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Lebensabend

Frei nach dem Spanischen von

Else Otten

Nachdem der reiche Blumenflor entfernt und die kostbar gedeckte Tafel abgeräumt war, boten die Wohnräume und das Speisezimmer allmählich wieder den altbekannten Anblick. Zwei Diener rieben eifrig den glänzenden Parkettboden, der bei dem soeben eingenommenen Mahle mehrere Flecken davongetragen hatte, und Frau von Sarlats Augen glänzten noch im Widerschein des durchlebten Vergnügens; sie fröstelte leicht in der Einsamkeit der verödeten Gemächer.

Öde, kalt und einsam ... würde nicht auch ihr Leben so sein, jetzt, da alles, was seinen Inhalt und seine Freude gebildet, ihr genommen war?

Tief aufseufzend öffnete sie mit einem Ruck die Tür, und betrat ihr Zimmer. Nachdem sie ihre Kammerjungfer verabschiedet hatte, die mit größter Sorgfalt die elegante Toilette ihrer Herrin fortgeräumt, ließ sie sich verzweifelt in einen Sessel sinken. ... wie oft war Marieta hierher gekommen zu ihr, im Morgenrock, bevor sie zu Bette ging! Und über wievielerlei Dinge hatten sie dann geplaudert, Mutter und Tochter!

Ach, jene Tage würden niemals wiederkehren!

Marieta hatte sich heute verheiratet, und jetzt, zu dieser Stunde, zog sie in die Welt hinaus an der Seite eines Mannes, der ihr von nun an alles sein würde.

Die Eltern, die ihr neunzehn Jahre lang all ihre Liebe und Zärtlichkeit geschenkt, würden künftighin den zweiten Platz einnehmen.

Wie ist es nur möglich, daß das Gesetz eine solche Undankbarkeit sanktioniert, dachte Frau von Sarlat bitterlich weinend, und sie verwünschte ihren Schwiegersohn von ganzem Herzen, so wie es wohl viele Mütter tun an dem Tage, da sie zum erstenmal Schwiegermutter genannt werden.

Seit drei Monaten hatte man kaum an etwas anderes gedacht, kaum von etwas anderem gesprochen, als von dem gewichtigen Tage, der der Tochter in rosigem Schimmer und der Mutter in düsteren Farben erschien. Da gab es tausenderlei Dinge zu erledigen und vorzubereiten: Toiletten zu bestellen und anzuprobieren, die Aussteuer herzurichten, unzählige Besuche zu machen und zu empfangen, und dann endlich, gleichsam um dies alles zu krönen, kam jener letzte Tag, an dem Frau von Sarlat, ihre Erregung gewaltsam niederkämpfend, es versucht hatte, wie die allzeit lächelnde, allzeit verbindliche Wirtin zu erscheinen! Daher war es nicht mehr als natürlich, daß sie, als sie sich nach all den Erregungen der letzten Zeit in diese plötzliche Ruhe versetzt sah, wie eine Niobe bitterlich weinte und sich jedem Trosteswort verschloß.

Wenn Marieta nur wenigstens glücklich würde! ... Vor der Ungewißheit der unergründlichen Zukunft schreckte Frau von Sarlat zurück, von heftigen Zweifeln gequält. ... Wie, wenn sie ihren Schatz einem Unwürdigen anvertraut?

Wohl war die Auskunft, die ihr Gatte in bezug auf Andres Montsa bekommen hatte, eine vorzügliche gewesen: er sei ein tüchtiger Arzt, ein liebenswürdiger Mensch, gesund an Körper und Seele, und erfreue sich einer gesicherten, angenehmen Stellung; was konnte eine Mutter mehr verlangen?... Und dann: er gefiel Marieta, und das war doch schließlich die Hauptsache... Charakterfehler aber kommen erst nach längerem Zusammenleben zum Vorschein...

