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Von Selma Lagerlöf
In einer nebligen Sommernacht des Jahres 1880 glitt der große französische Passagierdampfer »L'Univers« über den Atlantischen Ozean auf dem Wege zwischen Neuyork und Le Havre.
Es war ungefähr vier Uhr morgens, alle Passagiere und der größte Teil der Schiffsmannschaft lagen und schliefen in ihren Kojen. Die großen Decks waren fast ganz leer.
Bei Tagesanbruch lag ein alter französischer Matrose und drehte und wendete sich in seiner Hängematte, ohne schlafen zu können. Es war ein wenig Seegang, und alles Holzwerk des Schiffs ächzte und krachte unaufhörlich, aber das war es nicht, was ihn daran hinderte, einzuschlafen.
Er und seine Kameraden lagen in einem großen, aber sehr niedrigen Raume, so daß er die grauen Kojen dort in dichten Reihen hängen und leise mit den Schlafenden hin und her schlingern sah. Von Zeit zu Zeit glitt ein Windhauch durch die Luken, so feucht und kühl, daß das ganze Meer, das sich da draußen unter dem Nebel in kleinen graugrünen Wellen kräuselte, ihm in seinen Gedanken gegenwärtig ward.
»Es geht doch nichts über das Meer,« dachte der alte Seemann.
Als er das dachte, wurde plötzlich alles um ihn her so wunderlich still. Er hörte weder das Stöhnen der Maschinen noch das Rasseln der Ruderketten oder das Plätschern der Wellen oder das Sausen des Windes oder sonst irgend etwas.
Es war ihm, als sei das Schiff plötzlich untergegangen, so daß er und seine Kameraden nie in ein Leichentuch gehüllt und in einen Sarg gelegt würden, sondern dort in den grauen Kojen tief unten unter dem Meere bis in alle Ewigkeit hängen bleiben müßten.
Früher hatte er sich davor gefürchtet, sein Grab in den Wellen zu finden. Jetzt fand er Gefallen an dem Gedanken. Er freute sich, daß das plätschernde, durchsichtige Wasser über ihm ruhte, und nicht schwarze, schwere, erdrückende Kirchhofserde.
»Es geht doch nichts über das Wasser,« dachte er noch einmal.
Aber dann fing er an, über etwas zu grübeln, das ihn beunruhigte. Er hatte die letzte Ölung nicht erhalten, und nun fürchtete er, daß seine Seele Schaden davon nehmen würde, daß sie auf dem Grund des Meeres ruhte und das Sterbesakrament nicht erhalten hatte. Eine Angst überkam ihn, daß sie niemals den Weg zum Himmel finden würde.
Im selben Augenblick gewahrte er einen schwachen Lichtschimmer am vorderen Ende, wo der Schlafraum schmaler wurde, und er erhob sich und beugte sich aus der Hängematte vor, um zu sehen, was es sei. Er sah bald, daß es jemand war, der zwei brennende Kerzen trug. Er beugte sich noch weiter und weiter vor, um zu sehen, wer da gegangen kam.
Die Kojen hingen so dicht nebeneinander und so nahe über dem Fußboden, daß, falls man durch den Raum gelangen wollte, ohne diejenigen, die dalagen und schliefen, zu stoßen und puffen, man eigentlich kriechen mußte. Der alte Seemann konnte nicht begreifen, wer sich dort einen Weg zu bahnen vermochte.
Bald sah er es. Es waren zwei kleine Chorknaben, jeder mit seiner Wachskerze in der Hand. Er sah ganz deutlich ihren langen schwarzen Rock und die kurzgeschorenen Köpfe.
Der Seemann wunderte sich gar nicht, er dachte nur, es sei etwas ganz Natürliches, daß die, die so klein waren, mit brennenden Kerzen unter den Kojen hindurchgehen konnten.
»Ob sie wohl auch einen Priester bei sich haben?« dachte er, und im selben Augenblick hörte er ein feines Glockengeklingel und sah, daß einer mit dabei war. Aber es war kein Priester, es war eine alte Frau, die nicht viel größer war als die Chorknaben.
