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Das Neue

Ein Vorwort

Das Alte in allen seinen Gestalten hat so übermächtig wie niemals zuvor in dieser schändlichsten Kriegszeit triumphiert. Kein bestialischer Trieb war so abgestorben, keine Tyrannei so zahnlos oder närrisch, keine Habsucht so unfähig zur zeugenden Tat, keine Zivilisierung so vertrocknet in allen Quellen, daß sie nicht noch gespenstisch ungeheure Fäuste ausstrecken und alles Lebendige erwürgen konnte. Die Erfindungen des Mittelalters, Pulver und Druck wurden als offenste Gifte über die Erde hin gegen alles Menschliche gebraucht, bis zu ihrer letzten greisenhaft gefühllosen Reife. Im Gebiß des von altersher Gegebenen stak die Welt mit verzweifelt um sich schlagender Unbewegtheit – bis zur großen Änderung.

Wenn die Welt anders ist als zuvor, so muß es bedeuten, daß unser Menschentum sich verändert hat. Denn aus uns kommt sie, vor dem Menschen schwebende, immer neu schwingende Welt. Was Wirklichkeit genannt wird, ist schon ihre Erstarrung, die Ruhe schon, zu der er sich setzt.

Die Erde aber ist nur unser gemeinsames Zeichen. Der immer erlöschende und aufstrahlende, immer zugleich dunkle und helle Stern unserer Verständigung. Sie allein hätte nicht Glut genug, die stets wiederkehrende Erstarrung zu hindern. Anderswoher, zum Leben hinzu, muß das Lebendige kommen, aus fremder Sonne:

Das ist das Neue, ein Feuer, dessen Form nicht die noch stehenden dunklen von ihm umloderten Konturen nachzieht: Sein frei auf der eigenen Röte in der Luft Schweben bleibt, obwohl es sich in alle bestehenden Dinge brennt, zugleich darüber eine freie unangepaßte Feuerform. Denn das Neue kommt auf die Erde als Beweis und Zeichen vom Sein einer unsichtbaren Sphäre, in der die Wahrheit auf ihre ewige Wiedergeburt wartet. Es kommt als ein Erinnerungsruf des Geistes gegenüber der Erstarrung, vor ihm enthüllt sich die Schlacke der Wirklichkeit.

Das ist also etwas Gewaltiges und Ernstes, nicht der tägliche, heut von allen Oberflächen getrübte Begriff. Das Neue bedeutet das Reine. Und das Walten des Unsterblichen. Es ist das Licht, das nicht nur die Finsternis, sondern auch sich selbst erleuchtet. In seinem Herbeischweben aus dem Unberührten ist der ursprüngliche, darum künftige, der überzeitliche Geist.

Ein Zeichen davon ist uns erschienen. Wohl spüren die vielen noch immer in Zeitlichkeit Aufgehenden auch jetzt nichts anderes als einen Abschnitt der Geschichte, einmaliges Geschehen. Aber was wäre denn eine Befreiung von den Gewalthabern unserer Zeit, wenn wir uns nicht von der Vorherrschaft des Zeitlichen selbst befreiten! Niemals ist eine Zeit so ganz bloße Zeit wie die unsere gewesen. Sie hatte nichts – außer sich, ein unfaßbarer, doch von allen gelebter Begriff. Sie schwoll im Jahrhundert gespenstisch immer mehr von sich an, bis sie die große Zeit wurde. Mehr als sie selbst konnte sie dennoch nicht werden.

Aber wir wollen das Andere. Das Ewige muß in die höchsten Stellen der Zeit eingesetzt werden. Keinen kleineren Flügelschlag darf der jämmerlich in ihrer Luft hängende Mensch tun als in das Überzeitliche.

