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Der Schlossermeister Werner war ein sehr fleißiger und geschickter Handwerker, der auch seines biederen und freundlichen Charakters wegen allgemein beliebt und geachtet wurde. Obwohl er nur mit sehr geringen Mitteln angefangen hatte, so war er doch durch Fleiß und Tüchtigkeit bald ein wohlhabender Mann geworden. Trotzdem er sehr sparsam war, hatte er doch stets für seine Mitmenschen ein teilnehmendes Herz und eine offene Hand. Wer in Not kam, wandte sich vertrauensvoll an Meister Werner, der auch half, wo er nur konnte. Mit seiner fleißigen und sanften Frau lebte er stets in Eintracht und Frieden. Beider Gatten größte Freude und Stolz war ihr einziger Sohn, der zwölfjährige Wilhelm, der auch ein gar schmucker, geweckter und guter Junge war. Daher war es auch den Eltern durchaus nicht zu verdenken, wenn sie auf ihren Wilhelm große Hoffnungen setzten. Der Vater wollte ihm eine bessere Erziehung angedeihen lassen, deshalb ließ er ihn eine höhere und nicht die Bürgerschule besuchen. Damit war aber seine Frau nicht so ganz einverstanden gewesen. »Wir bleiben doch immer nur niedere und einfache Leute,« hatte sie kopfschüttelnd gesagt, »und ich meine, es ist nicht richtig, wenn wir mit dem Jungen höher hinaus wollen. Wenn wir ihn über unseren Stand erziehen und ausbilden lassen, so wird ihm dereinst sein Vaterhaus verleidet, und wir, seine einfachen Eltern, werden ihm entfremdet werden.«
»Laß nur gut sein, Frauchen, das haben wir bei unserm Wilhelm nicht zu befürchten,« hatte sie der Gatte zu beruhigen gesucht, »in dem Jungen steckt ein guter Kern und er wird seine Eltern auch deshalb nie mißachten, weil sie weniger gebildet sind und nicht soviel gelernt haben, wie er. Seine Lehrer sagen, er habe einen offenen Kopf und das Lernen würde ihm sehr leicht.«
»Weshalb soll er denn aber nicht dereinst ein einfacher und tüchtiger Schlossermeister wie du werden, und das Geschäft mit dir zusammen betreiben?«
»Das soll er auch,« nickte Meister Werner, »ich hoffe zuversichtlich darauf, daß wir dereinst zusammenarbeiten und das Geschäft ordentlich in Schwung und in die Höhe bringen werden.«
»Dazu braucht er aber doch all den gelehrten Krimskrams nicht zu lernen, bei dem mir schon vom bloßen Zuhören der Kopf weh tut.«
»Nun sage einmal, Frauchen, wird es dir nicht auch eine große Freude sein, wenn wir zusammen eine Maschinenfabrik anlegen? Geschicklichkeit und Lust hat der Junge ja zu solchen Sachen, und da er dazu eben das Maschinenfach studieren muß, geht es nicht anders, als daß er eine höhere Schule besucht.«
»Also studieren soll er doch?« fragte Frau Werner nachdenklich.
Wilhelms Eintritt unterbrach jetzt das Gespräch der Eltern.
Munter kam der hübsche Knabe angesprungen und rief: »Jetzt bin ich mit meinen Arbeiten fertig, lieber Vater, kann ich dir nun wieder helfen Rechnungen schreiben, oder hast du sonst einen Auftrag für mich?«
»Nein, mein Junge, heute habe ich nichts für dich zu tun; wir werden auch gleich Abendbrot essen, und nachher kannst du uns die Zeitung vorlesen.«
Es war eine rechte Freude, die drei glücklichen Menschen abends bei der Lampe im traulichen Wohnzimmer so gemütlich um den runden Tisch sitzen zu sehen. Behaglich rauchte dann der Vater sein Pfeifchen und kritzelte mit einem Bleistift allerlei Zeichnungen auf ein Stück Papier, wenn er nicht noch nötige Reparaturen zu machen hatte. Die Mutter strickte, flickte oder nähte emsig Wäsche für die Ihren. Wilhelm las dabei den Eltern aus der Zeitung oder einem Buche vor. Nachher nahm er dann noch seine Lieblingsarbeit, eine Schnitzerei zur Hand und schwatzte fröhlich wie ihm der Schnabel gewachsen war. In dieser Weise lebte die kleine Familie eine Reihe von Jahren im Sonnenschein des Glücks heiter und guter Dinge dahin, bis sich über ihren Lebenshimmel plötzlich finstere Wolken zusammenzogen und aller Freude ein trauriges Ende machten.
