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Die Tauben

Von Pierre Mille

»Wirst du kommen? … Ich bitte dich darum, wirst du kommen? Ich habe dich die ganze vergangene Nacht vergebens erwartet.«

Barnavaux warf ein kleines Geldstück in die Untertasse, die Madame Edmée ihm darbot, und die Hände an die Ohren haltend, bedeutete er ihr, daß die Musik des Orchesters zu laut sei und er ihre Worte nicht verstehen könne. Aber das war eine Lüge. Madame Edmée trug ein sehr tief ausgeschnittenes Leibchen von perlgrauer Seide, dessen stark mitgenommener Stoff geschickt durch Stahlpailletten verdeckt wurde. Sie warf Barnavaux einen zärtlichen Blick zu, einen Blick, in dem sich eine hündische Ergebenheit, glühendes Verlangen und Eifersucht aussprachen. Sie verbarg ihre schmerzerfüllte Liebe so wenig wie ihre welkenden Reize. Ein Netz sehr feiner, kleiner Falten an der Stelle, wo der Hals sich mit der Schulter vereinigt, zeigte nur zu deutlich, daß sie angefangen hatte zu altern. Aber wenn sie Schminke und Puder aufgelegt hatte, sah sie immer noch sehr hübsch aus, denn ihre braunen Augen, die einen feuchten, zärtlichen Glanz besaßen, waren von ungewöhnlicher Schönheit. Die Kameraden Barnavaux', die mit ihm in das Cafékonzert von Saïgon gegangen, bewunderten sie sehr.

Und er? Nun, für ihn war das nichts Neues! Aber Männer, die, wie Barnavaux, bäuerlichen Ursprungs sind, gehorchen, ohne sich dessen bewußt zu sein, alten Traditionen, nach denen man nur solchen Frauen die Treue hält, mit denen man zusammen haust, die uns die Suppe kochen und die Kleider flicken. Gewissermaßen halten sie ihren Mann aus, und der Mann läßt sich aushalten, weil das so in der Ordnung ist und in seinem Interesse liegt. Die andern Frauen? Sie können eventuell doch auch mit Geld aushelfen? Das ist wahr, aber um es anzunehmen, müßte man es schon sehr notwendig haben. Und Barnavaux hatte Geld. Er kehrte mit seinen Kameraden aus dem Chinafeldzuge zurück, und er hatte sein Teil an der durch Plünderung erworbenen Beute bekommen. Daß dem Siege auch das Recht der Plünderung zustehe, erscheint jedem Soldaten als eine durchaus gerechtfertigte und natürliche Sache, das Recht zu töten schließt das Recht zu stehlen in sich ein.

Und gerade in dem Augenblick, wo der um seinen Leib geschnallte Gürtel voller Louisdor steckte, wo er sogar – eine wirklich ganz ungewöhnliche Sache – über einige Wertpapiere verfügte, womit er sich alle Frauen, die weißen wie die gelben, kaufen konnte, grade da mußte ihm passieren, daß Madame Edmée, die entzückende Sängerin des Europäischen Konzertensembles, sein Geld zurückwies, dagegen den Anspruch erhob, ihn ganz für sich besitzen zu wollen, alle Nächte und alle Tage. Barnavaux fühlte sich unglücklich wie ein Kind, das man zwingt, zu lange dasselbe Spiel zu spielen. Seine Kameraden indessen schienen ihn zu beneiden, und das schmeichelte wieder seiner Eitelkeit. Ohne ihr daher eine direkte Antwort zu geben, fragte er:

»Wann trittst du auf?«

»Ich bin schon aufgetreten,« antwortete sie. »Jetzt kommt zuerst die Nummer der Kinder, und zum Schlusse muß ich dann noch einmal heraus … mit meinen Tauben … Komm doch nachher zu mir! Barna, ich bitte dich darum, Barna, mein Liebling, mein alles.«

Barnavaux zögerte immer noch. Er wandte seinen ganzen Körper nach der rechten Seite, um seine heiße Stirn unter den Ventilator zu bringen, dessen vier Flügelchen sich so rasch drehten, daß man in der schweren, von Tabakrauch erfüllten Luft nichts weiter von ihnen sah wie eine weiß wirbelnde Wolke. Sein Blick glitt über das seltsame Schauspiel, das dieses exotische Cafékonzert darbot: auf der Bühne stand ein Japaner; mit den Füßen in der Luft hielt er sich mit einer Hand auf einer Leiter, während er mit der andern Hand Jongleurkunststücke mit drei Kugeln ausführte. Im Hintergrunde der Bühne saß, sich mit den Händen auf den Knien stützend, die dicke, wallachische Sängerin und wartete auf den Augenblick ihres Auftretens. Das Publikum bestand fast nur aus Männern, mit Ausnahme einiger Frauen von Angestellten und Kolonisten; in einer Loge saßen drei dicke reiche Chinesen, die ihnen Blicke zuwarfen, in denen sich Lüsternheit und Verachtung mischten. Die Toiletten dieser Frauen und die himmelblauen Gewänder der Chinesen waren die einzigen ausgesprochenen Farbflecke, da alle Europäer weiß gekleidet waren, in hartes grelles Weiß, das unter dem Lichte der elektrischen Lampen beinahe blendend wirkte.

»Nun denn, es ist gut,« ließ Barnavaux sich endlich bereden. »Nach der Vorstellung also, bei dir.« Madame Edmée dankte ihm, indem sie mit glücklichem, flüchtigem Kusse leise seinen Nacken berührte. Da sie erst ganz zuletzt wieder auf die Bühne mußte, kauerte sie sich neben dem von ihr so geliebten Soldaten auf einem Stuhle nieder. Als Barnavaux seine Zigarette neben sie legte, ergriff sie diese mit leidenschaftlicher Hast, um sie zu Ende zu rauchen.

»Jetzt also kommt die Nummer der beiden Kleinen,« sagte Barnavaux.

Der Vorhang, der sich gesenkt hatte, während der Japaner auf einer Hand Walzer tanzte, wurde eben wieder aufgezogen. Von rechts und links trat ein Kind aus den Kulissen hervor; es war ein als Incroyable gekleideter kleiner Junge von vielleicht zwölf Jahren und noch ein jüngeres Mädchen im Kostüme der Madame Augot: Prinz Paul und Prinzessin Armide, sagte das Programm. Und es war wirklich eine feine Sache, die dennoch gleichzeitig beinahe tragisch wirkte. Sie waren nicht geschminkt, diese Kinder! Sie waren so jugendfrisch, so zart, so wunderhübsch; ihre Augen hatten einen offenen lachenden Ausdruck, obwohl sie schon mit einem tiefen Schatten umgeben waren, einem Schatten, der die natürliche Folge des langen Ausbleibens, des ganzen Elendes ihres traurigen Handwerks und alles dessen war, was diese armen Kinder schon gesehen und erfahren hatten. Sie sangen kleine, zweideutige Lieder mit reiner, klarer Stimme, die an den Klang eines zersprungenen Silberglöckchens mahnte, jenem seltsamen Klang, der allen Kindern eigentümlich ist, denen man zu früh und zu viel zu singen erlaubt.

