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1851-1921
Als Asis Taboada erwachte, empfand sie einen drückenden Schmerz im Kopf, gleich als läge ihr ein eisernes Band um die Schläfen; ihr Gesicht brannte, und sie hatte das Gefühl, als drängen tausend Nadelstiche in ihr Hirn; Mund und Zunge waren trocken, ihre Wangen glühten, ihre Pulse flogen, und sie war nicht imstande, sich zu erheben.
Seufzend warf sie sich im Bett herum; sie konnte keine Ruhe finden.
Sie klingelte.
Die Jungfer trat ein und öffnete die Fensterläden; heller Sonnenschein flutete in das Zimmer, und die Kranke rief mit schwacher, kläglicher Stimme:
»Nicht so weit aufmachen – noch weniger – so!«
»Wie geht es der gnädigen Frau?« fragte Angela, der Asis den Spottnamen Diabla beigelegt hatte, mit freundlicher Besorgnis. »Fühlen sich die gnädige Frau etwas besser?«
»Ja, mein Kind, aber der Kopf schmerzt noch sehr.«
»Ach, schon wieder die furchtbare Migräne?«
»Ja, furchtbar! Bringe mir, bitte, eine Tasse Lindenblütentee.«
»Wie immer.«
»Sofort!«
Nach einer Viertelstunde kehrte Diabla zurück.
Ihre Herrin drehte den Kopf zur Wand und vergrub ihr Gesicht in die Linnen, um sich Stirne und Wangen zu kühlen. Ab und zu seufzte sie tief auf.
Ihr war, als arbeiteten tausend Maschinen in ihrem Kopf, und sie empfand eine so heftige Betäubung, wie sie sie nur einmal im Leben empfunden, da sie einst nach einem Besuch in der Münze, halb wahnsinnig von dem entsetzlichen Getöse, den Sälen entflohen war.
Wie damals, quälte sie auch heute der Gedanke, daß ein Heer von lauernden Feinden sie umlagere.
Ihr war, als läge sie in einer Hängematte, statt in einem Bett, und als schwankte alles um sie her.
»Ah, endlich der Lindenblütentee! Heiß! sehr gut!«
Asis richtete sich auf und stützte den Kopf in die Hand, die Finger fest auf die Schläfen pressend. Sie führte den Löffel an die Lippen, um ihn aber gleich darauf mit einer Gebärde des Widerwillens wieder sinken zu lassen.
»Der ist ja glühend heiß! Ich habe mich verbrannt. Stütze mich ein wenig, – so.«
Diabla, flink wie ein Eichhörnchen und schlau wie ein Fuchs, blickte augenzwinkernd zu ihrer Herrin hinüber und sagte scheinbar zerknirscht:
»Um Gottes willen, gnädige Frau, geht es Ihnen schlechter? Sie werden doch nicht etwa einen Sonnenstich haben? Gestern fielen die Spatzen vom Dach vor Hitze, und Sie waren den ganzen Tag ...«
»Ja, ja, das wird's sein,« bestätigte die gnädige Frau.
»Soll ich Dr. Sanchez holen?«
»Du bist wohl verrückt! Deshalb den Arzt holen? Kühle den Tee und dann gieße ihn mir in dieses Glas.«
Nachdem Diabla das Getränk mehrfach umgegossen hatte, war der Tee genießbar. Asis trank ihn und kehrte sich sofort wieder der Wand zu.
»Ich will schlafen. Ich esse nichts. Wenn Besuch kommt, bin ich nicht zu Hause. Und wenn ich dich brauche, klingle ich.«
Asis sprach mit gedämpfter Stimme, wie jemand, der sich nicht zum Scherzen aufgelegt und an Geist und Körper gleich ermattet fühlt.
Endlich zog das Mädchen sich zurück, und Asis hüllte sich seufzend noch tiefer in ihre Decken.
Die Migräne war nach dem Genuß des Tees geschwunden. Hitze und Mißbehagen legten sich. Ja, ihr körperliches Befinden war besser, viel besser, als ihr seelisches! ...
Kein Zweifel: wenn es am Tage eine Stunde gibt, zu der das Gewissen am deutlichsten zu uns spricht, so ist es die des Erwachens. Sehnsucht und Wünsche, Liebe und Haß sind gleichsam in dichte Nebel gehüllt; es fehlt die Unruhe des Lebens, und wie wir nach einer langen Reise das Empfinden haben, als existiere die Stadt, die wir verlassen haben, nicht mehr, so dünkt es uns beim Erwachen, als ob die Erregungen und Sorgen des Abends für immer geschwunden seien. Wir sind nachdenklich gestimmt und befragen unser Gewissen in Ruhe, ungestört durch äußere Einflüsse. Gute Vorsätze pflegen zumeist unter der Bettdecke zu bleiben.
So erging es auch Asis; nur daß sich zu ihren übrigen Empfindungen auch noch das Staunen gesellte: »Aber ist es denn möglich? Ist mir das alles wirklich passiert? oder habe ich nur geträumt? Reiße mich aus meinen Zweifeln, großer Gott!« Und obgleich Gott sich nicht die Mühe gab, zustimmend oder verneinend zu antworten, sprach eine Stimme in ihrem Tiefinnersten: »Heuchlerin, du weißt sehr gut, was du getan hast. Frage mich nicht, oder du erhältst eine Antwort, die dir nicht lieb ist.«
»Diabla hat recht; ich habe einen Sonnenstich ... denn Sonne habe ich nie vertragen können ... dieses verwünschte Madrid mit seiner ewigen Sonne! Weiß Gott, ich bin hier in ein Sonnenbad geraten; ich sollte überhaupt um diese Zeit schon längst in meiner Heimat sein.«
Doña Francisca Taboada war, nachdem sie der Sonne die Schuld zuschieben konnte, etwas ruhiger geworden. Merkwürdig war es, daß die Sonne, weniger an derartige Anklagen gewöhnt als der Mond, sie mit derselben Ruhe und derselben Gleichgültigkeit entgegennahm wie jener.
»Jedenfalls,« hub die unerbittliche Stimme von neuem an. »könntest du froh sein, wenn's nur ein Sonnenstich wäre ... geh nur, mir brauchst du mit deinen Geschichten nicht zu kommen. Wir beide kennen uns ... Wir haben nicht umsonst zweiunddreißig Lenze miteinander verlebt. Nur keine Ausflüchte, wenn ich bitten darf ... Und ebensowenig brauchst du zu behaupten, daß es ganz unerwartet kam, daß dich keine Schuld trifft, und daß dies und daß jenes ... Herzenskind, oft geschieht an einem einzigen Tage, was sonst in einem ganzen Jahr nicht geschieht. Du brauchst dich nicht abzuwenden, du warst bis jetzt eine ehrbare Frau, ja ... eine anständige Witwe. Zugestanden, hast deine beiden Trauerjahre gewissenhaft eingehalten (was um so höher anzurechnen ist, als du, – seien wir aufrichtig, – deinen alten, kränklichen Onkel und Gemahl, den Marquis d'Andrade, mit seinem gefärbten Backenbart, unmöglich lieben konntest) und dich trotz deiner Vorliebe für Vergnügungen vierundzwanzig Monate lang nur in der Kirche und im Hause deiner intimsten Freunde sehen lassen; hast deine Tochter mit Liebe und Sorgfalt erzogen; das wird niemand leugnen; hast trotz deiner Freiheit immer tadellos gelebt; ich erkenne das an. Aber ... was willst du, Asis? Du hast dich einen Augenblick gehen lassen und eine Dummheit begangen – denn es war eine Dummheit – eine arge Dummheit sogar ... und nun wird der Teufel kommen und immer und immer wieder seine Klauen nach dir ausstrecken. Du kannst dich nicht rein waschen. Eine kalte, leidenschaftslose Sünde, ohne die mildernden Umstände, die manchen Fehltritt beschönigen.«
Diesen unwiderlegbaren Argumenten gegenüber konnte der heilbare Einfluß des Lindenblütentees nicht zur Geltung kommen, und so fühlte Asis sich von neuem krank und elend. Das eiserne Band, das um ihre Schläfen lag, drückte sie unsäglich. Glühend war das Bett und glühend der Körper der Schuldigen, die sich, gleich Sankt Laurentius auf dem Rost, unruhig hin und her wälzte, um nur ein einziges kühles Fleckchen auf ihrer Matratze zu finden.
Plötzlich sprang sie auf, wankte bleich wie ein Gespenst durch den kühlen Alkoven und dann auf den Waschtisch zu, wo sie den Hahn öffnete und sich, die Fingerspitzen benetzend, Stirn und Wangen kühlte. Danach empfand sie eine große Erleichterung. Nun rasch wieder ins Bett, die Augen geschlossen und nichts gedacht und nichts gesprochen ..
Ja, das ist leicht gesagt. Nichts denken! Je mehr das Summen und Pochen, die Hitze und die Migräne nachließen, desto lebhafter wurden die Erinnerungen, desto heftiger die Gewissensbisse...
»Wenn ich nur beten könnte,« dachte Asis. »Zum Einschlafen gibt's nichts besseres, als mechanisch etwas hersagen.«
Sie versuchte es wirklich; und obgleich dieser Versuch einschläfernd wirkte, verstärkte er doch die Unruhe und die inneren Kämpfe. Pater Urdax würde schöne Augen machen, wenn er das erführe, er, der schon über geringfügige Kleinigkeiten, wie das Umgehen der Fasten, den Besuch eines Balles in dekolletiertem Kleide, das Versäumen der Messe und andere kleine Sünden, die das Leben in der großen Welt mit sich bringt, außer sich geraten konnte! Wieviel Umschreibungen würden notwendig sein, um den ersten Eindruck des Entsetzens, die erste Philippika abzuwenden! Ja, ja, tausend Umschreibungen! Und das ihm gegenüber, ihm, der immer alles klar und deutlich, ohne Beschönigung und ohne Zurückhaltung hören wollte. Wenn er ihr doch wenigstens erlauben würde, die Geschichte von Anfang an mit allen Details und allen Nebenumständen zu erzählen, damit er zu der Überzeugung käme, daß hier ein unseliges Verhängnis gewaltet... Aber woher den Mut nehmen, vor einem so strengen Jesuiten ein Vergehen beschönigen zu wollen? Diese Herren wollen überall nur die Tugend sehen, die reine, fleckenlose Tugend, und denken gar nicht daran, irgendwelche Milderungsgründe gelten zu lassen.
Trotz der traurigen Überzeugung, daß sie bei Vater Urdax auf keinerlei Nachsicht zu rechnen haben würde, legte sich Asis im Halbdunkel ihres Schlafgemaches die folgende Erzählung zurecht, aus der deutlich zu ersehen ist, daß sie die Sache vor ihrem eigenen Gewissen möglichst zu bemänteln und in das beste Licht zu rücken bemüht war.
Ich muß auf einiges zurückgreifen, was man sich vorgestern beim Empfang der Herzogin von Sahagun erzählte; auch mein Landsmann, der Oberst der Artillerie Don Gabriel Pardo de la Lage war zugegen. Ein vollendeter Kavalier, allerdings etwas albern und wunderlich, mit seltsamen Anschauungen, die er manchmal mit großer Hartnäckigkeit und Verve vertritt; zeitweise aber sitzt er schweigsam am Kartentisch, ohne sich um das zu kümmern, was in unserem Kreise vorgeht. Wenn ich dort bin, was fast jeden Mittwoch der Fall ist, hält Don Gabriel sich mehr in der Gesellschaft der Damen auf, und ergreift gern die Gelegenheit, mit der Frau des Hauses und mit mir zu plaudern. Manch einer kam daher auf die Vermutung, ich sei ihm nicht gleichgültig, während andere der Ansicht sind, er sei in eine seiner Nichten verliebt, über die man sich die merkwürdigsten Dinge erzählt. Kurz und gut, wir streiten uns ewig, kommen aber dennoch nicht allzu schlecht miteinander aus, der Oberst und ich.
Nein, wir vertragen uns sogar ganz gut, und wenn wir uns wirklich mal streiten, so scheint das unsere Sympathie nur noch zu erhöhen. Es ist fast, als gewänne ich seine Eigenart, die auf eine gewisse innere Güte schließen läßt, immer lieber. Man kann das schwer in Worten ausdrücken, aber ich empfinde es so.
Nun aber zur Sache! Vorgestern war der Oberst vom ersten Augenblick an sehr redselig und erregt und bot Veranlassung zu allgemeiner Heiterkeit. Ich reizte ihn, für folgende Behauptung einzutreten: daß Spanien ein ebenso wildes Land sei wie Mittelafrika, daß wir alle afrikanisch-beduinisches, arabisches oder was weiß ich für Blut in den Adern hätten, und daß all diese Interessen für Eisenbahnen, Telegraphie, Fabriken, Schulen, wissenschaftliche Vereinigungen, politische und Preßfreiheit nur oberflächlich und vergänglich seien, während das wirklich Nationale und Urwüchsige, das Barbarische Jahrhunderte und Jahrhunderte überdauere. Darauf erhob sich, wie vorauszusehen war, allgemeine Entrüstung. Lachend erklärte ich ihm, er sei wie die Franzosen, die von uns glauben, wir könnten nur Bolero tanzen und die Kastagnetten dazu schlagen, und fügte noch hinzu, daß wohlerzogene Menschen sich in allen Ländern gleich seien.
»Ich behaupte,« rief Pardo mit größter Heftigkeit aus, »daß wir im Gebiet der Pyrenäen ohne Ausnahme alle Wilde sind; nur daß wir Gebildeten es aus Schamgefühl und gesellschaftlichen Rücksichten möglichst zu verbergen suchen. Sobald wir auf eine schiefe Ebene geraten, gleiten wir aus. Der erste Strahl der spanischen Sonne, dieser Sonne, über die sich die Fremden so sehr mit Unrecht beklagen, denn es regnet hier genau so viel wie in Paris, das ist das Komische ...«
Man unterbrach ihn:
»Es fehlt wirklich nur, daß Sie auch noch die Sonne ableugnen.«
»Ich leugne sie gar nicht ab; was ist da zu leugnen? So gut, wie wir uns im Winter in Pelze hüllen, um uns vor Lungenentzündung zu schützen, wenden wir im Sommer Madrid, diesem glühenden Kessel, in dem es kaum auszuhalten ist, den Rücken ... wir sind halb wahnsinnig vor Hitze – und dann haben alle Klassen eine gewisse Wildheit gemein ...«
»Ich glaube, Sie haben recht ... denken Sie doch zum Beispiel nur an die Stierkämpfe.«
Die Stierkämpfe! Das war Wasser auf Pardos Mühle. Nun waren wir bei seinem Lieblingsthema angelangt, denn er findet sie ebenso sündhaft, wie Pater Urdax die Bälle und die Aufführungen frivoler Stücke. »Sehen wir uns die drei wilden Tiere, den Stier, den Stierkämpfer und das Publikum einmal näher an. Das erste läßt sich töten, weil es nicht anders kann; das zweite, weil es Geld damit verdient, und das dritte, das wildeste von den dreien, bezahlt für das Töten sein Geld, selbst auf die Gefahr hin, vom Papst in Acht und Bann getan zu werden! Denn diese Stierkämpfe beeinträchtigen angeblich den Ackerbau, und bilden so indirekt die Veranlassung zum Rückgang der staatlichen Finanzen und zu den Bürgerkriegen.« Das alles war ihm in einem Moment der Erregung entfahren, und als er dann den Eindruck sah, den seine Worte hervorriefen, nahm er sie halbwegs zurück und sagte:
»Lassen wir die Stierkämpfe zunächst einmal beiseite, obgleich sie für den verrohenden Einfluß der Sonne den besten Beweis liefern, – denn die Stierkämpfe brauchen südliche Glut – und gehen wir zu etwas anderem über, in dem sich die Eigenart der spanischen Nation am klarsten widerspiegelt. Die Kirchweih steht vor der Tür; morgen ist San Isidro Labrador, und dann strömt alles hinaus ins Freie.«
»Sie wollen wohl auch gar die Kirchweih und den Heiligen bekritteln? Vor Ihnen ist doch nichts sicher.«
»Der Heilige ist gut, darum ist ihm dies Opfer zuwider, das ihm seine Gläubigen darbringen. Wenn San Isidro das sähe, er, der ein friedfertiger und ehrbarer Landwirt war, würde er die gelben Erbsen in Steine verwandeln und sie auf seine Anbeter herniederschleudern. Bei dieser Gelegenheit zeigen sich die typisch-spanischen Instinkte unverhüllt in ihrer ganzen Schönheit: Trinkgelage, Klatsch, Streitigkeiten, Völlerei, Zügellosigkeit, Blasphemie, Diebstahl und allerhand andere Bestialitäten. ... Ein schönes Bild, meine Damen, nicht wahr? So ist das spanische Volk, wenn man ihm die Zügel schießen läßt, genau so wie das Füllen, das auf der Weide wild ausschlägt und laut wiehernd seine Freude kundgibt ...«
»Ja, wenn Sie vom gewöhnlichen Volk sprechen ...«
»Nein, das tue ich eben nicht. Alle sind sich gleich; Instinkte schlummern in jedem Menschen, und sind uns Ort und Gelegenheit geboten, so streifen wir gewisse Rücksichten, die uns die Erziehung auferlegt, wie eine bloße Hülle ab.«
»Was für Theorien! Um Gottes willen! Wollen Sie nicht wenigstens in bezug auf die Damen eine Ausnahme machen? Sind wir etwa auch Wilde?«
»Ja, die Frauen auch, und vielleicht noch mehr als die Männer, da ihre Erziehung mangelhafter ist. Seien Sie mir nicht böse, Freundin Asis. Ich gebe zu, daß Sie gewissermaßen eine rühmliche Ausnahme bilden, – und daß unsere Provinz schließlich die friedfertigste und vernünftigste von ganz Spanien ist.«
Bei diesen Worten wandte die Herzogin rasch den Kopf um. Sie war bei Beginn des Gesprächs in eine Unterhaltung mit einem neu angekommenen Gast verwickelt gewesen, einem jungen Andalusier von angenehmem Äußeren, dem Sohne eines ihrer alten Freunde, der als Gutsbesitzer in Cadix lebte. Die Herzogin ließ sich höchst selten neue Gäste zuführen, und so kam es, daß man in ihrem Salon fast niemals einem Fremden begegnete. Dagegen pflegte sie alte Beziehungen in freundschaftlichster Weise wieder aufzunehmen, und es herrschte in bezug auf ihre Liebenswürdigkeit nur eine Stimme. Ich bemerkte, wie die Herzogin, ohne darüber den Fremden zu vernachlässigen, an unserer Diskussion den lebhaftesten Anteil nahm, und wie sie darauf brannte, sich einzumischen. Gelegenheit dazu fand sich bald, da der junge Gaditano sich entschloß, am Tanze teilzunehmen.
»Vielen Dank, Herr von Pardo, daß Sie speziell uns zu Andalusiern stempeln. Sie nennen uns Barbaren und tun einfach so, als ginge Sie die Sache gar nichts an.«
»O, Herzogin, Herzogin, Herzogin!« entgegnete Pardo mit größtem Nachdruck. »Sie meine ich damit nicht, Sie, eine Dame von so hoher Intelligenz, eine so eifrige Beschützerin der schönen Künste. Sie, die Sie assyrische Gefäße als Kochtöpfe verwenden, die Sie eine Mineraliensammlung besitzen, vor der der deutsche Gesandte in staunender Bewunderung steht, Sie, verehrteste, die Sie in der Archäologie bewandert sind, wie kaum ein Mann, und vor deren Scharfblick selbst Gelehrte zittern.«
»Machen Sie sich nicht über mich lustig, wenn ich bitten darf. Das sieht ja gerade aus, als wäre ich ein furchtbarer Blaustrumpf. Und das alles nur, weil mir manchmal ein Bild oder eine alte Vase gefällt? Wenn Sie glauben, damit das Thema der Barbarei erschöpft zu haben, dann irren Sie sich! – Was meinen Sie dazu, Pacheco? Wollte man diesem Herrn, der aus Galizien stammt, Glauben schenken, so wären alle Spanier, im besonderen die Andalusier, die reinen Barbaren. Asis, erlaube, daß ich dir Don Diego Pacheco vorstelle – Marquise d'Andrade, Don Gabriel Pardo.«
Der Fremde verneigte sich stillschweigend und reichte mir die Hand. Ich murmelte etwas Unverständliches zwischen den Zähnen, wie man es in solchen Fällen zu tun pflegt, und nachdem der Form genügt war, betrachteten wir uns mit der kalten Neugier einer ersten Begegnung, Pacheco, der sehr elegant gekleidet war, machte auf mich einen äußerst vornehmen Eindruck; er sah aus wie ein Südländer, erinnerte aber trotzdem in seinem Äußeren auch etwas an den »Englishman«. Er schien mir ernst und schweigsam. Die Frage der Herzogin beantwortend, entgegnete er:
»Jedes Land hat seine Eigenheiten. Bei uns ist man nicht roher als anderswo: man huldigt den schönen Künsten ... und gerade in Andalusien ist das Volk sehr zivilisiert. Ich erkläre alle Damen für Engel und widerspreche von vornherein allem, was gegen sie gesagt wird.«
»Ja, wenn Sie die Galanterie in den Vordergrund stellen, dann muß ich allerdings mit Ihnen übereinstimmen. Aber eigentlich sollte die hier ganz zurücktreten. Bei den verschiedenen Nationen mache ich keinen Unterschied zwischen Weib und Mann; mich interessieren nur die traditionellen Eigentümlichkeiten der Rasse.«
»Ach, Pardo!« rief die Herzogin aus, »verkünden Sie hier nicht eine so geschraubte und gedrechselte Philosophie. Drücken Sie sich klar und deutlich aus, wie ein Christ. Wir wollen das Thema nüchtern behandeln.«
»Gut, also gesprochen wie ein Christ, sage ich, daß Männer und Frauen aus demselben Teig gemacht sind, und daß in Spanien – Sie selbst haben mir befohlen, mich klar und deutlich auszudrücken – auch die Frauen der Barbarei ihren Tribut zahlen. Zwar erkennt man es nicht auf den ersten Blick, da sie es ihrem Geschlecht schuldig sind, alles in mildere Formen zu kleiden und stets die Rolle eines Engels zu spielen. Da haben wir zum Beispiel unsere Freundin Asis, die, obgleich sie aus dem Nordwesten stammt, wo die Frauen ruhig, sanft und liebenswürdig sind, beim ersten glühenden Strahl der Sonne, der auf ihren Scheitel fällt, genau so über die Stränge schlagen würde, wie ein Mädchen niederster Sphäre.«
»Aber ich bitte Sie! Sie sind wirklich unverbesserlich! Wie ist es nur möglich, daß Sie immer und immer der Sonne alle Schuld aufbürden? Was hat sie Ihnen nur getan?«
»Sehr viel, denn sie macht die Menschen toll und ist daher für manche Sünde verantwortlich.«
»Das können Sie doch nicht im Ernst auf unsere Gegend beziehen, wo wir die Sonne nur ein paar Tage im Jahr zu sehen bekommen.«
»Also gut, dann nehme ich alles zurück, dann ist's eben die iberische Luft. Bedenken Sie nur, was für eine Rolle die Stierkämpfe bei uns spielen, und das in Marineda genau so wie in Sevilla oder Cordoba. Die Wirtshäuser sind überfüllt, die Weiber verdrehen den Männern die Köpfe, und nur allzu oft enden Streit und Zank mit dem Dolch. Heute kennen schon die Kinder auf der Straße die Stierkampfgesetze in- und auswendig, und zur Zeit dieser grausamen Schauspiele fließt der Manzanilla in den Matrosenkneipen in Strömen. Seit der Restaurationsepoche herrscht in Spanien – das werden Sie mir zugeben – überall Uneinigkeit. Und warum? nur wegen kleinlicher Dinge.
»Don Amadeo wird in der witzigsten Weise parodiert. Seine Heldentaten bestehen in der Erfindung ganz besonderer Kämme und Mantillen, halblanger, mit meterbreiten Franzen besetzter Gewänder und allerhand anderer Moden, – und wenn man sich über all diese Dinge auch noch so lustig macht, so versucht man doch, sie aufs genaueste zu kopieren. Sehen Sie sich unsere Freundin, die Herzogin, mit ihrer feinen Bildung und ihrer hervorragenden Begabung einmal an; selbst ihr Kann man keinen größeren Gefallen tun, als, indem man sie, trotzdem sie nur streng einheimischer Mode huldigt, für die eleganteste Dame Madrids erklärt.«
»Ja gewiß,« rief die Herzogin mit der ihr eigenen Lebhaftigkeit aus, »ich halte es für unwürdig, die anderen Nationen zu kopieren. Kann es etwas Lächerlicheres geben, als dies stete Jagen nach fremden Sitten und Gebräuchen? Aus Frankreich die Bänder und Schleifen, und eine Tracht, als wären wir unsere eigene Großmutter? aus England die Braten, die Industrie und so weiter. Und nun sagen Sie mir, mein hochverehrter Herr, weshalb Sie von allen zivilisierten Völkern der Welt nur uns Spanier ausnehmen? Ich möchte erstens wissen, was Sie unter unzivilisiert verstehen, und zweitens, wodurch sich unser armes, unglückliches Volk denn eigentlich von allen anderen europäischen Völkern unterscheidet?«
»Ja, wenn Sie mich so in Verlegenheit bringen, verehrte Herzogin, weiß ich nicht mehr ein noch aus ... Ich möchte mir erlauben, auf das Beispiel von vorhin zurückzugreifen, haben Sie jemals die Kirchweih von San Isidro gesehen?«
»Freilich habe ich sie gesehen; man kann sich nichts Lustigeres und Reizvolleres denken; Typen sieht man da ... Typen! Und was für ein Menschengewühl! und was für eine laute, aufdringliche Fröhlichkeit! Für mich gibt's nichts Schöneres, als solch ein Volksfest!«
»Meine Gnädigste,« rief Pardo verwundert aus, »Sie sind mir ein Rätsel. In gewisser Einsicht beweisen Sie einen so feinen Geschmack, und andererseits wieder haben Sie so viel Nachsicht mit dem Brutalen und Rohen. Ich könnte es mir nicht erklären, wenn ich nicht wüßte, daß Sie mit Ihrem edlen Herzen und Ihrem fein gebildeten Geist jener byzantinischen, dekadenten Generation angehören, die alle ihre Ideale eingebüßt hat. Mehr sage ich nicht, denn Sie würden mich nur auslachen.«
»Diese Furcht ist mir sehr willkommen; so sprechen Sie mir wenigstens nicht mehr von philosophischen Dingen, die ich doch nicht verstehe,« antwortete die Herzogin, indem sie ihr silberhelles Lachen erklingen ließ. – »Glauben Sie ihm nicht allzu viel, Marquise,« murmelte sie, sich zu mir wendend; »er macht Sie, wenn Sie sich seiner Leitung anvertrauen, ganz einfach zur Quäkerin. Dieser Herr glaubt nämlich entdeckt zu haben, daß nur die Spanier sich betrinken. Die Engländer sind wahre Engel! Die tun so etwas nie!«
»Aber meine Gnädigste,« erwiderte der Oberst lachend, »das habe ich noch nie behauptet; die Engländer betrinken sich an Sherry, Bier und sonstigen alkoholischen Getränken, während wir uns an der Luft, dem Wasser, den Bächen und dem strahlenden Himmel berauschen. Prahlerei und Trotz beherrschen uns wie der böse Geist, und wir gefallen uns darin, Gemeinheiten zu begehen, wie der Pöbel. Und in der Beziehung kann man in unserem Lande zwischen Männern und Frauen keinen allzu großen Unterschied machen.«
»Bis jetzt,« erklärte die Herzogin mit reizender Verwirrung, »haben wir noch nie über die Stränge geschlagen, weder die Marquise noch ich.«
»Aber das dauert nur so lange, bis sich Ihnen Gelegenheit bietet,« entgegnete der Oberst malitiös.
»Das ist aber doch wirklich zu arg!« rief die Herzogin empört aus. »Ich möchte Ihnen am liebsten die Augen auskratzen.«
»Und Sie, Herr Pacheco, warum helfen Sie uns nicht?« rief ich dem schweigsamen Fremden zu, der die Augen fest auf mich gerichtet hielt; und ohne seinen Blick abzuwenden, sagte er, sein passives Verhalten damit entschuldigend: »Sie haben sich ja auch ohne fremde Hilfe glänzend verteidigt.« Nach diesen Worten blickte er auf die Uhr, verabschiedete sich kurz und ging.
Sein Fortgehen gab der Unterhaltung eine andere Wendung. Man sprach natürlich nur noch von ihm. Die Herzogin von Sahagun erklärte, sie habe ihn nur als den Lohn eines alten Freundes in ihr Haus gezogen, und fügte hinzu, er sei indolent wie ein Maure, albern wie ein Engländer, und ein ganz unfähiger Mensch, der nur zwei Gedanken im Kopf habe: Geld ausgeben und den Weibern die Köpfe verdrehen. Männer pflegen es nicht gern zu hören, wenn man von anderen behauptet, sie verdrehten den Weibern die Köpfe, und wohl aus diesem Grunde sagte der Oberst lakonisch: »Ja, das ist ein schönes, edles Exemplar spanischer Rasse!«
Gott allein weiß, daß ich am nächsten Tage, nichts Böses ahnend, wie eine Heilige zur Messe ging, und daß ich jeden, der mir vorher gesagt, was die nächste Zeit mir bringen würde, einen Lügner genannt hätte. Ich machte einen kleinen Umweg und glitt beim Überschreiten des Trottoirs aus. Als ich zum Café Juzio hinüberblickte, sah ich zwei oder drei Stutzer in engen Beinkleidern und kurzem Jackett vor mir, die mir die unverschämtesten Schmeicheleien zuriefen, zum Beispiel: »Es lebe die schlechte Straßenreinigung! Ach, die herrlichen Augen! Wie gut doch, daß die Frauen zur Beichte gehen!« und so weiter.
Ich hatte Mühe, ernst zu bleiben, zwang mich aber dazu, und beschleunigte meinen Schritt.
Es war ein herrlicher Tag; ich habe niemals eine klarere Luft, einen schöneren Himmel gesehen; die Akazien dufteten, und die Bäume schienen ein neues grünes Gewand angelegt zu haben. Ich hätte springen und hüpfen mögen, wie mit fünfzehn Jahren, und konnte mich nicht entsinnen, jemals in meiner Jugendzeit ein solches Übermaß an Lebenskraft, eine solche Lust zu Extravaganzen verspürt zu haben. Am liebsten hätte ich ein paar Bäume ausgerissen und den Kopf in den Brunnen gesteckt, der so treu von der alten Löwin bewacht wurde.