Und wenn Andres auch der beste Mensch der Welt sein mochte, er blieb doch immerhin ein Mann, und dadurch allein schon waren seine Gedanken und Empfindungen von denen Marietas meilenweit entfernt. Sein Empfinden konnte vielleicht nicht zart genug, sein Takt nicht fein genug sein, um die weichen Regungen zu verstehen, die das Herz eines jungen Mädchens erzittern lassen. Und sollte er es hieran einmal fehlen lassen, so würde das geliebte Kind durch ihn den ersten Schmerz kennen lernen. Warum sich Illusionen hingeben?

In den ersten Flitterwochen entstehen häufig Zerwürfnisse, die zwei Wesen auf immer trennen. Und wenn sie dann erst in ihr neues Heim eingezogen und in den gesellschaftlichen Trubel zurückgekehrt, würden neue Anforderungen an sie gestellt werden, von denen sie bisher nichts geahnt hatte.

Es würde Marieta genau so ergehen, wie vielen anderen. Sie würde Enttäuschungen und manchen bitteren Schmerz erleiden, und wer weiß, wer weiß, ob sie stark genug sein würde, allen Versuchungen zu widerstehen!

Bei diesem Gedanken fühlte die arme Mutter, wie das Blut in ihren Adern erstarrte.

Sie kannte ja alle diese Möglichkeiten so genau, denn sie hatte sie alle durchgemacht. Sie hatte gelitten, mehr, glaubte sie, als alle anderen; sie hatte sich durchgekämpft durch verzweifelte Mutlosigkeit und mancherlei Enttäuschungen, die ihr die Lebensfreude im Keim zu ersticken drohten.

Und dennoch war Herr von Sarlat kein schlechter Gatte. Das hatte man ihr damals gesagt, und das empfand sie heute, nachdem ihre reiche Erfahrung sie gelehrt, vernünftig und nachsichtig zu urteilen. Er war in der Tat ein liebenswürdiger Mann, zu liebenswürdig vielleicht – und stets geneigt, auf seinem Lebenswege alle Rosen zu pflücken, um sein Knopfloch damit zu zieren. ...

Auch sie hatte im Anbeginn ihrer Ehe manchen Kampf zu kämpfen, und fürchtete oftmals, zu unterliegen, bis ihrem Leben durch die Geburt eines Kindes eine andere Wendung gegeben wurde. ...

Eines Nachts aber erwachte das Kind mit einem gefährlichen Husten. Da trat alles andere für die Mutter zurück, sie dachte nur noch an ihr geliebtes Kind, an dessen Bettchen Vater und Mutter Tag und Nacht in größter Sorge wachten. Und dann, als die Gefahr vorüber und das Kind lächelnd eingeschlafen war, zog ein köstlicher Friede in Frau von Sarlats Herz.

Was waren alle Erregungen und alle Kümmernisse vergangener Tage im Vergleich zu der furchtbaren Erschütterung, die sie jetzt durchgemacht! Nichts mehr von dem Zorn und der Gereiztheit, die sie sonst dem Gatten gegenüber empfunden; eine gründliche Wandlung hatte sich in ihr vollzogen. An die Stelle des Weibes war die Mutter getreten; und sie lernte nun einsehen, daß von allen Gefühlen die Mutterliebe das einzige ist, das ein Leben auszufüllen vermag.

Wie weit, ach, wie weit lagen all diese Erinnerungen zurück!... Seitdem hatte sie glücklich und zufrieden gelebt, hatte sich einzig und allein ihrem Kinde gewidmet und voll und ganz die Freuden ausgekostet, die sie an ihm erlebte. Ihr Gatte indessen, dem das nahende Alter die Falterflügel gestutzt, fühlte sich am häuslichen Herd immer wohler und lebte behaglich und zufrieden im Kreise der Seinen.

Und jetzt?... Was sollte aus ihnen werden, nachdem Marieta gegangen, um sich in der Welt ihren eigenen Weg zu suchen? Was für ein ödes, freudloses Leben! Und immer wieder legte sich Frau von Sarlat die Frage vor, ob dieses Leben wirklich noch des Lebens wert sei.

Da öffnet sich plötzlich die Tür und Herr von Sarlat tritt ein.

»Du gestattest?« fragt er zögernd, während er sich langsam auf den gegenüberstehenden Sessel niederläßt.