»'s ist dein Kohl, liebe Liese, dein Kohl,
Den für zwei Sous ich heut' noch mir hol' …

So sang der kleine Prinz Paul, und man hatte ihm gewisse Gesten einstudiert, um die Albernheit und Unanständigkeit dieser Worte noch mehr zu betonen. Es ist wirklich besser, nicht zu wiederholen, was Prinzessin Armide darauf erwiderte. In Frankreich gibt es Gesetze, die es verhindern, daß Kinder auf den Theatern ausgenutzt und verdorben werden. In den Kolonien nimmt man kaum Notiz von solchen Gesetzen. Man hat da etwas anderes zu tun, als sich um das Schicksal fahrender Künstler zu bekümmern, die man niemals wiedersehen wird, und denen man nur so lange Aufmerksamkeit zollt, wie sie uns amüsieren – es gibt außerdem so wenig Gelegenheit sich zu amüsieren – und dann, es gibt so viel ernstere Mißbräuche, so viele Laster, die man auch nicht abschaffen kann. Prinz Paul und Prinzessin Armide waren viel zu unbedeutende Leute, um sich ihretwegen zu beunruhigen.

»Aber das ekelt mich an,« rief Barnavaux. »Man sollte diese armen Kinder zu Bette bringen. Um wieviel Uhr gehen sie schlafen?«

Madame Edmée verstand ihn einfach nicht. Ganz gewiß liebte sie ihre Kinder, aber man mußte doch auch leben. Sie trieben dasselbe Handwerk, das sie jahrelang ernährt. Sie wußte es nicht besser.

»Ich gehe fort,« wiederholte Barnavaux. »Wenn mir hier nichts anderes geboten wird, als zuhören zu müssen, wie diese armen Kinder Dinge sagen, von denen sie überhaupt noch nichts wissen sollten, dann gehe ich lieber in das Café Cholon. Dort treten zwar auch Kinder auf, aber es sind Chinesenkinder, und das ist eben etwas anderes, das ist natürlich und ist erlaubt. Aber die Kinder der Weißen, um Gottes willen!«

»Barna,« sagte Madame Edmée, »geh nicht fort!«

Solange wie er bei ihr war, wußte sie wenigstens, daß er nicht von andern mit Beschlag belegt wurde. Sie war nicht die einzige mit ihrer entsetzlichen Furcht zu altern und nicht mehr geliebt zu werden. Ach, sie hatte nur noch eine kurze Frist vor sich, und dann würde kein Mensch sie beachten, niemand mehr sie lieben.

»Barna, wohin gehst du?«

»Zu Cholon, ich habe es dir ja schon gesagt,« antwortete Barnavaux mit harter Stimme, »ich gehe zu den Chinesen.«

Er nahm seinen Helm und stürmte davon.

Madame Edmée erhob sich, ohne von den Freunden des Soldaten die geringste Notiz zu nehmen. Er war gegangen – und sie hatte kein Interesse für die ganze übrige Männerwelt. Durch eine kleine, hinter der Bar verborgene Tür erreichte sie die Bühne, und obwohl dort eine glühende Hitze herrschte, zitterte sie, wie wenn ein kalter Schauer ihre Glieder schüttelte. Armide und Paul hatten schon ihre Kostüme abgelegt. Paul war im Begriff, wieder in seine ziemlich vertragene Marinebluse von blauer Leinwand zu schlüpfen. Armide stand mit emporgehobenen Armen da wie eine kleine Frau und wartete darauf, daß die anamitische Ankleiderin ihr ein Hängekleidchen von grüner Libertyseide überwürfe. Ganz erschöpft von Müdigkeit fragte sie:

»Wann gehen wir nach Hause?«

»Nach meiner Nummer, das weißt du doch,« antwortete Madame Edmée trocken.

»Ach ja,« seufzte sie, »wir müssen noch Nummer neun abwarten.«

Ohne zu antworten, zog Madame Edmée den schwarzen Lüstervorhang zurück, der den Käfig bedeckte, in dem die Tauben schlummerten. Von dem sie blendenden Glanz der Lampen erweckt, bewegten sie unruhig ihre Flügel und pickten von den mit einer leichten Opiumlösung getränkten Körnern, die man ihnen in einem Näpfchen anbot. Dann ließen sie sich ruhig greifen und eine neben die andere auf ein Bambusrohr setzen. Es waren ihrer mehr als zwanzig in den verschiedensten Farben. Der Vorhang erhob sich, und Madame Edmée trug ihre Täubchen auf die Bühne.

Eine große, silberweiße Taube, die, welche zu oberst auf der Sitzstange gesessen, flog langsam in die Höhe, umkreiste ihre Herrin einige Male und ließ sich dann auf ihrem Kopfe nieder. Dort blieb sie ruhig sitzen; ihre Korallenfüßchen hatten sich tief in Madame Edmees reiches Haar vergraben, ihr Schnabel war geöffnet, ihr Hals blähte sich, sie girrte zärtlich, und ihre Flügel bewegten sich hin und her. Zwei andere Tauben von tiefblauer Farbe setzten sich auf die nackten Schultern ihrer Gebieterin; der ganze Rest der Truppe flog zugleich auf, stieg bis unter den Theaterhimmel, um sich von dort mit gesenkten Köpfchen, steifen Flügeln und fächerförmig ausgespreizten Schwanzfedern herabzusenken und in unermüdlichem Fluge schneller und immer schneller Madame Edmée zu umkreisen.

Einige von ihnen schienen vergoldet zu sein, andere schimmerten in irisierenden Tönen und wirkten beinahe, wie in Vögel verwandelte Perlmuttermuscheln. Sie führten eine Art Reigen in der Luft auf, sie begegneten sich und flohen voneinander, um sich dann wieder zu vereinigen. Das Gefieder einiger dieser schönen Tierchen war wie mit Blut und Purpurflecken besät. In immer engerem Ringe drängten sie sich um ihre Herrin. Schon berührten sie ihr Kleid, ihren Busen, ihr blasses Gesicht, das wie eine feststehende Sonne unter rastlos sie umkreisenden Sternen still und ernst dreinschaute; und als Madame Edmée nun den Kopf zurückwandte, breitete die große weiße Taube ihre Flügel ganz weit aus und zog – als ob sie stark genug sei, die Gebieterin bis in die Wolken davonzutragen.