Ebenso gottlos wie der in die Zeit verkrochene Bürgersinn ahnt freilich auch die Überhebung des Geistigen nicht das Neue. Warum wohl glaubt er immer wieder, nur eine steifere Haltung, eine Sondergruppierung gebe ihm seinen Platz in der Menschheit – statt lieber zum ungeteilten großen menschlichen Arbeitertum zu gehören. Was er in der Bewegung das Materielle und die Masse nennt, mit der Absicht, sie recht billig zu vermeiden, ist ein ganz untrennbarer Teil des Neuen. Er sieht das Licht, aber vor dem Brande scheut er sich! Und darum wird ihm in Wahrheit auch nicht das Licht. Denn wenn er es nur mit dem Geiste der Entfernung, nicht mit seinem ganzen bereiten Leben anerkennt, wenn er sich nicht drangibt, auf die Gefahr des Unterganges, kann er von Untergang und Aufgang nichts wissen. Ja das Materielle und die Masse sind die neue Probe auf die Liebe. Wer das scheinbar Materielle mit einem Teil seines Ichs umgehen, mit dem Intellekt überfliegen kann, gehört zu den halben Menschen, von denen das Jahrhundert wimmelte, verworfen aber nun von der aufstehenden Notwendigkeit. Und nur wer die Masse, das ist die Fülle der Menschen auf der Erde, liebt, wird fortan sich selbst einen Menschen bedeuten, denn nur er kann überhaupt lieben, so will es das neue Zeichen. Sonst wird er seine gewähnte göttliche Einsamkeit unendlich viel schneller als ehedem mit Verzweiflung als Unmenschlichkeit erkennen. Auf ebenso verlornem Wege wie er gehen freilich auch die, die sich nur mit Gewalt der Masse auf nichts als auf die Ordnung stürzen und das blanke Rad wenn auch noch so heftig umwälzen – bis zur Wiederkehr der Ordnung.

Das Neue aber will einheitlich das Geistigkörperliche ergreifen, will die erneute Seele und Sache, ungeteilt. Was wäre erreicht, wenn die Revolution allein erreicht wäre, die das Menschliche ins umgewandelte Leben nur wieder anpassend nachzöge? Mit keinem geringeren Preis ist das Neue zu erfüllen als mit der Revolutionierung des Menschen selbst, des einzelnen Menschen. Ein Land kann auch vom Erdbeben umgewälzt werden. Den Menschen aber erschüttert nur Bewegung des Menschentums: Wir glauben, nicht nur Entthronung, sondern das Entthronende-an-sich ist in die Welt gekommen. Nicht nur Freiheit, die auch erstarrt, sondern Befreiung, die nun nicht wieder ruhen will. Bewegung und Revolution nicht nur: Sondern das Bewegende soll selbst zur Eigenschaft des Menschen werden, über das Zeitliche hinaus soll das Revolutionäre sich in ihm verewigen.

Das Nahen der neuen Lebendigkeit, die auf den Flügeln des Menschlichen die Welt in der Schwebe sein läßt, kündete sich an in der neuen Kunst. Sie will, indem sie Beschränkung auf den Künstler durchbricht, Allen dies Bewußtsein geben und zur Natur machen: daß die Welt nicht erobert sondern erschaffen wird. Die gegebene Wirklichkeit verleitet den Menschen, durch den unterirdischen Trieb des Krieges und durch die Konvention des Friedens, zu ihrer blinden Anbetung; den Künstler zur blinden Wiedergabe all ihrer Sachlichkeiten. Aber die neue Kunst triumphiert mit dem neuen Menschentum von einer anderen Seite. Daß dieser Triumph sich in ihr ausdrückt als allgemeiner des Menschen überhaupt, ist ihre Art von Harmonie. Diese Kunst des menschenbrüderlichen Wesens der Welt ist nicht mehr selbstisch romantisch. Ihr Ton und ihr Inhalt weiß von der Menschlichkeit des Leidens. Nicht auf reizende Verwirrung, sondern auf Wesentlichkeit ist sie gestellt. Nicht ironischer Ferne sondern männlicher Umarmung gleicht sie. Das »Natürliche« hat sich ihr im letzten Jahrhundert, das Böse in diesen Jahren dargeboten; so weiß sie um das Leiden der Erde. Statt romantischer Ichvollendung des Künstlers ist ihr Sinn die Erhebung des Menschen zum Weltbringer. Aber die Unlust über die Unvollkommenheit der Schöpfung treibt sie nicht, »die Gesellschaft und das Leben poetisch zu machen«. Ihre Dichtung will vielmehr die Lebendigkeit besitzen, die das Leben an die Treue zum gemeinsamen göttlichen Wesen mahnt.