Meister Werner, der nie in seinem Leben ernstlich krank gewesen war, klagte eines Abends über heftige Schmerzen in allen Gliedern. Am nächsten Morgen konnte er sich nur mit Mühe und Anstrengung nach seiner Werkstatt schleppen, und den darauffolgenden Tag war es schon so schlimm, daß er zu einem Arzt schicken mußte. Dieser erklärte, nachdem er ihn untersucht hatte, daß sich das Uebel sehr in die Länge ziehen konnte. »Sie müssen sich schon in das Unabänderliche fügen, Meister Werner, und sich einmal Ruhe gönnen,« hatte er beim Abschied noch hinzugefügt. Das war nun eine traurige Aussicht für den stets so rührigen, fleißigen Mann, und mit Recht fürchtete er, daß jetzt in der Werkstatt alles drunter und drüber gehen werde. Nur zu bald sollten sich diese Befürchtungen bestätigen, denn in den seltensten Fällen geht es gut, wenn des Herrn Auge nicht wachen kann. Der Geselle, der nun das Erscheinen des Meisters nicht zu fürchten hatte, bummelte den ganzen Tag herum. Ebenso tat auch der Lehrling, der sich jetzt selbst überlassen blieb, so viel er wollte. Da nun die Kunden sehr schlecht oder gar nicht bedient wurden, kamen sie nicht wieder, und bald fand sich überhaupt keine Arbeit mehr. Daher blieb dem kranken Meister nichts weiter übrig, als beide zu entlassen und die Werkstatt bis auf weiteres zu schließen. Leider stellte es sich nun heraus, daß der beklagenswerte Mann nicht nur allein durch die liederliche Wirtschaft des gewissenlosen Gesellen stark geschädigt worden war, sondern daß ihn der schlechte Mensch auch noch auf die unglaublichste Weise betrogen und bestohlen hatte. Da er sich früher nie hatte etwas zuschulden kommen lassen und stets brauchbar und geschickt gewesen war, so hatte sein Brotherr zu großes Vertrauen in ihn gesetzt, das er nun auf eine so schändliche Weise getäuscht hatte. Der Gewissenlose hatte es mit seinen Betrügereien so weit getrieben, daß es in der kurzen Zeit mit Meister Werners Wohlstand zu Ende war. Bald hätte er sogar mit seiner Familie die bitterste Not leiden müssen, wenn nicht die fleißige Frau mit seiner Wäsche und Näherei dazu verdient Hütte. Vergebens hoffte der arme Mann von Tag zu Tag auf Besserung; zuweilen ließen die Schmerzen nach, dann wurden sie wieder desto schlimmer. Obwohl bald noch ein anderer Doktor zu Rate gezogen war, so konnte ihm doch keiner helfen. Beide Doktoren schüttelten den Kopf und erklärten den Zustand des Kranken für einen ganz besonderen Fall; sie stimmten darin überein, daß dies Leiden sicher von einer starken Erkältung herrühre und nur in einer Krankenanstalt durch Bäder mit der Zeit geheilt werden könnte. Sie rieten dein Meister, es sobald als möglich in einer solchen Anstalt zu versuchen, aber dazu fehlten dem Aermsten jetzt die Mittel, und eine Freistelle war nicht so schnell zu haben. Leider pflegt es im Leben oft so zu gehen, daß auf ein Unglück bald das andere folgt, das sollte sich auch bei der so schwer heimgesuchten Familie in nächster Zeit schon bewahrheiten. Die gute, brave Frau Werner, die durch ihren rastlosen Fleiß die Not der Ihren abzuwehren suchte und dem gebeugten Mann stets Trost und Mut zugesprochen hatte, erkrankte und starb schon nach wenigen Tagen.