Sie zitterte am ganzen Körper vor Erregung. Dieses Spiel, das sie ersonnen und den Tauben einstudiert hatte, übte stets dieselbe berauschende Wirkung auf sie aus; es erschien ihr wie ein leidenschaftliches Gedicht, in dem sie all ihr Hoffen und Wünschen ausdrückte. Sie verlor sich in einer Art von Taumel, einem schwindelnden Glücksgefühl, in dem ihre erregten Sinne beinahe schon Erfüllung ihres heißen Sehnens fanden. Eine grünlich schimmernde Taube schmiegte sich fest an ihre Brust und blieb zitternd und leise girrend darauf hängen. Sie streckte den Hals weit aus, so daß der Schnabel die Lippen der jungen Frau berührte. Eine andre Taube, deren Gefieder schwarz, rosa und rot gefärbt war, fiel wie ein Stein von oben herab und blieb auf ihrem Nacken liegen. Sie schlug langsam mit den Flügeln und girrte dabei zärtlich. Jetzt streckte Madame Edmée die Arme weit aus, und die ganze Truppe ließ sich auf die gerade und aufrechtstehende bleiche Herrin nieder und bedeckte ihren Körper wie mit einem wollüstigen Mantel von weichen Flügeln.

Armide und Paul waren in einem Rohrsessel eingeschlafen, sie ruhten mit geschlossenen Augen und schlapp herabhängenden Armen nebeneinander darin. Man hörte ihren Atem kaum, sondern nur ab und zu das Geräusch ihrer aufeinanderstoßenden Zähne. Als Madame Edmée, die nur einen Mantel über ihre Theatertoilette geworfen hatte, die Kinder erweckte, waren sie so müde, daß sie sich kaum auf ihren Beinen zu halten vermochten. Sie führte sie an der Hand in das Hotel zurück, zog sie aus, und sie setzten ihren Schlaf auf einem gemeinschaftlichen Bette fort. Dann legte auch sie sich hin, aber sie dachte nur an Barnavaux.

»Wo mag er jetzt sein,« dachte sie. »was er jetzt wohl anfangen mag? Ach, und ob er wohl kommen wird?«

Tiefe Seufzer entstiegen ihrer gequälten Brust, sie fühlte sich so gedemütigt und ach, so todtraurig. Warum lebte sie noch? Wozu nützte es zu leben? Als sie endlich in einen schweren Halbschlaf verfiel, war ihr, als ob ihre Tauben noch immer um sie kreisten, aber nur, um sie herabzuziehen in einen schwarzen Abgrund, in dem sie erstickte. Endlich hörte sie, wie die Tür des Hotels sich öffnete und die Schritte eines Mannes sich ihrem Zimmer näherten. Sie kannte den Schritt Barnavaux' so gut! Er war es.

»Barna,« rief sie, »oh, wie gut du bist!«

Sie hätte sich am liebsten vor ihm auf die Knie gelegt. Barnavaux hatte sich im Café Cholon gütlich getan. Er hatte Champagner getrunken wie ein vornehmer Herr und Whisky wie ein Engländer, und außerdem haftete der feine, an kochende Schokolade erinnernde Duft des Opiums an seinen Kleidern. Er hatte indessen kein Opium geraucht. Diese Art des Rausches sagte ihm nicht zu. Das ging ihm viel zu langsam, man mußte dabei ruhig auf einer Matte liegen. Aber es amüsierte ihn, von einer Opiumstube in die andere zu schlendern und zuzusehen, wie die Chinesen bei der kleinen Lampe und der göttlichen Bambuspfeife in Träume versanken. Er war sehr vergnügt, angeheitert, aber nicht betrunken. Die Liebe dieser Frau erfüllte ihn heute mit einem triumphierenden Gefühl.

»Trotzdem,« sagte er, »trotzdem …«

Stolz und mit einer Herrschermiene setzte er sich. Madame Edmée streckte sich lang aus, legte ihren Kopf auf seine Brust und horchte dem Schlage seines Herzens. Da vernahm er plötzlich eine kleine helle Stimme: »Wer ist da?« fragte sie.

Es war Armide. Das Geräusch seiner Schritte hatte sie erweckt, und beim Scheine der Lampen sah er, wie sie ihn groß anblickte. Ganz verstört richtete er sich hoch auf.

»Schlafe sofort,« sagte Madame Edmée in ärgerlichem Tone zu der kleinen Armide und ging an ihr Bett.

»Nein, nein,« rief Barnavaux, »nein, das nicht, um Gottes willen, das nicht.«

»Barna,« rief ihm Madame Edmée mit flehender Stimme nach.

Aber schon hatte er seinen Gürtel umgeschnallt und, geräuschvoll die Tür zuschlagend, eilte er davon.

* * *

Der Wind wehte aus Nordwest: es war ein frischer, aber stetiger Wind, der der Devonia nicht hinderlich war. Das große Schiff verfolgte, ohne den Kurs zu verlangsamen, ruhig seinen Pfad.

Einer der Passagiere, der sich gut mit wärmenden Hüllen versehen, hatte seinen Liegestuhl in den Gang gestellt, der vor dem Salon erster Klasse hinläuft. Ganz nahe bei ihm glitt die Kette des Steuers durch eine Art von Rinne, und wenn der Steuermann die Richtung änderte, verursachte diese wohlgeölte, über Laufrädchen gleitende Kette ein leises brummendes Geräusch. Der große Propeller, dessen vier zitternde Flügel das träge Wasser durchschnitten, erfüllte das ganze große Schiff mit einem fortwährenden noch dumpferen Geräusch. Auf dem Vorderdeck girrten die Tauben in einem großen Weidenkäfig. Und all diese Geräusche wirkten vereint so monoton und einschläfernd, daß der Passagier im Begriffe war, sanft einzuschlummern.

Da sagte plötzlich eine helle Stimme neben ihm:

»Mein lieber Herr, schlafe nicht. Ich möchte dich um etwas bitten.«

Als er dann die Augen öffnete, sah er ein kleines, blondes Mädchen vor sich stehen, das ein Hängekleidchen von grüner Libertyseide trug. Das Kleidchen war ganz elegant, das kleine Mädchen war sehr hübsch, aber es trug vollständig verschlissene gelbe Stiefelchen, und der Ausdruck seines Gesichtes war nicht der eines reichen kleinen Mädchens, denn es lag etwas Dreistes darin: und die Kinder der Reichen sind vertrauensvoll, glücklich und unbefangen, weil ihnen niemand jemals ein Leid zufügte; sie sehen aus wie kleine Könige, die es wissen und erwarten, daß man ihnen gehorcht und ihre Wünsche erfüllt, aber sie haben keinen dreisten Ausdruck. Die Dreistigkeit ist ein Fehler der armen Kinder, die sich gegen den ihnen auferlegten Zwang empören, die ein oft ebenso stolzes wie empfindsames Herz haben, oder auch der unartigen und schwachen, immer aber der unglücklichen Kinder. Sie ist ein Ausdruck der Reizbarkeit des Gemütes.