Dem Leben das Lebendige sichtbar machen, – ja, lebendiger sein als alles! Die neue menschliche Gestalt und die neue Kunst können unmittelbarer als je einander mitbestimmen: Denn daß die Kunst Menschen gestaltet, kann den neuen Sinn wirklicher Erschaffung des Menschen gewinnen. Der vom Weibe Geborene, der noch einmal wie durch einen männlich geistigen Leib durch die Wirkung einer sehr männlichen Kunst hindurchgeht, kann von ihr höher erzeugt, zum Menschen gemacht werden. Als ihr Erbteil will sie ins Blut mitgeben: Beschwingung mit ewigem Kämpfertum und Einfachheit nach dem Vorbild ihrer Einheit und Mut sich zu erheben, wie sie erhebt. Ihre Form ist Erinnerung für ihn, daß er Schöpfer sei! Die Kraft, in ihrem Werk ausgedrückt, soll ihn an die seine erinnern! Das Wort zwar ist nicht die Tat, aber der Geist des Wortes rührt den Geist der Tat, das Tätige, an – und es wird, entfesselt, seiner Sendung sich bewußt.

Bis in ihre Form hinein von ihrem Ethos durchklungene Kunst, – sie schuf aus dem Unsichtbaren mit an der großen Bewegung, die wir von ganzem menschlichen Herzen und Geist vollführen wollen. Die neue Kunst, schnelle Gefährtin in den Himmel ragender Zukunft, soll aus dem Menschen mit näherer Berührung als je den Freund des neuen Geistes erwecken.

*

»Dem Bunde der Künstler einen bestimmten Zweck geben, das heißt eine dürftige Institution an die Stelle einer Gemeinde der Heiligen setzen.« Von dem Romantiker, der dies sprach und der die Künstler »eine höhere Kaste« nannte, unterscheidet sich das heute wachsende Geschlecht! Seht den wahrhaft neuen Künstler und den wertenden Verkünder des geistigen Worts nun zugehörig der Fülle der Menschen sich bewegen, im unbeirrten Gefühl, daß aus der gemeinsamen Wurzel die gleiche Kraft jedem Menschenantlitz zuströmt. Gefühl von der Einheit aller Verkündigung auf Erden, mag sie auch scheinbar verschieden aus jedem Antlitz dringen. Gewißheit, daß derjenige nicht Unendlichkeit im Seelischen kennt, der im Menschlichen Grenzen zu ziehen vermag! Der Dichter will seine seltsamste Intuition nicht für heiliger halten als den Augenblick irgendeines Arbeiters. Ja er glaubt, daß die Schönheit der heute Lebenden überhaupt erst solcher demütigen Gleichsetzung entspringt. Auch daß er seine Arbeit mit anderen zu vereinigen liebt und auch auf diese Weise freiwillig etwas von der harten Ausschließlichkeit des einzelnen Werkes aufgibt, bewirkt nicht der Zufall, sondern heute vorschwebende Weltfülle, Bild der aus den vielen Werken zusammensteigenden Schöpfung einer ganzen Welt.

Solche organische Steigerung –: über den Dichtungen, Aufrufen und Wertungen dieses Jahrbuchs, über ihren Klängen für sich, soll ein solcher Einklang vernehmbar werden. Er ist im neuen Werk von vornherein als möglich enthalten, wie etwas, das noch zu sagen bleibt, verwandt dem menschlichen Zusammenspiel, in dem sich das Drama erst mit dem vollen Klang verwirklicht. Er bedeutet das brüderliche Wesen der neuen Geistigkeit. Und wie die Masse mit gläubiger Freude die Selbstentäußerung ihrer Wogenbewegung, den Übergang des Einzelnen zum verschmolzenen, lauter jubelnden Menschentum empfindet: erheben die Neuen natürlicher als jemals die aus Einsamkeit tretende Stimme ihres Werkes zu einem Chor der Werke. Das ist ihr mehr als bildlicher Anteil am Wesen neuer Wirkungseinheit, an der hämmernden Gemeinsamkeit der Erde.

Dies Jahrbuch, das zwischen Krieg und Frieden tritt, verkünde den höheren Kampf und sei das Beispiel einer menschlich tönenden Welt.

Alfred Wolfenstein


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