»Verzage nicht, du guter, armer Mann,« hatte die Kranke scheidend gesagt, »ich werde dort oben für dich beten. Wilhelm, mein Sohn, sorge für den Vater und behalte stets Gott vor Augen und im Herzen.« Nach diesen Worten hatte noch einmal ihr Auge mit einem Blick unendlicher Liebe auf den Teuren geruht, dann war sie sanft und ohne Kampf eingeschlafen. Herzzerreißend war der Schmerz der trostlosen Hinterbliebenen, die nun ihren Halt und ihre Stütze verloren hatten und nicht aus noch ein wußten.
»Ach, warum hat der liebe Gott das getan!« jammerte der arme, kranke Mann, »weshalb hat er mich elenden Krüppel nicht lieber zu sich genommen!«
»Gottes Wege sind nicht unsere Wege, nach einem ›warum‹ dürfen wir niemals fragen, lieber Meister Werner,« hatte der Pfarrer darauf geantwortet, und tröstend ihm die Hände drückend hinzugefügt: »Der gütige Vater im Himmel wird Sie nicht verlassen und versäumen; auch in den schwersten Prüfungen dürfen wir nie an seiner Barmherzigkeit und Vatertreue zweifeln!«
Das hatte auch der gottesfürchtige Mann nie getan, in seinen schweren Leidenstagen hatte er sich gläubig und demütig des Herrn Willen gebeugt. Doch dieser neue Schlag hatte ihn zu unvorbereitet und hart getroffen. Als der Sarg hinausgetragen wurde und er seine treue Lebensgefährtin nicht einmal zur letzten Ruhe begleiten konnte, da brach er von: Schmerz überwältigt zusammen. Weinend umschlang Wilhelm den unglücklichen Vater, er wußte nicht, wie er ihn trösten und aufrichten sollte. Der arme Junge litt selbst so unsäglich schwer, denn mit der innigsten Kindesliebe hatte er an seiner Mutter gehangen, und er glaubte ihren Verlust nicht überleben zu können. Doch wenn er auf den hilflosen Vater sah, suchte er seinen eigenen Schmerz zu bekämpfen, sein Herz sagte ihm, daß es jetzt seine heiligste Pflicht sei, für ihn zu leben und zu sorgen.
Der Pfarrer und andere mitleidige Menschen nahmen sich der Armen an, und versorgten sie abwechselnd mit Mittagessen. Eine gefällige Nachbarin lehrte Wilhelm den kleinen Haushalt besorgen und in Ordnung halten. Der tapfere Junge mühte und quälte sich redlich, schon in aller Frühe suchte er mit Semmel- und Zeitungaustragen ein paar Groschen zu verdienen. Ehe er zur Schule ging, brachte er dann noch das Zimmer in Ordnung, besorgte das Frühstück und stellte für den Vater alles zurecht, was ihm zur Bequemlichkeit dienen konnte. In den jetzigen Verhältnissen hatte er selbstverständlich die höhere Schule mit einer Bürgerschule vertauschen müssen. Dem begabten und fleißigen Schüler war dies natürlich sehr schwer geworden, doch ließ er dem Vater seine Betrübnis darüber nicht merken. Da er nun nicht viele Schularbeiten zu machen hatte, so verfertigte er allerlei nette Holzarbeiten, die er dann billig verkaufte. Fast täglich begab er sich auch nach dem Hafenplatz hinaus, zu der Zeit, da Fremde anzukommen pflegten, um mit Sachentragen einen kleinen Erwerb zu suchen. Durch seinen rastlosen Fleiß und durch die Mildtätigkeit guter Menschen war wenigstens die größte Not abgewendet. Doch jetzt, wo es zum Winter ging, hatte der arme Kranke bei der feuchten und naßkalten Witterung mehr denn je zu leiden. Wenn er dann noch sah, wie sich sein guter Sohn quälte und wie elend er aussah, dann kam die größte Mutlosigkeit und Verzweiflung über ihn: »Ja, ja, meine gute bescheidene Frau hatte recht, ich habe einst zu hoch mit meinem Sohne hinausgewollt,« klagte er sich dann selbst an, »darum muß ich nun auch für meinen Hochmut büßen.«
Wilhelm war sehr betrübt, wenn er den Vater so leiden sah und ihm nicht zu helfen vermochte. Heute früh war er dem Arzt nachgeeilt und hatte ihn flehentlich gebeten: »Lieber Herr Doktor, gibt es denn wirklich gar nichts, wodurch dem armen Vater Linderung seiner Schmerzen verschafft werden könnte?«