Die Augen des kleinen Mädchens sahen sehr traurig drein; sie hatten einen zwar noch reinen, aber schon wissenden und enttäuschten Ausdruck.

Der Passagier fragte sie:

»Wie heißt du?«

Sie antwortete:

»Armide. Aber du kennst mich doch, mein Herr. Ich bin es doch, die das Wettrennen der Krebse an Bord eingeführt hat. Und du bist der Herr, der den großen Einsatz gewonnen hat, hast du das vergessen?«

Der Passagier erinnerte sich dessen jedoch noch sehr gut. Vor der Abreise von Southampton hatte der Koch lebendige Krebse gekauft, die das kleine Mädchen in einer Wanne hatte krabbeln sehen. Da hatte sie ein ganzes System von Wettrennen organisiert, die drolligerweise bald Mode geworden waren. Ein Häufchen Fleisch bildete das Ziel. Kleine Brettchen, die man strahlenförmig darum aufgestellt hatte, dienten als Rennbahn. Man setzte auf das äußerste Ende je dieser Brettchen einen ausgehungerten Krebs. Es war den Wettenden streng untersagt, das ihnen angehörende Tier voranzustoßen oder es zu veranlassen, einen anderen Weg einzuschlagen, wenn es unglücklicherweise sich nicht rückwärts dem Ziele näherte. Aber man hatte das Recht, seinen Krebs zu pflegen, ihn zu trainieren und ihm Reizmittel zu geben, ferner den Koch zu bestechen, damit er behilflich bei der Auswahl seines Tieres sei; man pflegte die Krebse dann weit über Marktpreise zu bezahlen. Man glaubt es nicht, welche Preise man an Bord eines Schiffes für einen tüchtigen Rennkrebs bezahlt!

Der Passagier hatte den Preis gewonnen, den großen Preis, den Königin-Viktoria-Preis, um den die besten Tiere Don Ramon Ramirez' vergebens gekämpft. Don Ramon Ramirez, der große Plantagenbesitzer von La Plata, der viel weniger stolz auf seine zweihunderttausend Ochsen und seine zahllosen Hammel war, als auf seine Krebszucht, die er an Bord der Devonia unterhielt. Er hatte sie auf dem Backbord in einem Gefäße von Weißblech ganz nahe bei der Metzgerei untergebracht. Auch der Yankeeoberst Mac-Kinnon besaß einen stolzen Rennstall; er bestand aus zwölf auserlesenen starken Tieren, die nur mit Hammelnierchen ernährt wurden. Aber Nordamerika hatte sich nicht gegen La Plata zu halten gewußt, und La Plata war durch Frankreich geschlagen worden, dessen Vertreter eben unser Passagier war, und das war wirklich ein ruhmvoller Sieg, obwohl der Kommandant ihn durchaus nicht in dem Schiffstagebuche verzeichnen wollte.

Der Passagier fühlte, daß es hier eine Dankespflicht zu erledigen galt. Er fragte:

»Nun denn, Fräulein Armide, und was begehrst du von mir?«

Sie antwortete:

»Nimm mich auf deinen Arm und hebe mich so hoch, daß ich durch eins der Fenster in den Salon sehen und ihn mir betrachten kann.«

Er warf seine Decken von sich, sprang sofort auf und nahm die Kleine auf den Arm, wie sie gewünscht hatte. Mit gierigen Augen blickte das Kind in das Innere des Salons.

»Oh, wie schön das ist,« sagte sie.

Wie auf allen Passagierschiffen, nahm der Salon den ganzen hinteren Teil des Schiffes ein. Drei Reihen Tische, von denen je eine die Wände entlang lief, die dritte in der Mitte aufgestellt war, waren schon für das Mittagessen gedeckt worden. Sie waren reich mit Silber und Kristall besetzt. Es blitzte und schimmerte darauf. Da standen hohe, smaragdgrün leuchtende Römer von Kristall für den Johannisberger und Rüdesheimer, und durchsichtige, rankenförmig geschliffene Kelche für die andern Weine. Auf dem Ehrentische stand ein Tafelaufsatz von Porzellan aus Sèvres. Er stellte eine von Schwänen gezogene Galeere dar. Alle zwischen den Fenstern befindlichen Wände waren mit Gemälden behangen. Einige dieser Bilder stellten Tropenlandschaften dar: zwischen Palmen und hohen Farnen flogen Vögel, deren Gefieder wie Edelsteine leuchtete. Auf einem anderen Bilde sah man Schiffe, die mit vollen Segeln zauberhaft schönen Häfen zusteuerten; unter goldig-schimmerndem Himmel erhob sich ein großer, von Säulen getragener Palast; Marmorstufen führten bis zum Meere herab, und auf dem Söller stand eine schöne Frau, die wen zu erwarten und zu singen schien. An der entgegengesetzten Seite des Salons, dem Piano gegenüber, stieg die große Treppe empor, auf deren Rampen Lampenträger in Gestalt schöner weiblicher Statuen standen. Im Vestibül hing ein schönes Bild, das Werk eines großen Meisters, das Amphitrite mit ihrem Gefolge darstellte. Der halb von den Wogen verschleierte Körper der Göttin erschien wie eine durch grünlichen Nebel schimmernde schöne Rose. Sie war von Tritonen, Delphinen und Nymphen umgeben, und ein Triton, eine Art von Ungeheuer mit einem menschlichen Gesicht, der ganz mit Algen bedeckt war und ölig und glänzend wie ein Walroß aussah, bot der Göttin einen Korallenzweig dar, den er dem Meere entrissen und der in köstlicher roter Glut in dem Lichte schimmerte.

Armide wiederholte immer wieder.

»Oh, wie schön, wie schön ist es da drinnen!«

Der Salon der großen Passagierboote ist eine Art von Heiligtum, in dem kleine Kinder nicht zugelassen werden, und zwar aus verschiedenen Gründen, deren wichtigster vielleicht die Furcht ist, daß sie plötzlich seekrank werden möchten. Man hat ihnen ein anderes Reich auf dem Hinterdecke des Schiffes angewiesen. Dort wird der Tisch für sie gedeckt, dem eine besonders dazu bestimmte Stewardeß präsidiert, und sie werden von ihren eigenen Bonnen und Wärterinnen bedient. Übrigens gehören diese gar nicht selten dem männlichen Geschlechte an, denn die Chinesen und Hindus verstehen die Pflege der Kinder ganz vorzüglich, und es ist dies offenbar einer der Gründe, der sie bestimmt, ein Kleid über den Beinen zu tragen und keine Hose, wie die deutschen Herren. Man erlaubt den Kindern auch, Verstecken zwischen den Koffern zu spielen, und manchmal gestattet man ihnen sogar, mit dem Gepäckmeister in den unteren Schiffsraum zu gehen, was immer eine ganz besonders interessante Expedition ist, da es dort unten dunkel und geheimnisvoll ist.