Es war ihm, als müsse er die Alte kennen. »Es muß Mutter sein,« dachte er. »Ich habe nie jemand gesehen, der kleiner war als Mutter, und niemand als Mutter könnte sich so unter den Kojen hindurchschleichen, ohne jemand zu wecken.«
Er sah, daß die Mutter eine lange Jacke aus weißem, klarem Stoff anhatte, mit breiten Spitzen verbrämt, genau so, wie sie die Priester über ihren schwarzen Röcken trugen. In der Hand hielt sie ein großes Meßbuch und das goldene Kreuz, das er Tausende von Malen daheim in der Kirche auf dem Altar hatte liegen sehen.
Die kleinen Chorknaben stellten die Lichter neben seine Hängematte, knieten nieder und schwangen jeder sein Räucherfaß. Der Seemann spürte den lichten Duft des Weihrauches, sah die blauen Rauchwolken in der Luft schweben und hörte die Ketten des Räucherfasses klirren.
Währenddes schlug seine Mutter das große Buch auf, und es war ihm, als begänne sie das Sterbesakrament zu lesen.
Jetzt fand er es ganz friedlich und gut, so tot auf dem Grunde des Meeres zu liegen. Dies war viel besser als der Kirchhof.
Er streckte sich in seiner Koje und lange noch hörte er die Stimme seiner Mutter lateinische Worte murmeln. Der Weihrauch hüllte ihn ein, und er hörte die Ketten des Räucherfasses klirren.
Da auf einmal hörte das alles auf, die Chorknaben nahmen die Kerzen und gingen vor der Mutter her, die das Buch mit einem Knall schloß und hinter ihnen dreinging. Er sah sie alle drei unter den grauen Kojen verschwinden.
Im selben Augenblick, als sie verschwunden waren, hatte auch die Stille ein Ende. Er hörte die Atemzüge der Kameraden, das Holzwerk krachte, der Wind pfiff, und die Wellen plätscherten. Es ward ihm klar, daß er noch zu den Lebenden auf der Oberfläche des Meeres gehörte.
»Jesus Maria! was bedeutet das, was ich heute nacht gesehen habe?« fragte er sich selbst.
Zehn Minuten darauf ward »L'Univers« von einem starken Stoß mittschiffs getroffen. Es war, als ob der große Dampfer mitten durchgeschnitten werde.
»Das habe ich erwartet,« dachte der alte Seemann.
Während der gräßlichen Verwirrung, die jetzt entstand, als sich alle die anderen Seeleute halb erwacht aus den Kojen hinausstürzten, legte er ruhig seine besten Kleider an. Er hatte gleichsam einen Vorgeschmack des Todes auf den Lippen, und der war mild und sanft. Es war ihm, als gehöre er schon da unten auf den Grund des Meeres hin.
* * *
Als der starke Stoß das Schiff erschütterte, lag ein kleiner Schiffsjunge in einer Abseite auf Deck, nahe dem Speisesaal.
Er richtete sich halb wach in der Koje auf. Gerade über seinem Kopf befand sich eine kleine runde Glasscheibe, durch die er hinaussah. Er sah nichts weiter als Nebel und etwas unförmlich Graues, das gleichsam aus dem Nebel herauswuchs. Es war ihm, als sähe er große Flügel, es war gewiß ein schrecklich großer grauer Vogel, der in der Finsternis der Nacht auf das Schiff niedergestoßen war. Das lag nun da und schlingerte und rollte unter seinen Angriffen, aber das große Ungeheuer hieb mit seinem Schnabel und seinen Klauen und den schlagenden Flügeln darauf los.
Der kleine Schiffsjunge glaubte, er müsse vor Schrecken sterben.
Aber im nächsten Augenblick war er ganz wach. Da sah er, daß ein großes Segelschiff dalag und auf den Dampfer einhieb. Er sah großen Nebel und ein fremdes Verdeck, auf dem Männer in langen Lederjacken in wahnsinniger Angst umherstürzten. Der Wind nahm sich auf, und alle die unzähligen Segel waren so stark gebläht, daß man auf ihnen wie auf einem Trommelfell trommeln konnte. Die Masten schwankten, und Rahen und Taue sprangen mit einem Geknall, das wie Schüsse klang. Der große Dreimaster, der in dem dichten Nebel »L'Univers« übersegelt hatte, war auf irgendeine Weise mit seinem Bugspriet in die Seite des Dampfers eingekeilt und konnte nicht wieder loskommen. Der Dampfer lag stark nach der einen Seite geneigt, aber seine Schrauben fuhren fort zu arbeiten, so daß er und das Segelschiff zusammen dahintrieben.