Ich ging nach der Richtung von Pascuales zu, und die Lust zur Messe war mir bereits gänzlich vergangen. Unweit der Kirche sah ich am Fuß einer starken Platane einen Herrn stehen, der sofort auf mich zukam, um mich zu begrüßen, und mit seiner sympathischen, lispelnden Stimme sagte:
»Schon auf? Wohin so früh und so allein?«
»Ach! Sie, Pacheco, man soll wohl glauben, Sie gingen zur Messe?«
»Ja, wäre denn das gar so unmöglich?«
Wir wechselten diese Worte mit kräftigem Händedruck und mit einer, im Hinblick auf unsere kurze Bekanntschaft erstaunlichen Vertraulichkeit. Zweifellos übte das schöne Wetter auf uns beide einen eigenartigen Einfluß aus. Aufrichtig gestanden, empfand ich eine gewisse Sympathie für den Andalusier. Aber, Herrgott, weshalb sollten die Frauen nicht das Recht haben, einen Mann sympathisch zu finden? und ist es denn wirklich so schlimm, wenn sie es auch zeigen? Wenn wir es auch nicht aussprechen, so denken wir es doch, und es gibt nichts Gefährlicheres, als unterdrückte und verheimlichte Empfindungen.
Pacheco machte mir, offen gestanden, in seinem hellgrauen Anzug einen wirklich eleganten Eindruck, und war mir als Kurmacher ganz willkommen; aber ich gebe zu wenig auf äußere Dinge, um mich mit diesem Gedanken länger als zwei Sekunden zu beschäftigen. Der beste Beweis dafür ist, daß ich mit zwanzig Jahren meinen fünfzigjährigen nichts weniger als stattlichen Onkel geheiratet habe.
Ich plauderte lustig mit Pacheco, und so waren wir, ohne es zu bemerken, bis zur Kirche gelangt und setzten hier, um den lästigen Sonnenstrahlen zu entgehen, im Schatten der Platanen unser Gespräch fort.
»So früh schon?«
»Früh, wenn ich um zehn Uhr zur Messe gehe? Aber Sie selbst sind doch auch so früh auf?«
»Mich trieb eine Ahnung! heute nachmittag finden die Stierkämpfe statt; möchten Sie sich die nicht ansehen?«
»Nein, die Herzogin von Sahagun geht heute nicht, und deshalb möchte ich auch nicht gehen.«
»Und die Rennen?« fragte er.
»Auch nicht! Die langweilen mich. Dieser Aufzug geputzter Affen! Das einzige, was mich amüsiert, ist die Auffahrt.«
»Und weshalb gehen Sie nicht nach San Isidro?«
»San Isidro? Nach allem, was wir gestern darüber gehört haben?«
»Ach was, legen Sie doch nicht so viel Gewicht auf das, was dieser Herr sagt.«
»Wollen Sie mir glauben, daß ich in all den Jahren, die ich in Madrid lebe, diese Wallfahrt noch niemals gesehen habe?«
»Noch niemals? Aber dann ist es die höchste Zeit, daß Sie sie endlich einmal sehen. Sie werden sich sehr amüsieren. Sie wissen doch: die Herzogin behauptet sogar, es sei der Mühe wert, deshalb eine Reise zu machen. Ich habe die Wallfahrt auch noch nie gesehen. Aber ich bin ja auch ein Fremder hier.«
»Und die Zügellosigkeit, und die Trinkgelage und all die anderen schönen Dinge, von denen Don Gabriel sprach? Sollte er übertrieben haben?«
»Ich weiß es nicht. Das ist ja auch gleichgültig.«
» Sie finden das gleichgültig, – aber ich nicht. Und denken Sie nur, wenn mir dort irgend etwas Unangenehmes passierte.«
»Sie?« – und ich brach in ein lautes Gelächter aus.
»Ja, ich. Sie brauchen darüber nicht zu lachen, denn ich bin ein sehr guter Kavalier.«
Ich lachte vergnügt, nicht nur, weil Pacheco mich begleiten wollte, sondern auch über seinen komischen andalusischen Akzent.
Pacheco ließ mich erst ruhig lachen, und fragte dann nochmals sehr gelassen, ob ich nicht mit ihm zum Jahrmarkt fahren wolle; wir könnten um halb eins schon wieder in Madrid zurück sein. – Wenn ich in dem Augenblick Wachs in den Ohren gehabt hätte, so wäre mir manches erspart geblieben! Sein Vorschlag fing plötzlich an, mir zu gefallen, und mir fielen die Worte der Herzogin ein: »Man muß dies originelle Fest gesehen haben.« Und warum sollte ich meine Neugierde nicht befriedigen? Die Messe konnte ich ebensogut in der Eremitage del Santo wie in Pascuales hören, und in Pachecos Begleitung würde mir ja nichts passieren! Sollte mich wirklich ein Bekannter dort sehen, so mußten ihm doch die frühe Stunde und der belebte Ort unser Zusammensein in durchaus harmlosem Lichte erscheinen lassen. Außerdem war es sehr unwahrscheinlich, daß auch nur der Schatten eines anständigen Menschen um zehn Uhr früh dort sein würde – noch dazu am Tage der Rennen und der Stierkämpfe! Klatschereien waren also nicht zu befürchten. Und das Wetter war so verlockend! Schließlich, wenn Pacheco durchaus will, so werde ich ...
Er bat, ohne zudringlich zu sein, und lächelnd willigte ich ein. Es lebe der Leichtsinn! Kaum hatte ich ja gesagt, als wir auch schon über die Art der Beförderung berieten. Pacheco schlug die sehr volkstümliche Pferdebahn vor, während ich mehr für meinen eigenen Wagen stimmte. Die Remise lag in nächster Nähe, in der Straße Delle Gracie. Pacheco verabschiedete sich und versprach, mich in meiner Wohnung abzuholen, wo ich noch allerhand zu tun hatte, was ich ihm nicht näher erklären wollte: – Das Gebetbuch zurücklassen, das Spitzentuch mit dem Hut vertauschen, die Haare brennen, etwas Puder auflegen, die Stiefel wechseln, ein seidnes Tuch umnehmen und ein Sachet mit Iris – das ist das einzige Parfüm, das mir keine Kopfschmerzen verursacht – in die Tasche stecken. Denn im großen und ganzen war Pacheco für mich ein vollendeter Kavalier; und da wir mehrere Stunden zusammen sein würden und ich ihn für einen aufmerksamen Beobachter hielt, wollte ich es um jeden Preis vermeiden, daß er an meiner Toilette irgend etwas auszusetzen fände. Ich glaube, es wäre jeder anderen Frau in diesem Falle ebenso ergangen.
Atemlos kam ich zu Hause an, warf die Mantille ab, lief in mein Ankleidezimmer und rief laut nach Diabla. – »Diabla, bring mir rasch den schwarzen Strohhut mit dem schottischen Band ... den karrierten Sonnenschirm ... und die Lackschuhe, schnell, schnell! ...«
Ich bemerkte sehr wohl, daß Diabla vor Neugierde fast verging.
»Die wird ihre Neugierde wohl ein wenig zügeln müssen,« dachte ich bei mir und antwortete auf die Frage: »Die gnädige Frau frühstücken doch zu Hause?« absichtlich, um sie auf eine falsche Fährte zu lenken:
»Ich weiß noch nicht. Auf jeden Fall halte das Frühstück zwischen halb eins und ein Uhr bereit, und wenn ich um ein Uhr noch nicht da bin, so frühstücke du nur. Aber hebe mir ein Kotelett, eine Tasse Bouillon, Tee, Milch und Toast auf.«
Während ich das Haar unter dem Schleier ordnete, fiel mein Blick auf eine kostbare, mit Heliotrop, Gardenien und Nelken gefüllte Vase, die auf dem Kamin stand.
»Wer hat die gebracht?«
»Herr Oberst Pardo ...«
»Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«
»Gnädige Frau waren so eilig, es blieb mir gar keine Zeit.«
Es war nicht das erstemal, daß ich von ihm Blumen bekam. Ich nahm eine Gardenie und eine rote Nelke, befestigte sie an meiner Brust, band den Schleier um und streckte den Kopf zum Fenster hinaus, um zu sehen, ob der Wagen vielleicht schon da sei. Es war fast unmöglich, denn erst vor zehn Minuten hatten wir uns getrennt. Ich trat alsdann in den Flur, ganz langsam, damit Diabla nicht Argwohn schöpfe, und beschleunigte den Schritt erst, als ich durch die Glastür des Portals den Landauer entdeckte und Pacheco herausspringen sah. »Heute war der Kutscher aber flink,« sagte ich.
»Jawohl, meine Verehrteste, der Kutscher und Ihr ergebener Diener,« erwiderte er, galant die Tür öffnend. Er selbst hatte das Geschirr angelegt und den Wagen herausgeschoben! –
Ich stieg ein und setzte mich an die rechte Seite, während Pacheco, um mich nicht zu belästigen, den linken Schlag öffnete. Wir sahen uns eine Weile unschlüssig an, worauf mich mein Begleiter devot fragte:
»Soll ich ihm sagen, daß er über den Feldweg fährt?«
»Ja, ja, sagen Sie es ihm.«
Er streckte den Kopf heraus und rief: »Nach Santo!« Der Wagen setzte sich in Bewegung, und Pacheco bemerkte malitiös:
»Sie haben sich nicht schlecht gegen Sonne und Hitze geschützt ...« Ich lächelte ein wenig befangen, ohne zu antworten. Die seltsame Situation hatte mich eingeschüchtert, ihn aber keineswegs.
»Was für herrliche Blumen haben Sie da! ... Ist keine für mich übrig? Vielleicht ein kleiner Stiel oder ein Blättchen?«
»Vielleicht,« murmelte ich, »wenn Sie nicht so betteln. ... Da, nehmen Sie, damit Sie mich in Ruhe lassen.«
Ich nahm die Gardenie und gab sie ihm, und er dankte mir in den überschwänglichsten Ausdrücken.
»Ach, das ist zu viel! Tausend Dank! ... Eine Gardenie! und aus so schöner Hand! Wollen Sie sie mir nicht ins Knopfloch stecken? Ich möchte wissen, ob Sie das mit Ihren kleinen Fingern fertig bringen.«
»Nur damit Sie mich nicht länger quälen! Drehen Sie sich ein wenig um!« Ich steckte ihm den Stiel der Blume ins Knopfloch und befestigte mit einer Stecknadel die Gardenie, deren starker Duft, vermischt mit einem anderen Parfüm, das anscheinend seinem Haar entströmte, mich fast betäubte. Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, und als ich den Kopf erhob, traf mein Blick den des Südländers, der mich, anstatt sich zu bedanken, fragend und zärtlich anschaute. In jenem Augenblick bereute ich zum erstenmal meinen Entschluß, mit ihm gefahren zu sein. ...
Er reckte den Hals und sah durch das Fenster. Eine Menschenmenge umwogte unseren Wagen und hinderte ihn sogar zeitweise am Weiterfahren. Neugierige Blicke drangen durch die Scheiben. Pacheco streckte den Kopf heraus und rief den Leuten etwas zu; was, das weiß ich nicht.
»Sie halten uns für ein junges Ehepaar,« sagte er, sich zu mir wendend, und fügte dann leise murmelnd hinzu: »Erröten Sie nicht, das macht Sie nur noch schöner.«
Ich tat, als hörte ich ihn nicht, und die Unterhaltung gewaltsam in andere Bahnen lenkend, machte ich ihn auf den malerischen Anblick der Straße von Toledo mit ihren tausend Schenken und fliegenden Zelten aufmerksam. Ihn aber schien das wenig zu reizen, und anstatt sich die interessanteste Straße Madrids anzusehen, hielt er den Blick unverwandt auf mich gerichtet, wie jemand, der die Züge eines anderen studiert, um dessen Gedanken zu erraten. Auch ich beobachtete Pacheco verstohlen, und die Rassenmischung, die ich in ihm zu entdecken glaubte, frappierte mich. Der goldblonde Bart und die blauen Augen kontrastierten seltsam mit dem dunkleren Haupthaar und dem sonnverbrannten Teint. »War Ihre Mutter Engländerin?« fragte ich ihn endlich. »Ich habe gehört, daß an der Küste des Mittelländischen Meeres vielfach Ehen zwischen Spaniern und Engländerinnen geschlossen werden.«
»Gewiß, das kommt sehr häufig vor, aber ich bin ein Vollblutspanier.«
Ich blickte ihn noch einmal aufmerksam an, und da wurde es mir klar, wie einfältig meine Frage gewesen. Wie oft hatte man im Salon der Herzogin von Sahagun das Thema erörtert, daß die Vorstellung, Spanier könnten nicht blond sein, durchaus unzutreffend sei! Aber schließlich, was geht mich das Äußere dieses Menschen an?
Wie schön und malerisch lag die Brücke von Toledo vor uns! Menschen, wohin das Auge blickte; über die Wiesen und an den Ufern des Manzanares entlang wälzten sich ganze Scharen, und es spielten sich unzählige jener lustigen Straßenszenen ab, wie man sie so häufig auf Bildern sieht. Unser Wagen machte kehrt, um die Richtung nach den Wiesen einzuschlagen, als ich an der Biegung des Weges ein kleines Zelt entdeckte, in dessen Auslage Flaschen in allen Größen und Formen feilgeboten wurden. Pacheco schlug mir vor, eine der niedlichen Flaschen zu kaufen und sie mit Valdepeñas füllen zu lassen, um in den Ton der Festlichkeiten einzustimmen, ein Vorschlag, den ich entrüstet zurückwies.
Ich weiß nicht, wer zuerst behauptet hat, die Ufer des Manzanares seien öde und häßlich, weiß auch nicht, warum diesem armen Fluß immer die furchtbarsten Geschichten zur Last gelegt werden. Ich finde ihn sehr wasserreich und sehr schön, mit seinen schattigen Ufern und seinen kleinen lustigen Waschhäusern, zu denen man über schmale, schwankende Holzbrücken gelangt. Vielleicht ließ mich die Freude über den hübschen Ausflug alles in so rosigem Lichte sehen; dazu kam noch, daß mein Kleid aus grauem Zephyr mit den roten Ankern, das für eine solche Gelegenheit wie geschaffen war, und mein schwarzer Strohhut mir sehr gut standen, was ich bei einem flüchtigen Blick in die Scheibe des Wagenfensters konstatierte. Die Hitze war nicht allzu drückend, mein Begleiter gefiel mir, und die Angst vor unangenehmen Klatschereien erwies sich als grundlos, da ich nicht ein bekanntes Gesicht entdecken konnte. Nichts hätte mir die Stimmung mehr verderben können, als wenn ich irgend einen der Gäste aus dem Salon der Herzogin von Sahagan getroffen hätte, denn die meisten Menschen sind boshaft und verdrehen die einfachsten Dinge so, daß eine unbedachte Stunde auch die ehrbarste Frau um ihren guten Ruf bringen kann. Ein Blick auf die Wiese mußte mich vollends beruhigen: Volk hier, Volk dort, Volk allerorten, und wenn ein Mensch statt einer Jacke oder einer Bluse einen englischen Anzug trug, so war es irgend ein Diener, Schreiber, Kommis, Student oder unbeschäftigter Lakai, der sich einen lustigen Tag machen wollte. Daher entschlossen wir uns, als das Gedränge gar zu groß wurde, auszusteigen und uns unter das Volk zu mischen. Wir kamen uns vor wie Fürsten, die, von Neugierde getrieben, auch einmal ein Volksfest aus nächster Nähe sehen wollen.
Das Neue des Schauspiels reizte mich. Die Kirmes hatte mit der bei uns zu Lande, die an frischen, von Kastanien, und Nußbäumen beschatteten Orten in der Nähe eines Bächleins oder Flüßchens abgehalten wird, nichts gemein. Die Gegend von Santo ist trocken, staubig und von einer Menschenmenge überschwemmt, in der kein einziger Bauer zu entdecken ist, nur Soldaten, Dirnen und Arbeiter: eine furchtbare Gesellschaft. Statt üppiger Vegetation Tausende von Buden, in denen allerhand Kleinigkeiten zum Verkauf angeboten werden, Dinge, die man nur am Tage von San Isidro zu sehen bekommt: mit Staniolblättern und -blüten geschmückte Pfeifen, geschnitzte, in Zinnober und Anilinfarben gemalte Heiligenbilder, Medaillen und Skapuliere. Alles gleich geschmacklos. Porzellane und Tonwaren, groteske Nachbildungen von Stieren, Stierkämpfern und Picadoren, Laienbrüder, die die Köpfe von Martos, Sagasta und Castelar tragen, Minister für zwei Reales, und neben dem Bildnis des Schutzheiligen San Isidro ein paar Figuren, die... um Gottes willen... wir tun, als hätten wir sie nicht gesehen...
Die schreienden Farben allein würden auch ohne den entsetzlichen Staub, den man zu schlucken bekommt, genügen, um einen seekrank zu machen. Meine Augen fangen an zu schmerzen, die aufgehäuften Orangen leuchten wie Feuer, die Datteln wie dunkle Granaten, die gelben Erbsen und Pistazien wie Goldklumpen. Bei den Blumenhändlern gelbe, leuchtend rote und rosafarbene Nelken, deren starker Duft den Fettgeruch von frisch gebackenen Pfannkuchen, der einen unangenehmen Kitzel im Halse verursacht, nicht zu verdrängen vermag. Keine Farbe, die nicht vertreten ist, die Uniform der Soldaten, die bunten Mantillen der Mädchen, der blaue Himmel, der weiße Sand und die blau und gelb gestreiften Schaukeln... Und dann die Musik, der Lärm der Guitarren, das unerträgliche Geklimper der mechanischen Klaviere, der Leierkasten und Harmoniken – und dazwischen immer wieder der Ruf:
»Viva España!«
Aber man glaube ja nicht, daß ich bei alledem die Messe ganz und gar vergessen hätte. Wir versuchten die Menge zu durchdringen und in die Eremitage zu gelangen, die nur wenig Fromme zu gleicher Zeit beherbergen kann. Und es warteten schon so viele dicht zusammengedrängt, und sie waren so dick und sie rochen so schlecht, daß man mich, hätte ich versucht, bis ins Innere zu gelangen, gewiß ohnmächtig oder halb tot hätte heraustragen müssen. Pacheco versuchte mir mit seinen Ellenbogen und Fäusten einen Weg zu bahnen, aber das hatte nur den einen Erfolg, daß wir noch mehr gedrängt wurden und häßliche Flüche und Schimpfworte zu hören bekamen.
»Zurück, zurück! Ich verzichte auf die Messe, es geht nicht.«
Nachdem wir wieder in die frische Luft gelangt waren, seufzte ich tief auf:
»Ach du lieber Gott! Heute ohne Messe!«
»Das tut nichts,« entgegnete mein Begleiter beruhigend, »das werden wir schon wieder gut machen.«
»Ja, Pater Urdax wird's gut machen, wenn er mich wieder sieht,« dachte ich im stillen, mir die Schulter reibend, gegen die ich soeben von irgend einem Bummler einen heftigen Stoß bekommen hatte.
Don Diego, der im Wagen ernst und schweigsam war, wurde, sobald wir ausstiegen, gesprächig und unterhaltend, und machte seinem Ruf eines amüsanten Gesellschafters alle Ehre. Ich nahm seinen Arm, um nicht durch die Flut der Menschen von ihm getrennt zu werden, und er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, um seine lustigen Scherze zu machen, die oft nur durch die Art, wie er sie hervorzubringen verstand, komisch wirkten; sein spöttischer Ton, das Lispeln und seine rasche Sprachweise machten den größten Teil der Wirkung aus.
Da außer uns kein anständiger Mensch zu sehen war, ließ sich Pacheco mit dem gewöhnlichen Volk ein, und so sahen wir uns bald von einer ganzen Schar von Bettlern, zerlumpten Kindern, Zigeunern, Pfannkuchenbäckern und Verkäufern umringt. Mein Begleiter hätte am liebsten alles gekauft, von den Heiligenbildern bis zu den kleinsten Valdapeñasflaschen, aber ich widersetzte mich.
»Wenn Sie nun nicht aufhören zu kaufen, werde ich ärgerlich.«
»Schert euch fort, ihr Tölpel, ich kaufe nichts mehr. Hört ihr nicht? ich kaufe nichts mehr, und wenn ihr mich nicht in Ruhe laßt, könnt ihr statt Geld Schläge bekommen. Verstanden? Macht, daß ihr fortkommt, oder ich rufe den Schutzmann.«
Jetzt, bei ruhiger Überlegung, fiel es mir erst ein, wie seltsam und unpassend es doch eigentlich sei, daß Don Diego und ich, obgleich wir erst dreiviertel Stunden zusammen waren, uns so vertraulich und ungezwungen unterhielten. Möglich, daß mein Landsmann recht hatte, möglich, daß die Sonne, der Lärm und die volkstümliche Umgebung wie ein starker Wein auf Körper und Geist wirkten, und schon vom ersten Augenblick an die Schranken niederrissen, die wir Frauen sonst als Schutz gegen Dreistigkeiten aufzurichten pflegen.
Mich beschlich wieder das unangenehme Gefühl der Seekrankheit, das ich vom ersten Moment an empfunden hatte.
»Ach, nur Kühle und Schatten, und sei es im Gefängnis; mir ist ganz seltsam zumute – ich bin so schwindlig...« stöhnte ich.
»Wie, sie fühlen sich nicht wohl?« fragte Pacheco besorgt, mit lebhaftem Interesse.
»Was man so nicht wohl nennt; es ist eigentlich mehr Ermüdung; ich sehe alles wie durch einen Schleier.«
Pacheco fing an zu lachen und sagte:
»Was Ihnen fehlt, glaube ich zu wissen: Sie sind einfach hungrig, ebenso wie ich; mir knurrt schon der Magen vor Hunger. Es muß Frühstückszeit sein.«
»Möglich, daß Sie recht haben. Wir haben Santo gesehen und wollen nun zum Frühstück nach Madrid zurückkehren. Wenn sie mich begleiten wollen, so kommen Sie mit.«
»Nein, meine Gnädige... Sie sehen, hier ringsum ist nichts als Volk; wir könnten hier ruhig in irgend ein Restaurant gehen. Die gibt's hier...« und bei diesen letzten Worten küßte er sich, wie in Verzückung, die Fingerspitzen.
Dieser Vorschlag brachte mich in Verlegenheit, und das Unpassende, das darin lag, kam mir mit einem Schlage zum Bewußtsein, wenn er mir auch andererseits, wie alles Unbekannte und Verbotene, reizvoll und verlockend erschien. Sollte Pacheco imstande sein, mich im Stich zu lassen, wenn ich mich nicht seinem Willen fügte? Nein, gewiß nicht. Und das Endresultat meiner Überlegungen war, daß ich selbst in diesem Falle nicht nachgeben würde, denn was würde Pardo von diesem Abenteuer denken, wenn er es erführe? Und was das Verheimlichen anbetrifft ...
Während ich im Stillen das alles in Erwägung zog, lehnte ich das Anerbieten entschieden ab. Nein, nein, sofort nach Madrid zurück!
Pacheco verzichtete nicht so leicht, und anstatt sich zu fügen, zog er meine Weigerung ins Lächerliche. Mit schmeichelnder Stimme und mehr lispelnd denn je, versuchte er mir klar zu machen, daß er unbedingt den Hungertod sterben würde, wenn er nicht innerhalb zwanzig Minuten sein Frühstück bekäme.
»Soll ich mich vor Ihnen auf die Knie werfen? ... Ein Ja aus diesem Mündchen! Fort mit den Skrupeln! Glauben sie denn etwa, ich werde morgen hingehen und es der Herzogin von Sahagun erzählen? Bitte, bitte, frühstücken sie mit mir!«
Unwillkürlich mußte ich über ihn lachen und war dumm genug, zu bemerken:
»Und der Wagen, der dort unten wartet?«
»Das tut nichts. ... Ich werde dem Kutscher sagen, daß er sich nach einem Stall umsieht, und wenn er keinen findet, so soll er nach Madrid zurückkehren, warten Sie hier; ich werde jemanden suchen, der Sie inzwischen beschützt. Denn allein lasse ich Sie keinesfalls, das geht nicht.«
Diese Worte hörte ein Wächter, der hier seines Amtes waltete; er trat zu uns heran und sagte in unterwürfigem Tone:
»Ich werde es ihm sagen, wenn es den Herrschaften recht ist. Wo steht der Wagen und wie heißt der Kutscher, meine Herrschaften?«
»Wenn das kein Landsmann von mir ist, dann ... Aus welchem Teil von Galizien stammen Sie?« fragte ich den Mann.
»Drei Meilen von Lujo, an der Grenze von Saria, Ew. Gnaden,« erwiderte er, und seine Augen glänzten vor Freude, eine Landsmännin zu treffen. – »Sollte der mich vielleicht durch Diabla kennen?« dachte ich besorgt. Aber meine Furcht war unbegründet, denn er schwieg.
Um ihn los zu werden, erklärte ich ihm alles ganz genau:
»Sehen Sie dort den Landauer mit den hochroten Rädern, und den jungen Kutscher mit dem Backenbart und der grünen Livree? Sehen Sie da unten? Er ist der achte in der Reihe.«
»Ja, ich sehe ...«
»Dann gehen Sie hin,« befahl Pacheco, »und sagen Sie ihm, daß er nach Madrid zurückkehren, abends wiederkommen und sich an demselben Platz aufstellen soll, verstanden, Freundchen?«
Ich bemerkte, wie mein Begleiter ihm die Hand hinstreckte und sie kräftig schüttelte. Der freudige Blick des Wächters und die Worte: »Immer zu Ihren Diensten,« ließen mich erraten, daß er ein gutes Trinkgeld bekommen hatte.
Nachdem der Bursche gegangen, stützte ich mich fester auf Don Diegos Arm, der diesen Druck kräftig erwiderte. »Wir wollen etwas weiter gehen, um den Hügel hinunterzukommen.«
Die Sonne stand hoch am Himmel und sandte ihre glühenden Strahlen auf die schattenlose Ebene. Kein Lüftchen regte sich; dicker Staub erfüllte die Atmosphäre. Ich sah mich um und hoffte, das versprochene Restaurant zu entdecken, das doch wenigstens Schutz gegen die afrikanische Hitze bieten würde; aber ringsum, weder vor noch hinter uns, war auch nicht der Schatten eines Hauses zu entdecken. Nur die Lehmmauern des Kirchhofs, in dessen Schutz die Toten, fern von allem Getriebe, von allem Getöse der Welt ruhten. Ich drohte Pacheco mit dem Sonnenschirm.
»Und das versprochene Restaurant? Wie lange wird es noch dauern, bis wir es gefunden haben?«
»Restaurant?« fragte Pacheco erstaunt, als wenn ihn diese Frage höchlichst überraschte. »Restaurant? ... Ich will verdammt sein, wenn ich weiß wo es liegt.«
»Aber Sie sind gut! Bei Ihnen kann man sich wirklich bedanken! Haben Sie nicht erklärt, daß es hier die wunderbarsten Restaurants gäbe? und dann führen Sie mich, als wäre das das Natürlichste von der Welt, ganz einfach in diese wüste Gegend, wo man vor Hitze fast umkommt. So erkundigen Sie sich doch wenigstens, fragen Sie den ersten besten, der vorbei kommt.«
Ein Mann mit glattem Haar, schwülstigen Lippen, hoher Ballonmütze und lasterhaften, blassen Zügen drehte sich um.
»Gibt's hier in der Nähe vielleicht ein Restaurant?« fragte Pacheco, ihn scharf anblickend.
»Restaurants, nein, die gibt's nicht, Sehen Sie sich nur um, Kneipen die Menge. Aber Restaurants, was 'n Restaurant ist, wo man gut ißt, das finden Sie hier nicht. Das heißt, das ist so meine Ansicht, Sie werden ja sehen.«
»Also gibt es hier nur Kneipen?« fragte Pacheco halblaut und verdrießlich. Sobald ich sah, daß er sich ärgerte, zeigte ich mich zufrieden und gut gelaunt, jenem Hang zum Widerspruch folgend, zu dem wir Frauen in solchen Situationen stets neigen. Eigentlich war mir's auch ganz recht in einer gewöhnlichen Kneipe zu essen. Das war viel origineller, viel neuer und außerdem auch weniger intim.
Nachdem wir, um Umschau zu halten, auf den Hügel geklettert waren, wählten wir die sauberste und bestaussehende Schenke, die nicht, wie die meisten anderen, eine extravagante Aufschrift trug, wie etwa »Erfrischungen, wie der Heilige sie zu sich genommen,« »Ein Meer von Getränken und Speisen,« »Die schönsten Kaldaunen und Schnecken.«
Am Eingang (eine Tür war nicht vorhanden) stand ein junges Mädchen von liebenswürdigem Äußeren, mit einem Nickelpfeil in dem aufgesteckten Haar; sonst keine lebende Seele in dem Raum, dessen sechs leere Tische weiß gescheuert waren und sehr sauber aussahen. Der Gasthof mit seinen Lehmwänden und seinem über Pfähle gelegten Strohdach glich einem dreiteiligen Zelt, dessen größter Raum als Speisezimmer für die Gäste und die zwei kleineren als Küche und Abwaschraum dienten. Aber es war wohl besser, in diese Geheimnisse nicht weiter einzudringen, wenn man sich nicht den Appetit zum Frühstück verderben wollte. Lehmiger Grund bildete den Fußboden, und die gebrechliche, schmutzige Alte, die mit der Reinigung der Räume betraut war, hatte es wirklich bequem: sie brauchte sich nur zu bücken, um sich das geeignete Material zum Scheuern der Tische zu verschaffen. Wir wählten einen Tisch im Hintergrund und setzten uns auf eine Holzbank, die Mauer als Lehne benutzend. Das Mädchen mit den angeklebten Stirnhaaren, aus denen langsam eine Flüssigkeit herunterträufelte, kam auf uns zu, um zu fragen, was wir wünschten. Dabei blickte sie mich mit einem schlauen Lächeln an; das Gesicht des Mädchens verriet deutlich den Gedanken: »Das sind 'n paar Schöne, was mag die beiden nach Santo geführt haben? die hätten auch lieber in ihrem Nest bleiben sollen, denn fehlen kann's ihnen doch daran gewiß nicht.« Ich nahm eine sehr würdevolle Haltung an und sprach mit Pacheco, wie mit einem guten Freund. Eine Vorsicht, die, weit davon entfernt, das Mädchen auf falsche Wege zu lenken, es nur veranlaßte, die Augen noch weiter aufzusperren. Dann sagte sie zu uns: »Womit kann ich dienen?«
»Was können Sie uns geben?« fragte Pacheco. »Sagen Sie, was Sie haben, dann wird die gnädige Frau ihre Wahl treffen.« »Was Sie wollen, ich habe alles; wünschen Sie ein komplettes Frühstück?«
»Ja wohl, haben Sie Eierkuchen oder Rührei? Geben Sie uns Rührei und etwas Schinken.«
»Und Kalbskotelettes oder Fisch?«
»Nein, aber etwas Salat.«
»Und haben Sie Sardinen oder Austern?«
»Nein, die können wir hier nicht halten. So feine Sachen werden hier nicht verlangt. Hier werden meist nur Kaldaunen, Schnecken und Kotelettes gegessen.«
»Also bringen Sie uns Rührei, Schinken, Kotelettes und Salat. Und etwas guten Wein, Manzanilla, mit zwei Gläsern. Aber schnell, denn wir sind sehr durstig.«
Ich war sehr guter Laune; all dies Ungewohnte, wie mein Landsmann und Philosoph sagen würde, erhöhte meinen Appetit, und außerdem war ich ganz glücklich darüber, endlich Schutz gegen die brennende Sonne gefunden zu haben; allerdings war es noch immer nicht viel besser, als wenn man in der glühendsten Mittagszeit unter einem Sonnenschirm auf freiem Feld spazieren geht. Denn wenn uns die Sonne auch nicht gerade auf die Schädel brannte, so drang sie doch durch das schlecht schließende Strohdach, die rissigen Lehmwände und den offenen Eingang, der nicht nur Hitze und Sonne, sondern auch den betäubenden Lärm der Menschenmenge einließ: Schreien, Zänkerei, Gesang, Mandolinen-, Zither- und Guitarrenspiel, und, das alles übertönend, die Nationalhymne auf den harten, mechanischen Klavieren.