Die Verwaltung der Passagierschiffe beschränkteren Raumes erlaubt ihnen wohl auch das sogenannte Spardeck zu betreten wie den großen Leuten der ersten und zweiten Klasse. Aber selbst unter den Mitgliedern dieser jungen Bevölkerung gibt es schon eine gewisse Rangordnung, deren Stufen sich nach dem von den Eltern gezahlten Fahrpreis richten. Selbst diese noch sehr jungen Menschenkinder sind sich deutlich bewußt, daß sie verschiedene soziale Stellungen einnehmen. Ganz besonders die, deren Eltern erster Klasse reisen, genießen große Vergünstigungen, und sie werden manchmal nachmittags unter Führung und Verantwortung der Urheber ihrer Tage mit in den so herrlichen Salon genommen. Sie werden dort mit einem Glase Fruchtsaft oder Limonade bewirtet und kommen sich sehr wichtig vor; wenn sie dann zu den armen, kleinen Teufeln zurückkehren, denen diese Herrlichkeiten verschlossen sind, renommieren sie ganz gewaltig.

Während der Passagier Fräulein Armide auf dem Arme hielt, dachte er über diese Dinge nach und zog seine Schlüsse. Aber er sagte nichts davon. Er begnügte sich, die Kleine zu fragen:

»Wer ist deine Mama?«

Fräulein Armide, die alles gesehen hatte, was sie sehen wollte, ließ sich zur Erde gleiten. Sie wußte es schon, daß die großen Leute, wenn sie einem Kinde eine Freundlichkeit erwiesen haben, sich immer dafür bezahlt machen, indem sie es ausfragen. Die erste Frage lautet stets: »Wie heißt du?« die zweite – besonders wenn der Fragende dem männlichen Geschlechte angehört: »Wie heißt deine Mama?« Und dann geht es gewöhnlich weiter: »Wie alt bist du?« oder auch: »Kannst du schon lesen?« Aber es gibt auch Leute, die indiskretere Fragen stellen. Armide war zehn Jahre alt, sie konnte lesen. Sie war bereit, darüber zu antworten. Aber wenn es galt, von ihrer Lebensweise zu erzählen, so mißtraute sie dem Frager und ließ sich nicht gern auf eine längere Unterhaltung ein, und selbst die erste Frage des Passagiers war ihr nicht angenehm.

Indessen antwortete sie:

»Meine Mama? Es ist Madame Edmée, die blaugekleidete Dame, die dort auf der Brücke steht.«

Und dann überlegte sie es sich, daß es doch wohl besser sei, alles zu sagen, da die Bonnen es doch alle wußten und man auf dem Schiffe davon sprach. Sie fügte also hinzu:

»Ich aber bin die kleine Prinzessin Armide, und mein Bruder ist Prinz Paul. So wenigstens steht es auf den Theaterzetteln, wir sind auf der Reise nach Neuyork, um dort zu spielen.«

»In einer Musikhalle,« sagte lächelnd der Passagier.

»Ja. Du hast doch sicher die Tauben der Madame Edmée gesehen? Paul aber und ich, wir singen. Wir sind Artisten, wir bilden eine Truppe, verstehst du das?«

Armide fühlte sich ordentlich erleichtert, mit einem Schlage eine so schwierige Situation erklärt zu haben. Übrigens sah der Passagier sehr gütig und freundlich aus, und als er sich über sie neigte, um sie zu küssen, hielt sie ihm herablassend die Wange hin. In diesem Augenblick wurden auf dem Piano einige Akkorde angeschlagen. Irgendwer hatte Platz davor genommen und begann zu spielen; die Musik drang deutlich bis zu ihnen, die hohen Töne hell und klar, während die Baßnoten einen beinahe erstickten Klang hatten. Die Augen des kleinen Mädchens leuchteten.

»Oh,« flüsterte sie, »wäre es nicht möglich, daß du mich nur einmal mit in den Salon nähmest? Ich werde sehr artig sein.«

Der Passagier ergriff lächelnd ihre Hand, und sie stiegen die schöne Treppe hinunter. Armide glitt ganz leise durch die Reihen der Tische und ging zum Piano.

»Ich weiß es, was er spielt, der Herr,« sagte sie leise. »Es ist eins der Lieder, die Madame Edmée singt, es ist ein spanischer Tanz. Der Tanz ist lustig, aber die Worte sind es nicht.«

Die Begleitung, die sich nur in ein paar Tönen bewegte, ahmte das Geräusch der Tamburinen nach, die sich beeilen, mit der von der Gitarre gespielten Melodie gleichen Schritt zu halten. Die Melodie selbst war leise und träumerisch.

»Singe das Lied, wenn du es kannst, kleine Armide,« sagte der Passagier.

»Ich kann es nicht laut singen,« murmelte sie, »aber ich will es dir hersagen:

En la torre mas alta
De Castel Martin
E'un pajaro, y canta
Coplas en latin.
Y en ellas dice
Che los enamorados
Siempre estan triste.
«

»Und was heißt das?«

»Höre:

Vom hohen Turm des Castel Martin
Tönt der Nachtigall Lied
Zum Tale hin.
Sie singt und klaget
Es allezeit:
Die Liebe, ach, bringet
Nur Herzeleid.«

»Fräulein Armide,« sagte der Passagier, »kleine Mädchen von zehn Jahren müssen noch nicht von Liebe sprechen. Besonders aber nicht um zu sagen, daß sie Leid bringt. Das heißt doppelt sündigen. Nun aber wollen wir ein Glas Limonade trinken und dann eine Partie Dame spielen.«

»Ich will sehr gern mit dir Limonade trinken,« antwortete Armide, »und ganz besonders, wenn du meinen Bruder auch dazu einladen willst. Aber warum willst du nicht auch ein wenig mit Madame Edmée plaudern? Hier auf dem Schiffe spricht kein Mensch mit ihr! …«