Als sie ihn so vor sich sieht, müde und abgespannt von den Erregungen des verflossenen Tages, empfindet Frau von Sarlat Mitleid mit ihrem Gatten.

Seitdem Sarlat seine Tochter, die weißgekleidete, verschleierte Jungfrau, feierlich zum Standesamt geleitet hatte, war von Zeit zu Zeit eine Träne langsam über seine Wange gerollt, und er hatte nicht versucht, sie zu verbergen. Und er hatte auch die zitternde Zähre bemerkt, die auf dem kostbaren Gewand seiner Gattin glänzte.

Und jetzt zieht er, einer plötzlichen Erregung folgend, seine Gattin an sich, legt seinen Kopf auf ihre Schulter und weint wie ein Kind.

»Meine arme Freundin, meine arme Freundin,« wiederholt er einmal über das andere, gleich als sei sie von einem großen Unglück betroffen.

Und sie weint noch immer, aber nicht mehr mit der bitteren Empfindung, die sie zuvor im Herzen gehegt; denn geteilter Schmerz ist leichter zu ertragen.

»Ist es nicht lächerlich,« sagt er, sich zu einem Lächeln zwingend, »daß die unglücklichen Eltern, die sich von ihrem Kinde trennen sollen, gezwungen werden, an einem solchen Tage zu tausend fremden Menschen liebenswürdig und verbindlich zu sein?«

Er hält einen Augenblick inne und kämpft mit aufsteigenden Tränen. »Weißt du, woran ich soeben gedacht?« Frau von Sarlat schüttelt verneinend den Kopf.

»Weißt du, – ich habe gedacht... ich habe gedacht, daß ich meinen Schwiegersohn, wenn er es sich einfallen lassen wollte, auch nur einen einzigen Tag so zu leben, wie ich früher stets gelebt, ganz einfach erschlagen würde.«

»Schweige,« sagt sie, indem sie ihm mit einer raschen Bewegung die Hand auf den Mund legt, tief gerührt über sein demütiges Bekenntnis; »das alles soll vergessen und vergeben sein.«

Er aber ergreift sanft ihre Hand und führt sie an seine Lippen.

»Nein,« erwidert er mit fester Stimme, »nein, laß mich sprechen!... Sieh, es gibt Momente, in denen wir auf unser ganzes verflossenes Leben zurückschauen. Während ich von einem Tage zum andern beobachtete, wie sich Marieta geistig und körperlich so wunderbar entwickelte, habe ich einsehen gelernt, wie köstlich es ist, Vater eines Kindes zu sein! Und mit einer Reue, deren ich nicht Herr zu werden vermag, habe ich daran gedacht, wie auch mir Unwürdigem einst eine Marieta anvertraut wurde, die genau so anbetungswürdig und lieblich war, wie die, welche wir heute verloren, und die glücklich zu machen ich Elender niemals verstanden habe!«

Er birgt das Gesicht in den Händen, und während seine Gattin ihn so von Gewissensqualen gefoltert vor sich sieht, bemächtigt sich ihrer ein Gefühl unendlichen Mitleidens: Ach, das Leben war doch nicht so schlimm, wie es ihr erschienen, und ihr war noch eine schöne Pflicht geblieben, die, ihren Gatten zu stützen und zu trösten! Der Tag hatte trübe und traurig für sie begonnen, aber wie schön und friedlich war sein Abend!

Sollte ihre Tochter jemals an ihrem Glück verzweifeln und den Mut verlieren, so würde sie, die Mutter, ihr von diesem Tage erzählen...

Sie blickt wieder zu ihrem Gatten hinüber, und beider Blicke treffen sich durch einen dichten Nebelschleier, der sie umhüllt.

»Meine arme Freundin,« sagt er mit leiser Stimme; »was soll aus dir werden, nun, da sie von dir gegangen?«

Sie legt ihre Hand sanft in die seine und sagt mit zärtlicher Stimme: »Und bleibst du mir nicht?«

Und so saßen die beiden Gatten noch lange beisammen, indes die Abenddämmerung das Firmament purpurn färbte.


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