drängend, erschöpft zum Umfallen, jetzt atemlos der Wache, die einen bedeutenden Vorsprung gewonnen hatte, nachstürzte.
Man weiß nicht bestimmt, welche Nachweisungen die Österreicher sich von dem abgesetzten Advokaten versprachen, aber ihre Erwartungen mußten nicht ganz gering sein, denn man erwartete ein paar Kriegskommissare auf der Wache, wo man den alten Mann sich von dem Gange, der seine Kraft erschöpft hatte, erholen ließ. In dem Ofenwinkel, auf einer Bank, tauchte er eben ein Stückchen Semmel in das Likörglas, als er zu seinem Schrecken bemerkte, daß er hier nicht allein war. Denn dicht neben ihm auf der Bank saß ein junger Mann mit einem Schnurrbart und einer entschlossenen Miene. So dicht hatte er sich an den zitternden, schmutzigen Greis genestelt, daß er ihm ins Ohr flüstern und doch dabei schreien konnte: »Schurke, rühr' dich nicht, oder du bist verloren.«
Dabei blitzte ihm die Öffnung eines Terzerols entgegen.
»Was haben Sie, mein Herr?« näselte der Advokat, und der Bissen Semmel war in das Glas gefallen.
»Schuft, was hast du vor? Das ist die Frage.«
»Nichts...«
»Deinen König verraten!«
»Barmherzigkeit, nein – ich bin ein heruntergekommener, armer, verelendeter Advokat...«
»Ich kenne dich, still! – Führst du die Kommissare dahin, wo sie nur einen preußischen Kassenbeutel mit des Königs Siegel, nur einen Taler mit des Königs Bild, nur einen Pfennig mit des Königs Namenszug finden, so rechne darauf, ich verfolge dich wie dein böser Geist bis nach Sibirien, bis an den Rand des Grabes, bis an den Fuß des Galgens, wo du hängen sollst, verräterischer Gauner, so wahr ich dich kenne und du mich auch einmal gekannt hast. Sieh mich an.«
»Wer – wer sind Sie?« stammelte das hohläugige Gespenst; seine Knochenhände sanken kraftlos in den Schoß zurück, das spitze Kinn war nach dem Fremden zu aufgerichtet, der Blick suchte nach einer Erinnerung.
»Der Sohn des Inspektors Bohm, den du verleumdet hast«, schrie ihm stärker, als er wollte, Stephan ins Ohr und sprang von der Bank auf. »Nun tu', was du willst, ich finde dich wieder, und wenn du dich in ein Mauseloch verkriechst.«
Er würde vielleicht nicht so eingeschritten sein, wenn er diese Folge geahnt hätte. Mit einem Schrei: »Allbarmherziger Gott!« sank, die Hände noch einmal zusammenschlagend, das Gespenst in die Knie. Es war seine letzte Anstrengung, seine letzte Handlung. Stephans Name hatte ihn getötet. Seine Stirn fiel auf Stephans Fußspitze.
»Was ist das?« schrie es. »Tot!« – »Der alte Mann.« – »Er hat ihn erwürgt.« – »Wer ist der Kerl?« – »Ein Spion.« – »Greift ihn!«
Stephan hatte vorsichtig ein Fenster in der Nähe des Ofens aufgedrückt, ehe er sich an den Advokaten heranmachte. Jetzt war es zu spät, die Bestürzung ließ ihn nicht, solange es noch Zeit war, von dem einzigen Weg zu seiner Rettung Gebrauch machen. Jeder Widerstand wäre töricht gewesen, als draußen eine österreichische Zunge rief: »Zu den Waffen! Zu den Waffen! Die Russen!« – »'raus!« erscholl der Ruf der Schildwache vor dem Gewehrposten. Eine Kleingewehrsalve platzte von der Ecke her. »Ins Gewehr!« kommandierte der Korporal, und noch einmal sah sich Stephan frei, wenigstens innerhalb der vier Wände seines Gefängnisses. Das Fenster war noch offen, es ging nach der Seite hinaus. Der Leichnam lag davor. Er schob ihn weg, aber als er einen Fuß schon auf dem Fensterbrett hatte, fiel es ihm noch ein, daß er etwas Hartes auf der Brust des Toten gefühlt. Es war eine Brieftasche, vielleicht enthielt sie auf den Verrat bezügliche Papiere. Er riß sie heraus, ein zweiter Ansatz, und er war im Freien.
Es trommelte, Bewaffnete stürmten von zwei Seiten herauf, drüben am Platz gab es ein Handgemenge zwischen Österreichern und Russen. Endlich hatte Tottleben, als alle Vorstellungen gegen das kapitulationswidrige Benehmen der Österreicher fruchtlos blieben, auf die Plünderer Feuer geben lassen. Die Kameradschaften traten zusammen, die Generäle hatten für den Augenblick keine Stimmen, keine Autorität, es schien zu einem heftigen Gefecht zwischen den beiden alliierten Nationen innerhalb der Straßen Berlins kommen zu sollen. Links stand die Wache im Gewehr, rechts marschierten die Russen die Straßen herauf. Stephan flog nach rechts, aber die Russen machten kehrt, nach einer anderen Seite kommandiert. Die Trommel der Wache wirbelte hinter ihm. Er flog an der Häuserreihe hin, alle Türen waren verschlossen. Schwer benagelte Schuhsohlen der Kroaten klappten hinter ihm. Er bog um mehrere Ecken, die Verfolger verloren ihn nicht. Ein Offizier zeigte aus seinem Fenster: »Dort, dort läuft er.« Das Nachsetzen wurde um so eifriger, als man nicht wußte, weshalb er verfolgt wurde. Jetzt lag eine lange Straße ohne Quergassen vor ihm.
Da öffnete sich leise eine Haustür, er stürzte hinein, riß, er wußte nicht, wen um und flog die Treppe hinauf. Erst als er den Boden erreicht hatte, hörte er Lärm hinter sich. Hier war nicht weiterzufliehen. Aber das Dach war nicht steil, das vom Seitenhause stieß daran. Auch eine geringere Gefahr hätte das Wagestück gerechtfertigt. Er gelangte auf diesem Wege unbemerkt und glücklich auf den Boden noch eines dritten Hauses. Hier verließ ihn seine Kraft. Er war für den Augenblick gerettet, kein lebendes Wesen ließ sich blicken, seine Anwesenheit scheuchte nur einige Fledermäuse und den Hauskater fort. Auf der Gasse trommelte man noch, aus der Ferne kamen einige Schüsse. Er suchte kein bequemeres Lager, als der Futtersack ihm bot, auf dem er den müden Kopf ruhen ließ und bald über alle Sorgen und Erinnerungen hinwegschlummerte.