So kam es, daß der Passagier Madame Edmée vorgestellt wurde, und die Damen der Mitreisenden regten sich nicht wenig darüber auf, weil Madame Edmée nicht mal eine richtige Schauspielerin, Sängerin oder Zirkusreiterin war. Sie war vielleicht ihrer Zeit ein wenig von alledem gewesen – aber heute erinnerte man sich nur, daß sie in Matrosen- und Soldatenkneipen mit ihren Tauben aufträte. Da war man natürlich » shocked«! Ach, Madame Edmée war ja auch gerade das, was die grausame Menschheit am meisten verachtet: eine arme und eine sehr verliebte Frau, die den Geliebten verloren hatte. Seit ihr Soldat sie rücksichtslos verlassen hatte, war sie von Asien nach Europa zurückgekehrt, und nun wieder führte ihr elender Beruf sie von Europa nach Amerika. Es war, als ob sie unter der Einwirkung eines jener Albe stände, wo man zu fallen glaubt, tiefer und tiefer zu sinken wähnt und sich sagt: Ich werde nicht eher aufatmen können, bis ich unten angekommen bin, aber ich werde unten zerschellen. Gleichzeitig einen sinnlich veranlagten Körper und eine sentimentale Seele zu haben, das ist gegen die Natur. Die Seele wird von allen Beschmutzungen und Enttäuschungen des Körpers in Mitleidenschaft gezogen; man stirbt, ohne je etwas andres als Leid gekannt zu haben. Madame Edmée fühlte es, daß die Kräfte ihres Körpers wie ihres Herzens und Geistes gleichzeitig langsam erstarben, und sie war wie alle Kranken sind, sie sprach mit dem Passagier von nichts anderm wie von ihrer Krankheit. Ach, die feinen Damen an Bord der Devonia hatten unrecht, die Nase zu rümpfen und Anstoß an dem Verkehr des Passagiers mit dieser gebrochenen Frau zu nehmen. Es lag auch nicht die kleinste Veranlassung dazu vor.

Und dann, und dann! … Das Leben an Bord eines Schiffes hat in gewisser Beziehung Ähnlichkeit mit dem in einer ganz kleinen Stadt, da man hier wie dort auf einen immerhin recht beschränkten Raum angewiesen ist, und jeder unter den Augen des andern lebt und sich fortwährend beobachtet weiß. Auf einem Schiffe noch mehr wie in einer kleinen Stadt, denn die Kabinen werden fast immer von zwei Gästen gleichen Geschlechtes bewohnt, die sich vor Antritt der Reise oft gar nicht kannten, und die einander eifersüchtig überwachen; da ist es wirklich nicht so ganz leicht, sich gegen die herrschenden Gesetze der Moral zu vergehen. Immerhin gibt es meistens mehr Männer wie Frauen an Bord eines Schiffes, alle aber, Männer und Frauen, haben nichts zu tun. Die Tage sind lang, und am Nachmittag, wenn die Damen in ihren Liegestühlen auf dem Deck ruhen, wird regelrecht geflirtet. Aber die von Sternen, dem Monde oder auch nur von dem bläulich weißen Schein der elektrischen Lampen erhellten Abende und Nächte erhöhen nur die sich in mancher Brust regenden zärtlichen Gefühle, ohne ihnen jedoch Befriedigung zu gewähren. Die großen Passagierschiffe, die still ihren Weg durch die Wogen ziehen, sind von einer ganzen Atmosphäre von Wünschen und heißem Sehnen umgeben, aber wenn es Gott dem Herrn, dessen Willen unerforschlich ist, gefällt, sie plötzlich dem Untergange preiszugeben, dann hat er nicht vielen Sündern Vergebung zu gewähren. Wenn sein väterliches Auge auf die Wogen des Meeres herabblickt, wird er nicht annähernd so viel verirrte sündige Menschen finden, wie in den großen Städten, den Gebüschen, den Feldern. Und ich hoffe, daß er ihnen Einlaß in sein himmlisches Reich gewährt hat, den Passagieren der Devonia, allen, den Millionären, den Abenteurern, den unschuldigen Kindern und dieser armen Komödiantin, die früher viel gesündigt und viel geliebt hatte, die aber ach! so sehr unglücklich war.

Der Abend kam. Der rote Sonnenball versank langsam im westlichen Meere. Vor ihm erschien das Wasser in zarter Mauvefarbe, dann sah es wie ein Feld von Skabiosen und endlich wie ein ungeheueres Beet tiefdunkler Stiefmütterchen aus. Von der Himmelsgegend, wo dann langsam der Mond und die Sterne aufstiegen, wehte ein frischer Wind.

»Wozu nützt es, daß es so viel Wasser gibt, lieber Herr?« fragte Prinz Paul den Passagier.

»Ich weiß es nicht,« sagte er. »Das Licht der Sonne zieht die Dünste aus dem Meere empor, sie verdichten sich, werden zu Wolken, und diese Wolken fallen dann als Regen in das Meer zurück, es ist ein Kreislauf, der stets von neuem beginnt.«

»Ja,« sagte Madame Edmée, »es fängt stets von neuem an. Wozu nützt dieser ewige Kreislauf, wozu?«

»Ich weiß es nicht,« wiederholte der Passagier. »Früher zur Zeit, da man noch an die Religion glaubte, meinte man es zu wissen. Aber jetzt weiß man überhaupt nichts mehr.«

Er legte die Hände auf Armidens blondes Haar.

»Es gibt Kinder,« sagte er, »die immer wieder das Leben lieben, wie die Dünste, die dem Wasser entsteigen und emporsteigen, weil sie den Himmel lieben – und das fängt immer wieder von neuem an.«

»Aber welche Bedeutung hat das für uns?« sagte Madame Edmée rauh.

»Keine,« erwiderte er, »wenn nicht die, daß wir Menschen uns fürchten, in das Meer der Unendlichkeit zurückzusinken – das heißt zu sterben. Ich für meine Person, ich fürchte mich wirklich vor dem Tode,« gestand er schaudernd. »Ich liebe es zu denken und Ordnung in meine Gedanken zu bringen, wie die Kinder es lieben, die Welt in Bildern vor ihren Augen entstehen zu sehen … und oh, es ist schrecklich, ganz schrecklich zu wissen, daß man aufhören wird zu denken.«

* * *

Der Nebel! das fünfte Element … wie die Engländer ihn nennen. Aber die Devonia verfolgte ihren Weg durch den Nebel, fast ohne langsamer zu fahren, trotz der Gefahr, die der Seemann kaum achtet, weil er ihrer gewohnt ist, und dann auch, weil Zeit Geld bedeutet. Nur das Nebelhorn ließ von Zeit zu Zeit schreckliche Klagetöne erschallen, die weithin über die Fluten tönten. Es war, wie wenn ein Stier, ein schrecklicher, unmöglicher Stier, der mehr als hundert Meter lang und haushoch wäre, unaufhörlich mit eiserner Lunge und eiserner Kehle in den Nebel hinausbrüllte: »Ich fürchte mich vor euch, und ihr habt Angst vor mir.« Das war der Ruf des Nebelhorns, während das große Schiff unaufhaltsam zitternd die Wogen durchschnitt. Die Kälte der von Norden kommenden Eisschollen machte die die Masten und Planken des Schiffes bedeckende Feuchtigkeit gefrieren, und die zum Schlachten bestimmten Ochsen drängten sich ängstlich aneinander und lauschten mit emporgestrecktem, stumpfsinnigem Haupte auf das ihrem Geschlechte angehörige Ungeheuer, das so laut brüllte, ohne daß sie es sahen.