»Großer Gott,« dachte der kleine Schiffsjunge, indem er an Deck stürzte, »das arme Schiff ist mit uns zusammengestoßen und nun muß es untergehen.«
Es kam ihm nicht einen Augenblick in den Sinn, daß der Dampfer in Gefahr sein könne, so groß und stark, wie er war.
Die Offiziere des Schiffes kamen jetzt herbeigestürzt, aber als sie sahen, daß es nur ein Segelschiff war, das mit »L'Univers« zusammengestoßen war, beruhigten sie sich und trafen mit der größten Ruhe Vorbereitungen, um die Schiffe voneinander klar zu machen.
Der kleine Schiffsjunge stand auf Deck, barfüßig, das Hemd im Winde flatternd, und winkte den unglücklichen Leuten auf dem Segelschiff zu, daß sie auf den Dampfer hinüberkommen und ihr Leben retten sollten.
Anfangs schien es, als ob niemand ihn bemerkte, bald aber sah er, daß ein großer rotbärtiger Mann anfing, ihm zuzuwinken.
»Komm herüber, Junge!« rief der Mann und lief dicht an die Reling, »der Dampfer sinkt.« Der kleine Junge dachte nicht einen Augenblick daran, auf das Segelschiff hinüberzugehen. Er rief, so laut er konnte, die Schiffbrüchigen sollten sich auf »L'Univers« hinüberretten.
Die anderen Seeleute, die an Bord des Segelschiffes waren, arbeiteten mit Stangen und Bootshaken, um sich von dem Dampfer loszumachen. Aber den Rotbärtigen schien ein wunderliches Mitleid für den kleinen Schiffsjungen erfaßt zu haben. Er hielt die Hände vor den Mund wie ein Schallrohr und rief:
»Herüber! Herüber!« Verfroren und jämmerlich stand der Kleine in seinem dünnen Hemd auf dem Verdeck. Er rief, so laut er konnte, der Mannschaft zu, sie sollten den Dampfer entern. Ein großer Dampfer wie »L'Univers« mit sechshundert Passagieren und einer Besatzung von zweihundert Mann konnte doch unmöglich untergehen. Und er sah ja, daß der Kapitän und die Matrosen ebenso ruhig waren wie er.
Plötzlich ergriff der Rotbärtige einen Bootshaken und streckte ihn nach dem Jungen aus, hakte ihn in sein Hemd hinein und wollte ihn auf das Segelschiff hinüberziehen. Der Junge wurde ganz bis über die Reling hinübergezogen, aber da gelang es ihm, sich loszureißen. Er wollte sich nicht auf das fremde Schiff hinüberziehen lassen, das im Begriff war zu sinken.
Gleich darauf vernahm man ein neues, fürchterliches Krachen. Das war das Bugspriet des Segelschiffes, das abbrach. Dadurch kamen die beiden Schiffe klar voneinander. Als der Dampfer weiter brauste, sah der Junge das mächtige Bugspriet geknickt an dem Vorderteil des Segelschiffes hängen, und gleichzeitig sah er ganze Wolken von Segeln auf die Mannschaft herabstürzen.
Aber der Dampfer ging mit voller Fahrt weiter, und das fremde Schiff verhüllte der Nebel. Das letzte, was der Junge sah, war, daß die Leute anfingen, sich aus dem Segelhaufen herauszuarbeiten.
Dann verschwand das Segelschiff schnell, als sei es hinter eine Mauer geglitten. – »Es ist schon untergegangen,« dachte der Junge und stand da und lauschte, ob er keine Notrufe hörte.
Da rief eine starke, grobe Stimme nach dem Dampfschiff hinüber: »Rettet die Passagiere, setzt die Boote aus.«
Wieder wurde alles still, wieder lauschte der Knabe auf die Notrufe.