Der Arzt, ein sehr menschenfreundlicher Mann, sah mitleidig in das gramvolle Gesicht des Knaben und sagte: »Mein lieber Junge, das einzige, was deinem Vater vielleicht noch Hilfe verschaffen könnte, wäre, ihn in eine geeignete Heilanstalt zu bringen; aber das würde viel Geld kosten, und ich habe mich bisher vergebens nach einer Freistelle für ihn bemüht. Ich verspreche dir aber, mir die erdenklichste Mühe zu geben, wenigstens bis zum Frühjahr eine solche für ihn zu erwirken.«
Das war leider noch eine sehr ferne Aussicht, denn noch hatte der Winter erst begonnen. Mit tiefer Betrübnis sagte sich der unglückliche Knabe: »Wenn mein Vater noch lange so entsetzlich leiden soll, das hält er gewiß gar nicht aus.« Bitterlich weinend sank er auf die Knien und flehte mit kindlichem Vertrauen: »Lieber Gott, erbarme dich, hilf meinem Vater und nimm ihn mir nicht! Ach, ich habe ja dann niemand mehr auf der ganzen Welt!« Und der gute Vater im Himmel erhörte das heiße Flehen dieses geängstigten Kindes, und ließ bald die Erlösungsstunde schlagen. Mit der tröstenden Zuversicht: »Der liebe Gott wird mich erhören und mir einen Ausweg zeigen,« ging er früher denn sonst, weil heute die Schule ausgefallen war, nach dem Hafenplatze. Da er unterwegs noch für den Lehrer und für die Nachbarsfrau etwas zu besorgen hatte, so kam er doch später als sonst dort an. Der Platz war schon fast ganz menschenleer, vergebens spähte er nach Arbeit umher, und betrübt wollte er den Rückweg wieder antreten, als er plötzlich einige Schritte weit entfernt einen schwarzen Gegenstand im Sande liegen sah.
Er bückte sich und hob ein einfaches, schwarzes Futteral von der Erde auf, in welchem er aber eine sehr elegante Brieftasche fand. Wie groß war sein Erstaunen, als er diese öffnete und mehrere große Geldscheine und andere Wertpapiere darin sah! Sehr sorgfältig schloß er sie wieder und blickte umher, ob keiner zu entdecken wäre, der diese inhaltreiche Tasche verloren haben könnte. Vielleicht der Herr, den er noch vorhin in der Entfernung gesehen hatte? Schnell wollte er ihm nacheilen, als einer seiner jetzigen Schulkameraden an ihn: vorüber kam und neugierig fragte: »Na, zeig' mal, was hast du denn da gefunden? Du tust ja, als ob du Schätze in den Händen hättest.«
»Die habe ich auch, und ich muß sehr schnell laufen, um den Herrn einzuholen, der diese Brieftasche wahrscheinlich verloren hat.«
»Du Einfaltspinsel, das wäre doch noch schöner, wenn du das Geld, das dir ein glücklicher Zufall in die Hand gespielt hat, herausgeben wolltest!«
»Natürlich will und muß ich es zurückgeben!« erklärte Wilhelm sehr entschieden.
»Ach was! Sei doch nur vernünftig und rede nicht solchen Blödsinn. Es weiß ja kein Mensch, und ich schweige wie das Grab, wenn du mir nur den dritten Teil abgibst.«
»Das wäre ja Diebstahl und gegen das fünfte Gebot gehandelt!« rief Wilhelm voller Entrüstung. »Wenn es auch kein Mensch weiß, so hat doch Gott im Himmel gesehen, und wie könnte ich dann wohl je mein Auge wieder zu ihm erheben!«
»Dummerian, alter Esel!« rief der Versucher hohnlachend und grimmig hinterher, als der ehrliche Wilhelm ihm nach diesen Worten den Rücken kehrte. So schnell er auch lief, konnte er doch den Herrn nirgends mehr entdecken, und es blieb ihm daher nichts weiter übrig, als seinen Fund zur Polizei zu tragen. Er überlegte, ob er nicht lieber erst nach Hause gehen müßte. Es war schon um die Mittagszeit und sein Vater würde sich gewiß um ihn ängstigen, wenn er länger als sonst ausblieb; denn bis zur Polizei hatte er noch weit zu gehen. Aber nein, unmöglich konnte er mit dem Gelde erst nach Hause gehen. Gewiß würde es auch der Herr sofort anzeigen und in großer Unruhe sein. Es gab hier kein langes Besinnen, und schnell entschlossen setzte er seinen Weg fort. Ganz außer Atem kam er endlich bei der Polizei an, der schnelle Lauf und die Angst um seinen Vater hatten ihn so angegriffen, daß er am ganzen Leibe zitterte.