Prinzessin Armide und Prinz Paul glitten schüchternen Schrittes durch die friedlichen Tiere hin und schleppten einen großen alten Wollteppich mit sich, der dazu bestimmt war, die Täubchen der Madame Edmée vor der Kälte zu schützen. Sie erreichten den an der Küchenwand stehenden Käfig sehr bald. Die Tauben schlummerten mit unter den Flügeln versteckten Köpfchen, sie zitterten vor Kälte. Der große silberweiße Täuberich, der sich bei den Vorstellungen auf Madame Edmées Kopf niederzulassen pflegte, öffnete einen Augenblick die Augen und schlummerte dann wieder ein; auch er zitterte vor Kälte.

In diesem Augenblick trat die Devonia ganz plötzlich aus dem Nebel hervor. Es war, als ob sie allen Leids und der Finsternis entrückt, mit einem Male in eine neue Welt, in ein Paradies versetzt worden sei, in dem es endlich klare, reine Luft und einen unumwölkten Himmel gab. Die guten kleinen Sterne schimmerten und blitzten am Firmamente. Von der hinteren Brücke ertönte ein Kommandoruf, und das Nebelhorn verstummte sofort mit einer Art Schluchzen, als ob ihm jemand die Kehle zugehalten hätte. Die Devonia verfolgte ihren Kurs durch die schäumenden Wogen. Die zwei kleinen Komödiantenkinder sahen sich an:

»Jetzt wird man am Ende schlafen können,« meinte Paul.

»Ja,« antwortete Armide, »das große Tier heult nicht mehr, und auf den Schiffen gibt es keine Vorstellungen. Man hat hier nicht nötig, auf Nummer neun, die Nummer der Madame Edmée, zu warten, um schlafen zu gehen. Man kann schlafen, bis wir in Neuyork sind.«

»Famos,« sagte Paul.

Sie fühlten sich sehr glücklich. Von ihrer zartesten Kindheit an an ein Wanderleben und an gelegentliche lange Seereisen gewöhnt, betrachteten sie diese Überfahrten wie eine Ferienzeit, deren sie bei ihrem schweren Berufe wirklich bedurften. Einige Minuten später schliefen sie schon mit geschlossenen Fäustchen in ihrer Kabine zweiter Klasse. Madame Edmées Augen ruhten mit traurigem Blicke, aber tränenlos auf den Kindern. Sie dachte an den Soldaten, der sie verlassen hatte, an ihre letzte Liebe, an das ihr immer näher rückende Alter und daran, wie schwer und doch nutzlos ihr ganzes Leben sei.

Und in dieser selben Nacht, wo das Herz der armen Frau verzweifeln wollte, schlug die Stunde, die das Ende all ihres Elends brachte.

Denn in dieser Nacht war es, wo die Devonia Schiffbruch litt. Sie kollidierte mit dem Wrack eines Schiffes, das unter dem tückischen Wasser verborgen, andern Schiffen das Verderben brachte, jenen alten Sündern gleich, die ihrer Verbrechen wegen zur Hölle verdammt sind und die von Zeit zu Zeit auf die Erde zurückkehren, um andre Seelen in den Abgrund zu locken, dem sie selbst rettungslos verfallen sind. Gerade in dem Augenblick, da der Himmel sehr klar und schön geworden, da tausend freundliche Sterne funkelten und das Nebelhorn verstummt war, wo alle Furcht aus dem Herzen der Passagiere der Devonia entschwunden war, gerade da bohrte das tückische Wrack sich in den Bauch des Schiffes, vergrub sich in seinen Eingeweiden und verursachte seinen jähen Untergang. Kaum eine halbe Stunde dauerte der Todeskampf der Devonia, ein mit Krämpfen und Seufzern erfüllter schwerer Kampf. Ihre Seufzer waren Explosionen, die die wasserdichten Schotten zersprengten, ihre Krämpfe zerrissen ihr Rippenwerk. Paul und Armide hatten keine große Angst, als zwei Matrosen sie auf den Arm nahmen, um sie in eins der Rettungsboote zu tragen, die man sofort in das Meer herabgelassen hatte.

In diesem Augenblick sahen sie den Passagier auf der Kommandobrücke erscheinen. Er war beinahe nackt und ganz verfroren. Irgendwer rief ihm zu:

»Nehmen Sie sich in acht!«

Aber als er um sich blickte, war es schon zu spät. Der Stumpf des Mastes, den man auf den Passagierschiffen stehen läßt und der zum Signalisieren benutzt wird, zerbrach in drei Teile, von den zwei noch lose aneinander hielten und wie die Zeiger eines riesigen Kompasses gegeneinander neigten. Diese entsetzlichen Kinnbacken packten den Unglücklichen mitten um den Leib. Sie zerquetschten ihn langsam, ganz langsam … Ihn, der solche Furcht vor dem Sterben hatte, weil er dann aufhören würde zu denken! Was dachte er wohl während dieser schrecklichen, dieser langen Sekunden? Was denkt, was sieht man in dem Augenblicke des Todes? …

Man hatte Armide und Paul rasch umgedreht, damit sie dies entsetzliche Schauspiel nicht sehen sollten. Sie waren aber wirklich noch zu jung, um den ganzen Ernst und die Tragweite ihrer Lage zu verstehen.

Das ist eine Gnade, die das Schicksal den Kindern, sowie den in Wald und Wiesen lebenden unschuldigen Geschöpfen erweist. Das einzige, was Paul und Armide sahen, war die dicke Madame Ramirez, eine Reisende erster Klasse, die Frau des Pflanzers aus La Plata, der man einen Rettungsgürtel über ihren dicken Busen geworfen hatte und die sich krampfhaft um den Hals eines kleinen Leutnants klammerte, eines Dreikäsehochs, der den gewaltigen Dimensionen der Dame gegenüber wie ein richtiger Knirps aussah. Sie schrie unausgesetzt: »Retten Sie mich, oh, retten Sie mich.« Es sah aus, als ob sich ein Flußpferd an ein Ziegenböcklein klammere.

Und bei diesem Anblick brachen die Schiffbrüchigen trotz der sie umgebenden Schrecken in lautes, krampfhaftes Lachen aus. Es war dies seltsame tolle Lachen, das man nur vernimmt, wenn die menschliche Maschine in Unordnung geraten ist. Armide und Paul lachten wie alle andern, aber sie litten weniger, während sie lachten. Es waren Männer und Frauen unter den Passagieren, deren Herz nicht in Ordnung war, oder deren Nerven durch den Alkohol oder andere Ursachen allzusehr gelitten, die auf der Stelle starben. Man muß schon gesund sein, um die plötzliche und brutale Wirkung ungeheuerer und unvorhergesehener Katastrophen ertragen zu können, gesunder und stärker, wie die meisten Menschen es heute sind … Als man Madame Edmée in das Boot zu ihren Kindern herabgelassen hatte, war sie dem Tode nahe.