Da vernahm er die Stimme in weiter, weiter Entfernung: »Betet zu Gott! Ihr seid verloren.«
Im selben Augenblick kam ein alter Matrose auf den Kapitän zu: »Wir haben mittschiffs ein großes Leck, wir gehen unter,« sagte er still und feierlich.
* * *
Ein paar Minuten nach dem Zusammenstoß kam eine kleine Dame auf Deck. Sie war vollständig angekleidet. Der Paletot war zugeknöpft und der Hut unter dem Kinn zugebunden.
Sie kam wenige Minuten, nachdem das Leck entdeckt war, aus der Kajüte der ersten Klasse herauf.
Es war eine kleine, alte Dame mit grauem, krausem Haar, runden Eulenaugen und rotscheckiger Gesichtsfarbe.
Während der kurzen Zeit, die sie unterwegs gewesen waren, hatte sie es fertiggebracht, die Bekanntschaft aller an Bord Anwesenden zu machen; alle wußten, daß sie Miß Hoggs hieß, und allen Menschen, der Mannschaft wie auch den Passagieren, hatte sie erzählt, daß sie sich niemals fürchtete.
Sie hatte erzählt, sie sei seit vielen Jahren gereist und gereist und sei sehr vielen Gefahren ausgesetzt gewesen, aber gefürchtet habe sie sich nie. »Sie wisse nicht, wovor sie sich fürchten sollte,« sagte sie. Einmal müsse sie ja doch sterben, was tat es, ob es früher oder später war.
Auch jetzt fürchtete sie sich nicht, sie war nur auf das Verdeck geeilt, um zu sehen, ob dort etwas Interessantes oder Ergreifendes vor sich ging.
Das erste, was sie sah, waren zwei Matrosen, die mit wilden, angsterfüllten Gesichtern an ihr vorüberstürzten. Die Stuarts kamen halbangekleidet angelaufen, um in die Kajüten hinabzueilen und die Passagiere aufzufordern, schnell an Deck zu kommen. Ein alter Matrose kam mit einem ganzen Stapel Rettungsgürtel belastet, die er in einem Haufen auf das Verdeck warf. Ein kleiner Schiffsjunge saß in bloßem Hemd in einer Ecke und weinte und rief, daß er sterben müsse.
Hoch oben auf der Kommandobrücke sah sie den Kapitän und hörte seine Worte: »Die Maschine anhalten! Boote aussetzen!«
Die rußigen Treppen, die zu den Maschinenräumen hinabführten, kamen Heizer und Maschinenmeister hinaufgestürzt und riefen: »Das Wasser dringt schon in die Maschinenräume ein.«
Miß Hoggs hatte kaum einen Augenblick auf Deck gestanden, als es schon von Menschen überfüllt war. Die Passagiere der dritten und vierten Klasse kamen in dichten Haufen gestürzt und schrien, sie müßten zu den Booten eilen, sonst würde nur die erste und zweite Klasse gerettet.
Aber als die Verwirrung immer größer wurde und Miß Hoggs sah, daß wirklich Gefahr im Anzug war, schlich sie auf das oberste Verdeck über dem Speisesaal hinauf, wo außerhalb der Reling einige Rettungsboote hingen.
Hier oben war kein Mensch, und ohne daß sie es bemerkten, kletterte Miß Hoggs über die Brüstung in eins der Boote, das an seinen Blocken und Tauen über der schwindelnden Tiefe hing. Sobald sie hier hinaufgelangt war, beglückwünschte sie sich zu ihrer großen Klugheit. Das hieß einen großen und ruhigen Kopf haben.
Wenn das Boot erst ins Wasser hinabgelassen war, würden die Leute sich drängen, um mitzukommen. Es würde ein furchtbarer Kampf an den Luken und Fallreeptreppen entstehen.