Mitleidig und wohlgefällig betrachteten die Herren den erschöpften Knaben in der dürftigen Kleidung, der trotz seiner anscheinend großen Armut so ehrlich und gewissenhaft war.
Höflich und bescheiden gab Wilhelm auf alle ihm vorgelegten Fragen Bescheid. Als der ihn verhörende Hauptmann sich nun auch nach seinen Verhältnissen und nach seiner: Eltern erkundigte, sagte Wilhelm, daß er nur noch den Vater habe, und mit bewegter Stimme berichtete er von dessen langer Krankheit und den schweren Schicksalsschlägen, die ihn getroffen.
Mit großer Teilnahme hatte ihm der Hauptmann zugehört, und als er geendet, sagte er: »Du bist ein braver Junge, und deine Ehrlichkeit wird sicher ihren gerechten Lohn finden. Gewiß ist es ein sehr reicher Herr, der diese Tasche verloren hat, und du wirst einen guten Finderlohn bekommen. Vielleicht geschieht auch noch mehr, man kann nicht wissen, ob nicht ein Glück für dich daraus hervorgeht.« Dann drückte er dem guten Jungen noch ein Geldstück in die Hand und entließ ihn.
Zwei Stunden später als gewöhnlich kam er heute heim. Der Vater war natürlich in großer Sorge um ihn gewesen, und hatte sehnsüchtig von seinem Fensterplatze nach ihm ausgeschaut.
»Liebster Vater, sei nicht böse, daß ich dich so lange warten ließ!« rief Wilhelm schon in der Tür, »ich konnte nicht anderes; es war etwas sehr wichtiges, das mich so lange aufgehalten hat. Zuerst will ich nur schnell das Essen wärmen, und dann werde ich dir alles erzählen.«
»Da ich dich nun wieder habe, mein Sohn, ist ja schon alles gut,« sagte freundlich der Vater. »Die gute Frau Müller hat mich mit Mittagessen versorgt und auch für dich etwas warm gestellt. Stärke dich nur erst, du wirst gewiß sehr hungrig und müde sein; nachher kannst du mir dann alles erzählen.«
Wilhelm aß nun auch mit großem Appetit, er hatte seit früh morgens nichts genossen und war daher sehr hungrig und schwach. Nachher setzte er sich zu seinem Vater und erzählte ihm, was er heute erlebt hatte; auch wie unschlüssig er gewesen sei, ob er zuerst mit dem Funde nach Hause gehen oder ihn sogleich auf der richtigen Stelle abgeben sollte.
»So wie du gehandelt hast, war es ganz recht, mein Sohn,« sagte der Vater. »Gewiß wird der, welcher die Brieftasche mit einem so reichen Inhalt verloren hat, es melden und sehr erfreut sein, sie sogleich in Empfang nehmen zu können.«
»Das glaube ich wohl auch,« stimmte Wilhelm bei. »Jetzt werde ich meine angefangenen Holzarbeiten beendigen, Väterchen, und heute nicht mehr draußen nach Verdienst ausschauen.«
Das war dem Vater sehr angenehm, denn er war immer froh, wenn er seinen guten Sohn um sich haben konnte.
Eines Nachmittags, ungefähr acht Tage nach Wilhelms Erlebnis am Hafenplatze, trat ein Diener in feiner Livree in Meister Werners armseliges Stübchen. Er sagte, daß er im Auftrage seines Herrn, des Baron von Arnstetten komme, um Wilhelm zu bitten, noch heute bei ihm zu erscheinen.