In demselben Augenblick, da das Mädchen eine Flasche vom besten Manzanilla, zwei grobe Weingläser, Schinken und zwei Schüsseln mit Wurst brachte, drängte sich eine unordentlich und phantastisch gekleidete Frau herein; ihre Augen glühten wie Kohlen, sie trug einen gestärkten Kattunrock und ein kreppartiges, verschossenes, altes Tuch, das kreuzweise über der Brust befestigt war, und unter dem sie ein Kind versteckte; das Weib stellte sich vor mich hin, stemmte die linke Hand in die Hüfte und gestikulierte lebhaft mit der rechten. Wie sie das Kind festhielt, weiß ich nicht.
»Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes! Denn wo der Name Gottes genannt wird, da gibt's nichts Böses! Ich möchte Ihnen nur gern ein Wörtchen sagen, das Sie schon längst hätten hören sollen.«
»Platz da für die Frau!« rief ich vergnügt. »Die Zigeunerin soll uns wahrsagen!«
»Soll ich sie fortschicken? ist sie Ihnen lästig?« fragte die Kellnerin besorgt.
»Im Gegenteil. Es macht mir Spaß. Ich muß mal hören, was die uns für Lügen aufbindet. He da! kommt mal her und prophezeit mir mein Schicksal! Ich bin sehr gespannt, was Ihr mir sagen werdet!«
»Dann geben Sie mir Ihre rechte Hand und mit der linken eine Silbermünze, damit ich das Kreuz darüber schlagen kann.«
Pacheco gab ihr eine Peseta, und nachdem er die Flasche entkorkt und ein drittes Glas mit Manzanilla gefüllt hatte, reichte er es der Zigeunerin. Dabei entstand ein Kreuzfeuer von Witzen und launigen Redensarten, die alsbald erkennen ließen, daß die beiden Kinder desselben Landes waren. Endlich trank die Zigeunerin ihr Glas aus, und ich tat desgleichen, da mir bei meinem heftigen Durst der Wein köstlich mundete. Vom »besten« Manzanilla! Alles heißt hier »vom besten«; berechtigt war diese Bezeichnung nicht, denn es schmeckte nach Gras und Alaun; aber da es doch eine Flüssigkeit war und ich furchtbaren Durst hatte, leerte ich rasch mein Glas und hatte auch nichts dagegen, daß mir Pacheco ein zweites eingoß, was ich aber teuer bezahlen mußte, denn nun war mir, als flösse glühende Lava durch meine Adern, und als sprühten Funken aus meinem Gesicht. Lächelnd schaute ich Pacheco an und wandte mich verwirrt ab, als ich seinem allzu tiefen Blick begegnete.
»Was für schöne, blaue Augen hat er doch!« dachte ich bei mir. Pacheco hatte den Hut abgenommen und wischte sich von Zeit zu Zeit mit einem feinen Taschentuch über die feuchte Stirn, wobei er sein schwarzes, seidenweiches Haar in immer größere Unordnung brachte. Wenn er lachte, zeigte er zwei Reihen wunderbarer Zähne, die sein verbrannter Teint noch weißer erscheinen ließ.
»Ihre Hand, schöne Frau!« rief die Zigeunerin, mir die ihre hinstreckend. Pacheco betrachtete lange die beiden nebeneinanderliegenden Hände.
»Welch ein Kontrast!« murmelte er halblaut vor sich hin. Und in der Tat darf ich, ohne eitel zu sein, wohl behaupten, daß die Hand der Zigeunerin neben der meinigen wie ein Stück trockenes Rauchfleisch aussah. Der Tombakring, in dem ein großer unechter Smaragd glänzte, ließ die kupferbraune Haut der Tatze, mit der meine zarte, wohlgepflegte, mit kostbaren Ringen geschmückte Rechte seltsam kontrastierte, nur noch dunkler erscheinen. Die Zigeunerin fing mit lebhaften Gebärden ihre Besprechungen und Formeln an, und murmelte allerhand unverständliches, dummes Zeug, das, wie die meisten Orakelsprüche, doppelsinnig und daher allen Umständen anzupassen war.
»Etwas lese ich in dieser Hand. Das wird sehr bald eintreffen. Es weiß keiner 'was davon, bloß Sie. Eine Reise steht Ihnen bevor. Sie werden einen Brief bekommen und sich sehr freuen über das, was drin steht. Es gibt einen Menschen, der ist in Sie verliebt und will sie durchaus heiraten. Eine Person ist Ihnen nahe« (bei diesen Worten schaute die Hexe Pacheco mit ihren funkelnden Augen scharf an), »die Sie sehr liebt, und die Sie zu einem Gastmahl einladet. Sie sind liebenswürdig von Natur, aber wenn man Sie reizt, können Sie wütend werden wie eine Löwin, die ihre Jungen verteidigt. In Ihrem Herzen wohnt eine Zärtlichkeit, eine Liebe, von der niemand etwas ahnt, denn Sie sind verschwiegen wie das Grab ... Und dann will ich Ihnen noch etwas sagen, was Sie selbst noch gar nicht wissen, trotzdem Sie es in Ihrem eigenen Herzen bewahren ... Ein Glück wird für Sie vom Himmel fallen, und Ihnen Ihren Weg anzeigen; aber jetzt sind Sie noch wie die Vögel, die nicht wissen, auf welchen Baum sie sich setzen sollen.«
Hätten wir sie nicht unterbrochen, dann würde sie uns noch unzählige Dummheiten erzählt haben. Ihr Geschwätz amüsierte mich sehr, denn obgleich derartige Prophezeiungen stets weitschweifig und konfus sind, so enthalten sie oft doch auch etwas, das mit unseren geheimsten Gedanken, Wünschen und Plänen in Verbindung steht. Pacheco blickte mich aufmerksam an, um zu erfahren, ob ich von den Reden der Zigeunerin noch nicht genug hätte, und verabschiedete sie alsdann. Das Mädchen mit dem Pfeil im Haar brachte uns das bestellte Essen, das wir, nachdem die Alte sich unter tiefen Bücklingen entfernt hatte, mit großem Appetit zu verzehren begannen. Während Pacheco eine Flasche alten Jerezwein entkorkte, erschien am Eingang eine andere Gestalt, die sich mit dem bewußten Stoßgebet hereindrängte:
»Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, denn wo der Name Gottes genannt wird ...«
»Da haben wir was Schönes angerichtet!« rief Pacheco aus, »schon wieder eine!«
»Kein Wunder!« brummte die Kellnerin mit verächtlicher Miene, »Sie haben der anderen Geld und Wein gegeben, und das hat sich natürlich gleich herumgesprochen. Sie werden mal sehen, was Ihnen hier noch alles zulaufen wird ...« Pacheco reichte der Eintretenden ein paar Münzen und ein Glas Wein.
»Trinkt das auf unser Wohl, und dann macht, daß Ihr fortkommt.«
»Und soll ich Ihnen nicht wahrsagen und meine Weltweisheit über Sie ausschütten?«
»Nein, nein!« rief ich aus, und sagte leise zu Pacheco: »sie sagt uns doch nur dasselbe, und mit einem Mal ist's wirklich genug.«
»Trinkt aus und geht,« befahl Pacheco.
Die Zigeunerin, die wohl einsah, daß hier nichts mehr zu holen war, goß den Wein herunter, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ging davon, im Mantel das Kind versteckend, das bei diesen Weibern so unvermeidlich ist, wie der Wurm im Käse. »Hat denn jede hier ein Kind?« fragte ich die Kellnerin.
»Ja, jede,« erklärte die im Ton einer erfahrenen Person. »Gemeine Betrügerinnen sind sie. Wenn sie keins haben, borgen sie sich's von anderen, und Gott weiß, wie schlecht sie's dann behandeln; die Kirmes ist von solchem Gesindel überschwemmt.«
»Bleibt Ihr auch nachts hier draußen?« fragte ich, um sie auf ein anderes Thema zu bringen. »Und fürchtet Ihr denn nicht, daß man Euch den Tagesverdienst und die Speisen stiehlt?«
»Nein, denn wir schlafen stets mit einem offenen Auge, und dies hier ist auch nicht unsere einzige Wirtschaft; wir haben außerdem noch ein großes Café in der Stadt.«
Anscheinend wollte das Mädchen mir zu beweisen suchen, daß sie viel besser situiert sei, als all die anderen Kellnerinnen in den Speisehäusern.
Währenddessen hatten wir das Rührei verzehrt und machten uns über den Schinken her, als zum drittenmal eine Gestalt einen dunklen Schatten auf unseren Tisch warf. Es war ein Mädchen mit einem großen andalusischen Schleier, einem hohen Kamm und entblößten Armen, in denen sie einen mit Nelken und Rosen gefüllten Krug hielt. Mit schmeichelnder Stimme rief sie aus:
»Ach, lieber Herr, kaufen Sie mir doch für diese schöne Dame meine Blumen ab.«
Zugleich mit diesem Mädchen hatten einige Soldaten die Schenke betreten, vier muntere junge Husaren, die sich an einen Tisch setzten, und säbelklirrend nach Bier und Limonade riefen. Merkwürdig, was Manzanilla und Jerez manchmal für eine Wirkung ausüben können; ohne diese belebenden Elemente wäre dieses Zusammensein mir höchst fatal gewesen, so aber begannen alle sozialen Begriffe sich bei mir zu verschieben, und ich fing an, mich über diese Gesellschaft, die ich mit fröhlichem Lächeln begrüßte, höchlichst zu amüsieren. Als Pacheco meine gute Stimmung bemerkte, erhob er sich und bot den Husaren Wein an.
Wenn der Mensch bei guter Laune ist, so ist ihm alles recht; ich lobte das Essen in beredten Worten, nannte das Blumenmädchen schön wie ein Bild, und als Pacheco mir mit den Worten: »Stecken sie sie alle an,« die Blumen hinhielt, da erfüllte ich gern seinen Wunsch. Ein Streit, der durch die Lehmwand deutlich hörbar wurde, fing an, mich zu belustigen, ebenso Pachecos Unterhaltung mit den Husaren. Wieder warf eine große Gestalt ihren dunklen Schatten und ein zerlumpter Bettler trat ein. Pacheco gab ihm nicht nur ein reichliches Almosen, sondern ließ sich auch in ein längeres Gespräch mit ihm ein und veranlaßte ihn, uns allerhand Geschichten aus seinem Leben zu erzählen, – eine Reihe von Lügen vermutlich. Mein Begleiter hörte ihm aufmerksam zu und bat ihn, als er geendet, uns etwas auf der Guitarre vorzuspielen und einige Lieder zu singen.
Bei alledem amüsierte ich mich königlich, weit besser als in den meisten Gesellschaften. Ich wußte wohl, daß meine Augen Funken sprühten und meine Wangen glühten. Der Einfluß des Weines machte sich in der angenehmsten Weise bemerkbar; ich empfand eine prickelnde Anregung, meine Zunge löste sich, mein Geist war leicht und frei, und mein Herz fröhlich. Ich ließ die Notwendigkeit, in meinen Worten und Bewegungen eine gewisse Reserve zu beobachten, keineswegs außer acht, – war aber trotzdem, der Situation angemessen, heiter und lustig.
Pacheco sorgte in der liebenswürdigsten Weise dafür, daß Teller und Glas bei mir nie leer blieben. Auch er war heiter und guter Dinge, ohne indessen durch ein allzu freies Wort die Grenzen des Anstandes zu überschreiten. In einer so eigenartigen und kritischen Situation wäre das, was man sonst nur Galanterie und Flirtation genannt hätte, leicht unhöflich und zudringlich geworden. Das alles sah ich sehr wohl ein, und fürchtete deshalb irgendeine jener verletzenden Äußerungen, die eine Frau so leicht erzürnen und ihr die angenehmsten Stunden verderben können. Ohne Pachecos ritterliche Feinfühligkeit hätte dies Zusammensein für mich sehr fatal werden können; aber der Wahrheit die Ehre: seine Rücksicht ging sogar so weit, daß er mir auch nicht die geringste Schmeichelei sagte, während er die Zigeunerinnen, die Kellnerinnen und sogar die Scheuermagd mit Komplimenten überhäufte. Wohl wußte ich, daß er seine blauen Augen heimlich mit verzehrendem Blick auf mich gerichtet hielt, aber sobald er sah, daß ich es bemerkte, wandte er sich rasch ab. Seine Haltung war respektvoll, seine Worte ernst und aufrichtig; und erst jetzt komme ich zu der Überzeugung, daß seine ganze vornehme Reserve schlaue Berechnung war. O, der Heuchler! er wollte mein Herz auf diese Weise gewinnen!
Plötzlich tauchte, ohne daß man sagen konnte, woher sie gekommen, eine merkwürdige Gestalt vor uns auf: eine kleine Zigeunerin von ungefähr dreizehn Jahren, mit charakteristischen Zügen und blauschwarzem, straff zurückgezogenem Haar, das geschmückt war mit einem großen Hornkamm und einer blutroten Nelke; ihre weißen, glänzenden Zähne und die funkelnden Augen kontrastierten seltsam mit dem dunklen Teint: ihre Stirne war platt wie die einer Natter und die nackten Arme grünlich und schlaff wie zwei Reptilien –: ein herrliches Modell für einen Maler! Und mit demselben kläglichen Ton, wie die anderen, begann sie die bekannte Litanei:
»Im Namen des Vaters, des Sohnes ...«
Diesmal geriet die Kellnerin in hellen Zorn, und, ihre vornehme Haltung außer acht lassend, verwandelte sie sich plötzlich in eine wütende Megäre.
»Hat man je solch ein Pack gesehen! Könnt ihr nicht 'mal anständige Leute in Frieden lassen? Wenn man euch zu einer Tür 'rausschmeißt, kommt ihr zur anderen wieder 'rein. wie, im Namen aller Heiligen, bist du denn bloß 'reingekommen? Wenn du nicht sofort machst, daß du wegkommst, haue ich dir eine Ohrfeige 'runter, wie du noch nie eine bekommen hast. Dir soll das Lachen schon vergehen!«
Mit der Geschwindigkeit einer Rakete war das Kind verschwunden. Aber es waren noch nicht zwei Sekunden vergangen, als hinter uns ein entsetzlicher Kopf zum Vorschein kam: eine Erscheinung, wie der Erzfeind selber, mit fletschenden Zähnen und pechschwarzen, geballten Fäusten. Die Zigeunerin schrie: »Verflucht sollst du sein, du Sau! Die Gedärme sollen dir herausgerissen werden, giftige Vögel sollen dich beißen, und Riesenschlangen dich erwürgen ...«
Hier machte sie ihrer Flut von Verwünschungen ein Ende, da die Kellnerin, aus Wut über das Weib, eine Kasserolle ergriff und sich wie ein wildes Tier auf die Zigeunerin stürzte. Dabei stieß sie mit dem Ellbogen an eine unserer Weinflaschen, deren ganzer Inhalt sich über das Tischtuch ergoß. Ihren Zorn vergessend, rief sie laut auflachend:
»Ach, wie schön, ach, wie schön! Wein auf dem Tischtuch, das gibt 'ne Hochzeit,« und die Zigeunerin eilte, die Gelegenheit nützend, rasch davon.
Wir leerten unsere Gläser, tranken eine Tasse Mokka, und nachdem Pacheco die Rechnung bezahlt und ein fürstliches Trinkgeld gegeben hatte, erhoben wir uns in bester Stimmung.
Ich hatte ein seltsam leichtes Spiel in den Füßen, mir war, als habe das Gewicht meines Körpers sich verringert, und als schwebe ich über der Erde, anstatt zu gehen. Beim Heraustreten blendete mich die Sonne entsetzlich; es war die Zeit, zu der ihre Strahlen, obgleich sie schon schräg fallen, am glühendsten sind. Es mochte ungefähr drei oder halb vier Uhr sein, und der Boden barst vor Hitze. Die Menschenmenge war bedeutend angewachsen und noch viel lauter und lärmender als des Morgens. Sobald wir ins Gedränge gerieten, hatte ich die Empfindung, als drehe sich alles in meinem Kopf, und als befände ich mich auf offenem Meer, einem bewegten, schwankenden Meer, auf dem ich wie eine tanzende Nußschale hin und her geworfen wurde. Schlag folgte auf Schlag, Welle auf Welle! Ja, es war das Meer, kein Zweifel! Das Meer und die für mich dazu gehörige gräßliche Seekrankheit ...
Meine Angst wurde immer quälender, und immer fester stützte ich mich auf den Arm meines Begleiters. Ich wähnte mich allein auf dem offenen Meer. Unzählige Stimmen, wildes Lärmen, Schreien, Guitarren-, Orgel- und Klavierspiel klangen wüst durcheinander: das dumpfe Getöse, mit dem die Wellen an das Felsriff schlugen, und dort drüben die Schaukeln, die mir in ihrer schwindelnden Höhe wie auf den Wellen tanzende Boote und Kähne erschienen. Um Gottes willen! Wie furchtbar war für mich die Entdeckung, daß ich mich wirklich auf offenem Meere befand! Ich umklammerte Pachecos Arm wie den eines kräftigen Bademeisters, der mich vor dem Ertrinken retten sollte, und heftiger Schrecken befiel mich bei dem Gedanken, daß mein Begleiter sich über mich lustig machen würde, wenn ich ihm gestände, daß ich im höchsten Grade seekrank sei!
Ein Kampf zwischen zwei Weibern lenkte unsere Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein merkwürdiger Kampf, nicht wie sonst von Schelten, Schimpfworten und Beleidigungen begleitet. Es waren zwei Mädchen: das eine röstete Erbsen in einer auf einem kleinen Backofen stehenden Pfanne; das andere hatte beim Vorübergehen mit seinem Kleid die Pfanne umgerissen. Niemals in meinem ganzen Leben habe ich den Ausdruck der Empörung lebhafter in einem Gesicht gesehen, als bei diesem beleidigten Mädchen. Schnell wie der Blitz raffte sie die Pfanne wieder vom Boden und stürzte sich wie eine wütende Tigerin auf die Vorübergehende, ihr den scharfen Stiel ins Gesicht schlagend. Die Angegriffene wandte sich um, ohne einen Laut von sich zu geben; ein feiner Streifen Blut rieselte ihr über das Gesicht, und sich auf ihre Angreiferin stürzend, riß sie ihr mit der rechten Hand ein Büschel Haare aus, während sie die Nägel der Linken tief in ihren Nacken grub. Sie fielen beide zu Boden und wälzten sich zwischen der Pfanne und den Erbsen umher. Um die Kämpfenden hatte sich rasch ein Kreis von Zuschauern gebildet, die, weit davon entfernt, die beiden zu trennen, sich damit amüsierten, die Amazonen durch freche Zurufe zu immer größerer Wut anzustacheln. Einen Augenblick vergaß ich die Empfindung der Seekrankheit: ich dachte an meinen Landsmann Pardo und an die zügellose, spanische Rohheit. Aber auch dieser Gedanke beschäftigte mich nicht lange, denn alsbald hatte ich wieder die merkwürdige Empfindung, als kämpften zwei Fische miteinander, die sich mit ihren großen Mäulern zerfleischten. Dieser Gedanke erhöhte meine dumme Seekrankheit so sehr, daß ich mich ängstlich an Pacheco klammerte:
»Wir wollen weitergehen, – das kann ich nicht sehen... sie bringen sich um.«
Don Diego fragte mich, ob ich mich schlecht fühle, und riet mir, in diesem Falle auf einen weiteren Besuch des Jahrmarkts zu verzichten. Ich antwortete ihm, daß ich vollständig wohl und imstande sei, die sämtlichen Genüsse des Festes durchzukosten. Wir betraten verschiedene Buden, sahen einen Zwerg, ein Kalb mit zwei Köpfen und eine Frau mit vier Füßen, die ein sehr tief ausgeschnittenes, blauseidenes Kleid trug und sehr lebhaft war. Lachend – es war das Lachen eines Kaninchens – zeigte sie uns die derben Muskeln ihrer Kniee. Hier drängte sich mir wieder stärker als je die Überzeugung auf, daß ich mich auf offener See befand, von den Wogen des Ozeans umgeben. An der linken Seite der Bude waren viele Öffnungen, durch die man einen Blick auf das große Rundgemälde werfen konnte. Ich hielt sie für die Luken eines Schiffes und konnte diese Vorstellung auch dann noch nicht los werden, als ich sah, daß die eine Öffnung den Blick, statt auf das Meer, auf das Karussel, den Sternbogen, das Kolosseum und andere Monumentalbauten gewährte. Die architektonischen Perspektiven schienen mir verzeichnet, die Umrisse schwankend, als wären sie durch den zitternden Schleier der Wogen gebildet; als ich mich umdrehte und mich der entgegengesetzten Seite der Bude zuwandte, fiel mein Blick in die großen Lachspiegel mit ihren konkaven und konvexen Gläsern, die mein groteskes Bild zurückwarfen. Ach, ach, ach! wie schlecht war mir! ein furchtbarer Schrecken durchzuckte mich. Vielleicht waren all diese nautischen und maritimen Erscheinungen nur Halluzinationen. Sollte ich zu viel getrunken haben? Aber nein, das konnte nicht sein, denn bei Tisch war mir noch ganz wohl gewesen. Ich muß es um jeden Preis vor Pacheco verheimlichen, dachte ich bei mir. Herr des Himmels, wie würde ich mich schämen, wenn er es bemerkte! Ich würde im Sturmschritt nach Madrid zurücklaufen. Luft, Luft! Nur ein kleines, ruhiges Fleckchen, fern von allem Gedränge!
Ob Pacheco meine Gedanken erriet, oder ob er dieselbe Empfindung hatte, wie ich, weiß ich nicht: jedenfalls neigte er sich zu mir herab und sagte besorgt:
»Es ist eine unerträgliche Hitze hier, nicht wahr? Wollen wir nicht fort? Umkehren und über die Wiesen nach der Pappelallee gehen? Dort wird es kühler und freier sein.«
»Mir ist's recht,« antwortete ich gleichgültig, obgleich mir bei diesen Worten der Himmel mit einemmal freundlicher lächelte.
Wir traten aus der Bude und schritten, vom Strom der Menschen getrieben, den Abhang nach der Pappelallee hinunter. Gleich darauf waren wir in ein solches Gedränge geraten, daß Pacheco mich der Flut der Menschen mit Gewalt zu entreißen suchte. Meine Schläfen hämmerten, mein Herz pochte, und es legte sich mir ein dichter Schleier vor die Augen. Ich wußte nicht, wie mir geschah; kalter Schweiß bedeckte meine Stirn. Wir mußten uns einen Weg durch die Menge bahnen, und sahen uns plötzlich einem entsetzlichen Schauspiel gegenüber. Ein paar Männer waren in Streit geraten und bekämpften sich mit dem blanken Messer. Ängstlich drückte ich mich an Pacheco, der mir halblaut zuflüsterte: »Kommen Sie nur, kommen Sie und seien Sie unbesorgt. Ich bin mit allem versehen.«
Ich sah, wie er die Hand in seine Rocktasche steckte und einen Revolver daraus hervorzog; aber meine Angst steigerte sich nur noch mehr, so daß ich am liebsten sofort umgekehrt wäre.
Rasch wanden wir uns bis zur einsam daliegenden Pappelallee durch, und hier fanden meine maritimen Wahnvorstellungen neue Nahrung: Equipagen, Omnibusse, Leiter- und Lastwagen, eine ganze Menge Vehikel, die auf ihre Insassen warteten: und sie alle erschienen mir wie Schiffe, in einer Bucht am Strande liegend. Sogar den Kohlen- und Teergeruch glaubte ich zu spüren.
»Wollen wir nicht lieber an den Fluß gehen, wo es ruhig und menschenleer ist?« fragte ich Pacheco flehend. »Die Menschen machen mich so ...«
»Seekrank,« wollte ich sagen; aber ein Rest von Überlegung ließ mich noch zeitig innehalten, und so sagte ich nur: »Machen mich so müde.«
»Menschenleer? das wird heute schwer halten. Sehen Sie nur!« und Pacheco deutete mit der Hand in die verschiedensten Richtungen.
Auf der Wiese und an den Abhängen des Hügels, soweit der Blick reichte, überall ein Gewimmel von Menschen, überall ein grelles Farbengemisch, überall schwebende Schaukeln, überall Tanzen und Schreien!
»Dort!« murmelte ich, »dort drüben scheint's ruhiger zu sein.«
Um dahin zu gelangen, mußten wir über einen Zaun klettern. Pacheco sprang darüber weg, reichte mir die Hand, und ich wand mich mit erstaunlicher Geschicklichkeit hinüber. Zu merkwürdig! Es war, als habe sich mein Körpergewicht plötzlich verringert, fast als könnte ich fliegen. Aber mein Sicherheitsgefühl stand in keinerlei Verhältnis zu meiner Geschicklichkeit; denn man hätte mich nur mit einem Finger anzurühren brauchen, um mich umzuwerfen.
Wir überschritten ein brachliegendes Feld und gelangten über hübsche, einsame Fußwege endlich zu einem dicht am Manzanares liegenden Häuschen. Ach, wie herrlich, hier allein zu sein und die frische Kühle des Wassers und der langsam hereinbrechenden Dämmerung fern vom Lärm des Jahrmarktes genießen zu können! Gott sei Dank!
Zum Teufel mit dem Meer! Es ist zum Verrücktwerden. Wenn das so weitergeht ...
Vor der Türe des Häuschens stand eine ärmlich gekleidete Frau mit zwei elenden, zerlumpten Kindern, die mir eilfertig einen Stuhl herbeischleppten. Pacheco setzte sich neben mich auf einen Baumstamm, und ein unbeschreibliches Gefühl des Wohlbehagens beschlich mich, während ich in die glühend rote Sonne blickte, die, langsam untergehend, ihre letzten Strahlen auf den Manzanares warf. Nein, nicht auf den Manzanares, sondern auf das wilde Meer! Das Häuschen hatte sich in eine Schaluppe verwandelt, die fast unmerklich schwankte. Pacheco lenkte das Steuer, und ich schmiegte mich sanft an seine Seite, stützte den Ellbogen auf sein Knie, den Kopf auf seine Schulter und schloß die Augen, um die erfrischende Brise so recht zu genießen. Heilige Jungfrau, wie schön war das! Von hier bis zum Himmel ... Ich öffnete die Augen und sah, o Entsetzen! Pacheco wirklich in dieser Stellung, wie er mich schweigend mit liebender Sorgfalt stützte, gleich als wäre ich totkrank.
Ich nahm mir keine Zeit zum Nachdenken; ich war zu abgespannt, und plötzlich befiel mich eine fürchterliche Schwäche. Laut stöhnend rief ich aus:
»An Land, an Land, ich bin seekrank! ... Ich sterbe. Um Gotteswillen an Land!«
Die Bucht, das schäumende Meer, die krausen Wellen entschwanden meinen Blicken, ich spürte die leichte Brise und den Teergeruch nicht mehr und empfand wie im Traum, daß man mich forttrug. Waren wir an Land gegangen? Ich hörte halblaut die Worte: »Sie Ärmste, sind Sie krank? Hierher, mein Herr, hier ist ein Bett und alles, was Sie wünschen. Bitte.«
Ohne Zweifel hatten sie mich niedergelegt. Ich fühlte mich viel besser, und mir war, als habe eine Riesenhand den eisernen Ring gesprengt, der mir die Rippen eingezwängt und das Atmen erschwert hatte. Ich seufzte tief auf und öffnete die Augen. Es war einer jener lichten Momente, wie sie einer Ohnmacht voranzugehen pflegen. Da war kein Meer und kein Schiff: die feste Erde war das elende Lager, und der Eisenring die Stäbe des Korsetts, das man mir geöffnet hatte. Die hagere Frau umgab mich mit freundlicher Sorgfalt und liebevoller Pflege.
»Brauchen Sie noch etwas?« hörte ich sie fragen.
»Nein, danke! Nur ruhig im Dunkeln bleiben, das ist das einzige. Ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche. Ich fühle mich schon besser. Nur Ruhe und Schlaf.«
Die Frau schloß den Fensterladen und schlich auf den Fußspitzen davon. Ich war allein. Eine unüberwindliche Mattigkeit überfiel mich; ich konnte kein Glied rühren.
Oft fühlt man auch mit geschlossenen Augen den festen Blick eines Menschen auf sich ruhen und wird dadurch gezwungen, die Augen zu öffnen. Ich spreche aus Erfahrung. In meinem Halbschlaf ahnte ich, daß jemand neben mir stand; ich schlug die Augen auf und sah zu meinem Erstaunen das blaue Meer, nicht das grüne bleierne Wasser des Atlantischen Ozeans, sondern die blaue ruhige Flut des Mittelländischen Meeres: Pachecos Augen. Als ich den Blick auf ihn richtete, neigte er sich zu mir herab und ordnete sorgfältig die Falten meines Kleides.
