Sagen aus Wien
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Die Judith von Wien

An einem sonnigen Herbstmorgen des Jahres 1370 betrag Elsbeth, das achtzehnjährige, liebreizende Töchterlein eines biederen Wiener Küfermeisters, der in dem Vorort Wieden sein einträgliches Handwerk betrieb, die Gastwirtschaft des Sebastian Gundtl in der Kärntner Straße, der mit ihrem Vater befreundet war.

Hans, der Sohn des Wirts, der schon längst ein Auge auf das hübsche Mädchen geworfen hatte, war über den unerwarteten Besuch aufs höchste erfreut, meinte er doch, nun ergebe sich einmal die Gelegenheit zu einem ruhigen Plauderstündchen mit der Jungfer; denn darauf hatte er es schon geraume Zeit abgesehen. Aber das Mädchen schien nicht geneigt, sich in ein langes Gespräch einzulassen, sondern tat mit kurzen Worten ihren Wunsch kund:

»Einen Wagen nach Wiener Neustadt brauche ich und zwei handfeste Knechte dazu; aber der Vater darf nichts davon wissen; es soll eine Überraschung für ihn werden.«

Lächelnd nahm der Wirtssohn ihre Bestellung entgegen und erkundigte sich nach der Art der Überraschung. Aber kurz angebunden erwiderte das Mädchen: »Das wird man zeitig genug erfahren. In einer Stunde möchte ich fahren.«

Es dauerte auch nicht länger, so stand der Reisewagen bereit, ein bärenstarker Kutscher saß auf dem Bock, an seiner Seite zwei Knechte des Wirtes. Elsbeth bestieg den Wagen. »Aber seid nur vorsichtig!« meinte Hans zum Abschied. »Ihr wißt, die Straße über den Wienerberg ist verrufen. Dort steht die Teufelsmühle, in deren Nähe Hans Ausschring, den man den Waldteufel nennt, mit seiner Räuberbande sein Unwesen treibt. Laßt Euch nicht etwa einfallen, in der Schankwirtschaft der Mühle abzusteigen oder gar dort zu übernachten. Der Schankwirt soll mit dem Räuber im Bunde stehen, und dieser ist zu allem fähig.« Es war auch so, wie Hans sagte. Ganz Wien zitterte damals vor dem schändlichen Mordgesellen. Alle Bemühungen der Behörden, des schlauen Burschen habhaft zu werden, waren bisher vergeblich gewesen. Untat häufte sich auf Untat, und zuletzt fand sich niemand mehr, der auch nur den Versuch wagte, dem Waldteufel endlich sein schändliches Handwerk zu legen.

Elsbeth aber ließ sich durch die Worte des Wirtssohnes nicht abschrecken. Sie wies auch lächelnd sein Angebot, zu ihrem Schutz die Fahrt mitzumachen, ab und meinte, zwei Knechte und der Kutscher genügten vollauf, ihren Schutz zu übernehmen. »Außerdem«, sagte sie schließlich, »erzählt man von dem Waldteufel, Frauen hätten von ihm nichts zu befürchten; im übrigen aber werde ich mich schon in acht nehmen.«

Sie ließ Hans gar nicht weiter zu Wort kommen, winkte ihm freundlich zu, und die Fahrt begann. Ohne Zwischenfälle kamen sie an der Teufelsmühle vorbei und langten bei Einbruch der Dämmerung wohlbehalten in Wiener Neustadt an, wo sie eine gute Herberge bezogen. Am nächsten Morgen stand Elsbeth in der Werkstatt des bekannten Waffenschmieds Klingsporner und bestellte einen kunstvollen Lehnstuhl für ihren Vater, der demnächst seinen Geburtstag feiere. »Wißt«, erklärte sie, »der Stuhl soll einen doppelten Zweck erfüllen; er soll meinem Vater durch seine Schönheit eine Freude machen, er soll aber auch eine Überraschung bilden durch einen geheimen Mechanismus, der im Sessel einzubauen ist. Dieser soll so beschaffen sein, daß auf einen Federdruck zwei kräftige Arme vorschnellen und meinen Vater nicht mehr loslassen, bis ich komme, ihn aus seinem Ruhesitz zu befreien. Getraut Ihr Euch, Meister, ein solches Werk zu verfertigen?«

Klingsporner , aus dessen Waffenschmiede schon manches Zeugnis seiner Kunstfertigkeit ins Land hinausgegangen war, versprach, in Kürze den gewünschten Lehnstuhl zu liefern, und Elsbeth war damit zufrieden. Als sie sich nach etlichen Tagen um den Fortgang der Arbeit erkundigte, war der Sessel fertig und wurde noch am gleichen Tag wohlverpackt auf den Wagen geladen. Es war schon spät am Nachmittag, als die Rückfahrt nach Wien angetreten wurde. Bei der Teufelsmühle angelangt, ließ Elsbeth das Fuhrwerk halten. »Es wird schon dunkel«, meinte sie, »wir wollen hier übernachten.«