Sie sah jetzt, daß ein Boot bemannt worden war und an die Treppe ruderte, und daß die Leute anfingen, in das Boot hinabzusteigen. Aber auf einmal ertönte ein furchtbarer Schrei. Da war einer in der Aufregung fehlgetreten und war ins Wasser gefallen. Das erschreckte offenbar die Passagiere, denn das Schiff hallte jetzt wider von lautem Geschrei, Leute drängten in wilder Verwirrung durch die Luken, stießen einander beiseite und kämpften auf der Fallreeptreppe. Während des Kampfes fielen viele ins Wasser. Einige, die sahen, daß es unmöglich war, die Treppe hinabzugelangen, stürzten sich sinnlos ins Meer, um das Boot schnell zu erreichen. Aber dann ruderte das Boot weg. Es war schon so schwer beladen, daß diejenigen, die da drinnen saßen, Messer herauszogen und denen, die hinaufzuklettern versuchten, die Finger abschnitten.
Miß Hoggs saß da und sah, daß ein Boot nach dem anderen herangerudert wurde. Sie sah auch, daß ein Boot nach dem anderen unter der Last aller derer, die sich da hineinstürzten, kenterte.
Die Boote, die neben ihr hingen, wurden jetzt auch hinuntergelassen. Aber durch einen Zufall berührte niemand das Boot, in dem sie saß.
»Gott sei Dank, sie lassen mein Boot hängen, bis das Schlimmste überstanden ist,« dachte sie.
Miß Hoggs saß da und hörte entsetzliche Dinge. Es war ihr, als schwebe sie über einer Hölle.
Sie konnte das Verdeck erst nicht sehen, aber es klang, als wenn dort ein Kampf stattfinde. Sie hörte scharfe Revolverschüsse und sah leichte blaue Rauchwolken von dem Verdeck aufsteigen.
Schließlich kam der Augenblick, wo alles still wurde. »Jetzt könnte es aber wohl Zeit sein, mein Boot hinabzulassen,« dachte Miß Hoggs. Sie war gar nicht bange, sie saß still und ruhig da bis zuletzt, bis sich der Dampfer auf die Seite legte. Erst da wurde es Miß Hoggs allmählich klar, daß »L'Univers« im Begriff war zu sinken und daß man ihr Boot vergessen hatte.
* * *
An Bord des Dampfers war auch eine junge Amerikanerin, eine Mrs. Gordon, die sich auf dem Wege nach Europa befand, um ihre alten Eltern zu besuchen, die seit mehreren Jahren in Paris gewohnt hatten.
Sie hatte ihre Kinder mit. Es waren zwei kleine Jungen, und sie und die Kinder lagen und schliefen, als das große Unglück eintrat.
Sie erwachte sogleich, zog den Kindern einige Kleider über, kleidete sich selbst ein wenig an und ging in den schmalen Gang zwischen den Kajüten hinaus.
Im Gang wimmelte es von Menschen, die jetzt alle hinausgestürzt kamen, um auf Deck zu eilen. Es war jedoch nicht schwierig, in dem Gang selber vorwärts zu gelangen. Aber auf der Treppe war es weit schlimmer. Es entstand ein großes Gedränge, weil sich über hundert Menschen auf einmal hinaufdrängen wollten.
Die junge Amerikanerin blieb mit ihren Kindern an der Hand stehen. Sie sah sehnsuchtsvoll zu der Treppe hinauf und dachte darüber nach, wie sie sich wohl einen Weg mit den Kleinen würde bahnen können. Sie sah, daß die Leute einander beiseite drängten und schoben und nur Gedanken für sich selbst hatten. Niemand schien sie zu beachten.
Mrs. Gordon mußte sich nach Hilfe umsehen, weil sie für ihre Kinder sorgen mußte. Sie hoffte irgend jemand zu erblicken, den sie bitten konnte, den einen der Jungen auf seinen Arm zu nehmen und ihn die Treppe hinaufzutragen, während sie selbst den anderen nahm.
Aber sie hatte nicht den Mut, mit irgend jemand zu reden. Die Männer kamen in den wunderlichsten Bekleidungen gestürzt, einige in wollene Decken gehüllt, andere den Überzieher über das Nachthemd gezogen; sie sah, daß mehrere einen Stock in der Hand hatten, und als sie ihre starren Blicke sah, gewann sie den Eindruck, daß man sich vor ihnen allen in acht nehmen müsse.