»Nun, wie geht's? keine Lust, aufzustehen?« fragte er leise. Ich streckte ihm beide Hände entgegen; er ergriff sie, drückte sie zärtlich, fühlte mir den Puls und legte mir seine Rechte auf Stirn und Schläfen. Wie wohl tat mir sein fester, zärtlicher Druck! Wie dumm man sich doch in solchen Augenblicken benimmt! Ich sehnte mich nach einer Liebkosung wie ein kleines Kind. Wenn mich doch jemand bemitleidet hätte! Ich hätte am liebsten zu weinen angefangen, um mich trösten zu lassen. Am Kopfende des Bettes stand ein verschossener Lehnstuhl, auf den Pacheco sich setzte, während er sein Gesicht an mein hartes Kopfkissen lehnte. Ich weiß nicht mehr genau, was er mir sagte, weiß nur noch, daß es liebevolle Worte waren: ich drückte ihm innig die Hand, schloß dann aber rasch wieder die Augen, da mich plötzlich von neuem die Vorstellung befiel, ich wäre in einem schwankenden Boot. Da streifte ein leiser Hauch wie der Flügelschlag eines Schmetterlings meine Wange; und dann wurden laute Schritte hörbar. Ich öffnete die Augen und sah die alte, gebräunte Wirtin vor mir.
»Nehmen Sie vielleicht eine Tasse Tee, meine Dame? Ich habe sehr guten Tee; sie müssen nicht etwa glauben, daß er schlecht sei.«
»Ja, bringen sie eine Tasse, aber recht stark und heiß,« sagte Pacheco.
Die Frau ging fort. In meinem Kopf summte es unerträglich; Pacheco legte mir die Hände auf die Schläfen, was mir sehr wohl tat. Dann strich er das Kopfkissen glatt, ordnete mir die Haare, und das alles so zart und sorgfältig, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Die Wirtin brachte den Tee mit den Worten:
»Soll ich ihn ihr geben, oder wollen Sie es tun?«
»Geben Sie ihn mir, und dann lassen Sie uns allein,« erwiderte Pacheco schnell. Darauf führte er mir den Löffel an die Lippen; aber die Anstrengung des Schluckens ermüdete mich so sehr, daß ich schweigend eine abwehrende Bewegung mit dem Kopfe machte; im nächsten Augenblick richtete ich mich mit einem Ruck auf und stieß an die Tasse, deren ganzer Inhalt sich über Rock und Beinkleid meines Krankenwärters ergoß, worauf dieser mit größter Kaltblütigkeit fragte:
»Willst du nicht? Oder soll ich dir eine andere Tasse bestellen?«
Und ich, Herr des Himmels, das weiß ich mit Bestimmtheit, antwortete ihm mit demselben vertraulichen und verliebten Du:
»Nein, ich danke dir, es wird schon dunkel, es ist die höchste Zeit, daß wir gehen. Ich werde versuchen, aufzustehen. Gott, wie schlecht ist mir, wie schlecht!«
Ich streckte ihm vertrauensvoll die Arme entgegen, er umschlang mich mit den seinen und hob mich von meinem Lager. Pacheco hakte mir geschickt das Kleid zu und reichte mir Hut, Handschuhe, Schleier und alles übrige. Es war schon ganz dunkel in dem kleinen Raum und die Nacht inzwischen hereingebrochen.
Die kühle, frische Abendluft wirkte auf mich wie eine kalte Douche; mein Kopf wurde freier.
Pacheco führte mich, ohne ein Wort zu sprechen, zu dem Wagen, dessen Laternen uns schon von weitem entgegenleuchteten. Ich stieg ein und warf mich erschöpft in die Kissen zurück. Er folgte mir, erteilte dem Kutscher seinen Befehl, und der Wagen rollte davon.
Nun war ich wirklich auf einem Schiff, und Pachecos Stimme das Säuseln des Windes in den Masten.
»Ärgerst du dich über mich?« flüsterte der Südwest mir ins Ohr. »Sei mir nicht böse und gib mir deine Hand. Verzeih, wenn ich dich quäle, aber der Gedanke, daß du dir Sorge machst, läßt mir keine Ruhe. Armes Kind, wie schön du in deiner Krankheit warst! Deine Augen strahlten Blitze... Diese herrlichen Augen! Komm, Kind, ruh' dich aus, hier an meiner Schulter!« Ich weiß nicht mehr genau, was er sonst noch sagte, aber dieser eine Satz ist mir im Gedächtnis haften geblieben:
»Weißt du, was man dort in der kleinen Wirtschaft glaubte? Man hielt uns für ein junges Paar, und die Wirtin meinte: »Er ist so gut zu ihr und kann ihr gar nicht genug Liebes antun.«
Ich erinnere mich an nichts mehr ganz genau, weiß nur noch, daß der Wagen bald darauf vor meinem Hause hielt, daß Pacheco mir hinaushalf, und ich ihn, wie elend ich mich auch fühlte, einem schwachen Instinkt gehorchend, flehentlich bat, mich nicht hinaufzubegleiten, worauf er sich kurz und flüchtig von mir verabschiedete. Diabla starrte mir an der Tür frech und neugierig ins Gesicht, und ich erklärte ihr stotternd, die große Hitze sei mir verhängnisvoll geworden. Daß sie schon ihre eigene Auslegung für diesen Ausflug gefunden hatte, war mir klar. Was mochte sie nur von mir denken! Ich stürzte in mein Zimmer, warf mich auf mein Bett und schlief bald darauf ein, erwachte dann aber wieder gegen drei Uhr morgens mit derselben Schmerzempfindung. Diabla wollte ich nicht rufen... Sie hätte sich nur noch mehr gewundert. Ach, was für eine Nacht, was für eine entsetzliche Nacht! Diese Übelkeit, diese Hitze, diese Schwere in allen Gliedern und diese furchtbaren Kopfschmerzen!
Und vor allen Dingen, die Reue über meine Unbesonnenheit. Wie hatte ich mich kompromittiert!
»Ja, ich hatte mich stark kompromittiert! Aber ich hatte doch wohl annehmen dürfen, daß Pacheco, der sich anfangs so korrekt benommen, auch im Laufe des Tages so bleiben würde. Trotzdem, oder gerade weil er – infolge unvorhergesehener Ereignisse – meine einzige Stütze gewesen, hätte er als Gentleman eine derartige Situation nicht ausnützen dürfen. Ich war ganz verwirrt und hatte kein klares Urteil mehr. Ich war für nichts verantwortlich zu machen, er um so mehr. Mit einem Worte, es war eine Keckheit, eine unbeschreibliche Keckheit.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto wahnsinniger erschien es mir. Ein Mensch, mit dem ich vor vierundzwanzig Stunden noch kaum ein Dutzend Worte gewechselt, der mir nicht einmal einen Besuch gemacht hatte! In einem Roman, den ich in meiner Jugend gelesen, quälte sich die Heldin – ich entsinne mich dessen noch ganz genau – mit der Frage: Liebe ich ihn? Lächerlich, – ob sie ihn liebt! ... Ich würde hier nur fragen, kenne ich ihn? Denn ich weiß nicht einmal seinen zweiten Vornamen. Ich weiß nur, daß ich ihn hasse, und daß er ein zudringlicher Mensch ist. Ich bin aus mehr als einem Grunde berechtigt, das zu glauben. Es soll sich nur eine andere in meine Lage versetzen!
Und jetzt erteile ich der Dienerschaft strengsten Befehl, ihn nicht vorzulassen, falls er mich besuchen sollte, und das unterliegt für mich keinem Zweifel. Er wird wütend sein, sofort zur Herzogin von Sahagun laufen und sich seiner Schandtaten rühmen ... Denn er ist gewiß einer von jenen Menschen, die gleich alles an die große Glocke hängen. Und etwas ableugnen, was soeben erst geschehen ist ... das geht nicht. Erstens wäre mir das sehr peinlich, und außerdem würde es mir auch gar nichts helfen. Am besten ist's eben, wenn ich mich verleugnen lasse. Er wird mir schreiben, gut, ich antworte ihm nicht; und da ich ohnehin Madrid in wenigen Tagen verlasse, wird alles bald in schönster Ordnung sein.
Aber aufrichtig, Asis! Ist er wirklich ganz allein an allem schuld? Kind, Kind! Mußtest du denn durchaus deiner Laune gehorchen und nach Santo gehen, dich von einem fast unbekannten Menschen dorthin begleiten lassen, und dann in einer elenden Schenke mit ihm frühstücken, gleich als wärest du eine gemeine Dirne? Mußtest du von dem fatalen Weine trinken? Du weißt ganz genau, daß du ohnedies schon keine Hitze verträgst.
Du mußt es der Herzogin erzählen ... Aber die Herzogin ... für gewisse Menschen gibt es keinen gesellschaftlichen Kodex – die Herzogin ist nicht nur sehr erfahren, sehr liebenswürdig, sehr diskret und eine jener Frauen, die man weder liebt, noch fürchtet, sondern sie kann sich auch in ihrer Stellung ungestraft manches erlauben, was man bei anderen frivol und leichtsinnig nennen würde. Es gibt Menschen, denen alles erlaubt ist; da ich aber unglücklicherweise nicht zu diesen gehöre und eine Dame bin, wie jede andere, muß ich unseren gesellschaftlichen Kodex respektieren und mich nicht in Gefahr begeben. Pacheco hätte das alles vom ersten Augenblick an wissen müssen ... Aber es ist doch eigentlich auch nicht richtig, ihn allein anzuklagen.
Mein Landsmann hat ganz recht. Wir sind unzivilisierte Menschen. Dreißig Jahre lang feilt und hobelt die Erziehung an uns herum, und dann kommt plötzlich bei irgendeiner Gelegenheit die angeborene Wildheit doch wieder zum Vorschein. In gewissen Situationen tut ein gebildeter Mensch genau dasselbe, was ein Ungebildeter tun würde, zum Beispiel ich, die ich mich wie eine Dirne betragen habe, oder besser gesagt, wie eine dumme Gans. Es läßt sich jetzt nichts mehr dagegen tun, – geschehen ist geschehen. Herr, ich bereue aus tiefstem Herzen, in meinem ganzen Leben ist mir so etwas noch nicht passiert und wird mir auch nie wieder passieren. Ich schwöre es, und auch, daß ich versuchen werde, alles wieder gut zu machen. Die Tür ist und bleibt ihm verschlossen. Ich will nicht einmal mehr die Rockschöße dieses Mannes sehen. Ich erkläre dieses Haus in den Belagerungszustand; es soll gegen meinen Willen keine Fliege hier eindringen; ich will doch einmal sehen, ob es so leicht ist, eine Frau zu kompromittieren, die weiß, was sich schickt.
So ungefähr würde das Bekenntnis der Dame gelautet haben, wenn sie alle ihre Gedanken und Empfindungen dem Papier anvertraut hätte. Allerdings wollen wir nicht behaupten, daß die Marquise d'Andrade in dem Zwiegespräch mit ihrem eigenen Gewissen ganz aufrichtig war, und daß sie nicht diese oder jene Einzelheit, die ihre Schuld vergrößert hätte, einfach unterschlug. Bei Gott ist kein Ding unmöglich, und es ist stets gefährlich, derartigen Beichten, die niemals ohne jesuitische Einschränkung gemacht werden, völlig zu trauen.
Trotzdem muß man zugeben, daß sie mit bewundernswerter Aufrichtigkeit die fatale Episode geschildert hat, die für sie um so verhängnisvoller sein mußte, als sie sich bisher stets mit festem Schritt und fröhlichem Sinn auf dem Pfade der Tugend gehalten, was mehr ihr eigenes Verdienst als das Resultat der väterlichen Erziehung war, die durchaus nicht streng genannt werden konnte. Asis, dem einzigen, mutterlosen Kinde eines reichen Vaters, waren stets alle Wünsche erfüllt worden, die in einem Städtchen wie Vigo überhaupt erfüllbar sind.
Mit zwanzig Jahren nahm sie an allen geselligen Vergnügungen teil, besuchte sämtliche Kasinobälle und Jahrmärkte und die im Hafen liegenden Kriegsschiffe, und trotzdem konnte ihr, abgesehen von einer Flirtation mit einem Leutnant der Marine, die jedesmal, wenn die »Villa de Bilbao« landete, neue Nahrung fand, nichts zum Vorwurf gemacht werden. Zu jener Zeit führten dringende politische Geschäfte ihren Vater häufig nach Madrid, wohin sie ihn zu begleiten pflegte. Hier wohnten sie im Hause eines Bruders ihrer verstorbenen Mutter, des Staatsrats Marquis d'Andrade. Dieser war kinderloser Witwer; ein dünner Haarkranz umgab seine leuchtende Glatze; er hatte angenehme Manieren, einen friedfertigen Charakter (bei Hofe gibt's keine alten Sauertöpfe) und besaß genügende Welterfahrung, um zu wissen, wie ein Fünfzigjähriger sich in das Herz eines jungen Mädchens einschmeichelt. Vertrauensvoll zeigte Asis ihrem Onkel die Briefe des Marineoffiziers, und dieser veranlaßte sie, ihm in einem längeren Schreiben mitzuteilen, daß »ihre Beziehungen für immer abgebrochen werden müßten«. Und so kam es, daß die schlanke Gestalt mit dem blauen, goldgestickten Rock und der weißen Mütze im Hause d'Andrade nicht als Brautwerber erscheinen durfte.
Der Marquis neigte nicht zur Eifersucht und tat alles, um seiner jungen Frau das Leben möglichst angenehm zu machen, trennte sich ihr zuliebe sogar von seiner Schwester – sie war nach dem Tode seiner Frau zu ihm gezogen –, die ihm sehr zugetan, aber etwas altjüngferlich und jeder Geselligkeit abhold war und daher mit seiner jungen Frau nicht allzu gut harmonierte. Für die Toiletten seiner Frau gab er ein unsinniges Geld aus und weigerte sich nie, sie in Theater und Gesellschaften zu begleiten, so unbequem es ihm oft auch sein mochte. Dabei wußte er geschickt die für sein Alter wenig geeignete Rolle eines leidenschaftlich Verliebten zu umgehen. Nach siebenjähriger, ruhig-glücklicher Ehe wurde ihnen ein zartes, schwächliches Kind geboren, das nach Aussage der Ärzte nur in kräftigender See- und Waldluft gedeihen konnte. Dem Leben des guten Staatsrats bereitete ein langes, qualvolles Leiden frühes Ende, und so blieb Asis als reiche, junge, hübsche und lustige Witwe zurück.
Den Winter verbrachte sie in Madrid und schickte ihr Kind in ein renommiertes französisches Pensionat. Im Sommer fuhr sie nach Vigo zu ihrem Vater; manchmal (wie gerade jetzt) verfrühte sich die Reife des Kindes ein wenig, wenn der Großvater es, nachdem er rascher als sonst seine Geschäfte beendigt, zur Erholung mit sich aufs Land nahm. ... Asis trennte sich nicht allzu schwer von ihm, denn ihre mütterliche Liebe war, ebenso wie ihre eheliche, ein ruhiges Gefühl, das mit jenen überschwänglichen Empfindungen, unter denen das Herz erglüht und die dem Leben einen so eigenen Reiz verleihen, nichts gemein hatte. Die Marquise d'Andrade lebte zufrieden und glücklich, stolz darauf, daß sie es verstanden hatte, die »Provinzlerin« ganz abzustreifen und sich dabei doch ihre Ehrbarkeit so zu bewahren, wie jene Frauen in Vigo, die keinen Schritt tun können, ohne daß die lieben Nachbarn es sofort wissen. Ihre Mußestunden füllte sie damit aus, über allerhand Kleinigkeiten nachzudenken, zum Beispiel über ihre letzte Toilette, die beinahe ebenso schön und elegant war, wie die unendlich viel teurere von Worth, welche die Herzogin von Sahagun trug, über ihren Beitritt zu dem von Jesuiten protegierten Wohltätigkeitskomitee, der ihr Pater Urdax' Herz im Fluge gewonnen, über die Tatsache, daß sie eine vollendete, unantastbare Dame sei und, trotzdem sie in der großen Welt lebte, dem Teufel niemals die Hand geboten und weder Gott noch der Welt jemals Veranlassung gegeben habe, die Achseln über sie zu zucken ...
Und jetzt? ...
Als die Glocke ertönte, lief Diabla eilfertig herbei, um zu sehen, was es gäbe, und fand ihre Herrin im Bette sitzend.
»Wer auch kommen mag, es wird niemand angenommen. Niemand, verstehst du?«
»Schön, ich werde allen sagen, die gnädige Frau wären ausgegangen.«
»Ja, allen, ohne Ausnahme; daß du mir nur ja keinen Menschen hineinläßt.«
»Herr Gott, gnädige Frau, nicht eine Fliege lasse ich hinein.«
»Mach mir ein Bad zurecht.«
»Ein Bad? Wird das der Gnädigen auch nicht schlecht bekommen?«
»Nein,« antwortete Asis trocken (entsetzlich, daß Dienstboten sich immer um alles kümmern!).
»Und wann soll der Wagen vorfahren? Roque ist schon zweimal dagewesen.«
Bei der Erwähnung dieses Namens durchfuhr Asis plötzlich ein heftiger Schrecken, gleich als verkörpere der Kutscher für sie die Gesellschaft und deren Kritik über alle am Vorabend außer acht gelassenen Konvenienzen. Was würde der Mensch nun alles erzählen?
»Sage ihm ... sage ihm, daß ... daß er in ein paar Stunden kommen soll ... Um halb fünf ... Nein, um viertel nach fünf, oder besser noch, um halb sechs ... zum Spazierenfahren.«
Sie sprang aus dem Bett und fuhr in den Schlafrock und die Pantoffeln; sie empfand eine furchtbare Mattigkeit und gleichzeitig eine quälende Aufregung, etwas wie die Lust, sich selber zu entfliehen. Es war unerträglich.
Welch ein entsetzliches Leben führen doch die Frauen, die stets mit solchen Verwicklungen zu kämpfen haben! wahrlich, ich beneide sie nicht. Ach, ich hasse alles Heimliche, alles Schiefe. Ich bin geboren, um in geordneten Verhältnissen zu leben und auf geraden Wegen zu wandeln. Das ist klar. Und das alles sollte ich dem ersten besten Landstreicher opfern? ...
Diabla trat ein und meldete, das Bad sei bereit; Asis ging in den durch eine kleine Petroleumlampe spärlich erhellten Raum und stieg in die Badewanne. Welche Wonne! Das klare Wasser würde die ganze Schmach des vorhergehenden Tages fortspülen, die Schmach, die auf ihr geschrieben stand mit Lettern aus Staub, dem zwiefach häßlichen Staub des wüsten Jahrmarkts. Und wie dick und klebrig der war! Ihr war's, als sei er ihr durch die Kleider gedrungen und bedecke ihren Körper mit einer dicken Schicht.
Und sie griff zur Seife und rieb so heftig und so lange, bis sie sich die Haut wund gerieben; und als Diabla sie dann in den türkischen Schlafrock hüllte, fuhr sie noch immer mit ihrem Frottieren fort, bis sie das Empfinden hatte, jeglichen Schmutz abgestreift zu haben.
Nachdem sie ein dunkles, unauffälliges Kleid angelegt und ihre Toilette beendet hatte, bestieg sie den Wagen. Diabla fragte rasch:
»Speisen die gnädige Frau hier?«
»Nein.« Und Asis fügte noch, wie jemand, der jeden leisesten Verdacht abzulenken bestrebt ist, eilfertig hinzu:
»Ich gehe zum Essen zu den Damen Cardenosa.«
Als sie in ihrem Wagen saß, seufzte sie erleichtert auf; nun hatte sie den Menschen nicht mehr zu fürchten.
Bah! Und außerdem, – wer weiß, ob er sich ihrer noch erinnerte! Um so besser! Es wäre wunderbar, wenn sich alles auf so einfache Weise löste! Und als sie dem Kutscher sagte: »Nach Castellana; und dann zu den Cardenosas,« hatte Asis' Stimme wiederum ihren gewohnten Klang.
Aus der Art, wie sie den Befehl erteilte, konnte man ungefähr heraushören:
»Siehst du, Roque, alle Tage passiert so etwas nicht! von heute an bin ich wieder unnahbar wie immer.«
Der Wagen fuhr im Trab bis zur Castellana und schloß sich dann der Wagenreihe an, die so dicht war, daß man hin und wieder nicht vom Fleck kommen konnte. In solchen Momenten erzwungener Ruhe geschieht es oft, daß zwei Damen, die sich kennen und grüßen, aber nicht bekannt genug sind, um eine Unterhaltung anzuknüpfen, sich mit stereotypem Lächeln begrüßen, verstohlen beobachten und innerlich wünschen, das weiterfahren des Wagens möge sie dieser peinlichen Situation überheben. Mehr als einmal passierte das heute auch Asis.
»Ach, da ist ja Castilla Sahagun, hoch oben auf ihrem Break. Wo mag die nur herkommen?«
Und plötzlich fiel es Asis ein, daß zu Ehren des Stiergefechts schon lange ein großes Fest geplant war. Wie lustig war es in dem Hause der Herzogin zugegangen an dem Abend, da darüber beratschlagt wurde! Auch sie war eingeladen, – und sie hatte es versäumt, schade! Die Herzogin, anmutig wie immer, erinnerte mit ihrem schwarzen Spitzenumhang und dem großen Nelkenstrauß an der Brust lebhaft an ein Goyasches Bild. In angeregter Unterhaltung mit ihren Begleitern begriffen, fuhr sie langsam in der Castellana auf und ab: sie war die » great attraction«. Asis wurde immer ruhiger; eine Ahnung sagte ihr, daß diese Menschen alle viel zu viel mit sich und ihrem Amüsement zu tun hätten, um sich um sie und ihr Erlebnis in Santo auch nur einen Augenblick zu kümmern.
Diese wohltuende Überzeugung gewann neue Nahrung in dem Hause der beiden alten Schwester. Die Damen Cardenosa waren zwei gutmütige, alte Jungfern, freundlich, liebenswürdig, flachbrüstig und fast traurig anzusehen, nach der Mode von anno dazumal gekleidet, sanft und schüchtern, und trotz ihrer fünfzig Jahre von geradezu rührender Kindlichkeit.
Ihr Hauptgesprächsthema bildeten die Messen und die mehr oder weniger interessanten Ereignisse in der Andradeschen und anderen befreundeten Familien. Für Hochzeiten hatten sie, wie die meisten alten Jungfern, ein ganz besonderes Interesse. Sie waren aufrichtig fromm und sagten ihren Nächsten niemals etwas Böses nach, denn für sie waren die Menschen genau so, wie sie sich ihnen zeigten. Die Schwestern Cardenosa genossen daher allgemeine Achtung und Liebe, und es gehörte gewissermaßen zum guten Ton, ihre Visitenkarten im Salon zu haben.
Das nüchterne, unschmackhafte Essen und der dünne Kaffee wirkten beruhigend auf Asis' Nerven. Der letzte Nest ihrer Migräne schwand, und der Umstand, daß die beiden Schwestern sie ebenso liebevoll und freundlich empfingen wie sonst, ließ sie ihre Angst allmählich vollkommen vergessen. Die heilsame Beruhigung ihrer Nerven schläferte sie langsam ein, und obgleich es erst zehn Uhr war, vermochte sie nur mit großer Mühe ihr Gähnen zu unterdrücken.
Die beiden Schwestern, denen das nicht entgangen war, boten ihr in der liebenswürdigsten Weise eine Sofaecke, ein Kissen für den Rücken und eines für die Füße an.
»Bitte, bemühen Sie sich nicht, tausend Dank, ich sitze sehr gut.«
Dabei warf sie, weil es ihr peinlich war, ihre Uhr hervorzuziehen, verstohlene Blicke auf eine vergoldete Standuhr mit dem Apoll, dessen klassische Nacktheit die beiden alten Damen merkwürdigerweise in den vierzig langen Jahren noch nicht chokiert zu haben schien. Aber das half ihr nicht viel, denn diese Uhr war wohl, wie die meisten derartigen Uhren, schon am ersten Tage stehen geblieben. Jedesmal, wenn ein Sagen durch die ruhige Straße rollte, horchte Asis auf, bis endlich wirklich einer vor dem Hause hielt. Gott sei Dank! Aber zu gut erzogen, um ihre Freude darüber zu zeigen, beherrschte sie sich so völlig, daß sie, als das Mädchen die Ankunft des Wagens meldete, mit geheuchelter Gleichgültigkeit antwortete:
»Es ist gut; er soll warten.«
Wenige Minuten darauf drückte sie ihre zarte Wange gegen die pergamentenen der beiden Schwestern, küßte in die Luft und rief nach von der Treppe her:
»Es war wirklich zu nett und gemütlich. Ich habe mich ausgezeichnet unterhalten. Tausend Grüße an Pater Urdax!«
Als sie ihre Hausglocke zog, beschlich sie eine merkwürdige Unruhe, eine seltsame Ahnung. Und sie war daher – trotzdem die heftige Erregung sie beinahe zu Boden geworfen hätte – kaum überrascht, als ihr anstatt der erwarteten Diabla jener entsetzliche Mensch die Tür öffnete.
Merkwürdigerweise wußte Asis ihre Bestürzung darüber, daß sie Pacheco um diese Zeit in ihrer Wohnung fand, gut zu verhehlen. Er genügte allen Höflichkeitsformen, die ein Herr einer von ihm verehrten Dame gegenüber beobachtet, trat zur Seite, um sie vorbei zu lassen, und folgte ihr dann in einen kleinen Salon, in dem die große, mit dem rosigen Spitzenschirm verhüllte Lampe ein angenehmes Licht verbreitete, – blieb dann aber einen Augenblick an der Tür stehen, wie jemand, der darauf vorbereitet ist, verabschiedet zu werden.
»Setzen sie sich, Pacheco,« stotterte Asis ganz verwirrt.
Er aber setzte sich nicht, sondern machte zögernd ein paar Schritte auf sie zu. Seine ganze Haltung war die eines ungewandten Menschen; aber dieses Benehmen kontrastierte so seltsam mit seiner geschmeidigen Gestalt und der ausgesuchten Eleganz seiner Kleidung, daß Asis es für raffinierte Berechnung halten mußte. Seine Schüchternheit und Zurückhaltung wirkten beruhigend auf die junge Frau und flößten ihr neuen Mut ein. – »Eine willkommene Gelegenheit, diesem Herrn einmal tüchtig die Wahrheit zu sagen!«... denn in ihrer Unerfahrenheit glaubte sie, in Pachecos Betragen etwas wie aufrichtige Reue und Zerknirschung zu sehen, und so sagte sie ruhig:
»Da Sie doch einmal hier sind, möchte ich...«
Pacheco ging auf sie zu und sprach, während er ihr forschend in die Augen sah:
»Mich dürfen Sie auszanken, soviel Sie wollen. ... Die Dienstboten aber nicht ... Mindestens eine Viertelstunde habe ich mich mit Ihrem Mädchen herumgestritten, bis sie mich endlich hereingelassen hat. Ich habe ihr den Hof gemacht, habe ihr Geld geben wollen, und als das alles nichts nützte, habe ich ihr gesagt, Sie hätten sich nur deshalb vor allen anderen Menschen verleugnen lassen, weil Sie mit mir allein sein wollten. Und nun zanken Sie mich tüchtig aus ... Ich weiß, daß ich's verdiene.«
Das alles sagte er in kläglichem Ton, mit einem so traurigen Ausdruck und so bekümmertem Blick, daß es zum Erbarmen war. Asis schöpfte Mut, und nun brach ein ganzer Schwall von Worten los:
»Ja, mein Herr, Sie verdienen es wirklich. Ein Mensch, der mit den Dienstboten unter einer Decke steckt! ... Darum ließ sich auch niemand sehen ... Darum mußten Sie die Tür aufmachen... Diabla soll etwas zu hören bekommen ... Aber tüchtig! ... Wer weiß, ob sie heute Nacht doch in diesem Hause schläft... Seine eigene Dienerschaft zum Feinde haben! Wartet nur... wartet! So spielt man nicht ungestraft mit mir. Die sollen sich wundern!«
Asis mochte wohl einsehen, daß sie in ihrem Zorn etwas zu weit ging und daß sie außerdem tauben Ohren predigte, da man von der Küche aus unmöglich etwas hören konnte. Und Pacheco, anstatt sich diese heftigen Vorwürfe auch nur im geringsten zu Herzen zu nehmen, gewann alsbald seine ganze Geistesgegenwart wieder, trat noch näher zu Asis und fuhr ihr sanft über die Stirn. Sie warf sich zurück, aber rasch faßte Pacheco sie um die Taille und flüsterte ihr zu: »Warum ärgerst du dich so über die Dienstboten, mein Kind? Habe ich dir nicht gesagt, daß sie keine Schuld haben? Dein Kammermädchen ist treu wie Gold und dir ganz zugetan. Ich wollte ihr Geld geben, und sie wies es zurück; ihr lag nur daran, dich nicht zu erzürnen... wenn du so schreist, gibt es einen großen Skandal. Ich will ja gehen, wenn du es willst, wirklich, ich will gehen.«
Indem er sagte, daß er gehen wolle, setzte er sich auf das Sofa und bat Asis dasselbe zu tun; die murmelte in ihrer Verwirrung, ihren Zorn ganz vergessend, leise vor sich hin:
»Aber so gehen Sie doch nur, tun Sie mir den einzigen Gefallen und machen Sie, daß Sie fortkommen.«
»Hast du denn nicht einen Augenblick Zeit für mich? Ich bin krank, das mußt du doch sehen. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugemacht.«
Asis war im Begriff, zu fragen, warum, unterdrückte die Frage aber noch rechtzeitig, da sie ihr nicht ganz passend erschien.
»Ich mußte wissen, ob es dir besser geht, ob du dich ausgeruht hast und mir nicht mehr böse bist. Noch immer schlechter Laune? Und wie steht's mit dem Köpfchen? Laß' mal sehen.«
Bei diesen Worten zog er ihren Kopf an seine Schulter und stützte ihn mit der rechten Hand. Asis versuchte, sich loszumachen, merkte aber schon bald, daß ihr Zorn dem leise aufkeimenden Mitleid mit dem so Unterwürfigen und der verwünschten Neugierde weichen mußte, die schon die erste Frau im Paradies ins Verderben stürzte und die alle anderen ins Verderben stürzen wird ... was Pacheco jetzt wohl sagen würde?