Das Boot trieb sieben Tage und sieben Nächte auf dem Wasser umher, dann wurde es endlich von der Goelette Hilda aufgefunden und geborgen. Daher hat man alle diese Dinge erfahren. Zuerst waren fünfunddreißig Personen in dem Boote gewesen, aber allmählich waren ihrer immer weniger geworden. Die wenigen Überlebenden waren so schwach, daß sie die Toten nicht einmal mehr über Bord warfen. Aber sie litten nicht sehr viel, ausgenommen diejenigen, die so töricht gewesen, Meerwasser zu trinken – denn man hatte etwas Schiffszwieback an Bord, aber kein süßes Wasser zu trinken – die wurden wahnsinnig. Da war Bazille, der Mastwächter, der sich einbildete, fortwährend die Matrosen in dem untern Schiffsraum, wo man sie eingeschlossen hätte, um Hilfe rufen zu hören, und es gab keinen unteren Schiffsraum; unter den Planken des Bootes, auf die Bazille mit Füßen und Händen verzweiflungsvoll loshämmerte, rauschte das Meer, war nichts als ein mehr als zweitausend Meter tiefer Abgrund, in dem namenlose, den Menschen unbekannte Tiere ihre Nahrung suchten. Vergebens bestrebte man sich, ihn zu beruhigen, er gab keinem Zuspruch Gehör, er vernahm nur seine wilden Phantasien; es war am Ende trauriger für die anderen wie für ihn selbst. Und es war ein braver Kerl, dieser Bazille, da er selbst im Wahnsinn immer nur an andere dachte. Nur als er ganz rasend wurde und ein Beil ergriff, um damit den Boden des Bootes zu durchhauen, war man gezwungen, sich seiner zu bemächtigen, um ihn unschädlich zu machen. Aber als man ihn binden wollte, riß er sich los und sprang über Bord, und dann war es mit ihm vorbei. Die gefräßigen Wogen schlugen fast geräuschlos über ihm zusammen, und keiner kümmerte sich weiter um ihn. Überhaupt kümmerte sich keiner mehr um den andern. Man fror zu sehr. Hatten doch die meisten, als sie das Schiff verließen, kaum Zeit gehabt, ein paar Kleidungsstücke umzuwerfen, sie waren fast nackt.

Dem Vieh gleich, das man mit gefesselten Füßen zur Schlachtbank bringt, kauerten die Unglücklichen sich unter den geteerten Segeln auf dem Boden der Barke zusammen. Die meisten hatten alle Widerstandskraft verloren und lagen stumm und gleichgültig da, dennoch funktionierte ihr Gehirn immer noch. Sobald durch die Kälte die Extremitäten des Körpers erstarrt und gelähmt sind, verschwindet aller Schmerz, der Tod kommt dann langsam, ganz langsam und sanft, ohne daß man sich dessen bewußt wäre und darunter litte. Das Herz und der Kopf widerstehen am längsten. Man mochte den Zustand eines solchen Unglücklichen mit jenen mit geschmolzenem Blei gefüllten Gefäßen vergleichen, die die Buchdrucker von dem Feuer ziehen und deren sie sich nicht rechtzeitig bedienen. Man sieht, wie an einer oder an zwei Stellen das Metall noch kocht, während der ganze Rest schon hart und unbeweglich geworden ist. So ungefähr war es mit Madame Edmée; sie hatte bereits die Besinnung verloren. Armide und Paul, die sich fest umschlungen hielten, widerstanden länger. In Kindern ist so außerordentlich viel Lebenskraft! Es ist, als ob ihre ganze Natur sich dagegen sträube zu sterben, ehe die Zeit erfüllt ist, die zu leben dem Menschen bewilligt ist. Aber wie verändert waren diese armen Kleinen! Ihr zarter, reiner, blumenähnlicher Körper war zusammengeschrumpft und beinahe schwarz geworden, und sie blickten aus unnatürlich großen, von tiefen, dunkeln Rändern umgebenen Augen. Indessen ahnten sie glücklicherweise nicht, welchem Schicksale sie entgegengingen. Sie waren nur müde, hatten noch mehr Schlaf, wie zu jeder andern Zeit ihres elenden Lebens, wo sie nie hatten schlafen dürfen, wenn sie es noch so gern gewollt – das war alles! Und wunderbar, daß trotz dieser großen Müdigkeit ihre Augenlider wie gelähmt waren und sie sie nicht zu schließen vermochten!

Da sagte Paul plötzlich mit kaum verständlicher Stimme:

»Die Tauben.«

Und wirklich, über dem Boot vernahm man leisen Flügelschlag, Paul und Armide erkannten Madame Edmées Tauben. Sie erschienen ihnen allerdings größer zu sein wie wohl sonst, aufgeregter, wie sie sie jemals gesehen, und wie von einem leichten Schatten umgeben. Sie umflogen das Boot, in immer engeren Kreisen näherten sie sich dieser auf den Fluten dahintreibenden Nußschale, auf der längst keiner mehr die Ruder regierte. Ja, es waren wirklich die Tauben! Wie das Sitte bei einem Schiffbruch ist, hatte man alle Käfige in das Meer geworfen, nachdem man sie weit geöffnet hatte, und die Tauben waren herausgeflogen, hatten vergebens nach Land gesucht, auf dem sie Nahrung finden, und nach einer Quelle, an der sie ihren Durst löschen könnten. Aber es war vergebens gewesen. So weit sie ihre Flügel auch trugen, sie hatten nichts gefunden, als die bittern Wogen und die düstern Eisschollen. Nun führte der Zufall die armen Tierchen hierher zurück. Vielleicht daß sie glaubten, das arme, kleine, über dem Wasser treibende Boot könne ihnen eine Zufluchtsstätte bieten. Menschen, es waren ja Menschen darauf. Sie glaubten zweifellos, daß die Menschen, in deren Macht es steht, wenn sie wollen, die Tiere zu töten, auch die Macht besitzen müßten, sie zu nähren und zu tränken. Mit eingezogenen Pfötchen, völlig feuchtem Gefieder und ganz erschöpft von ihrem langen Fluge sanken sie vertrauensvoll und hilfesuchend auf das Boot herab. Die große silberweiße Taube, die so zärtlich zu girren verstand, erkannte Madame Edmée. Sie legte sich schmeichelnd auf ihren Hals und breitete zum letzten Male die Flügel weit über die Herrin aus …

»… Die Täubchen,« sagte Armide, deren Gedanken sich schon verwirrten, »sie sind an der Reihe, es ist die letzte Nummer … Dann ist es aus, und wir können bald schlafen gehen …«

Und es war wirklich so, wie sie gesagt, ganz bald darauf gingen Armide und Paul in das Land ein, wo man immer schläft.


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