Vater und Sohn waren hierüber nicht wenig erstaunt, und Wilhelm fragte sogleich ganz erfreut: »Hat der Herr Baron vielleicht Arbeit für mich?«
Darüber wußte ihm aber der Diener keine Auskunft zu geben; er entfernte sich auch sogleich wieder, nachdem Wilhelm versprochen hatte, in einer halben Stunde da zu sein.
»Was kann nur ein so vornehmer Herr von dir wollen?« sagte der erstaunte Vater, als er mit seinem Sohn wieder allein war.
»Neugierig bin ich auch, Väterchen, sollte es vielleicht gar wegen der Brieftasche sein? Mir ist so, als ob es eine frohe Botschaft sein könnte.«
»Das gebe Gott, mein Sohn, ein kleiner Sonnenblick tut uns beiden not.«
Pünktlich nach einer halben Stunde trat Wilhelm in das sehr nobel aussehende Haus des Baron von Arnstetten. Der Diener meldete ihn sogleich und führte ihn dann in das Arbeitszimmer des Hausherrn. Dieser, ein sehr stattlich und vornehm aussehender Mann, saß am Schreibtisch und hieß ihn freundlich näher treten und Platz nehmen.
»Du bist also der glückliche Finder meiner verlornen Brieftasche,« redete er ihn an. »Du hast mir damit einen großen Dienst erwiesen, es handelte sich weniger um das Geld, als um die darin befindlichen Papiere. Es fehlt nicht die geringste Kleinigkeit, und das ist sehr brav von dir, mein Junge. Ehrlich währt immer am längsten; und du sollst nun auch dafür belohnt werden. Ich habe mich bereits genau nach deinen Verhältnissen erkundigt und habe erfahren, welch schweres Geschick deinen armen Vater betroffen hat. Es wurde mir auch gesagt, wie treu du deine Sohnespflicht erfüllst.«
Des Knaben verständiges und treuherziges Wesen gefiel dem Baron sehr, und er war sogleich entschlossen, sich seiner und seines Vaters kräftig anzunehmen. »Hier nimm dies vorläufig,« sagte er, Wilhelm eine gefüllte Börse überreichend. »Morgen werde ich zu euch kommen und mich selbst überzeugen, was ich für deinen Vater weiter tun kann.«
Der gute Junge war vor Freude außer sich; tief bewegt und mit inniger Dankbarkeit küßte er die Hand des gütigen Gebers, die dieser ihm zum Abschiede reichte.
Freudestrahlend kam er zu seinem Vater. Beide weinten Freudentränen und dankten und lobten Gott, der ihnen auf solch wunderbare Weise einen Helfer in der Not gesandt hatte.
Der Baron von Arnstetten war ein sehr reicher Mann, der viele große Besitzungen hatte und auch ein eigenes Haus in der hübschen Hafenstadt, wo er sich oft monatelang aufhielt. Er war nicht verheiratet, hatte auch keine näheren Verwandten, und war wegen seiner Mildtätigkeit und seiner Menschenfreundlichkeit allgemein bekannt und hoch geschätzt.
Am nächsten Tage löste er sogleich sein Wilhelm gegebenes Versprechen ein, und erschien schon am Vormittage bei Meister Werner. Der Kranke erregte seine innigste Teilnahme, und dessen geduldiges Wesen und die rechtschaffene Gesinnung, die sich in seinen Reden aussprach, gewannen ihm gleich sein edles Herz.
Wilhelm mußte sofort den Arzt holen, den er dann um seine Meinung fragte, was zur Heilung des Kranken geschehen könnte. Als dieser nun erklärte, daß das Leiden bei guter Pflege und richtiger Behandlung vielleicht noch gehoben werden könnte, traf er selbst eiligst alle Vorbereitungen, den Patienten in eine berühmte Heilanstalt zu bringen. Er kaufte auch anständige Kleidung für Vater und Sohn, und sorgte auf das freigiebigste für beide. Wilhelm mußte den Vater begleiten und einige Tage bei ihm bleiben. »Damit er sich erst an die neue Umgebung gewöhnt und seinen guten Sohn nicht allzu schmerzlich vermißt,« hatte der edle Wohltäter gesagt. Nachher nahm er Wilhelm zu sich, und da er sogleich sah, wie begabt und wißbegierig er war, schickte er ihn wieder in eine höhere Schule. Es dauerte gar nicht lange, bis der früher so verhärmte und bleiche Knabe wieder frisch und munter aussah.