Der schwieg einen Augenblick und streichelte nur mit seiner zarten Hand, mit seinen mageren, nervösen Fingern sanft über Asis' Kopf und Stirn, wie gestern, als sie sich so elend fühlte. Es war, als verbreite der Stab eines unsichtbaren Zauberers in dem durch ein mattes Licht erhellten Raum eine friedlich-wohltuende Ruhe. Das Ameublement des Zimmers verriet jene artistischen Prätentionen, wie sie heutzutage fast ein jeder zur Schau trägt, ob er etwas von der Kunst versteht oder nicht, und durch die meistens ein Conglomerat von allerhand nicht zueinander passenden Sachen zustande kommt, wie: kleine Stühle, niedrige, kokette Lehnsesselchen, dreieckige mit Samt bezogene Tische in Herz- und Kleeblattform, Säulen mit Figuren, kleine Diwans, auf denen man das Vergnügen hat, sich die Schultern zu stoßen und sich ein steifes Genick zu holen, Dracänen in einer Zinkjardiniere und ein Porzellanhund, der vor dem Kamin Schildwache steht. Alles durcheinander und so ungeschickt aufgestellt, daß man Mühe hat, seinen Weg hindurch zu finden. Und auch an den Wänden war kaum für einen einzigen Nagel Platz, denn der gute Marquis d'Andrade, der nicht einmal imstande war, einen Tizian von einem Ribera zu unterscheiden, hatte sich als Beschützer junger Talente aufgespielt und seine Räume mit unzähligen Aquarellen und Skizzen aus der Rennaissancezeit angefüllt, an denen die luxuriösen Rahmen zweifellos das wertvollste waren; Photographien mit hochtönenden Dedikationen waren allenthalben zu finden. Und nur wenn, wie jetzt, ein mattes Licht den Raum erhellte, harmonierten all diese Gegenstände miteinander. – Die an dem halbgeöffneten Fenster stehenden Begonien erzittern leise, als hätte ein Hauch sie gestreift. Nur die Bulldogge aus Porzellan liegt ruhig wie eine Sphinx und blickt unverwandt zu der Gruppe auf dem Sofa hinüber. Sie scheint in ihrer ernsten, würdigen Haltung als eifersüchtiger Wächter von dem verstorbenen Marquis hier aufgestellt zu sein. Es sieht fast so aus, als wolle sie sich mit lautem Gebell auf den Eindringling stürzen.
Pacheco sprach leise mit seinem gezierten Lispeln: »Fürchtest du dasselbe wie gestern, mein Kind? Sage mir nicht nein, denn ihr Frauen kommt immer hartnäckig auf das Vergangene zurück. Laß mich jetzt einmal in Ruhe zu dir sprechen und unterbrich mich nicht. Du weißt sehr wohl, daß ich elend bin, und dir macht es Spaß, mich leiden zu sehen, nicht wahr? Die Zigeunerin hat behauptet, du hättest ein gutes Herz. Hat dir das schon mal ein Mann gesagt? Nein! Nun, so werde ich es dir jetzt sagen, und was ich sage, ist mehr wert, als was all die andern sagen. In dem Wagen hätte ich dir hundertmal mehr den Hof machen, hätte ich dich Liebling, Äffchen, Schatz nennen sollen – aber es fehlte mir der Mut dazu, weißt du! Wenn ich Mut hätte, würde ich alle Blumen des Frühlings an einem Zweige für dich vereinen!«
Nun gewann Asis plötzlich ihre Sprache wieder und rief heftig:
»Jawohl, wie für jenes Mädchen aus der Schenke, wie für meine Zofe und für tausend andere. Im Reden sind sie groß, das ...«
Er unterbrach sie mit einem leisen Schlag auf den Mund.
»Keine derartigen Vergleiche, Kind, wenn ich bitten darf! Man sagt zwar manchmal solche Dummheiten, um den Frauen zu schmeicheln, aber mit dir ... heilige Jungfrau! ... mit dir ist das etwas ganz anderes. Herr Gott, du könntest mich verrückt machen. Weißt du, ich bin noch ganz berauscht von allem, was geschehen, und bereue es aufrichtig, daß wir gestern nicht vor dem Frühstück umgekehrt sind. Glaubst du mir's nicht?«
Der Südländer schlug das Kreuz und küßte sich die Fingerspitzen. Asis mußte lachen, ob sie wollte oder nicht. Und er konnte darüber nicht einmal böse werden, denn dieses Lachen mußte auch den Zornigsten entwaffnen. »Und was nun?« dachte Asis, während sie all ihre Geistesgegenwart und ihre ganze weibliche Geschicklichkeit zu Hilfe rief. »Nichts, ganz einfach ... vor allen Dingen nicht die Zusammenkunft verweigern, die er sich für den nächsten Nachmittag fünf Uhr erbat! Er wäre sonst imstande, irgendeine Dummheit zu machen. Nein, nein, sie mußte ihm die Ausfahrt zur bestimmten Stunde bewilligen, und dann möge er nur suchen –, sie würde dann irgendwo sein, wo er sie am allerwenigsten vermutete. Jetzt galt es, alles aufzubieten, um ihn in Ruhe und Freundschaft loszuwerden. Was würden die Dienstboten denken? Diabla mochte ihnen ohnehin schon schöne Geschichten erzählen! ...
Seit fünf Uhr wartete Asis' Wagen vor der Tür; der Kutscher in seiner stattlichen Livree war, nachdem er längere Zeit in der vorschriftsmäßigen Stellung verharrt, endlich dem einschläfernden Einfluß der abendlichen Ruhe zum Opfer gefallen, und saß nun da, den Kopf tief auf die Brust gesenkt. Sein Atem ging immer schwerer, er stieß einen leisen, pfeifenden Ton aus und fuhr plötzlich, durch sein eigenes Schnarchen erschreckt, aus dem Schlaf auf. Das Pferd, das anfangs ungeduldig mit den Hufen gescharrt, folgte dem Beispiel seines Herrn und verdrehte schläfrig die Augen. Sogar der Wagen schien sich in träger Müdigkeit auf seine Räder zu stützen.
Und als die Sonne unterging, die Hitze abnahm und der Laternenanzünder eine Laterne nach der andern ansteckte, schliefen Wagen, Pferd und Kutscher, in ihr Schicksal ergeben, einen festen Schlaf.
Es mochte ungefähr sieben Uhr sein, als eine männliche Erscheinung aus dem Hause trat, sich möglichst rasch von der Tür entfernte, auf den gegenüberliegenden Bürgersteig eilte und dort, einen Augenblick innehaltend, sehnsüchtig nach Asis' Fenstern hinüberschaute. Allein es war nichts zu sehen, und so entschloß er sich endlich, den Weg nach Ricoletas einzuschlagen.
Oberst Pardo pflegte seine Landsmännin und Freundin, die Marquise d'Andrade, des Abends öfters zu besuchen. Sie plauderten dann von tausenderlei Dingen, diskutierten lebhaft und angeregt, und verbrachten diese Abende in angenehmster Unterhaltung. Von Galanterie im gewöhnlichsten Sinne des Wortes war keine Rede, wenn auch vielfach behauptet wurde (diese Klatscherei war bei der Herzogin von Sahagun entstanden), Don Gabriel interessiere sich lebhaft für Asis' liebenswürdige Persönlichkeit und ihr ansehnliches Vermögen; andere erklärten mit dem Brustton der Überzeugung, Pardo suche weder das eine noch das andere, da er noch immer an einer nicht ganz geheilten Liebeswunde litte: es handelte sich hierbei um eine romantische und etwas mysteriöse Affäre mit einer Verwandten, die, um ihm zu entfliehen, Nonne in einem Kloster von Santiago geworden war.
Auch an dem Abend jenes Tages, da Asis' Wagen so lange vergeblich vor der Tür warten mußte, hatte Pardo sich entschlossen, seine Freundin zu besuchen; es war gegen neun Uhr, als er bei ihr klingelte.
Gewöhnlich bat ihn die Dienerschaft, die die Freude ihrer Herrin über diesen Besuch wohl kannte, sogleich einzutreten. Aber heute sahen sich Perfekto (Asis nannte ihn Imperfekto) und Diabla verlegen an und beantworteten die üblichen Fragen des Obersten stotternd und unsicher.
»Was gibt's? Ist die Gnädige ausgegangen? Das pflegt sie doch sonst am Dienstag nie zu tun.«
»Ausgegangen? ausgegangen? ...« stotterte Imperfekto.
»Nein, nicht ausgegangen,« sagte Diabla rasch, »aber sie ist ein wenig ...«
»Ein wenig angegriffen ...« fügte der Diener diplomatisch hinzu.
»Wieso angegriffen?« rief der Oberst erschreckt aus. »Seit wann ist sie nicht wohl? und was fehlt ihr? liegt sie zu Bett?«
»Nein, Herr Oberst, zu Bett liegt sie nicht gerade, sie hat nur eine leichte Migräne.«
»So sagen Sie, daß ich ihr gute Besserung wünsche und morgen wiederkommen werde, – aber nicht vergessen, – verstanden?«
Der Oberst hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als Asis, in ihren leichten Schlafrock gehüllt, im Vorsaal erschien.
»Aber diese Dienstboten machen doch auch immer alles verkehrt, – ich bin zu Hause, ich bin zu Hause, natürlich! Treten Sie nur näher.«
Gabriel trat ein. Das Zimmer war so traulich und gemütlich, wie am Abend zuvor. Durch den spitzenbesetzten Lampenschirm drang dasselbe rosige, einschläfernde Licht; – in einer kostbaren Vase welkten Flieder und weiße Rosen langsam dahin. Als der Oberst auf den Lehnstuhl zuging, in dem er gewöhnlich zu sitzen pflegte, stolperte er über einen Gegenstand, der in den Falten des kleinen, vor dem Diwan liegenden türkischen Teppichs halb versteckt lag. Er bückte sich und hob eine lederne, mit Silberinitialen verzierte Brieftasche vom Boden auf, die allem Anschein nach einem Herrn gehörte. Asis streckte die Hand danach aus, und trotzdem Gabriel sehr zerstreut und ein wenig schläfrig war, entging ihm ihre Erregung nicht. Instinktiv spielte Gabriel den Unbefangenen und übergab ihr seinen Fund, ohne auch nur den Versuch zu machen, jene Initialen zu entziffern.
»Imperfekto und Diabla haben mir da einen schönen Schrecken eingejagt,« murmelte Asis, indem sie ihre Erregung geschickt zu verbergen suchte. »Das sind zu große Dummköpfe. Ich hatte Befehl erteilt ... Aber natürlich galt der nicht Ihnen ... Sie sehen doch, daß ich Sie erwartet habe,« fügte sie, immer noch sehr verlegen, hinzu.
»Und wie steht's mit Ihrer Migräne?«
»Ach, die ist sehr heftig,« entgegnete Asis, die Hand an die Stirn legend.
»So will ich Sie allein lassen, gehen Sie zu Bett, im Schlaf verlieren sich die Schmerzen.«
»Nein, nein, bleiben Sie, bitte. Im Gegenteil.«
»Wieso im Gegenteil? Bitte, erklären Sie mir das,« fügte der Oberst hinzu, während er scherzend versuchte, die noch immer verlegene Asis zu beruhigen.
»Wieso? Weil Sie einen kleinen Spaziergang mit mir machen sollen. Ich muß mich ein wenig zerstreuen und frische Luft schöpfen.«
»Wir wollen in irgendein Theater gehen.«
»Ins Theater? In diese Hitze, unter all die Menschen? Ein furchtbarer Gedanke! Sie wollen mich wohl umbringen, Was mir fehlt, ist Bewegung. Ich will mich rasch anziehen, und dann wollen wir gehen.«
Als sie auf die Straße hinaustraten, seufzte Asis erleichtert auf und schlug den Weg nach Salamanka ein. Man hat hier das Empfinden, als trete man in einen Wald, denn hohe schattenspendende Bäume umgeben einen freien Raum, und der sternenbesäete Himmel scheint hier höher zu sein als in Madrid.
Die Nacht war herrlich. Asis hob den Kopf und blickt auf die leuchtenden Sterne, die sie, um nur etwas zu sagen, mit den funkelnden Juwelen ihrer Freundinnen verglich.
»Wie schön strahlt jener Stern, der so einsam am Himmel steht!«
»Das ist die Venus! Und seiner Schönheit verdankt er seinen Namen.«
»Sie vergleichen stets das Menschliche mit dem Göttlichen.«
»Nein, wenn jemand das tut, so waren Sie es, die beim Anblick der Sterne gleich an die Juwelen Ihrer Freundinnen dachte. – Wie schön ist doch der Himmel von Madrid!« setzte er nach kurzem Schweigen hinzu.
In diesem sternenbesäten, blauen Himmelsgewölbe sahen Asis und der Oberst wie durch eine geheime, magnetische Kraft eine lederne, mit silbernen Initialen verzierte Brieftasche, und derselbe Gedanke durchkreuzte beider Hirn.
Jetzt gelangten sie zu dem ganz still und verlassen daliegenden Prado mit seinen aufgestapelten Stuhlreihen. Im Hintergrunde des Gartens hob sich von einer dichten Coniferengruppe die elegante Silhouette des italienischen Palazzo ab. Auf dem von dem matten Schein einer einzigen Laterne spärlich beleuchteten Prado keine Seele weit und breit.
»Wollen wir bis nach Carrera gehen?« fragte Pardo.
»Nein, nein, lieber Freund, um Gottes willen nicht. Es könnte uns jeden Augenblick ein Bekannter begegnen, und was würde man sich dann im Salon der Herzogin alles zu erzählen wissen!«
»Und seit wann legen Sie denn auf solche Dinge so großen Wert? Ist es denn gar so schlimm, wenn Sie mit einem Freunde ein wenig spazieren gehen? Was brauchen Sie sich um die albernen gesellschaftlichen Formen zu kümmern? Ich kann in Ihr Haus gehen, so oft und wann ich will, ohne daß sich jemand daran stößt. Warum können wir denn nicht ebensogut eine Stunde zusammen spazieren gehen?«
»Wagen Sie es nur, gegen den Strom zu schwimmen; wir beide werden die Welt nicht mehr ändern. Lassen wir sie ruhig so, wie sie ist. Alles hat seine Gründe, und diese Formen und Vorsichtsmaßregeln sind oft genug durchaus gerechtfertigt. Ach, hier ist's herrlich frisch!«
»Geht's Ihnen besser?«
»Ja, etwas, die Luft tut mir gut.«
»Wollen Sie sich nicht einen Augenblick ausruhen? Dieser Sitz hier ist sehr einladend.«
Schweigend ließen die beiden sich nieder. Asis saß still und in Gedanken versunken da.
Derartige Pausen in der Unterhaltung zwischen einem Herrn und einer Dame in einer solchen Umgebung und zu solcher Stunde haben für beide Teile stets etwas Peinliches. Der Oberst zog sein Taschentuch hervor, putzte bedächtig sein Pincenez und ging dann, fest davon überzeugt, Asis habe den Wunsch, sich ihm gegenüber auszusprechen, geradeswegs auf sein Ziel los.
»An Ihre Migräne glaube ich nicht recht, es ist etwas anderes... es beschäftigt Sie etwas ... das sehe ich deutlich... verheimlichen Sie es mir nicht, wir sind doch alte Freunde.«
»Aber wirklich, es ist durchaus nichts, wie kommen Sie nur darauf?«
»Um so besser, meine Gnädige, um so besser,« sagte Don Gabriel diskret. »Ich hingegen könnte Ihnen von großen Schmerzen und seltsamen Dingen erzählen.«
»Bezieht sich's auf Ihre Verwandte?« fragte Asis neugierig; zwei- oder dreimal schon hatte er ihr in vertraulicher Unterhaltung gewisse Einzelheiten aus seinem Leben berichtet.
»Ja, ich kann's Ihnen ruhig sagen, Sie wissen ja, wieviel darüber geklatscht wird.«
Pardo nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Man glaubt allgemein, die Ärmste hege eine unüberwindliche Abneigung gegen mich und sei nur deshalb ins Kloster gegangen. Aber das ist nicht wahr; ich glaube sogar, daß sie mich unbewußt geliebt hat. Als sie mich kennen lernte, war sie bereits durch einen anderen Mann kompromittiert, einen Menschen, der gesellschaftlich so tief unter ihr stand, daß sie niemals an eine Verbindung mit ihm hätte denken können, und so glaubte das unglückliche Wesen, daß das Leben ihr nichts mehr zu bieten hätte, und daß es für sie nur eine Zuflucht gäbe: das Kloster. Ach, Asis, wenn Sie ahnten, was das für eine Tragödie ist! Es ist traurig, daß man nach solchen Erlebnissen noch imstande ist, das alte Leben wieder aufzunehmen, in Gesellschaften zu gehen, zu scherzen, zu lachen und Gefallen an den Frauen zu finden – wie zum Beispiel ich an Ihnen ... Und daß ich kein lästiger Verehrer, sondern ein wahrhaft treuer Freund bin, das wissen Sie.«
Asis hörte die Stimme des Obersten, und in ihren Ohren summte es: »Vertraue dich ihm an, bitte ihn um seinen Rat... Originelle Ideen hast du ... Das wäre sehr unklug, aber doch begreiflich! ... Gefahr ist nicht dabei, und für dich wäre es eine Erleichterung. – Hast du kein Vertrauen zu ihm? – Also vorwärts, los! Glaubst du nicht, daß er über deine Unbesonnenheit Schweigen beobachten wird? Und er hat ja doch selbst die Brieftasche aufgehoben!«
Während Asis sich das alles in ihrem Innern überlegte, sagte sie laut:
»Also das junge Mädchen liebte sie, ohne sich dessen bewußt zu sein? Das ist ja höchst merkwürdig! Und wie erklären Sie sich das?«
»Ach, meine liebe Asis, ich habe längst darauf verzichtet, derartige Dinge zu erklären. Für Herzenswunden gibt's eben keine Erklärung; dafür birgt unser Inneres zu viel Unerforschtes, zu viel Widersprüche. Jede Neigung, Liebe oder Leidenschaft gibt Veranlassung zu allerhand Extravaganzen. Zu diesen Launen und Verirrungen kommen dann noch die verschrobenen Urteile und Ansichten der Gesellschaft, und so ist's kein Wunder, daß die psychologischen Probleme fast unlösbar werden. Die Gesellschaft ...«
»Nun sind Sie wieder in Ihrem Fahrwasser, Sie schieben doch auch immer alle Schuld auf die Gesellschaft,« unterbrach ihn Asis heftig; »die Ärmste muß wirklich kräftige Schultern haben, um das alles zu tragen.«
»Aber so hören Sie mich doch, bitte, einen Augenblick ruhig an. Für diese ganze Tragödie mache ich in der Tat nur die Gesellschaft verantwortlich, und nur sie allein. Weil sie allem, was nur natürlich ist, eine viel zu große Bedeutung beilegt und die Nebensachen zu Hauptsachen macht. Aber ich will jetzt schweigen, denn ich möchte Sie nicht chokieren.«
»Aber mein bester Freund, Sie reizen meine Neugierde ... Man kann alles sagen, es kommt nur darauf an, wie. Ich werde nicht chokiert sein, ich verspreche es Ihnen.«
»Also schön. – Aber wo war ich denn eigentlich stehen geblieben? Wissen Sie's noch?«
»Sie behaupteten, daß die Gesellschaft die Nebensachen zu Hauptsachen mache ... ich halte das für falsch ...«
»So? ich möchte Ihnen das Gegenteil beweisen. Ich nenne Nebensachen all das, was in derartigen Fällen die Hauptrolle zu spielen pflegt. Und Sie?«
Asis antwortete nicht, da in demselben Augenblick ein halbwüchsiger Jüngling pfeifend vorbeischlenderte und verschmitzt zu ihnen hinüberblinzelte. Als er verschwunden war, sagte sie: »Ich bin anderer Ansicht.«
»Werden Sie auch nicht empört sein, wenn ich mich klar und deutlich ausdrücke?«
Man hätte diese Unterhaltung leicht für ein Liebesgespräch halten können. Und wer weiß, ob sie ohne die verhängnisvolle Brieftasche nicht wirklich noch dazu geworden wäre!
»Nein, nein, ich verspreche es Ihnen! Und nun wollen wir offen, wie zwei gute Kameraden, miteinander reden.«
»Also bleiben wir bei der Freundschaft!«
»Gern. Aber dann dürfen Sie mich auch nicht unterbrechen, wenn meine Zunge mal mit mir durchgehen sollte ... Und das ist sehr leicht möglich. Also kurz und gut: ich nenne eine Nebensache, was die anderen eine große Sünde nennen. Soll ich mich jetzt noch klarer ausdrücken?«
»Nein, nein, genug,« rief Asis laut. »Aber bitte, sagen Sie mir jetzt, was Sie die Hauptsache nennen!«
»Etwas, das selten und darum doppelt wertvoll ist: aufrichtige Liebe und Neigung zweier Menschen füreinander. Wie denken sie darüber?«
»Alle Achtung!« rief die also Angeredete erstaunt aus.
»Ich will Ihnen meine Theorie näher erklären ... Ein Exempel statuieren, wie der Priester sagen würde. Stellen sie sich einmal vor, wir wären statt im Prado in Pierra de Campos, zwei Meilen von einem kleinen Dörfchen entfernt; ich wäre ein roher Patron und machte von der günstigen Gelegenheit Gebrauch, um es Ihnen gegenüber an dem schuldigen Respekt fehlen zu lassen ... Würde es darum zwei Minuten später zwischen uns eine Fessel geben, die es zwei Minuten früher noch nicht gab? Nein, meine Gnädige. Es wäre genau so, als wenn sie einen Moment gestrauchelt wären, um gleich darauf mit um so größerer Vorsicht zu gehen. Und damit wäre die ganze Sache aus.«
»Wäre das geschehen, so würden Sie mir von dem Moment an furchtbar antipathisch und verhaßt sein.«
»Möglich. Aber um Ihnen das Beispiel ganz klar zu machen, müssen Sie mir von vornherein verzeihen, wenn ich allerhand erörtere, was man »shoking« zu nennen pflegt. Meine Gnädige, glauben Sie nur ja nicht, daß ich meine Macht in dieser Weise mißbrauchen werde, das wäre nicht der richtige Weg. Von einer Gewalttätigkeit kann nicht die Rede sein, höchstens – auf moralischem Gebiet, falls ich geschickt genug bin, einen Moment der Schwäche bei Ihnen hervorzurufen.«
Glücklicherweise war es dunkel, und Asis weit genug von der Laterne entfernt, um ihre Erregung vor den Augen des Obersten zu verbergen. – »Er weiß es, er weiß es!« wiederholte sie unaufhörlich und rief dann plötzlich mit veränderter Stimme aus:
»Wie entsetzlich, Don Gabriel!«
»Was ist entsetzlich? Das, was Sie entsetzlich finden, liebste Asis, erscheint keinem der Herren so, die mit Ihnen verkehren und Sie hoch schätzen: so zum Beispiel dem Marquis von Vuelva mit seinen strengen Prinzipien ... Ihrem so liebenswürdigen, jovialen Vater ... mir und allen anderen ... Sie sind über jeden Zweifel erhaben, und so würde sich auch niemand über eine Bagatelle wundern. Wo es sich aber um eine Frau handelt, wird bei dem geringsten Anlaß ein Teufelslärm gemacht, als brenne Madrid an allen Enden. Und wenn sie einen Fehltritt tut, so wittert man ihn sofort und entreißt ihr das Geständnis mit der größten Schlauheit. Entweder der Verführer heiratet sie, oder man reiht sie zeitlebens in die Kategorie der galanten Frauen ein. Und wollte sie nach diesem Fehltritt auch das Leben einer Nonne führen – sie ist gefallen, und es kümmert sich kein Mensch mehr um sie. Schöne Logik! Ein unschuldiges Mädchen, das seiner Jugend, seiner Unerfahrenheit und seinen natürlichen Trieben zum Opfer fällt, wird in ein Kloster gesteckt, weil es für sie keinen anderen Ausweg mehr gibt. Freundin Asis, das sind Dummheiten!«
Während der Oberst diese Worte sprach, wurden in ihrer Phantasie die Platanen des Gartens zu einem dichten Wald, die Akaziendüfte zu dem würzigen Geruch der Krauseminze, die am Meilenstein wuchs, und das ferne Geräusch der Stadt zum wüsten Lärm des Jahrmarkts. Und vor ihrem geistigen Auge erschien ein kleines, am Ufer des Manzanares gelegenes Häuschen, eine enge, niedere Stube, ein hartes Bett und eine umgegossene Tasse Tee.
»Dummheiten!« fuhr Don Gabriel fort, ohne sich im geringsten um Asis' Erregung zu kümmern, »die man meist allzu teuer bezahlt. Und dazu kommt noch, daß eine wirklich vornehme Frau sich selbst nach einem einzigen unbesonnenen Augenblick ihr ganzes Leben lang für verächtlich und befleckt hält. Und da sie den Mann, dem ihre Neigung gehört, nicht heiraten kann, ist sie verdammt, entweder Nonne zu werden, ohne sich zu diesem Beruf hingezogen zu fühlen, oder eine liebeleere Ehe einzugehen.«
Und während er voller Bitterkeit diese Worte murmelte, sah er im Geist ein bleiches Antlitz mit dunklen Augen, von engen Mauern umgeben: das Mädchen, das er mehr als alles auf der Welt geliebt.
»Pardo, Sie sind furchtbar, wollen Sie nun gar die gleiche Moral für beide Geschlechter predigen?«
»Meine liebe Asis, nur keine Gemeinplätze. Ja, ich halte es für verwerflich, euch gewisser Dinge wegen, die man uns nicht zum Vorwurf macht, schonungslos zu verdammen.«
»Und das Gewissen, mein Herr? Und Gott?«
Asis betonte diese Worte mit einer gewissen Feierlichkeit und Strenge, hinter der sie ihre große Befriedigung zu verbergen suchte, sie begann die Sophismen des Obersten, aus denen klar hervorging, daß die Leidenschaften den Verstand trüben, allmählich richtig und vernünftig zu finden.
»Das Gewissen! Gott!« rief er aus, ihren pathetischen Ton nachahmend. »Schon wieder ein anderes Register – schön, also wollen wir das jetzt ziehen. Bei den Gläubigen ist die Gewissensfrage ganz unabhängig vom Geschlecht. Wenn Sie mich auch für einen Ketzer halten, so habe ich doch die Lehren des Katechismus noch nicht vergessen; ich kann Ihnen die zehn Gebote fließend hersagen. ... Und ich bin überzeugt, wir beten genau so wie sie. Ich weiß auch, daß der Beichtvater Ihnen ebensogut Absolution erteilt wie uns. Der Diener Gottes verlangt von dem Beichtkind nur Reue und das Versprechen der Besserung; die Welt aber, noch strenger als Gott, verlangt absolute Vollkommenheit.«
»Nein, nein, da haben Sie unrecht, der Beichtvater nimmt's bei uns auch viel genauer als bei den Männern, denen er vieles durchgehen läßt,« erwiderte Asis, absichtlich falsche Behauptungen aufstellend, nur um das Vergnügen zu genießen, sie von ihm widerlegt zu sehen.
»Liebe Asis, wenn er das wirklich tut, so geschieht es nur aus Klugheit, damit wir dem Beichtstuhl nicht fernbleiben sollen. Im Grunde genommen wird Ihnen kein Beichtvater sagen, daß es für Sie keine Sünde mehr gibt, wohl aber, daß, abgesehen vom Urteil der Welt, die Sache an sich für beide Geschlechter die gleiche bleibt. So, jetzt müssen Sie mich von einer anderen Seite angreifen.«
»Ich?« stotterte Asis, die nicht die geringste Lust dazu verspürte.
»Wenn Sie mir mit dem Respekt und der Selbstachtung kommen, die sich ein jeder schuldig ist ...«
»Nun, was das anbetrifft, ...« entgegnete Asis zögernd.
»Ich will gern zugeben, daß solche Dinge eine Frau adeln, im Grunde hängt sie aber doch vom gesellschaftlichen Urteil ab. Eine Frau kommt sich selbst nach einem Fehltritt befleckt und unehrenhaft vor, weil man ihr von Kindheit an klar zu machen versucht hat, das sei das Niedrigste und Schlechteste und niemals wieder gut zu machen. Es sei wie die Hölle, aus der es kein Entrinnen gibt. Uns hingegen impft man das Gegenteil ein, daß es für einen Mann halbwegs eine Schande sei, keine Abenteuer erlebt zu haben, und daß man ihn albern finde, wenn er ihnen aus dem Wege geht, so daß dasselbe, was man von den Männern verlangt, die Frauen erniedrigt. Das sind ererbte Vorurteile, wie Spencer sagen würde. Und lassen Sie mich Ihnen noch einige weitere Beispiele nennen.«
»Nein, ich danke, Sie wollen mich wohl zu einer Gelehrten machen, jeden Tag pfropfen Sie mir die Ohren voll mit solchen Dingen.«
»Meiner Ansicht nach sinkt das, was ich in kleinen Liebeleien als nebensächlich erachte, bei großen Neigungen in ein Nichts zusammen.«
Asis lauschte, lauschte mit ganzer Seele, und es war ihr, als hätte ihr Freund noch nie so glückliche Momente gehabt, wie heute Abend, da er so klug und eindringlich zu ihr sprach. Die Worte des Obersten, die ihre anerzogenen Grundsätze geißelten, trafen sie wie gut gezielte Pfeile und entfachten in ihr ein Feuer, dem ihre alten vorgefaßten Meinungen und Grundsätze nicht standzuhalten vermochten. Es war, als fiele ihr eine Zentnerlast von der Brust, als trenne man sie von einem toten Körper ... Eine durch das Chloroform falscher Grundsätze hervorgerufene Paralyse des Gehirns mochte man diese pathologisch-moralische Erkrankung nennen.
»Das ist ein recht überspannter Mensch,« dachte die Operierte. »Mir lauter so dumme Dinge zu sagen! Aber aus seinem Munde spricht die Gerechtigkeit. Ist man denn gleich ein Verbrecher, wenn man einmal gesündigt hat? Mir bleibt immer noch Zeit, inne zu halten und nicht wieder in den alten Fehler zu verfallen. Seine Theorie ist, daß gewisse Dinge, die – ich weiß nicht wie – ohne eigene Initiative oder vorhergegangene Überlegung passieren, nicht für einen Makel angesehen werden dürfen, den man nie wieder los wird ... Selbst der unerbittliche Pater Urdax, ist darin nicht so streng, wie die hyperkritische Gesellschaft ... Ach, mein Gott! ... Ich bin, wie er, ich schiebe nun auch schon der Gesellschaft alle Schuld zu.«
Bei diesen Reflexionen empfand die junge Frau einen Kitzel in der Gegend der Augenbrauen, dann in der Nase... Hatschi! sie nieste laut und kräftig.