Vor den Frauen war sie nicht bange, aber sie sah nicht eine einzige, der sie das Kind anvertrauen konnte. Sie waren alle ganz außer sich, ihr Verstand hatte gelitten, sie würden nicht begriffen haben, um was sie bat.
Sie stand da und musterte sie und dachte, ob nicht eine einzige unter ihnen sei, die ihren Verstand behalten habe. Aber als sie sie kommen sah, einige eifrig bemüht, die Blumen zu retten, die sie bei der Abreise aus Neuyork erhalten hatten, andere schreiend und händeringend, da wagte sie nicht, sich an eine von ihnen zu wenden.
Schließlich versuchte sie, einen jungen Mann anzuhalten, der ihr Nachbar bei Tisch gewesen war und ihr viele Aufmerksamkeiten erwiesen hatte.
»Ah, Mr. Martens!«
Er sah sie mit demselben starren, bösen Blick an, den sie aus den Augen der anderen Männer gesehen hatte. Er erhob den Stock, und hätte sie versucht, ihn zurückzuhalten, so würde er sie geschlagen haben.
Gleich darauf vernahm sie ein Geheul, das heißt, eigentlich war es wohl kein Geheul, sondern mehr ein arges Fauchen, wie wenn ein starker, mächtiger Sturm in eine enge Gasse eingesperrt wird. Es kam von den Leuten auf der Treppe, die in ihrem Vorwärtsstürmen gehindert wurden.
Ein Mann wurde die Treppe hinaufgetragen, er war ein Krüppel und konnte selbst nicht gehen. Er war so hilflos, daß sein Diener ihn zu den Mahlzeiten hatte hin- und wieder wegtragen müssen. Er war ein großer, starker Mann, und der Diener hatte ihn jetzt mühsam auf seinem Rücken die Treppe halb hinaufgetragen. Dort war er einen Augenblick stehen geblieben, um Atem zu schöpfen. Da aber drängten die Leute so nach, daß er in die Knie gesunken war. Jetzt nahmen er und sein Herr die ganze Breite der Treppe ein und versperrten sie, so daß niemand vorwärts kommen konnte.
Da sah Mrs. Gordon, wie ein großer, grobknochiger Mann sich hinabbeugte, den Krüppel aufhob und ihn über das Treppengeländer hinunterwarf. Aber sie sah auch, so gräßlich dies auch war, daß niemand darüber erschrak oder sich empörte. Niemand dachte an etwas anderes, als die Treppe weiter hinaufzustürzen. Es war, als sei ein Stein, der im Wege lag, in den Graben geworfen, weiter nichts.
Die junge Amerikanerin sah ein, daß von diesen Menschen keine Rettung zu erwarten sei. Sie und ihre kleinen Kinder waren dem Untergang geweiht.
Da war ein junges Paar, Mann und Frau, die auf der Hochzeitsreise waren. Sie hatten ihre Kajüten ganz am Achterende des Schiffs, und sie hatten so fest geschlafen, daß sie nichts von dem Zusammenstoß gemerkt hatten. An dem Ende des Schiffs war auch nicht sehr viel Lärm, und da niemand daran dachte, sie zu rufen, schliefen sie noch, als alle anderen schon oben auf Deck waren, und der Kampf um die Boote begonnen hatte.
Aber sie erwachten, als die Schraube, die die ganze Nacht gerade unter ihnen gearbeitet hatte, plötzlich still stand. Der Mann warf ein paar Kleidungsstücke über und lief hinaus, um zu sehen, was es gab.
Er kam zurück. Er schloß die Kajütentür hinter sich, ehe er etwas sagte.
Dann sagte er: »Das Schiff sinkt.«
Indem er das sagte, setzte er sich nieder, und als seine Frau hinausstürzen wollte, bat er sie, bei ihm zu bleiben. »Alle Boote sind schon fort,« sagte er. »Die meisten Passagiere sind ertrunken. Die, die noch an Bord sind, kämpfen oben auf Deck auf Tod und Leben um die letzten Boote.«
Auf einer der Treppen war er über eine totgetretene Frau gestolpert. Von allen Seiten war Todesgeschrei an seine Ohren gedrungen.
