Leonid Andrejew
Das rote Lachen
Leonid Andrejew

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Zwölftes Fragment

... Es fängt nun wirklich an. Als ich gestern nacht das Kabinett des Bruders betrat, sah ich ihn in seinem Sessel an dem mit Büchern beladenen Tische sitzen. Die Halluzination verschwand sogleich, als ich Licht gemacht hatte, aber ich konnte mich lange nicht entschließen, den Platz einzunehmen, auf dem er soeben gesessen hatte. Es war mir anfangs so bang zu Mute – die leeren Zimmer, in denen man beständig ein seltsames Rauschen und Knistern vernimmt, rufen diese Bangigkeit hervor. Dann aber fand ich Gefallen an der Situation: immer besser, er ist's, als irgend ein anderer. Ich stand jedoch den ganzen Abend nicht von dem Sessel auf: ich konnte die Furcht nicht los werden, daß, wenn ich aufstehe, er sich sogleich wieder an seinen alten Platz setzt. Und ich verließ das Zimmer sehr rasch, ohne mich umzusehen. Man müßte eigentlich in allen Zimmern Licht machen – aber verlohnt sich das wohl? Wenn ich dann auch bei Licht etwas sehe, ist die Sache schlimmer; so bleibt mir doch wenigstens der Zweifel ...

Heute ging ich mit einem Licht hinein, und es war niemand in dem Sessel. Offenbar war es auch damals nur ein Schatten gewesen, der durchs Zimmer huschte. Ich war wieder auf dem Bahnhof – jeden Morgen gehe ich jetzt dahin – und ich sah einen ganzen Waggon voll Wahnsinniger, lauter Unsrige. Der Waggon wurde nicht geöffnet, sondern auf ein anderes Geleise übergeführt, doch gelang es mir, durchs Waggonfenster einige Gesichter zu erspähen. Sie waren furchtbar anzuschauen. Namentlich das eine. Es war übermäßig langgestreckt und gelb wie eine Zitrone, und mit dem offenstehenden schwarzen Munde und den unbeweglichen Augen glich es so sehr der Maske des Schreckens, daß ich mich nicht davon losreißen konnte. Und es starrte mich in seiner todähnlichen Unbeweglichkeit an und schwamm gleichsam mit dem abgehenden Zuge davon, ohne auch nur mit einer Miene zu zucken oder den Blick von mir abzuwenden. Wenn es mir jetzt dort in dem dunklen Rahmen erschiene – ich könnte seinen Anblick nicht ertragen. Ich hielt Umfrage und erfuhr, daß man nicht weniger als zweiundzwanzig solche Unglückliche gebracht habe. Die Epidemie breitet sich aus. Die Zeitungen schweigen zwar über die Sache, aber es scheint auch bei uns in der Stadt nicht geheuer zu sein. Es sind da so seltsame schwarze, dicht verschlossene Kutschen in den Straßen aufgetaucht – ich habe ihrer heute, an einem einzigen Tage, in den verschiedenen Stadtvierteln nicht weniger als sechs gezählt. In einer dieser Kutschen werde auch ich einmal fahren ...

Die Zeitungen aber verlangen Tag für Tag immer neue Truppen und neues Blut, und ich vermag es immer weniger zu begreifen, was das bedeutet. Gestern las ich einen höchst verdächtigen Artikel, in dem ausgeführt wurde, daß eine Menge Spione, Verräter und treulose Schurken unter dem Volke wären, daß man Vorsicht üben und auf der Hut sein solle, und daß der Zorn des Volkes die Schuldigen selbst herausfinden werde. Welche Schuldigen? Was haben sie verbrochen? Als ich mit der Pferdebahn vom Bahnhof nach Hause fuhr, hörte ich ein sonderbares Gespräch, das sich jedenfalls hierauf bezog:

»Man muß sie einfach aufhängen, ohne viele Umstände,« meinte der eine, indem er alle, darunter auch mich, mißtrauisch forschend ansah. »Unbedingt muß man diese Verräter aufhängen, ja!«

»Ohne Erbarmen,« pflichtete der andere ihm bei – »lange genug hat man Nachsicht geübt.«

Ich sprang aus dem Pferdebahnwagen. Was ist das nur? Was bedeutet das? Alles vergießt Tränen über diesen Krieg, auch sie selber tun es – und doch führen sie solche Reden! Ein blutiger Nebel hüllt die Erde ein und blendet die Augen, und ich beginne zu glauben, daß in der Tat der Moment einer Weltkatastrophe herannaht. Das rote Lachen, das mein Bruder sah! Der Wahnsinn kommt von dort, von jenen blutigen, roten Feldern – ich spüre deutlich in der Luft seinen kalten Hauch. Ich bin ein Mensch von kräftiger Konstitution, ich weiß mich frei von jenen zersetzenden Krankheiten, die den Verfall des Gehirns nach sich ziehen – aber ich fühle, wie die Ansteckung auch mich ergreift, schon gehört die Hälfte meiner Gedanken nicht mir selbst. Das ist schlimmer als die Pest mit ihren Schrecken. Vor der Pest kann man sich doch irgendwo verstecken, kann irgendwelche Maßnahmen gegen sie ergreifen – wo aber soll man sich verstecken vor dem alldurchdringenden Gedanken, der keine räumlichen Schranken kennt?

Am Tage kann ich mich des Entsetzlichen noch erwehren, in der Nacht aber werde ich, wie alle anderen, ein willenloser Sklave meiner Träume: und meine Träume sind so furchtbar, so voller Wahnwitz ...


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