»Prost, das wird Ihnen wohltun,« rief ihr Freund aus, »an solch nächtliches Umherstreifen sind Sie nicht gewöhnt, stehen Sie auf, wir wollen nach Hause gehen.«
»Nein, die Nachtluft schadet mir nicht, diese Erkältung verdanke ich der Sonnenhitze.«
»Der Hitze?«
»Ja, gestern, das heißt vorgestern ... auf dem Wege zur Messe von Pasquales. Dorthin gehe ich jetzt regelmäßig, ob ich Migräne habe oder nicht ...«
»In jedem Falle hören Sie auf mich, wir wollen uns jetzt auf den Weg machen; ich möchte nicht, daß Sie noch krank werden und sich ein Wechselfieber holen, wie man es im Frühjahr in Madrid nur allzu häufig bekommt.«
»Nach Hause?«
»Ja, wir wollen langsam zurückgehen.«
Schweigend legten sie den Weg bis zu Asis' Haus zurück. Als Imperfekto öffnete, lud Asis ihren Freund ein, sich noch einen Augenblick bei ihr auszuruhen. Er dankte, und erklärte, daß er durchaus noch auf eine Stunde in den Klub müsse, um ein paar ausländische Zeitungen zu lesen und einen Freund zu sprechen. Pardo wünschte der jungen Frau mit einer formellen Verbeugung gute Nacht und eilte die Treppen hinunter. Der große Verächter der Moral führte, den Weg zum Klub langsam zurücklegend, unterwegs etwa folgendes Selbstgespräch:
»Ich habe mich in der jungen Witwe getäuscht; ich hielt sie für eine ehrbare, unantastbare Frau. Das Monogramm auf der Brieftasche habe ich mir leider nicht näher angesehen. Sollte es vielleicht? ... das muß ich herausbringen. In der Tat habe ich noch nie etwas Schlechtes über sie gehört, noch auch sie mit Menschen verkehren sehen, die ... Aber schließlich geschehen derartige Dinge häufig im Leben. Jeder treibt mal seinen Scherz, wenn ich bedenke, daß ich oft nahe daran war ... ihr in aller Form ... aber, du lieber Gott: von einem Fall kann ja doch nicht die Rede sein, höchstens von einem leichten Straucheln.«
Er setzte, in Gedanken versunken, seinen Weg fort, ohne den starken, betäubenden Duft der Akazien zu verspüren.
Den Nachmittag des folgenden Tages widmete Asis ihren Besuchspflichten, den langweiligsten, die der Verkehr in der Gesellschaft auferlegt, und denen sich selten jemand unterwirft, ohne über diesen lästigen Zwang laut oder im geheimen zu murren, weniger unbequem sind formelle Besuche, die sich schon an der Haustür erledigen lassen. Ja, wenn es überall so ginge, wie bei der Herzogin von Sahagun oder der Familie Torresnobles, dann ließe sich's ertragen! Schon bevor der Wagen hielt, nahm Asis die Visitenkarte mit der umgebogenen Ecke in die Hand und reichte sie dem herbeieilenden Portier, der liebenswürdig lächelnd die Karte in Empfang nahm und, nachdem er die übliche Frage an sie gerichtet: »Wohin befehlen die gnädige Frau jetzt?«, dem Kutscher die entsprechende Weisung erteilte. Die anderen Besuche hingegen gehörten nicht gerade zu den angenehmsten. Da mußte sie vor einer schmalen Haustür lange warten, bis sie endlich von dem mürrischen Portier die fatale Antwort erhielt: »Ich glaube, die gnädig« Frau war heute den ganzen Tag noch nicht aus. Im dritten Stock links, erste Tür.« Und dann der endlose Aufstieg, die unvermeidliche Kurzatmigkeit, die Unsicherheit auf den dunklen Wendeltreppen, der widerwärtige Küchengeruch, der verlegene Empfang, die zerzausten Kinder, die langweiligen Krankheitsgeschichten und der unangenehme Klatsch. Innerlich verwünschte Asis derartige Besuche, während sie seufzend die Liste studierte: »Ach, nun fehlt noch die Witwe Pardannas, Dr. Celas Mutter ... und Rita, Pardos Schwester. Und das ist sehr dringend, denn das Kind hat Diphtheritis gehabt ...«
Asis kehrte todmüde von ihrer Besuchstournee in ihre Wohnung zurück. Wie Gläubige oft, einer rasch aufwallenden Gewissensregung folgend, drei Rosenkränze und drei Vaterunser beten, so fühlte Asis zuweilen das dringende Bedürfnis, sich wenigstens der Hälfte ihrer Verpflichtungen zu entledigen. Anderseits war sie fester als je entschlossen, die Unregelmäßigkeiten, die sie sich hatte zu schulden kommen lassen, auf jede nur denkbare Weise wieder gut zu machen. Oberst Pardo, hatte recht; im Grunde genommen war ihr Vergehen gar nicht so unerhört, aber wenn es in die Öffentlichkeit drang, ja dann! Sie mußte um jeden Preis den Skandal vermeiden und alle üblen Nachreden im Keim ersticken. Damit war die Sache erledigt, und sie konnte es mit ruhigem Gewissen tun, denn ihr Herz war dabei nicht beteiligt. »Wenn mir zum Beispiel jemand sagen würde,« überlegte sie sich in ihrem Innern, »Pacheco sei heute in seine Heimat zurückgekehrt und scheine sich dort mit einem reichen Mädchen verloben zu wollen, so wäre mir das ganz gleichgültig, und ich würde ihm keine Träne nachweinen. Ich würde sogar Gott danken, ihn auf diese Weise los zu werden. Und schlimmstenfalls: wenn er nicht geht, so werde ich gehen. Denn ich verreise im Sommer ohnehin, und so wird es eben diesmal etwas früher sein.« Wie verlockend allein schon der Gedanke, sich in die Bahn zu setzen! So beruhigte sie ihre Angst und mußte selbst darüber lachen, daß sie damals, als Diabla nach ihrer Rückkehr eine Frage an sie gerichtet, verlegen den Kopf abgewandt. Denn im Grunde genommen brauchte eine Witwe doch wirklich keinem Menschen über ihr Tun und Lassen Rechenschaft abzulegen.
Solche Gedanken kreuzten ihr Hirn, während sie die Treppe ihres Hauses hinaufstieg; nach dem heißen Tage hatte man das Gas noch nicht angezündet. Auf dem zweiten Absatz in einem dunklen Winkel, Gott im Himmel! stand ein Mann ... Pacheco! ...
Sie unterdrückte einen Schrei. Der Gaditano faßte heftig ihre beiden Hände:
»Wie geht es dir, mein Kind? Dreimal war ich hier, und jedesmal hast du dich verleugnen lassen. Einmal wenigstens mußt du zu Hause gewesen sein. Wenn du mich nicht mehr hier haben willst, so sage es mir und ich komme nicht mehr. Dann werde ich versuchen, dich auf der Promenade oder im Theater zu sehen. Aber mich von einem Dienstboten abweisen zu lassen, der mir lachend die Tür vor der Nase zuwirft, dafür danke ich!«
»Aber wenn ich doch ...« entgegnete sie stotternd.
»Kind, hast du dich denn etwa nicht vor mir verleugnen lassen?«
»Nein, vor dir nicht,« entgegnete Asis rasch in aufrichtigem Tone; in diesem Augenblick glaubte sie selbst daran.
»Dann komme ich heute abend um neun Uhr. Ja?«
Die junge Frau machte eine hastige Bewegung.
»Das ist dir wohl nicht recht? Willst du ausgehen? Sage mir die Wahrheit. Dann wirst du mich gleich los. Durch mich sollst du nicht die geringsten Unannehmlichkeiten haben.«
Asis zögerte: entscheidend für ihre definitive Antwort wurde ihr im Wagen gefaßter Entschluß, im geeigneten Augenblick ganz einfach heimlich abzureisen.
»Gut, also um neun.«
Pacheco zog sie an sich.
»Aber du gehst dann um zehn wieder fort, gelt?«
»Um zehn? Dann brauche ich ja gar nicht zu kommen, das lohnt sich nicht. Du hast gewiß etwas vor, sage es mir aufrichtig.« »Nein, ich habe nichts vor. ... Es ist nur wegen der Dienstboten, ich gebe den Leuten nicht gern ein Schauspiel.«
»O, dein Diener ist ein Schafskopf – aber das Mädchen ist zu klug, das kannst du inzwischen fortschicken.«
»Also auf Wiedersehen.«
Pacheco nahm ihr, bevor er verschwand, den Hut ab und drückte sein Gesicht in ihr Haar; sie ordnete es mit zitternden Fingern, bevor sie das Mädchen rief.
Verlegen und zerstreut legte sie ihre Sachen ab, ein Stück hierhin, ein anderes dorthin werfend. Diabla hob langsam alles auf, nicht ohne die Kleidungsstücke mit einer Gründlichkeit zu reinigen und auszuklopfen, die Asis etwas unnötig erschien. Weshalb ihm nicht energisch die Bitte abschlagen? Das wäre viel besser. Aber schließlich ... Sie wandte sich wiederum an das Mädchen:
»Diabla, du mußt den großen Reisekoffer nachsehen, ich glaube, er ist nicht ganz in Ordnung. Und denke daran, daß du morgen zu Madame Armandina gehst, die Hüte werden wohl fertig sein. Und wenn nicht, so sage, daß es eilt. Ich will verreisen.«
»Nach Vigo, gnädige Frau?« fragte Diabla mit gut gespielter Unbefangenheit.
»Und dann geh mal zum Schuhmacher ... und hole mir auf dem Platz del Angel den Fächer ab.«
Indem sie diese Befehle erteilte, beruhigte sie sich ein wenig. Nein, es war unmöglich gewesen, ihm seine Bitte abzuschlagen. Wäre er nicht heute gekommen, dann eben morgen. ... Es wäre also nur ein Aufschub gewesen.
Sie aß wenig; die Erregung hatte ihr den Appetit geraubt. Unzählige Male warf sie einen Blick auf die Uhr, die acht schlug, als sie sich vom Tisch erhob.
»Höre, Diabla ...«
Sie stockte. Die Zunge klebte ihr am Gaumen.
»Höre, Kind ... möchtest du ... möchtest du heute abend deine Schwester besuchen?«
»Gerne, gnädige Frau, gerne! Aber sie wohnt sehr weit, für den Hin- und Rückweg brauche ich ...«
»Das tut nichts, ich zahle dir die Pferdebahn oder einen Fiaker. Du kannst dann gegen zwölf Uhr zurückkommen. Man wird dir schon aufmachen. Iß nur recht schnell! und hör mal! Hat deine Schwester nicht ein Töchterchen von sechs Jahren?«
»Von acht, gnädige Frau, von acht, und einen Buben von dreizehn Monaten; der zahnt eben.«
»Gut, dem Mädchen kannst du Marujitas Kleidchen mitnehmen, das wir neulich erst hergerichtet haben.«
»Gott vergelt's Ihnen, gnädige Frau – und vielleicht auch den weißen Hut mit dem Vogel?«
»Ja, den auch, – und nun geh!«
Der weiße Hut verfehlte seine Wirkung nicht. Seit mehreren Tagen schon glaubte Asis bemerkt zu haben, daß Diabla die Keckheit hatte, in ironischem Ton mit ihr zu sprechen. Aber nach diesen noblen Geschenken konnte sie in dem hübschen Gesicht ihrer Jungfer nur noch eitel Freude und Dankbarkeit entdecken. Diabla aß in drei Minuten und präsentierte sich bald darauf, schmuck und hübsch gekleidet, mit gebranntem Haar und neuen Stiefeln, vor ihrer Herrin.
»Geh jetzt, es ist schon spät, bald dreiviertel neun.«
»Nein, gnädige Frau, erst zwanzig Minuten nach acht. Ist noch etwas zu besorgen? wünschen die gnädige Frau noch etwas?«
»Nein, nichts. Geh nur. wie fein du dich gemacht hast, es ist wohl Besuch da?«
»Ja, ein Landsmann von uns.«
»Jetzt geh nur!«
Warum ging die verwünschte Diabla nun noch immer nicht? Das Ohr fest an die Tür gelegt, wartete Asis auf das Fortgehen ihrer Jungfer, sich in nervöser Ungeduld die Lippen wund beißend. Endlich hörte sie Schritte und lautes Gelächter aus der Küche. Die Tür wurde geöffnet ... Bautz ... Sie war ins Schloß gefallen. Gott sei Dank!
Nachdem Diabla fort war, schien es Asis, als wäre die ganze Wohnung in ein andachtsvolles Schweigen gehüllt. Sogar die Lampe im Salon verbreitete ein matteres, gedämpfteres Licht als sonst. Es war gegen neun Uhr; in zwanzig Minuten würde Pacheco erscheinen. Und bald darauf hörte sie ein schüchternes Klingeln, als fürchte selbst die Glocke, indiskret zu sein.
Pacheco stand in seinem braunen Mantel unschlüssig vor der Tür und trat erst ein, als Asis zu ihm sagte:
»Bitte, näher.«
Er schlug den Mantel zurück und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Die ersten Momente ihrer Begegnungen waren stets formell; sie reichten sich steif die Hand. Der Grund dieser verlegenen Zurückhaltung war ihnen selbst nicht recht klar. Dennoch merkte der Gaditano an dem Benehmen der jungen Frau, die sich an seiner Seite in einen Sessel niederließ, daß sie ihn kälter und zurückhaltender empfing als gewöhnlich; und er murmelte nach kurzem Stillschweigen:
»Was hast du? Du bist so merkwürdig ...«
»Was sollte ich wohl haben? Das kommt dir nur so vor.«
»Ach was, mir machst du nichts weis. In Frauenangelegenheiten bin ich erfahren. Du hattest irgend etwas vor heute abend.«
»Nein, du kannst mir wirklich glauben,« entgegnete Asis zärtlich.
»Gut, gut, ich glaube dir. Über mein Kommen bist du doch nicht entzückt; im Gegenteil, du wünschest mich zu allen Teufeln.«
Bei diesen Worten strich er mit seinen gepflegten Händen über Asis' schönes, reiches Haar, das er wohlgefällig betrachtete.
»Wenn ich dich nicht hatte haben wollen, hätte ich es dir wohl gesagt.«
»So soll es auch sein ... Immer das Herz auf der Zunge. Aber manchmal scheint es mir, als wenn du nicht aufrichtig wärst, weißt du? Ich hab's ja selbst so gemacht, mit unzähligen Frauen. ... Aber schwer ist's immer, einem Menschen, sei's Mann oder Frau, direkt ins Gesicht zu lügen. Mach du es nicht ebenso mit mir, und erwecke vor allen Dingen keine Illusionen in mir.«
»Wer weiß, ob es dir nicht eines Tages mit mir ebenso ergehen wird?« sagte Asis fragend.
Die einzige Antwort des Südländers war eine feurige, leidenschaftliche Umarmung und ein theatralisches: »Gott gebe es!« so daß es die junge Frau wie ein elektrischer Schlag durchzuckte.
»Warum sagst du: ›Gott gebe es‹?« fragte sie, den Ton des Andalusiers nachahmend.
»Weil dies über meine Kraft geht. Ich bin noch nie so gewesen, wie jetzt. Du hast mir einen Zaubertrank eingegeben, den ich nie zuvor gekannt, seitdem ich dich gesehen, bin ich wie umgewandelt. Du hast mich elend und wahnsinnig gemacht; du bist eine Hexe, eine Sirene.«
Asis schwieg bestürzt, ohne zu wissen, was sie auf diesen leidenschaftlichen Ausbruch erwidern sollte. Da kam ihr ein unerwarteter Zwischenfall zu Hilfe: von der Straße her tönte eine fürchterliche Musik herauf.
»Das ganze Stadtviertel feiert uns schon mit Musik,« rief Pacheco, indem er sich vom Sofa erhob und ans Fenster trat. »Komm, hör« Kind, die schlagen ihre Trommeln beinahe entzwei.«
Dem Südländer war dieser rasche Übergang von leidenschaftlich-zärtlichen Ergüssen zu der Ernüchterung, die solch prosaische Straßenszenen hervorrufen, nicht unsympathisch, denn so jähe Wechsel entsprachen seinem ganzen Naturell.
»Komm, sieh,« fuhr er fort. »Ich stelle dir einen Sessel hierher, und dann wollen wir uns setzen.« Pacheco rückte bei diesen Worten einen Stuhl ans Fenster und ließ sich darauf nieder.
»Du bist gut!« rief Asis lachend aus, »hast du nicht eben gesagt, ich sollte mich hinsetzen?«
»Ja, das sollst du auch!« entgegnete ihr Freund, schlang den Arm um ihre Taille und zog die Widerstrebende auf sein Knie. Pacheco begann sie zu schaukeln wie ein kleines Kind, und Ais legte, um sich eine Stütze zu schaffen, die Arme um seinen Hals und den Kopf an seine Schulter. Ein leichter Luftzug, mit dem einzelne abgebrochene Töne und süße Akaziendüfte hereindrangen, kräuselte die Fenstervorhänge. Ihre Stimmen sanken zum Flüsterton herab: Asis richtete tausend Fragen an Pacheco und wollte unzählige Details wissen:
Was er treibe? Woher er stamme? Seine Familie? Sein Beruf? Seine Neigungen? Sein Vorleben? Seine Freundschaften? Und sein richtiges Alter auf Monat, Tag und Stunde?
»Aber dann bin ich ja älter als du!« murmelte sie, nachdem der Gaditano sein Alter genannt hatte.
»Ah, bah! Das kann höchstens ein halbes Jahr oder ein Jahr sein!«
»Nein, nein, zwei wenigstens!«
»Meinetwegen, aber Männer sind immer älter, denn wir leben und ihr nicht. Ich zum Beispiel, ich habe für zehn gelebt. Du kannst dir nichts denken, was ich nicht durchgemacht hätte, wenn du das alles wüßtest!«
Asis empfand eine brennende Neugierde und zugleich heftigen Zorn.
»Na, ich glaub's schon, daß du ein toller Bursche bist!«
»Ich? Nein, so schlimm ist's nicht. Ich habe Hunderten von Frauen den Hof gemacht, und jetzt scheint es mir, als hätte ich nicht eine geliebt. Ich habe alles kennen gelernt, und bin doch nicht schlecht. Wenn man mir Gelegenheit gibt, mache ich Gebrauch davon. Aber das ist ja auch begreiflich, meinst du nicht?«
»Läßt du dich denn auch zu etwas Unehrenhaftem verleiten?«
Der Gaditano fuhr auf, wie von einer Tarantel gestochen.
»Aber, Kind, was fragst du mich da für Dinge? Wofür hältst du mich? Bei uns zu Lande nennt man Dummheiten noch keine Verbrechen. ... Ich habe eine Unglückliche ... der ich nicht den Saum des Kleides hätte berühren dürfen ... enttäuscht ... Das ist nicht der Rede wert. ... Mich hat der Teufel noch nie packen können. ... Ich habe gespielt... getrunken ... geliebt ... Das ist wahr. Aber ich gestehe dir das alles ja auch ein; von solchen Sachen verstehst du eben nichts.«
»Schlimm genug,« rief Asis, sich entsetzt von ihm wendend, »was bist du doch für ein großer Held!«
»Das kannst du nicht beurteilen! Ich möchte wohl wissen, warum Gott mich in die Welt gesetzt hat. Denn ich bin ein Schwindler, ein Faulenzer und ein Müßiggänger ersten Ranges. Ich leiste nichts und habe auch gar keine Lust, etwas zu leisten. Wozu? Es war meines Vaters sehnlichster Wunsch, mich die politische Karriere einschlagen zu sehen. Aber ich danke dafür, im Abgeordnetenhause den Popanz zu spielen! Ich im Abgeordnetenhause! Nicht, als ob ich mich davor fürchtete! Mich könnten zwanzig Abgeordnetenhäuser nicht schrecken ... Und glaube mir ... ich gehe energisch auf jedes Ziel los, das ich erreichen will. Aber offen gestanden, habe ich mir immer nur da große Mühe gegeben, wo es sich um Frauen handelte. Ich bin weder dumm noch träge, und könnte, wenn ich wollte, sehr viel leisten. Aber ich finde all die Dinge, für die die Menschen sich so abmühen, völlig wertlos. Wo es sich aber um eine Frau handelt, wie du eine ...«
Diese letzten Worte flüsterte er ihr, sie an sich ziehend, zärtlich ins Ohr.
»Das einzige, was uns das Leben wert erscheinen läßt, ist die Frau: eine Frau verehren, lieben, anbeten ... das ist schön ... alles andere ...«
»Aber das sind ja furchtbare Grundsätze,« erwiderte Asis, indem sie sich heftig von ihm losmachte. »Schämst du dich nicht, ein so unnützer, aufdringlicher Mensch, eine solche Null zu sein?«
»Und was kümmert dich das, mein Herz? Bin ich unnütz, wenn ich dich liebe? Oder hast du dir etwa vorgenommen, dich nur noch in Männer zu verlieben, die das Ministerportefeuille in der Tasche tragen? Sieh, wenn du dir die Mühe gibst, aus mir einen berühmten Mann zu machen, so will ich dem Vaterland ruhmreiche Tage verschaffen! Du wirst sehen, was für Register ich dann aufziehe. Die anderen spannen alle Segel auf, um das zu erreichen. Ich würde einfach den günstigen Moment abwarten, – das ist der ganze Unterschied.«
Solche läppischen und aufgeblasenen Redensarten konnten nur lächerlich wirken, und Asis lachte so aus vollem Halse, daß sie zu husten anfing.
»Um Gottes willen, du wirst dich erkältet haben,« rief der Gaditano erschreckt aus. »Tu mir den Gefallen und nimm ein Tuch um.«
»Aber das tue ich nie, niemals, ich bin nicht empfindlich.«
»So tue es heut, mir zu Liebe, wenn du krank würdest ... ich überlebte es nicht.«
Halb tot vor Lachen, machte sich Asis aus den Armen ihres Verehrers los und lief in ihr Schlafzimmer, wo sie, im Dunkeln tappend, nach ihrem Spitzentuch suchte. Sie stand mit dem Rücken gegen das aus dem Salon hereindringende Licht, und fühlte sich plötzlich von zwei kräftigen Armen umschlungen. Eine Flut von stürmischen Zärtlichkeiten und die mit erregter stimme geflüsterten Worte:
»Ich liebe dich, ich bete dich an!« klangen an ihr Ohr.
Es war, als gehörte die stimme nicht Pacheco. Sie klang so zitternd und bewegt, wie die eines Menschen, der eine große Erregung gewaltsam unterdrückt.
Erschreckt wandte Asis sich um.
»Diego,« murmelte sie, ihn zum erstenmal beim Vornamen nennend.
»Sage, mein Diego, mein geliebter Diego,« rief der Gaditano leidenschaftlich aus, sie noch inniger umschlingend.
»Aber das ist ja Wahnsinn, du bist wie ein Schauspieler. wirklich zu lächerlich!«
»Ach, einmal nur, ein einziges Mal sage ›geliebter Diego‹,« rief er flehend aus, während er sie immer fester an sich drückte. »Du bist ein Gletscher! Und all die anderen Frauen, die so ganz anders sind wie du! Sie existieren für mich nicht mehr.«
»Nun sehe ich doch,« rief Asis aus, von neuem in lautes Gelächter ausbrechend, »was für ein Narr du bist. Man kann gar nicht ernst bleiben dir gegenüber, wenn man bedenkt, daß du Hunderte von Frauen geliebt hast... und jetzt benimmst du dich wie Petrarca zu seiner Laura ... Nichts mehr von mir ... Laß mich!«
»Du verstehst mich nicht, und doch ist alles, was ich dir sage, so wahr, wie ich jetzt deine Hand fasse. Ich habe eine Menge Dummheiten gemacht, das gebe ich zu; aber nie ist es mir so ergangen, wie jetzt. Du kannst mir's glauben, wenn ich all meinen früheren Geliebten jetzt begegnete – ich würde sie nicht mehr erkennen. Dich aber könnte ich im Dunkeln malen, wenn ich ein Maler wäre, so genau kenne ich dich. Und würde dich auch in fünfzig Jahren noch zwischen hundert alten Frauen erkennen. All die anderen Geschichten habe ich aus Eitelkeit, aus Laune, zum Zeitvertreib angefangen. ... Aber einen Winkel hier innen habe ich mir bewahrt, in den bisher kein Mensch eindringen durfte. Und den goldenen Schlüssel dazu hebe ich für dich auf, mein Lieb. Zweifelst du daran? Sieh, ich will es dir beweisen.«
Bei diesen Worten zog Pacheco Asis in den Salon, warf sich auf den Diwan und zwang sie, ihre Hand auf sein Herz zu legen. Asis fühlte ein leises Schlagen, wie das eines Pendels.
Pacheco hatte die Augen geschlossen.
»Jetzt paß gut auf, Kind', jetzt denke ich an andere Frauen.«
»Es klopft nicht sehr stark.«
»Nun warte einen Augenblick, ich denke jetzt an meine letzte Geliebte, ein Mädchen mit rötlichem Haar und der feinsten Taille, die ich je umschlang. Siehst du, wie ruhig der Vogel bleibt? – Aber jetzt sage du mir, wenn du kannst, nur ein liebes Wort, und du wirst sehen ...«
»Geliebter Diego,« flüsterte Asis ihm mit sanfter Stimme ins Ohr.
Sie fühlte, wie sein Herz heftig zu schlagen und einen wilden Tanz aufzuführen begann. Es waren die Sprünge eines gefesselten Vogels, der die Stäbe seines Käfigs zu sprengen versucht ... Der Südländer öffnete seine blauen Augen halb. Sein dunkler Teint war um einen Schatten bleicher geworden. Mit einem wilden Satz sprang er auf und trat auf den Balkon hinaus, wie, um nach einer physischen und seelischen Erschöpfung in der frischen Luft neue Kraft zu gewinnen. Asis folgte ihm besorgt und umschlang ihn mit ihren Armen.
»Jetzt siehst du, wie albern ich bin,« murmelte er, sich zu ihr wendend.
»Fehlt dir etwas?«
»Nein, nichts ...«
Der Gaditano trat vom Balkon in das Zimmer zurück, setzte sich auf einen niedrigen Sessel und bat Asis mit einem stummen Blick, sich neben ihm auf dem Stuhl niederzulassen. Er legte seinen Kopf in ihren Schoß.
»Nur zwei Worte von deinen Lippen ... Lache nicht, mein Kind ... mir ist sehr ernst zumute ... du hast mir so den Kopf verdreht, daß ich imstande wäre, die größte Dummheit zu begehen. Laß mich zu deinen Füßen ruhen.«
Bevor es halb zwölf geschlagen, hatte Pacheco das Haus verlassen. Diabla war noch nicht zurückgekehrt. Unten angelangt, warf der Gaditano wie gewöhnlich noch einen letzten Blick zu Asis' Fenstern hinauf, vermochte aber nur undeutlich eine weiße Gestalt auf dem Balkon zu erkennen. Asis wollte sich ihre erhitzten Wangen noch in der frischen Abendluft kühlen, und langsam, ganz allmählich, begann ihre Erregung zu schwinden. Wie ein Schiffbrüchiger, der beim Untergang des Schiffes voller Wonne nach dem Rettungsgürtel greift, klammerte sich Asis befriedigt an den Gedanken, daß ein letzter Rest von Vernunft sie zurückgehalten habe, seinen unsinnigen Bitten nachzugeben.
»Das wird morgen etwas Schönes werden. Die Nachbarn, der Portier, der Diener, der Nachtwächter und, weiß der Himmel, wer sonst noch alles! Ach Gott, mein Gott, die Seekrankheit von der Kirmes werde ich nie wieder los! Und jetzt habe ich nicht einmal ein Mittel hier, das mich heilen könnte. Die Seekrankheit! Ach, warum nicht gar! Unsinn, – Seekrankheit, Sonnenstich, alles Unsinn! Die Sache ist einfach die: er gefällt mir mit jedem Tage besser und macht mich mit seinem Geschwätz ganz dumm und verwirrt. Er behauptet, ich hätte ihm einen Liebestrank eingegeben. ... Ich aber sage, daß es mir noch viel schlimmer ergeht als ihm. Und nirgends ... nirgends ein Ausweg. Wenn er fort ist, kann ich mir in Ruhe und Vernunft noch so viel überlegen; jedesmal, wenn ich ihn dann wiedersehe, ist alle Überlegung dahin.«
War Asis erst einmal bei diesem Kapitel angelangt, so wußte sie tausend Kleinigkeiten anzuführen, die zusammen ein hübsches Bild ihres Verehrers boten: seine leidenschaftliche Liebe und Zärtlichkeit, die Sorgfalt, mit der er sie umgab, seine liebenswürdige Persönlichkeit, seine guten Manieren, die ihn ungezwungen, nicht allzu frei, aber auch nicht wie einen schüchternen Kleinstädter erscheinen ließen. Diese eigenartige Mischung von spontaner Leidenschaft und ritterlicher Höflichkeit, diese vornehmen, etwas absonderlichen Manieren, diese elegante Erscheinung, das alles wirkte seltsam auf Asis und rechtfertigte ihre Schwäche und ihre mit jedem Tage wachsende Neigung. Gleichzeitig aber konnte sie nicht umhin, sich wegen anderer Dinge bitter zu tadeln.
Sie brauchte sich nichts vorzumachen. Sie hatte es keineswegs mit einem hervorragenden, nicht einmal mit einem guten Menschen zu tun. Er war ein Spaßvogel, ein leichtsinniger Don Juan! – Wenn er auch stets behauptet, daß nur ich. ... Das ist Unsinn. ... Unaufrichtigkeit, die jedem Lebemann zur zweiten Natur geworden ist. ... Wenn er erst um die nächste Straßenecke gebogen ist, weiß er schon nicht mehr, was er mir gesagt hat. Diese Andalusier sind die geborenen Schauspieler. »Ruhig Blut, Asis, ruhig Blut! Gegen solches Wechselfieber, mein Kind, gibt es nur ein Mittel: ... Vigo ... dreimal am Tage, morgens, mittags und abends ... Vigo ... vier Monate lang ... Vigo ... Geliebte Bucht von Vigo, wann werde ich dich wiedersehen?« Die kühle Abendluft raunte Asis, wie um sich über sie lustig zu machen, immer wieder und wieder die Worte der Zigeunerin ins Ohr: »Es gibt einen Menschen, der in Sie verliebt ist; eine Reise steht Ihnen bevor.«
Die Marquise d'Andrade und ihre Jungfer hatten alle Hände voll zu tun mit dem Nachsehen der Koffer, Mäntel und Kleider, einer sehr langweiligen, aber vor der Abreise unvermeidlichen Beschäftigung. Dabei ist's immer, als hätte der Teufel die Hand im Spiel: jedesmal fehlen im letzten Augenblick die Kofferschlüssel. Selbst wenn man sie an einen ganz bestimmten Ort gelegt und sich gesagt hat: »Hier hinein tue ich die Schlüssel, nicht vergessen! – ich binde ein blaues Band daran,« so muß man sie im kritischen Moment dennoch immer suchen, und dann sind sie, hol's der Kuckuck, nirgends zu finden. Der Schlosser wird geholt, – er muß einen neuen machen.