»Es gibt keine Rettung,« sagte er, »geh nicht hinaus! Laß uns zusammen sterben!«
Sie fand, daß er recht hatte und setzte sich gehorsam neben ihn.
»Du willst doch wohl am liebsten nicht sehen, wie alle die Menschen miteinander kämpfen,« sagte er. »Sterben müssen wir, da laß uns einen stillen Tod sterben.«
Sie fand nicht, daß es zu viel verlangt war, diese kurzen Augenblicke, die ihnen noch von ihrem Leben übrig blieben, bei ihm zu bleiben. Sie hatte ihm ja ihr ganzes Leben geben wollen, von ihrer frühen Jugend bis zum späten Alter.
»Ich hatte mir ja gedacht,« sagte er, »daß, wenn wir viele Jahre verheiratet gewesen wären, du neben mir sitzen solltest, wenn ich auf meinem Sterbebette läge, und da wollte ich dir für ein langes und glückliches Leben danken.«
Im selben Augenblick sah sie einen schmalen Streifen Wasser unter der geschlossenen Tür hervorquellen. Das war ihr zuviel.
Verzweifelnd streckte sie die Arme aus.
»Ich kann nicht!« rief sie. »Laß mich hinaus! Ich kann hier nicht eingeschlossen sitzen und auf den Tod warten. Ich liebe dich, aber ich kann es nicht.«
Sie stürzte hinaus, gerade als das Schiff anfing zu schlingern und sich auf die Seite zu legen, ehe es sank. –
* * *
Die junge Amerikanerin, Mrs. Gordon, lag im Wasser, der Dampfer war gesunken, ihre Kinder waren ertrunken, sie selbst war tief, tief unten im Wasser gewesen. Jetzt war sie wieder an die Oberfläche heraufgekommen, aber sie wußte, daß sie im Augenblick wieder hinabsinken würde, und dann bedeutete es den Tod.
Jetzt dachte sie nicht mehr an Mann oder Kinder oder an irgend etwas auf dieser Welt. Sie dachte nur daran, ihre Seele zu Gott zu erheben.
Und ihre Seele erhob sich wie ein freigelassener Gefangener. Sie fühlte, wie froh sie war, die schweren Ketten des Menschenlebens abzuwerfen, wie sie sich bereitete, zu ihrer wahren Heimat hinaufzuziehen.
»Ist es so leicht zu sterben?« dachte sie.
Aber während sie das dachte, hörte sie all den verwirrenden Lärm rings um sie her: das Rauschen der Wogen, das Sausen des Windes, das Jammergeschrei der Ertrinkenden und das Getöse von alle dem, was auf dem Wasser umherschwamm und zusammenprallte – sie fand, daß das alles sich zu einem Laut vereinte, den sie auf dieselbe Weise verstehen konnte, wie sich die sturmlosen Wolken zuweilen zu einem Bild zusammenziehen.
Und das, was sie hörte, sprach zu ihr:
»Es ist wahr, daß es leicht ist, zu sterben. Schwer ist es, zu leben.«
»Ja, so ist es,« dachte sie und dachte weiter, was alles dazu gehöre, damit das Leben ebenso leicht wäre wie der Tod.
Rings um sie her kämpften und stritten die Schiffbrüchigen um die letzte Planke, treibende Wrackstücke und gekenterte Boote. Mitten durch die wilden Rufe und Flüche hindurch hörte sie wieder, wie sich der Lärm zu donnernden, starken Worten bildete, die ihr antworteten:
Das, was not tut, damit das Leben so leicht werden kann wie der Tod, das ist Einigkeit, Einigkeit, Einigkeit!
Es war ihr, als habe der Herr der Welt all diesen Lärm und das Getöse zu seinem Sprachrohr gemacht, um ihr zu antworten.
Während die Stimme noch in ihren Ohren klang, wurde sie gerettet. Sie wurde in ein kleines Boot hinaufgezogen, in dem noch drei Menschen saßen, ein großer, starker Matrose in seinem Sonntagsanzug, eine alte Dame mit runden Eulenaugen, und ein kleiner, verweinter Junge, der nichts weiter anhatte, als ein zerrissenes Hemd.