Der Wagen fuhr in den geräumigen Hof der Mühle, und das Mädchen verlangte vom Wirt, der mit zuckersüßer Freundlichkeit heranscharwenzelte, ein Zimmer für sich und eine Stube für ihre beiden Begleiter. Dem Kutscher trug sie auf, den Wagen vor das Fenster ihrer Stube zu stellen und die Pferde nicht auszuspannen. Den Lehnstuhl mußten die beiden Knechte in ihr Zimmer tragen.

Während Elsbeth hierauf im Schankraum ihr Abendessen verzehrte, trat ein derber, kräftiger Mann herein, der sich, ohne weiter zu fragen, an ihrem Tisch niederließ. Das ist sicher der Waldteufel, dachte die unerschrockene Jungfrau; nun wird sich bald erweisen, ob ein schwaches Mädchen zustande bringt, was vielen starken Männern bisher nicht gelang. Als der Fremde ein Gespräch begann, gab sie freundlich Antwort und stellte sich harmlos und unwissend. Das frische, muntere Wesen des hübschen Mädchens verfehlte seinen Eindruck auf den Mann nicht Er rückte näher heran, versuchte mitunter auch eine plumpe, vertrauliche Geste, welche in einer Art abgewehrt wurde, die eher noch einzuladen schien, und war auf dem besten Weg, eine Liebeserklärung zu machen. Da brachte Elsbeth das Gespräch auf einen kunstvollen silbernen Becher, den sie in Wiener Neustadt erworben habe, um dem Vater ein Geschenk zu bringen. Nun drang der Räuber so lange in sie, ihm den Becher zu zeigen, bis sie ihm, scheinbar widerstrebend, die Erlaubnis gab, sie in ihr Zimmer zu begleiten, wo sie das Gepäck aufbewahrt habe. Dort lud sie den Waldteufel freundlich ein, auf dem Lehnstuhl Platz zu nehmen, der eben zu diesem Zweck im Zimmer aufgestellt war.

Kaum hatte sich der schwere Mann in den Stuhl gesetzt, als, von einem Federdruck ausgelöst, der geheime Mechanismus zu spielen begann. Eiserne Bänder sprangen vor und umgitterten mit Blitzesschnelle den frechen Raubgesellen, so daß er, an Händen und Füßen gefesselt, sich nicht mehr zu rühren vermochte. Vergebens versuchte er, rasend vor Wut, sich aus der eisernen Umklammerung zu lösen. Es gelang ihm nicht, diesmal hatte er seinen Meister gefunden. Das Mädchen aber eilte zum Fenster, riß es auf und rief ihre Helfer herbei. Diese schleppten den Lehnstuhl mit seinem tobenden Insassen aus dem Haus hinaus und verluden ihn auf den Wagen. Auch der saubere Schankwirt wurde überwältigt und gebunden zu seinem Spießgesellen gelegt.

Wenige Augenblicke später rollte der Wagen auf der nächtlichen Straße der Stadt zu und hielt erst, als man beim Wirtshaus des Gundtl angekommen war. Als der Wirt den frühen Besuchern öffnete, meinte er, in dem Mann im Lehnstuhl einen reichen Viehhändler zu erkennen, der öfter in seiner Schankstube vorgesprochen hatte.

»Nein«, erwiderte Elsbeth, »das ist kein Viehhändler, sondern Hans Aufschring, der Waldteufel, den bisher niemand zu erwischen vermochte.« Und sie erzählte dem erstaunt aufhorchenden Wirt, wie es ihr gelungen sei, den berüchtigten Raubgesellen zu fangen.

Die Kunde von der klugen und mutigen Tat des unerschockenen Mädchens verbreitete sich schnell in der Stadt, und man konnte sich nicht genug wundern, daß ein junges, zartes Mädchen diesen gewalttätigen Räuber unschädlich gemacht habe, der bisher allen Nachstellungen trotzte.

Hans Aufschring und sein Spießgeselle wurden dem Gericht übergeben, sie verbüßten ihr Verbrechen mit dem Tode. Am 24. Jänner 1371 wurden sie auf dem Hohen Markt hingerichtet.

Elsbeth hieß von nun an im Volksmund, »die Judith von Wien«. Sie heiratete bald darauf den jungen Hans Gundtl, und ihre Nachkommen führten noch viele Jahre das Gasthaus »Zum Waldteufel« in der Kärntner Straße, das später nach Wäring übersiedelte und »Zum wilden Mann« genannt wurde.

 


 


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