Asis war unruhig und nervös. Die Reisevorbereitungen hatten sie mißlaunig gestimmt. Es ist aber auch gar zu schrecklich, diese Unordnung, dieser Wirrwarr! Und dabei weiß man nie, was man zurücklassen und was man mitnehmen soll. Man glaubt, den Regenmantel nicht zu brauchen, denn man ist ja mitten in den Hundstagen. Aber man muß doch immerhin an das unzuverlässige Klima denken, das in vierundzwanzig Stunden sechsundzwanzig verschiedene Temperaturen aufzuweisen hat. Und dann die Bälle und Sommerfeste, zu denen man Gesellschaftstoilette braucht! Nein, die letzte Stunde ist zum Verrücktwerden. Diabla hatte natürlich wieder vergessen, zur Armandina zu gehen und zu fragen, ob der Hut und das Kleidchen für das Kind fertig seien. Am Regenmantel waren auch immer noch dieselben Knöpfe, an denen man überall hängen blieb. Und Kampfer für den Pelz und Insektenpulver für den Teppich! Alles vergessen!
Ganz aus der Fassung gebracht, rannte Diabla hin und her, der Sturmflut von Ermahnungen, Anordnungen und Fragen ihrer Herrin so gut wie möglich standhaltend. Das Mädchen war ärgerlich. Diese verfrühte Abreise war auch zu fatal; nun mußten alle Vorbereitungen in größter Eile getroffen werden, und Diabla war gezwungen, ihr neues Perkalkleid und die Schnürstiefel im Stich zu lassen. Sie hatte geglaubt, sie würden frühestens Mitte Juni aufbrechen. Weshalb nur diese furchtbare Hetzjagd? Asis antwortete mit einem unterdrückten Seufzer, schwieg ein paar Minuten und begann dann erregt aus dem Toilettenzimmer in das Schlafzimmer, aus dem Schlafzimmer in den Salon und aus dem Salon in die Küche zu laufen, um Imperfekto ihre Befehle zu erteilen. Er hatte das Seidenpapier, den Bindfaden, die Reißnägel und die Watte vergessen. Imperfekto lief mit offenem Munde in blinder Hast hundertmal die Treppen auf und ab. Die Nägel waren zu dick, die Watte zu grau, – kurzum, es war ihr nichts recht. Eben hatte Asis den Diener wieder mit einem neuen Auftrag weggeschickt, als die Glocke ertönte und sie selbst die Tür öffnete, was sie sonst nie zu tun pflegte. Auge in Auge stand sie Diego gegenüber. Ihr erster Impuls war Erstaunen und schlecht verhehlter Ärger. Was sollte sie jetzt mit Pacheco anfangen? um halb elf Uhr morgens? Sie sah recht unordentlich aus, und hätte sich auch auf der einsamsten Insel nicht gern in diesem Aufzug gezeigt, mit ihrem zerrissenen Schlafrock, den alten Pantoffeln und der unkleidsamen Frisur. Ihre weißseidene Matinee hatte große Flecken und zeigte deutlich die Spuren eines Kampfes mit dem Koffer. Eine leichte Staubschicht bedeckte ihre Haut und ihre Augenlider, so daß sie stark blinzeln und von Zeit zu Zeit die Lippen mit der Zunge anfeuchten mußte, Pacheco hingegen stand in tadellosestem Anzug vor ihr: sein Oberhemd und seine Weste waren weiß wie frischgefallener Schnee, und eine wunderbare Nelke zierte sein Knopfloch. In der Hand trug er die Erklärung seines frühzeitigen Besuches: zwei dicke Bücher.
»Hier sind die versprochenen französischen Romane,« sagte er mit lauter stimme, nachdem sie sich begrüßt hatten, denn Asis machte ihm ein Zeichen, daß jemand im Nebenzimmer sei. »Wenn ich Sie störe, gehe ich gleich wieder. Wenn nicht, so möchte ich für zehn Minuten eintreten.«
»Bitte sehr ... in den Salon ... die anderen Räume sind heute unbewohnbar; ich will nicht, daß Sie sich über ihren Zustand entsetzen.«
Pacheco trat in den Salon. Aber noch bevor Asis die Tür zu dem Nebenzimmer schließen konnte, hatte er die geöffneten Koffer entdeckt.
»Ziehen Sie aus oder verreisen Sie?« fragte er mit ernster Stimme, mühsam seiner Erregung Herr werdend.
»Nein,« entgegnete Asis zögernd, »verreisen ... das nicht. Ich lege nur meine Wintersachen in Kampfer, wenn man sich nicht gegen die Motten schützt, fressen sie einem alles auf.«
Pacheco näherte sich der jungen Frau und sagte mit melancholischer Stimme:
»Mich belügst du nicht, das kann ich dir sagen, schon bevor ich hierher kam, wußte ich, daß du verreisen wirst. Du kennst mich nicht. Du hast geglaubt, du könntest mir etwas vormachen. Aber die Ideen sind deinem Köpfchen noch kaum entsprungen, dann kenne ich sie schon. Du möchtest dich mir gegenüber verstellen, aber das gelingt dir nicht.«
Asis gab sich nicht die Mühe, zu antworten, senkte nur den Blick und verzog den Mund.
»Ich nehme es dir auch nicht weiter übel. Du bist frei, zu gehen, wohin es dir beliebt. Aber das eine will ich wissen: warum fliehst du vor mir? Gestern hast du mir gesagt, du könntest mich heute nicht empfangen, da du zum Essen eingeladen seiest.«
Asis und Diego sahen sich um; die Türen waren geschlossen. Und dennoch hörte man deutlich Diablas geschäftiges Hin- und Hergehen, sie traten, wie auf ein gegebenes Zeichen, näher zueinander, um Gedanken auszutauschen, die das Herz erriet, noch bevor sie ausgesprochen.
»Sei vorsichtig. ... die Dienstboten. ... das ist ja Wahnsinn. ... so etwas habe ich noch nie erlebt. Ich weiß nicht mehr, was mit mir vorgeht. Ich flehe dich an ...«
»Aber ich weiß es. Glaubst du, daß ich nicht von jedem Schritt unterrichtet bin, den meine Königin macht? Ich bin überzeugt, daß niemand dir auch nur im geringsten etwas nachsagen wird. Ich am allerwenigsten. Nur um etwas bitte ich dich noch. Frühstücke heute mit mir, komm.«
»Du bist wohl von Sinnen! Still!«
»Aber so komm doch, ich gebe dir mein Wort, daß niemand etwas davon erfahren soll.«
»Aber wie denn? Wo?«
»Auf dem Lande. Komm nur, rasch, um so schneller wirst du mich wieder los. So verabschiedet man nur einen Verbrecher.«
Warum mußte sie ihm nachgeben, warum bei allem, was ihr heilig war, schwören, daß sie ihm folgen würde? Sie gehorchte den beiden Beweggründen, die, ohne daß sie sich dessen bewußt war, seit dem denkwürdigen Sonnenstich von S. Isidro, ihren ganzen Willen beherrschten: der schwäche, die sie jedesmal vor der Ausführung ihres einmal gefaßten Entschlusses zurückschrecken ließ, und der Empfindung, daß Pacheco bereits eine Macht über sie gewonnen, der sie sich nicht mehr entziehen konnte.
Asis' Versprechen vertrauend, ging Pacheco fort, da sie nicht gemeinsam das Haus verlassen wollten. Asis trat in ihr Zimmer, um sich umzukleiden. Diabla betrachtete sie mit der ihr eigenen spöttischen Neugierde, und richtete noch einige spitzfindige Fragen an sie, die sich auf die plötzliche Unterbrechung der Reisevorbereitungen bezogen.
»Soll ich den großen Koffer und die Taschen packen? Und wünschen die gnädige Frau, daß ich die Billetts löse?«
Wie sollte Asis all diese Fragen beantworten? Natürlich so kurz wie möglich und mit nicht geringem, nur mühsam verhaltenem Zorn.
Und tausend andere Kleinigkeiten trugen dazu bei, die junge Frau zur Verzweiflung zu bringen. Durch das Packen war nichts mehr zu finden: weder Handschuhe noch Hut, noch Schleier, und so mußten der kleine Koffer und die Hutschachtel wieder geöffnet werden. Die Schnalle löste sich von ihren Schuhen, an der Taille fehlte eine Öse, und als sie sich die Zähne putzen wollte, zerbrach die Flasche an der Marmorplatte ihres Waschtisches.
»Frühstücken gnädige Frau auswärts?« fragte die unverbesserliche Diabla.
»Ja, – bei Frau von Inzula.«
»Soll der Wagen die gnädige Frau abholen?«
»Nein, – aber du kannst dem Kutscher sagen, daß er um sieben Uhr anspannt.«
»Abends?«
»Ja, meinst du etwa morgens? Du kannst Dinge fragen!!!« ...
Diabla lachte hinter dem Rücken ihrer Herrin und bückte sich, um die Falten ihres Kleides in Ordnung zu bringen. Asis war wütend und trat ungeduldig mit dem Fuß auf. Den Fächer, den grauen Mantel, falls es kalt werden sollte, – das Taschentuch? wo war nur der Schleier wieder hingekommen? Und die Stecknadeln schienen sich verkrochen zu haben, die sind auch nie zu finden.
Sie flog die Treppe hinunter wie ein Vogel, dem die Tür seines Käfigs geöffnet wird, und eilte in demselben Sturmschritt über die Straße. Der von Pacheco zum Rendezvous bestimmte Platz lag dem Hause der Frau von Gibeles gerade gegenüber. Asis schützte sich mit ihrem Sonnenschirm, – aber sie kam fast um vor Sonnenhitze, jener fatalen Sonnenhitze, die an allem schuld war. Sie spannte ihren Blick scharf an, konnte aber niemanden entdecken, sollte Diego des Wartens müde geworden sein? Unmöglich wäre es nicht! Plötzlich hörte sie hinter sich eine bekannte stimme flüstern:
»Dort zwischen den Bäumen hält der Wagen.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, führte der Gaditano sie zu der Kutsche. Es war eines jener vorsündflutlichen Vehikel mit übelriechendem, rissigem Wachstuchbezug, schmutzigen Scheiben und einem halb betrunkenen Kutscher, wie man sie in Madrid häufig antrifft. Nur widerwillig nahm Asis Platz, während sie bei sich dachte, daß ihr Freund wohl für ein besseres Gefährt hätte Sorge tragen können.
Nachdem auch Pacheco eingestiegen, reichte er ihr einen großen Strauß herrlich duftender Rosen.
»Es riecht so schlecht in diesen verdammten Kutschen,« sagte der Südländer, gleichsam, als wolle er seine Galanterie damit entschuldigen. Asis warf ihm einen liebenswürdigen Dankesblick zu. Das elende Gefährt setzte sich in Bewegung.
»Darf man vielleicht wissen, wohin es geht, oder ist das ein Geheimnis?«
»Dahin?« rief Asis entsetzt. »Aber das ist ja einer der belebtesten Orte. wir wollen doch nicht wieder solche Dummheit begehen, wie damals...«
»Es ist dort nur an Sonntagen belebt, an Wochentagen ist es ganz einsam, beruhige dich! Bevor ich dich einlud, habe ich mir lange hin und her überlegt, ob wir nicht in Madrid frühstücken könnten – aber das wäre wirklich unmöglich gewesen. Man könnte vielleicht in ein belebtes Restaurant oder in eine nette Konditorei gehen, aber dort gibt es keine Chambres Séparées, und man müßte im gemeinsamen Saal essen und wäre vielleicht den frechen Blicken irgendeines Stierkämpfers oder einer Dirne ausgesetzt. Im Hotel ging es auch nicht, – so blieb uns also nur Espiritu Santo – und das ist doch auch ganz gut.«
»Gut?« Asis sah sich den weg an, den sie nun einschlugen, sich langsam in Bewegung setzend, rollte die Kutsche, das hübsche Laubwerk von Retiro und die koketten Häuser von Recoletto im Rücken lassend, träge und schwerfällig durch eine öde, unfruchtbare Gegend, die mit der schönen Umgebung von Santo in keiner Weise zu vergleichen war. Der Unterschied zwischen der Gegend von Retiro und der Vorstadt von Madrid war so groß und machte sich in so krasser Weise bemerkbar, daß die plötzliche Wandlung den Beschauer in Staunen versetzen mußte. Im Vordergründe große, von Pfählen eingezäunte Schutt- und Bauplätze und weiter drüben am Horizont, wie die Parodie eines römischen Amphitheaters, der Platz der Stiergefechte.
In diesem verödeten Erdenwinkel, der von dem Zentrum des elegantesten Lebens nicht allzuweit entfernt lag, hatten sich die heterogensten Gebäude zusammengefunden: die Arena, die Schule mit dem maurischen Turm, die Zwieback- und Biskuitfabrik und weiter hinten das mit einer lustigen Aufschrift versehene Restaurant.
Ringsum kahle Öde, in der das dürftige Häuschen eines Steuereinnehmers einen kümmerlichen, Mitleid erweckenden Eindruck machte. An einem Rüstbock vor der Tür hingen eine Menge Hasen und Kaninchen, und ein schmutzig aussehender Alter mit einer fettigen Pelzmütze auf dem Kopf suchte in einer abgegriffenen Ledertasche nach der Münze, mit der er die Steuer für seine Ware zu entrichten hatte. Auf einer gelben, sandigen Wiese tummelte sich eine Horde junger Burschen, das Schulhaus umlagernd, wie die Gallier das alte Rom; das Gebäude machte den Eindruck einer mittelalterlichen Burg, aus deren rissigen wänden blühende Ranunkeln ihre Arme hervorstreckten. Eine elende Schenke, deren Schild keine geringere Aufschrift trug, als »Zum heiligen Geist«, ein Wirtshaus mit der seltsamen Devise: »Was tut's?« und eine große Ziegelbrennerei. Und in weiter, unabsehbarer Ferne streckte der Guadarrama seine mit ewigem Schnee bedeckten Spitzen empor.
Asis war angenehm überrascht, hier so wenig elegante Fuhrwerke zu erblicken. So hatte Pacheco also doch recht behalten. Nur ein Eseltreiber kam ihnen mit einem von mehreren Mauleseln gezogenen zweirädrigen Karren entgegen; ferner eine Droschke, eine vollbesetzte Pferdebahn und ein Leichenwagen, auf dessen hohem Gerüst ein blau- und weißgestreifter Sarg schwankte und dem niemand folgte.
Die beiden Liebenden legten den weg fast schweigend zurück. Hand in Hand saßen sie da. Mehr als einmal sog Asis, das Gesicht tief in ihre Blumen vergrabend, den herrlichen Duft der Rosen ein. Es war, als könnte sie so das quälende Empfinden abstreifen, das dies letzte Zusammensein mit Pacheco in ihr wachrief.
So gelangten sie an die Brücke und zu dem aus Schenken, kleinen Hotels und schmalen Gärten bestehenden Flecken – dem neuesten Teil von Ventas.
»Wo willst du am liebsten hin? Wollen wir hier absteigen?« fragte Pacheco.
»Ja, hier; hier sieht's nett und sauber aus,« sagte Asis, indem sie mit der Hand ein kleines Wirtshaus bezeichnete, zu dem eine grellgrün gestrichene Holztreppe hinaufführte.
Sie traten ein; ein etwa fünfzigjähriger Kellner in Schürze und Hemdärmeln mit einem schlauen, widerwärtigen Gesicht, kam auf sie zu und fragte devot nach ihren Befehlen.
»Frühstück,« sagte Pacheco lakonisch.
»Wo wünschen die Herrschaften das Frühstück einzunehmen?«
Der Gaditano sah sich überall um und richtete dann fragend den Blick auf seine Gefährtin, die mit abgewandtem Gesicht vor ihm stand. Mit der diesen Menschen eigenen Schlauheit hatte der Kellner sofort die Situation erkannt und half ihnen aus der Verlegenheit.
»Darf ich die Herrschaften bitten, mir zu folgen?«
Und den Weg nach links einschlagend, führte er sie über eine kleine, düstere Treppe, die durch eine Palmen- und Akaziengruppe noch mehr verdunkelt wurde, und geleitete sie in eine Art Vorsaal. Dann öffnete er eine kleine Tür, trat unterwürfig zur Seite und flüsterte:
»Bitte, hier hinein!«
Asis empfand beim Betreten dieses schmucken, diskreten Raumes mit seinen weißgetünchten Wänden und kleinen Fenstern ein seltsames Wohlbehagen. Auch die Möbel waren mit weißem Stoff bezogen; auf dem in der Mitte stehenden Tisch leuchtete ein blendend weißes Tischtuch, und das hübscheste an all dieser Weiße war, daß die goldige Sonne ihr strahlende Reflexe verlieh und ihr das Leichenhafte benahm, das dem Weiß unter bedecktem, wolkigem Himmel sonst meistens anhaftet.
»Sie haben uns hier in einen hübschen Taubenschlag geführt,« sagte Pacheco, indem er lächelnd zu Asis hinüberblickte.
Die beiden waren nicht lange in dem Taubenschlag, ohne von mehreren Arbeiterinnen, die an der Tür der gegenüberliegenden Wirtschaft mit der Zubereitung eines Hammelgerichts beschäftigt waren, entdeckt und scharf beobachtet zu werden. Das Gericht schmorte in einer Kasserolle auf einem kleinen Kochherd – zwei Gegenstände, die der Besitzer des Restaurants gegen eine kleine Summe verlieh. Das Fleisch und den dazu gehörigen Reis hatten die Zigarrenarbeiterinnen in ihrer Schürze herbei getragen.
Das Haupt der Gruppe bildete eine alte Arbeiterin, braun, lebhaft, flink und weiser als Merlin. Zwei Kinder von etwa acht und sechs Jahren liefen geschäftig um den Kochherd herum, hier und dort mit Hand anlegend. Beim Anblick der Marquise d'Andrade steckten die Frauen mit gewichtiger Miene, geheimnisvollem Blinzeln und mysteriösem Flüstern die Köpfe zusammen und begannen in dem häßlichen Akzent des Madrider Plebs ihre Bemerkungen auszutauschen.
»Na, die beiden sehen auch schön aus!«
»Sie ist was Feines.«
»Das wird ein schönes Frauenzimmer sein.«
»Natürlich, das sieht man auf den ersten Blick.«
»Kinder, solche Weiber haben immer einen seinen Herrn bei sich.«
»Es ist vielleicht eine aus dem Zirkus; sie ist ja ganz angemalt.«
»Bewahre, das ist eine ganz Feine, vielleicht die Frau von einem Minister. Ich kenne eine, die ist mit einem mehr als vornehmen Mann verheiratet, die hat Wagen und Pferde und ein Haus wie der Palazza Royal... und ging auch mit so einem.«
»Aber sehr verliebt sehen die beiden nicht aus.«
»Bei denen sitzt die Liebe tiefer; Fenster und Türen haben sie fest verriegelt, damit die Sonne ihnen nicht die haut verbrennt.«
Wie um die Prophezeiungen der erfahrenen Matrone Lügen zu strafen, wurden in diesem Augenblick die Fenster des Taubenschlages geöffnet, und Asis streckte, aufmerksam hinüberblickend, den Kopf heraus.
»Seht, seht – der Tanz gefällt ihr!«
In der Tat bot der gegenüberliegende Saal mit den tanzenden Mädchen einen hübschen, lustigen Anblick. Das Orchestrion spielte mit der diesen Instrumenten eigenen Härte und Monotonie eine Melodie nach der anderen, und eine Menge Zigarrenarbeiterinnen und Kinder im Sonntagsstaat tanzten und drehten sich nach dem Takt der Musik, so heftig aufstampfend, daß das ganze Haus dröhnte... Asis sah die erhitzten Gesichter, die rosafarbenen und blauen Häubchen, diese ganze lärmende Fröhlichkeit an sich vorüberziehen, an der kein männliches Wesen sich beteiligte, und das Ganze machte auf sie den theatralischen Eindruck eines Operettenchors. Asis nahm an, daß die Mädchen von dem Wirt angestellt wären, um durch ihre Fröhlichkeit die Gäste anzulocken.
»Still,« riefen gleich darauf die mit der Zubereitung des Hammelgerichts beschäftigten Mädchen.
Der Kellner eilte diensteifrig hin und her.
»Seht nur, was die für gute Sachen essen: Kuchen und Schinken und Rebhühner mit Speck. Uff!«
»Na, ich tausche es nicht gegen mein Hammelgericht ein; das riecht zu fein!«
»Ruhig!« rief der Kellner den Plappermäulern zu. »Seid doch still; wenn sie euch hören... das sind sehr feine Herrschaften... o je!«
Bei diesen Worten schnitt er eine unbeschreiblich komische, halb spöttische, halb respektvolle Grimasse.
Die alte Zigarrenarbeiterin nahm eine ernste, diplomatische Miene an.
»Natürlich können die Leute so ehrbar sein, wie der Herr Jesus Christus selbst. Muß man denn immer gleich das Schlimmste von jedem glauben? Es sind vielleicht junge Eheleute oder Geschwister oder Onkel und Nichte. Wer weiß! Kellner, kommen Sie mal her!«
Sie sprach heimlich einen Augenblick mit ihm, und während dieser kurzen Unterredung reifte in dem Hirn der alten Zigarrenarbeiterin Donata ein schlauer Gedanke. Inzwischen begannen Asis und Pacheco die guten Sachen zu verzehren, die ihnen der Kellner serviert hatte: Oliven, Sardinen und allerhand andere Leckerbissen. Obgleich Pacheco den besten Wein verlangt hatte, konnte Asis sich nicht entschließen, davon zu trinken, denn schon der Anblick allein genügte, um die fatalen Erinnerungen an Santo in ihr wachzurufen. Da Asis darauf bestand, daß die Türen und Fenster weit geöffnet blieben, konnte keine rechte Vertraulichkeit zwischen ihnen aufkommen, und sie machten den Eindruck eines jungen Ehepaares, dessen Flitterwochen sich bereits ihrem Ende neigen. Pacheco hatte seine südländische Beredsamkeit völlig eingebüßt und zeigte eine Verstimmung, die keineswegs berechtigt erschien.
»Langweilst du dich?« fragte sie ihn einmal übers andere.
»Aber nein, nein, gewiß nicht,« antwortete er, sich stets von neuem eingießend.
Der Kellner hatte eben den letzten Gang, die Rebhühner, aufgetragen, als ein kleines, dickes Kind mit wirren, schwarzen Locken und halb geöffnetem Mund in der Tür erschien.
»Was für ein nettes Kind!« rief Asis aus.
Es stand unschlüssig an der Tür und wußte nicht recht, ob es eintreten sollte oder nicht, Asis winkte ihm; und da flog das Vögelchen sogleich ins Nest, ohne sich das ein zweites Mal sagen zu lassen. Und nun begann ein Kreuzfeuer von Fragen.
»Wie heißt du?«
»Gehst du in die Schule?«
»Willst du nicht herkommen und ein paar Oliven essen?«
»Trink' einen Schluck Wein!«
»Wo ist deine Mutter?«
»Was treibt dein Vater?«
Unmöglich, irgendeine Antwort herauszubekommen. Das Kind öffnete und schloß die Augen wie zwei Klappen, senkte den Kopf, wie es die Kleinen stets machen, wenn sie sich schämen oder fürchten und stemmte den Absatz des linken Fußes gegen das rechte Bein.
Kaum war der erste Vogel ins Nest geflogen, als auch schon der zweite erschien. Der erste war etwa fünf Jahre alt, der zweite, manierlicher, aber nicht weniger schüchtern, mochte wohl schon acht zählen.
»Hallo, da kommt das Schwesterchen!« rief Asis aus. »Und ähnlich sehen sie sich wie zwei Tropfen Wasser. ... Die Kleine scheint klüger zu sein, aber die Augen der Großen sind wunderschön. Komm 'mal her, Kind; von dir kann man vielleicht erfahren, wie dein Vater heißt. Der Kleinen da scheinen die Ratten die Zunge abgefressen zu haben.«
Das kleine Mädchen stand nachdenklich und verlegen da, wie jemand, der sich eine schwierige Sache reiflich überlegt. Ihre großen Augen irrten fragend von Diego zu Asis; sie wußte nicht, wie sie ihre Bitte einkleiden sollte, denn Bitten war ihr sehr verhaßt und dieses Widerstreben paßte so recht zu dem Stolz, der aus ihren arabischen, glänzenden Augen blitzte. Während sie noch so dastand, erschien plötzlich eine unerwartete Hilfstruppe in Gestalt der Donata, die mit gut geheuchelter Empörung herbeieilte und in ihren Bart brummte:
»Aber, Kinder, Schäfchen, ihr belästigt die Herrschaften, kommt mal rasch heraus oder ich werde euch ...«
»Die Kinder stören uns gar nicht, sie sind ganz artig,« erklärte Asis. »Die da steht noch immer an der Tür, und die Kleine kann ihren Mund überhaupt nicht aufmachen.«
»Zum Essen wohl, – der kleine Vagabund!«
Pacheco erhob sich und bot der Alten höflich einen Stuhl. Der Gaditano, der gegen Gleichgestellte sehr reserviert, oft sogar hochmütig war, brachte dem Volke stets eine wohlwollende Liebenswürdigkeit entgegen.
»Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns. Trinken Sie ein Glas Jerez auf das allgemeine Wohl.«
Donata ließ sich das nicht zweimal sagen, setzte sich und war so geschwätzig und lebhaft, daß Pacheco, von ihr angesteckt, bald den größten Unsinn redete. Sie lachte aus vollem Halse über seine Erzählungen und zeigte dabei ein glänzend weißes Gebiß. Bei alledem vergaß sie nicht, was ihr seit einer halben Stunde im Sinn lag: Sie habe es recht schwer, erzählte sie, und sie arbeite in einer Fabrik in Madrid, ebenso wie ihre vier Enkel, die Kinder einer Tochter, die am Typhus gestorben, und deren Mann der galoppierenden Schwindsucht zum Opfer gefallen sei. »Nach zwei Monaten war er tot. Herr Gott, wenn man das hier so hört, möchte man es nicht glauben!« Und nun wäre es so schön, wenn sich eine feine Herrschaft ein wenig um die Mädchen kümmern wollte, denn in dieser kleinen Welt werde doch alles nur durch persönliche Bekanntschaft und Protektion erreicht.
Hier nahm die Stimme der Alten einen pathetischen Klang an. – »Heilige Jungfrau, der Herr verhüte, daß Sie jemals erfahren, was es heißt, wenn sich fünf unglückliche Frauen von acht bis neun kümmerlich verdienten Reales kleiden und nähren müssen. Wenn die Dame, die so liebenswürdig und gut aussähe, vielleicht zufällig den Minister, den Direktor oder den Sekretär kenne, könnte am Ende auch die kleine Solilla in die Fabrik eintreten? Das wäre eine große Wohltat, die man nie vergelten könnte. Nur zwei Zeilen auf einem kleinen Zettel!«
Pacheco antwortete würdevoll auf diese lange Rede der Alten, zog seine Brieftasche heraus, schrieb langsam die Adresse der Zigarrenarbeiterin auf und gab ihr die Versicherung, daß er mit dem obersten Rat von Castilien, der Infantin Isabella (seiner intimsten Freundin), dem Bischof und dem Erzbischof sprechen wolle. Während sie noch so hin und her redeten, drängten sich an der zerlumpten Alten und der stummen Kleinen zwei größere Mädchen vorüber.
»Sehen Sie, das sind die anderen unglücklichen Waisen,» sagte Donata in kläglichem Ton, den die beiden frischen Mädchen keineswegs zu rechtfertigen schienen. Erhitzt und rot vom Tanzen, lustig und fröhlich, boten sie das Bild anmutiger Lebenslust. Kichernd stießen sie einander an und zischelten sich lustige Bemerkungen ins Ohr.
Beim Anblick der beiden Nymphen ließ Pacheco die Alte im Stich und näherte sich ihnen mit echt andalusischer Höflichkeit und Verbindlichkeit. Mit verliebten Blicken und stärker lispelnd als je, versicherte er diesen beiden Mädchen, daß er von dem Moment an, da sie eingetreten, keine Ruhe mehr habe und sie am liebsten mit den Blicken verzehren möchte.
»Kommt ihr vom Tanz?« fragte er sie lächelnd.
»Das sehen Sie ja,« antworteten sie kokett.
»Ohne Männer?«
»Ja, warum denn nicht?«
»Ach, so unter Mädchen zu tanzen, das ist langweilig und geschmacklos, warum habt ihr mich denn nicht gerufen?«
»Sie wären ja doch nicht gekommen, wir sind Ihnen viel zu gering.«
»Zu gering, ihr? Engel seid ihr! Nun, wie ist's? Wollen wir mal zusammen tanzen? Auf zum Tanz!«
Und bei diesen Worten eilte er hinaus über den Gang, der die beiden Säle miteinander verband, und drehte sich bald darauf mit den Mädchen nach den lustigen Klängen des Orchestrions.
Die Marquise d'Andrade verstand es, jede große Erregung vor den Augen anderer möglichst zu verbergen. Auf diese Weise kann man am leichtesten Streit vermeiden, läuft dafür aber auch Gefahr, daß die so gewaltsam zurückgedrängten Empfindungen allmählich völlig absterben.
Als der Andalusier viermal herumgetanzt und sich mit dem Taschentuch die erhitzte Stirn gewischt hatte, ging er wieder zu Asis hinüber, die, anscheinend ruhig und freundlich, die Kinder mit Leckerbissen überhäufte und zum drittenmal die Krankheitsgeschichten der Alten anhörte. Der schlaue Kellner hielt es für geraten, die vornehmen Gäste nun endlich von dieser lästigen Gesellschaft zu befreien.
»Jetzt habt ihr den Herrschaften aber lange genug im Wege gesessen, macht, daß ihr hinauskommt!«
»Hört doch den an! Ich bin hergekommen, weil die Herrschaften es mir erlaubt haben. Ich bin nicht aufdringlich, aber immer gern bei feinen Menschen, die arme Leute nicht verachten.«
Nach längerem Hin- und Herreden verabschiedete sich endlich die Alte, aber nicht, ohne von Pacheco das Versprechen erhalten zu haben, daß er alles daran setzen wolle, der kleinen Solilla eine Anstellung in der Fabrik zu verschaffen. Und so gingen sie davon, die kleinen Händchen voller Süßigkeiten, aber ohne daß auch nur ein Wort aus ihnen herauszubringen gewesen wäre.