* * *
Am nächsten Tag gegen Nachmittag kam ein norwegisches Schiff an den großen Sandbänken und Fischplätzen auf New Foundland vorübergesegelt.
Es war schönes, stilles Wetter. Die See lag fast wie ein Spiegel da, und das Schiff fuhr nur langsam. Es hatte alle Segel gehißt, um den letzten Hauch des dahinsterbenden Windes aufzufangen.
Die Meeresfläche war wunderbar schön, lichtblau und blank, so weit man sah, und wo der schwache Wind über sie hinstrich, war sie weiß wie Silber.
Als diese Nachmittagsstille eine Weile gedauert hatte, sah die Schiffsmannschaft einen dunklen Gegenstand auf dem Wasser dahertreiben.
Er kam allmählich näher, und man sah, daß es eine Leiche war. Der Kutter fuhr gerade daran vorüber, und an den Kleidern der Leiche konnte man erkennen, daß es ein Seemann war. Er lag auf dem Rücken mit ruhigem Gesicht und offenen Augen. Die Leiche hatte noch nicht so lange im Wasser gelegen, daß sie aufgetrieben war. Es sah nur so aus, als lasse sich der Mann mit Wohlbehagen von den leicht gekräuselten Wellen auf und ab wiegen.
Aber als die Seeleute nach der anderen Seite sahen, hätten sie beinahe laut aufgeschrien; denn ohne daß sie es bemerkt hatten, war gerade am Vordersteven eine neue Leiche aufgetaucht. Es sah so aus, als wenn sie gerade über sie hinweg segeln müßten, aber im letzten Augenblick trieb sie mit der Kielwasserwelle davon. Alle stürzten an die Reling und starrten in das Wasser hinab. Diesmal war es ein Kind, ein feingekleidetes, kleines Mädchen, mit einem Hut auf dem Kopf, und in einer kleinen, blauen Jacke.
»Ach, du lieber Gott,« sagten die Seeleute und trockneten sich die Augen. »Du lieber Gott, so ein kleines Ding!«
Das Kind schaukelte vorüber, es sah sie mit einem altklugen, ernsthaften Ausdruck an, als habe es einen sehr wichtigen Auftrag auszurichten.
Gleich darauf rief einer von den Leuten, daß er noch eine Leiche sehe, und dasselbe rief ein anderer, der nach der anderen Seite aussah. Sie sahen auf einmal fünf Leichen, dann zehn, und dann war da ein ganzer Haufen, sie konnten sie nicht mehr zählen.
Das Schiff glitt ganz langsam zwischen allen diesen Leichen dahin. Sie scharten sich da herum, als wünschten sie etwas. Einige kamen in großen Gruppen dahergetrieben, sie sahen aus wie Treibholz oder andere Gegenstände, die sich vom Lande losgerissen hatten; aber es waren nichts weiter als Leichen!
Alle Seeleute standen da und starrten, niemand dachte daran, sich zu rühren. Sie konnten kaum glauben, daß das, was sie sahen, Wirklichkeit war. Auf einmal glaubten sie, eine ganze Insel aus dem Meere aufsteigen zu sehen. Es sah aus wie Land, aber als sie näher kamen, sahen sie, daß es nichts war als Leichen, die dicht nebeneinander schwammen. Sie umgaben das Schiff von allen Seiten, es war, als folgten sie ihnen, als wollten sie die Reise über das Meer mitmachen.
Der Schiffer ließ das Steuer umlegen, um Wind in die Segel zu bekommen, aber es half nicht viel. Die Segel hingen schlaff herab, und die Leichen folgten ihnen beständig.
Die Seeleute wurden immer bleicher und stummer. Der Kutter ging so langsam, daß sie den Toten nicht entrinnen konnten. Und sie fürchteten, daß es die ganze Nacht so bleiben würde.
Da stieg ein schwedischer Matrose auf den Vordersteven und begann mit lauter Stimme ein Vaterunser zu beten. Dann stimmten sie ein geistliches Lied an.
Als sie mitten im Gesang waren, sank die Sonne, und der Abendwind führte das Schiff aus dem Bereich der Toten hinweg.