Die Tage der Not und schweren Prüfung waren nun für Vater und Sohn vorüber. Der liebe Gott hatte sie gläubig und treu befunden, und ließ ihnen wieder seine Gnadensonne scheinen.
Meister Werner genaß allmählich, und gelangte durch einen längeren Aufenthalt in stärkender Gebirgsluft wieder in Besitz seiner früheren Gesundheit und Kraft. Durch die Güte des Herrn von Arnstetten konnte er sich auch wieder eine Werkstatt einrichten. Hingegen war er nicht zu bewegen gewesen, eine große Summe, die ihm Herr von Arnstetten darüber hinaus angeboten, zu nehmen.
»Nein, hochverehrter Herr Baron, Sie haben in Ihrer Großmut schon so unendlich viel für mich getan, es gibt noch mehr Notleidende, die auch Ihrer Hilfe bedürftig sind,« so lautete die dankende Ablehnung des bescheidenen Mannes.
»Sie sind ein wackrer, mutiger Mann, Meister Werner,« hatte darauf, ihn auf die Schulter klopfend, Herr von Arnstetten erwidert. »Ich bin fest überzeugt, daß Sie mit Ihrem Fleiß und Ihrer rechtschaffenen Gesinnung vorwärts kommen werden.«
Als der Vater hörte, daß sein Wilhelm wieder in die Realschule gehe, hatte er sehr bedenklich den Kopf geschüttelt und gemeint, seine Frau hätte recht gehabt, für einen einfachen Handwerker genüge auch die Gemeindeschule.
Aber da war der Baron durchaus nicht seiner Meinung. »Lieber Meister Werner,« sagte er, »an den Wilhelm habe ich auch ein Anrecht, den betrachte ich als meinen Pflegesohn. Ich habe ihn in mein Herz geschlossen und wünsche ihn so hoch als möglich steigen zu sehen.«
Obwohl der Vater jetzt zu demütig und bescheiden dachte, um noch solche Wünsche für seinen Sohn zu hegen, so wollte er seinem hochherzigen Gönner doch nicht zuwider sein, und er fügte sich seinem Willen.
Gottes Segen ruhte wieder auf Meister Werners Arbeit; alle alten Kunden und viele neue fanden sich ein, und bald hatte er so viel Zuspruch, daß er mehrere Gesellen beschäftigen konnte. Sein Geschäft blühte noch mehr wie früher, und in wenig Jahren war er wieder ein vermögender Mann geworden. Auch in seinem Sohne hatte ihn Gott reich gesegnet, dieser war zu einem braven und tüchtigen Mann herangewachsen. Obwohl der Vater in seiner großen Bescheidenheit den einst mit Vorliebe gehegten Plan, ihn später als Leiter einer großen Maschinenfabrik zu sehen, lange begraben hatte, so sollte sich dieser doch, glänzend erfüllen.
Wilhelm hatte aus eigner Wahl das Maschinenbaufach studiert, und sich dann in fremden Ländern noch reiche Kenntnisse erworben. Da Herr von Arnstetten seinem geliebten Pflegesohne, auf den er stolz wie ein Vater war, ein großes Kapital zur Verfügung stellte, so konnte dieser gleich eine sehr umfangreiche Fabrik anlegen und sie in großartiger Weise betreiben. Der Vater stand ihm mit seinen Erfahrungen zur Seite, und durch Wilhelms Klugheit und Umsicht erlangte das Unternehmen bald einen Weltruf. Wilhelm kam zu hohem Ansehen und Ehren, und der glückliche Vater hatte alle Ursache, auf seinen Sohn stolz zu sein. Trotzdem aber haben sich beide einen einfachen, bescheidenen Sinn bewahrt; sie vergaßen auch nicht, dem lieben Gott für seine Hilfe und Gnade zu danken und ihn zu bitten, ihnen ein demütiges und gehorsames Herz zu erhalten.