Erst unten im Tanzsaal hatten sie ihre Stimmen wiedergefunden.
Der Kellner verschwand nun auch, und versprach, den Kaffee und die Liköre sofort zu bringen; nachdem er die Tür hinter sich geschlossen, bemühte sich Pacheco, einen Blick von seiner Freundin zu erhaschen, deren Augen etwas zu suchen schienen.
»Was wünschest du, mein Schatz?«
»Einen Spiegel.«
»Wozu? hier gibt's keinen. Die Leute, die hierher kommen, brauchen keinen Spiegel. – Wozu einen Spiegel? Sieh mich an. Aber was soll das? Jetzt schon den Hut, Kind?«
»Nur um Zeit zu gewinnen; denn sowie wir den Kaffee getrunken haben, will ich gehen.«
Pacheco trat ganz dicht vor Asis hin und blickte ihr lange und tief in die Augen. Die junge Frau suchte sich diesem prüfenden Blick zu entziehen und breitete einen Schleier undurchdringlichen Ernstes über ihre Züge. Pacheco umschlang sie leidenschaftlich, zog sie zu sich auf das Sofa und sagte lachend und neckend:
»Ha, ha, ha, wir sind eifersüchtig! Meine Asis eifersüchtig! Du, die Königin meines Herzens!«
Asis rückte von ihm fort.
»Du mußt immer allem auf den Grund gehen; an Eitelkeit fehlt's dir auch nicht. Ich bin nicht eifersüchtig, aber wenn du mich reizest, dann werde ich dir sagen ...«
»Was, was wirst du mir sagen?« rief Pacheco erbleichend und mit fremdklingender Stimme.
»Daß ... daß es geradezu unmöglich ist, eifersüchtig zu sein, wenn ...«
»Ah!« unterbrach der Südländer sie, erdfahl, indem er heiser hervorstieß:
»Deutlicher brauchst du dich nicht auszudrücken. Ich habe verstanden, Gnädigste; ich habe verstanden. Diese elenden drei bis vier Stunden, vielleicht die letzten, die wir auf dieser miserablen Welt zusammen verleben, hättest du wohl noch schweigen und mich täuschen können wie bisher. Für dich muß es ja recht angenehm gewesen sein, mit mir hierher zu gehen, wenn ich dir so gleichgültig bin. Du hast geglaubt, Du könntest mir etwas vormachen ... Hältst mich für dumm! Ja ... ich war leichtsinnig, ein Windhund, ein Taugenichts, das alles gebe ich zu, aber dumm –! Da, wo es sich um Frauen handelt?! Nein! Nenne mich wie du willst; aber höre mich an: du hast mich bis heute nicht geliebt, das weiß ich wohl; jetzt aber liebst du mich, ohne es eingestehen zu wollen, liebst mich mehr, als du selbst es weißt, liebst mich rasend, bis zum Wahnsinn. Allmählich wird es dir klar werden; denn du wirst sehen, wenn ich erst nicht mehr bei dir bin, ist das Leben dir nichts mehr. Du hältst es unter deiner Würde, auf mich eifersüchtig zu sein? Schön! Verwünscht sei die Stunde, in der ich dich zum erstenmal gesehen habe! – Verzeih, verzeih, ich wollte dich nicht kränken. Jetzt nicht und niemals. Ich weiß nicht mehr, was ich sage!«
Diesen Wortschwall stieß er hervor, indem er, heftig gestikulierend, im Zimmer auf und ab lief, wie ein Raubtier in seinem Käfig. Seine vom Zorn entstellten Züge verliehen seinem Aussehen etwas Interessantes und nahmen ihm den indolenten Ausdruck, der ihm sonst eigen war. Die Enden seines blonden Schnurrbarts zitterten heftig, seine weißen Zähne leuchteten, und das Blau seiner Augen wurde dunkel wie das Wasser eines sturmbewegten Meeres. Der Boden dröhnte unter seinen wuchtigen Schritten, die das leicht gebaute Haus in all seinen Fugen erzittern ließen.
Wenngleich der Kellner die Tür hinter sich geschlossen hatte, so waren die beiden doch nicht unbeobachtet, da die Mädchen durch die auf den Tanzsaal gehenden Fenster den Streit der Liebenden neugierig verfolgten.
»Seht mal, die gibt's ihm tüchtig ... die läßt sich nichts gefallen!«
»Weil er mit uns getanzt hat ... zu dumm! ...«
»Herr Gott, der hat sich nicht schlecht die Zunge verbrannt, seht nur.«
»Wenn die sich so zanken, könnten sie doch wenigstens die Fenster zumachen.«
»Wer sagt uns denn, daß wir zusehen sollen?«
»Wozu hat man denn sonst seine Augen?«
»Seht nur, wie wütend er wird.«
»Heilige Jungfrau, die muß ihm was schönes gesagt haben, daß er so tobt. Seine Arme fliegen wie eine Windmühle, was mag sie nur von ihm wollen?«
»Sie kann doch nicht verlangen, daß er um Verzeihung bittet wie ein kleines Kind; habe ich's nicht gesagt? Seht nur. Lammfromm ist er. ... Aber sie! unfreundlich und kalt. Jetzt zieht sie sich den Mantel an! Was solche Frauenzimmer sich wohl einbilden, er soll wohl vor ihr auf die Knie fallen! ... Rasch fort, da kommen sie.«
Der Schwarm stob auseinander, denn Asis trat in diesem Augenblick langsam und ruhig heraus. Sie lächelte Solilla, die eben dabei war, das Feuer zu schüren, freundlich zu, und erklärte dem Kellner, den dieser plötzliche Aufbruch in große Erregung versetzte, mit klarer Stimme, daß es schon spät sei und sie keine Minute länger Zeit hätten. Er möge den Kutscher benachrichtigen, der wohl irgendwo im Schatten warte.
Während Pacheco bleich und mit fliegenden Pulsen nach einer Banknote in seinem Portemonnaie suchte, zeichnete Asis mit der Spitze ihres Sonnenschirmes nachlässig ein paar Figuren in den Sand, pflückte einen blühenden Akazienzweig und steckte ihn sich an die Brust. Freundlich verabschiedete sie sich von der Kleinen und der Alten, nachdem sie ihr ein Geldstück in die schwielige Hand gedrückt.
Der Wagen fuhr vor. Der Kutscher mußte wohl mehrere Schnäpse getrunken haben, denn seine Nase leuchtete wie spanischer Pfeffer. Asis stieg die wenigen Stufen der kleinen Treppe hinab; Pacheco folgte ihr.
»Im Wagen werden sie schon Frieden schließen,« piepten die Spatzen.
»Ja, sicher, wenn sie erst mal drin sind.«
Aber unbeschreiblich war das Staunen der Vögel, als sie sahen, wie Asis nach einer kurzen Debatte Pacheco die Hand hinstreckte, dieser den Hut zog und der Wagen sich langsam in Bewegung setzte.
»Sie läßt mich im Stich,« murmelte er vor sich hin.
»Kommen sie jetzt noch ein wenig zu uns,« rief der frühreife Spatz, sich die fettigen Haare ordnend. Aber Pacheco kam nicht. Er winkte ihnen nicht einmal einen Abschiedsgruß zu, sondern trat gesenkten Hauptes den Heimweg an, nachdem er dem Wagen wie geistesabwesend eine Weile nachgestarrt hatte.
Von zwei Uhr an, der Stunde, da sie nach Hause kam, bis um neun Uhr abends beschäftigte die Marquise d'Andrade sich eifrig mit den Vorbereitungen zur Reise, die nun definitiv auf den folgenden Tag festgesetzt war. Es war keine leichte Arbeit, und die seelische Niedergeschlagenheit ließ sie ihr noch viel schwerer erscheinen. Sie war unbeschreiblich aufgeregt, rannte unruhig durch das Haus und brachte Diabla und die anderen Dienstboten ganz aus der Fassung.
Ihre Nerven waren angespannt wie die Saiten einer Guitarre, und in der Herzgegend empfand sie einen leichten stechenden Schmerz. Nachdem sie ohne jeden Appetit, nur um etwas zu sich zu nehmen, gegessen hatte, kam Diabla und bat um die Erlaubnis, den letzten Abend bei ihrer Schwester zubringen zu dürfen, was ihr anfangs zornig verweigert, zwei Minuten später aber dennoch gestattet wurde. Kaum hatte das Mädchen die Tür hinter sich geschlossen, als Asis sich, körperlich und geistig völlig ermattet, in ihr Schlafzimmer zurückzog; der Schmerz in der Herzgegend wurde immer stechender und immer unerträglicher, ihre Unruhe immer größer. Sollte sie sich ein wenig aufs Bett legen? Vielleicht würde es dann besser!
Sie schloß die Augen und empfand einen bitteren Geschmack im Munde. Sie hatte richtig gehandelt, sich würdig und entschlossen gezeigt, und eigentlich war eine bessere Lösung des Konflikts gar nicht denkbar. Denn wäre dieses letzte Zusammensein sehr schön gewesen, dann hätte sie mit Sehnsucht daran zurückdenken müssen. Nein, es war besser so, hundertmal besser! Außerdem hatte sie für ihre Handlungsweise Gründe genug gehabt: erstens ihre Eifersucht, zweitens ihr Selbstbewußtsein, drittens das Urteil der Welt, das man niemals außer acht lassen sollte. Wie hatte er es nur wagen können, vor ihren Augen zu tanzen, mit solchen ... Sie sah den Tanzsaal noch vor sich, hörte noch das Geschwätz der Mädchen, und wurde immer erbitterter ...
Wohl hatten sie Türen und Fenster offen gelassen – aber Pachecos Benehmen war jedenfalls ... Ja, das war schon der Rechte, der brauchte nur einen Weiberrock zu sehen ... Ach, wie unglückselig war die Frau, die seinen Treueschwüren glaubte! Sich mit solch gemeinen Zigarrenarbeiterinnen einzulassen! ... und das vor ihren Augen! ... Und er war noch so albern, sie absolut davon überzeugen zu wollen, daß sie sterblich in ihn verliebt. Verliebt? Nein, nein, mein Herr, Gott sei Dank nicht! ... Eine Erinnerung würde sie wohl daran bewahren, eine Erinnerung, wie man sie ... Dort in dem kleinen, goldenen Medaillon lag neben Marujas blonder Haarlocke eine weiße Akazienblüte ... Wie dumm! ... Vermutlich würde sie Pacheco nie mehr sehen ... nie mehr ... Und was bedeuteten diese Stiche in der Herzgegend? Eine Krankheit oder ... Es war, als umschnüre ein eiserner Reifen ihr die Brust. Herr Gott, was für einfältige Grübeleien!
Diese und ähnliche Gedanken durchkreuzten ihr Hirn, während sie langsam einzuschlummern begann. Es war eine Art Halbschlummer, in dem die Wirklichkeit mit dem Traumleben eins wird, nicht jener feste, bleierne Schlaf, bei dem man anfangs oft die Empfindung hat, als stürze man von einem hohen Turm herab.
Asis träumte, sie säße im Coupé, Diabla ihr gegenüber; das Netz war mit ihren Gepäckstücken, Hutschachteln, Handtaschen und so weiter ganz vollgepfropft. Ein dichter Gazeschleier bedeckte ihr Gesicht, sie trug Handschuhe aus dickem, englischem Leder und einen hoch am Halse schließenden Staubmantel. Keuchend und schnaubend setzte sich der Zug in Bewegung und jagte an den gelben, sonnverbrannten Steppen vorüber. Wie öde und dürr und staubig war doch dies elende Castilien! Ach Hitze, unerträgliche Hitze, wann wirst du aufhören, uns zu quälen?! Asis fühlte, wie die glühende Sonne durch die herabgelassenen Vorhänge schien, das ganze Coupé mit ihrem bläulichen Licht durchflutend, und wie sie in ihr Gehirn eindrang, wie das Wasser in einen Schwamm. Sie hatte das Empfinden, als quälten sie Tausende von Nadelstichen, als träten ihr die Augen aus den Höhlen. Der Kohlenstaub und der feine, gelbe Sand der dürren, öden Steppen drangen stoßweise in das Coupé, legten sich ihr auf die Augen und die Kehle und drohten sie fast zu ersticken. Wasser, Wasser, Wasser, um's Himmels willen! »Diabla, geh, suche mir die Flasche Mineralwasser im Reisekorb!« Diabla durchstöberte ihn von oben bis unten, ohne die bewußte Flasche zu finden. Nicht möglich! – Sie hatte natürlich wieder vergessen, die Flasche einzupacken. Aber nein, da ist sie ... Schnell ein Glas gefüllt ... Asis trank. Aber es ist kein Wasser, es ist kein Wasser, es ist Jerez, es ist Manzanilla, es ist eins von jenen scharfen Getränken, die dem Menschen das klare Urteil rauben. Ach, da kommen wir an einen Fluß, einen Fluß ... Mit einem einzigen Schluck möchte ich ihn ausschlürfen. Asis seufzte; die Sonnenglut war unerträglich, es war, als würde das Feuer immer wieder geschürt, als schütteten Erzengel und Seraphinen, in Heizer verwandelt, stets neue Kohlen in die Höllenglut. Und jetzt kamen sie durch die felsige Gegend von Avila, mit ihren riesigen Quadersteinen, den Ebenen von Palencia, Leon und Maragateria. Ich verbrenne ... Ich verbrenne ... ich sterbe ... Hilfe! –
Aber was ist das? Wir lassen das flache, öde Land hinter uns. Berge, meine geliebten Berge! Bei jedem Tunnel ein minutenlanges Versinken in die Nacht, ein erfrischendes, kaltes Bad, und sobald man herauskommt, Berge und immer wieder mit dichten Kastanienwaldungen bedeckte Berge, an deren Abhängen, o wie köstlich! zahlreiche Wasserfälle, Flüßchen und Quellen sprudeln ... Selbst aus den Felsen dringt das Wasser und in den Tunnelwölbungen tropft es unaufhörlich. Der ganze Boden ist durchtränkt. Asis fühlt sich erfrischt und neugestärkt, wie ein Fisch, der nach langem Umherzappeln endlich wieder ins Wasser gelangt. Ihr erregtes Herz beruhigt sich, das wild pulsierende Blut rinnt langsamer durch ihre Adern, und der schreckliche Durst quält sie nicht länger. Aber die Flüsse und Quellen werden immer größer, immer breiter, die feuchten, dunklen Tunnels folgen einander immer rascher, und endlich wird ein bleifarbener, tiefhängender Himmel sichtbar, die wasserschweren Wolken öffnen ihre Schleusen und entleeren sich, anfangs in großen, dicken Tropfen und dann in immer heftiger niederprasselnden Wasserströmen. Der anhaltende eisigkalte Regen des Nordwest klatscht lärmend gegen die Fensterscheiben. Asis hat die Empfindung, als dringe er auch in ihren Körper und in ihr Herz, und als sei ihr Herz so voller Wasser, daß es nichts mehr in sich aufnehmen könne und die Tropfen langsam daraus hervorzusickern begännen. Sie weint ...
Klapp ... klapp ... zwei Schläge gegen die Tür des Alkovens! Herr Gott, was war das? Wachte oder träumte sie? Asis blickte um sich, betastete ihr Kopfkissen; es war feucht, wie auch ihre Augen! Tränen! Wer ist da? Wer?
»Ich, Freundin Asis! Gabriel Pardo. Störe ich? Dann gehe ich sofort wieder.«
»Aber nein, durchaus nicht. Setzen sie sich einen Augenblick, ich komme sofort.« Asis kühlte sich rasch die Augenlider, ordnete ihr Haar, puderte sich, zupfte die Spitzen am Halse zurecht und trat frisch und rosig vor ihn hin. Pardo las in der »Epoca« und hatte das Herannahen der Freundin gar nicht bemerkt, so vertieft war er in seine Lektüre.
Kaum hatten die beiden Zeit, einige Begrüßungsphrasen auszutauschen, als ein lautes Klingeln und schwere männliche Schritte auf dem Flur ertönten. Asis erbleichte, aber doch huschte ein frohes Lächeln über ihre Züge. Pacheco trat ein, und bei seinem Anblick packte den Obersten Pardo eine rasende Wut.
»Aha! Der ist's! Und dabei kennen sich die beiden kaum vierzehn Tage! O, ihr Weiber!« Der Gaditano – gleich als wolle er absichtlich bestätigen, was Pardo bisher nur vermutet – hatte kaum Platz genommen, als er auch schon eine Brieftasche aus englischem Leder mit silbernem Monogramm hervorzog und sie Asis mit den Worten überreichte:
»Gnädigste, da ist die erbetene Adresse der Zigarrenarbeiterin, Sie entsinnen sich wohl. Wollen Sie sie abschreiben, oder soll ich Ihnen die Brieftasche hier lassen? ... Leim Lesen des Namens wird Ihnen Ihr Versprechen schon einfallen.«
Asis war in Verzweiflung. Es war aber auch zu arg! Das war ein schöner Vorwand für einen so spätabendlichen Besuch! Wenn Don Gabriel jetzt seiner Sache noch nicht sicher war ...
Sie blickte zum Obersten hinüber, der sich ahnungslos zu stellen versuchte und so tat, als habe er die Brieftasche gar nicht gesehen. Nichts ist fataler, als die Rolle des überzähligen Dritten zu spielen! Don Gabriel saß, nachdem er einen Blick aufgefangen, den Asis und Pacheco ausgetauscht, wie auf Kohlen und zerbrach sich den Kopf, wie er seinen Rückzug wohl am besten motivieren könne. Aber das mußte geschickt und mit vornehmer Würde gemacht werden. Eine Viertelstunde brauchte er, um seinen Abgang vorzubreiten, und dann schützte er den militärischen Klub vor, in dem heute abend noch eine wichtige Besprechung stattfinden sollte. Klubs, Vereine und Verabredungen pflegen bei derartigen Gelegenheiten stets ins Treffen geführt zu werden, wenn es sich um das eigene Glück oder darum handelt, dem Glück anderer nicht als neidischer Unbeteiligter zuzusehen.
An der nächsten Straßenecke angelangt, verlangsamte er seinen Schritt und begann über das soeben Erlebte nachzudenken. In solchen Fällen findet die Wahl einer Dame nur selten die Billigung des Freundes. Wie merkwürdig ist doch der Geschmack der Weiber! Man könnte wahrlich meinen, sie wären dem Teufel verfallen ... Sei nachsichtig, Gabriel; es gibt keine Weiber, es gibt nur Menschen, und wir Menschen sind alle gleich ... Diese Mißbilligung riecht ein wenig nach Neid und nach ... Nein, mein Sohn, das ist's doch nicht; neidisch bist du nicht, nur siehst du klar, während deine arme Freundin ganz blind ist ... Wie leuchteten ihre Augen, als er eintrat! Wie ist es nur möglich! Nie hätte ich geglaubt, daß sie einen Geliebten haben würde, und noch dazu so einen! Wenn ich mich nicht sehr täusche, macht er sie unglücklich ... Dieser Andalusier ist so ganz der Typus der dekadenten spanischen Rasse. Was für ein Mensch! Unwissend, pervers, sinnlich, energielos, ein Spielball der wildesten Leidenschaften, unfähig zur Arbeit, streitsüchtig, indolent und egoistisch, ungeeignet, eine Familie zu begründen ... Es gibt so unendlich viele von dieser Sorte! Und trotzdem haben gerade solche Männer oft Glück bei den Frauen durch ihre scheinbaren Talente und ihre südländische Lebhaftigkeit ... Aber Asis braucht, da sie selbst von so vornehmer Herkunft ist, zweifellos einen Mann mit vollendeten Manieren ... Es ist nur gut, daß die beiden sich nicht heiraten, denn das halte ich für geradezu unmöglich ... Aus solchem Holz schnitzt man keine Ehemänner. Als Liebhaber mag er ja seine Reize haben ... Was für ein Zufall! Und da sagt man noch, es gäbe keinen Zufall ...
Dieses und ähnliches überlegte sich der Oberst ... War er ungerecht oder hellseherisch? Folgte er seiner Gewohnheit, alles zu analysieren, oder nur einer Zornesregung? Er rückte unruhig seinen Kneifer zurecht und strich sich nervös den Schnurrbart ...
»Nun in den militärischen Klub, der mir den Rückzug ermöglichte! Die beiden werden sich nicht wenig gefreut haben, daß sie mich losgeworden sind.«
Und vor seinem geistigen Auge erschien das Bild eines liebenden Paares – Pacheco und Asis.
Inzwischen hatten sich die beiden wieder ausgesöhnt, ohne den Tanz in der Wirtschaft oder den abendlichen Besuch des Obersten auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Der Gaditano flüsterte ihr leise zu:
»Glaubst du denn wirklich, ich hätte nicht gewußt, daß du morgen auf Reisen gehst? Dummes Kind! Deine Abreise hattest du schon auf heute früh festgesetzt, und nur aus Mitleid mit mir hast du meine Einladung zum Frühstück doch noch angenommen. – Du sagtest dir, »es handelt sich ja nur um ein paar Stunden, und das Vergnügen kann ich ihm ruhig machen, ich laß ihn dann ja doch bald im Stich« ... Und jetzt tut dir die Geschichte selbst leid ... daß wir uns nie mehr sehen und nie mehr sprechen sollen, und daß jetzt alle Zärtlichkeiten ein Ende haben ... Ach, Asis, du liebst mich viel mehr, als du selbst es ahnst, und als du dir eingestehen willst. Närrchen! Du wirst noch oft genug an mich denken, wenn du erst auf dem Lande bist, zwischen all den Bauerntölpeln. Armes Kind! ... Und hier bleibt dann ein Mann zurück, der dich doch so ein ganz klein wenig lieb hat.«
Die beiden Liebenden hielten sich nicht fest umschlungen, wie der Oberst es vor sich gesehen hatte, auch saßen sie nicht dicht nebeneinander, sondern Pacheco auf dem Stuhl und Asis auf dem Diwan, aber ihre glühenden Hände hatten sich gesucht und gefunden ... Beide schwiegen; doch war die stumme Sprache ihrer Augen beredt genug, und diese innige Berührung erweckte in Asis ein ungeahntes Entzücken, ein Staunen über dies seltsam-schöne Empfinden. Sie blickte Pacheco an, und ihr war's, als habe sie ihn nie zuvor gesehen. In seiner Haltung, seinen Zügen, seinem Ausdruck lag für sie etwas Erhabenes, etwas, das in Wirklichkeit gar nicht bestand ... und so begann in ihr ganz allmählich ein Gefühl der Liebe für ihn zu erwachen. Und, fast ohne sich dessen bewußt zu sein, legte sie Diegos Hand auf ihr Herz, gleich, als wolle sie so das heftige Pochen dort drinnen beruhigen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen ... sie atmete tief auf und seufzte ...
»Sei nicht so traurig,« flüsterte sie zärtlich.
»Ja, ich muß traurig sein, mein Liebling, um deinetwillen. Meine Kraft ist zu Ende. Ich weiß nicht mehr aus noch ein. Es ist ein Weh, das meine ganze Seele vergiftet ... Es ist seltsam, mein Kind, und ich weiß, wenn wir uns trennen, so wird es noch viel, viel schlimmer werden ...«
»Komm, rück ein wenig näher, du sitzest so weit von mir,« sprach sie sanft und zärtlich, wie zu einem Kinde.
»Nein, laß mich; es ist besser so, ich will nur deine Hand ...«
»Liebst du mich nicht mehr?«
»Du weißt wohl, wie sehr. Aber ... was ist das? Tränen?«
Asis weinte in der Tat. Es war nicht nur der Widerschein des roten Lampenschleiers, der auf ihren Wangen glänzte. ... Pacheco seufzte tief auf und warf sich leidenschaftlich vor ihr auf die Knie.
»Ich gehe, ich gehe!« rief er entschlossen mit heiserer halberstickter Stimme aus. Asis sprang auf, und ihre Arme stürmisch um seinen Hals schlingend, rief sie flehentlich: »Nein, Diego, bitte, nicht! Jetzt noch nicht! Du bist eben erst gekommen ... warum willst du schon wieder gehen? Geh nicht, wenn du mich liebst!«
»Kind, einen schweren Gang macht man am besten so rasch wie möglich. Ich kann nicht mehr – laß mich! Wozu sich den Abschied unnötig erschweren? Adieu, Geliebte, leb' wohl! Glaube mir, es ist besser so ...«
»Nein, nein, geh nicht, ich bitte dich! Gerade, weil es der letzte Abend ist. Diego, mein geliebter Diego, es ist nicht möglich, daß du mich schon verlassen willst.«
Pacheco befreite sich langsam aus Asis' Armen und sagte endlich, sie fest und lange anschauend:
»Überlege es dir wohl. Wenn ich jetzt noch bleibe, dann bleibe ich ... bis der Morgen graut. Du hast die Wahl. Entscheide.«
Asis schwankte einen Augenblick, doch ihre Liebe war stärker als alles andere. Moral, Erziehung, Grundsätze – nichts vermochte diesem Sturm der Leidenschaften zu trotzen, und mit einer Stimme, die ihr selbst fremd klang, flüsterte sie endlich:
»Bleibe.«
*
Der Plan war kühn, aber leicht ausführbar. Diabla war durch einen glücklichen Zufall nicht zu Hause, die Köchin ebensowenig. So handelte es sich nur noch darum, Imperfekto, die verkörperte Dummheit, zu täuschen, und die Hausverwalterin, die um diese Zeit meist zu schlafen pflegte. So ganz einfach war es nicht, das ersehnte Ziel zu erreichen. Und es wurde ein großer umständlicher Kriegsplan entworfen – Hin- und Hergehen, Aufmachen und Zuklappen der Türen – wobei die Delinquenten leise und heimlich kicherten. So war um Mitternacht dieses Haus wie immer verschlossen, aber innerhalb seiner Wände kümmerte man sich wenig um die soziale Ordnung und die menschlichen Gesetze ...
Aber das war noch nicht alles. Was dann geschah, ist so seltsam und so einzig dastehend, daß ich nicht versäumen möchte, es hier zu erzählen, besonders deshalb nicht, weil es diese Geschichte, die bei dem Fest von Jan Isidro so frivol und leichtfertig begann, zu einem glücklichen und ganz unerwarteten Abschluß führt ...
Wer von den beiden Liebenden oder, besser gesagt, von den beiden Verliebten mag zuerst auf den Gedanken gekommen sein? Vielleicht er, indem er mit wahrem Heldenmut einen Ausweg wählte, der mit Rücksicht auf seine Grundsätze und Lebensanschauungen aufs höchste überraschen mußte?
Oder sie, weil sie darin das Mittel fand, ihre Ehre mit ihrer Leidenschaft, ihr Rechtlichkeits- und Pflichtgefühl mit ihrem nur allzu schwachen Willen in Einklang zu bringen? Oder mußte dieser Gedanke auf alle anderen Erwägungen der beiden folgen, wie der Mittag auf die Morgenröte, der Abend auf die Dämmerung und der Tod auf das Leben?
Möge jeder es sich auf seine Weise zurechtlegen, welche Wege beide einschlugen, um nicht in Ungelegenheiten zu geraten, um der Zukunft mutig ins Auge schauen und alle Vernunft zum Teufel jagen zu können, jene Vernunft, die vor dem Niewiedergutzumachenden zittert, die die schwerwiegende Inschrift trägt »für immer!«, und die ernst daran gemahnt, daß ein schlechter Anfang nur selten zu einem guten Ende führt. – Und er möge sich auch das Gespräch auf seine Weise deuten, in dem dieser Gedanke sich langsam Bahn brach, anfangs verschwommen, dann immer klarer, bestimmter und überzeugender, um endlich triumphierend von dem jubelnden Gott Amor begrüßt zu werden, der, anstatt des Zepters seine schärfsten, vergiftetsten Pfeile tragend, vor der Tür des verschwiegenen Gemaches Wache hielt und jedem profanen Eindringling den Eingang verwehrte.
Deshalb erlasse man mir den Eintritt in dieses Zimmer, bis die Sonne ihren goldigen Schein verbreitet und durch das Fenster dringt, welches Asis, strahlend und in stolzer Freude, mit aufgelöstem Haar, frisch wie der anbrechende Morgen, weit öffnet! Ah! jetzt durfte sie unterliegen ... Pacheco stand, sie zärtlich umschlingend, dicht neben ihr, und so badeten die beiden ihr Glück im klaren Sonnenlicht und ließen die ganze Nachbarschaft teilnehmen an ihrer Hochzeitsfreude ... Es war, als wollten die künftigen Gatten einen Hymnus anstimmen auf ihren Schutzengel, die Sonne.
»Es ist nun heller Tag, Liebling,« rief Pacheco aus. – »Wie ist's mit deiner Reise?«
»Und mit der deinen? Kannst du in acht bis zehn Tagen zur Abreise nach Cadix bereit sein?«
»Nein, keinesfalls. Denk' nur – die Einwilligung vom Vater und noch tausend andere Dinge. Der stirbt, wenn er hört, daß ich mich verheirate, wird's gar nicht glauben können. ... Aber ich werde ihm sagen, daß ich mit Hilfe meines Schwiegervaters nach der Hochzeit wohl zum Abgeordneten von Vigo gewählt werde. Du wirst sehen, es wird schon alles gut werden. Wenn ich etwas durchsetzen will, dann geht's immer. Das versteht keiner so wie ich. Wenigstens, wenn mir's wirklich darauf ankommt.«
»Wirst du mir auch schreiben, wie oft du dich verliebt hast?«
»Närrchen!«
»Meine Königin!«
»Weißt du, in Vigo müssen wir wieder ganz förmlich miteinander umgehen ...«
»Ja, bis der Pfarrer« ... und Pacheco machte bei diesen Worten mit der rechten Hand eine segnende Gebärde. »Währenddessen werde ich mich deinem Töchterchen widmen. Und in zwei Tagen habe ich ihr Herz gewonnen, da kannst du sicher sein. Vielleicht lasse ich dich dann am Ende noch im Stich und heirate sie.«
Und so lachten und scherzten sie, und Diego nahm immer wieder Asis' Hand und drückte sie zärtlich. Endlich fragte er:
»Denkst du noch an unser Abenteuer in San Isidro und an die alte Zigeunerin? Wie war's doch?«
»Etwas lese ich in dieser weißen Hand, das wird bald eintreffen, und es weiß keiner etwas davon, bloß Sie ... Eine Reise steht Ihnen bevor ... und dann ... es gibt einen Menschen, der wird alles daran setzen, Sie zu gewinnen, denn er ist sterblich in Sie verliebt.«
Und der Gaditano fügte, eingebildet wie immer, hinzu: