Marcus Aurelius Antonius
Des Kaisers Marcus Aurelius Antonius Selbstbetrachtungen
Marcus Aurelius Antonius

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Achtes Buch.

1.

Auch das bewahrt dich vor eitler Ruhmbegierde, daß du nicht dein ganzes Leben, zumal nicht von Jugend auf, hast hinbringen können, wie es einem Philosophen geziemt, sondern vielen anderen, wie dir selbst, als ein Mensch erschienen bist, der weit von der Philosophie entfernt ist. Ein Makel also hängt dir an, und es ist dir mithin nicht mehr leicht, den Ruhm eines Philosophen zu gewinnen. Aber auch deine Lebensstellung ist dir dabei hinderlich. Wofern du nun in Wahrheit eingesehen hast, worin die Hauptsache liegt, so laß einmal allen Dünkel fahren und dann begnüge dich damit, den etwaigen Rest deines Lebens dem Willen der Natur gemäß hinzubringen. Erwäge demnach, was sie fordert und laß dich durch nichts davon abbringen. Du hast ja manches versucht, bist unter so vielen Gegenständen umhergeirrt und hast doch nirgends das Glück des Lebens gefunden. Nicht in Vernunftschlüssen, nicht im Reichtum, nicht im Ansehen, nicht im Sinnengenusse, nirgends. Wo ist es denn nun wirklich? Da, wo man tut, was die Menschennatur erheischt. Aber wie läßt sich das tun? Wenn man seine Bestrebungen und Handlungen aus Grundsätzen entspringen läßt. Was sind das für Grundsätze? Solche, die sich auf Güter und Übel beziehen und nach denen nichts für den Menschen ein Gut ist, was ihn nicht gerecht, besonnen, mannhaft, freigesinnt macht, und ebenso nichts ein Übel, was nicht das Gegenteil von dem Gesagten hervorbringt.

2.

Bei allem, was du tust, frage dich selbst: Wie steht es eigentlich für mich damit? Werde ich es zu bereuen haben? Über ein kleines, und ich bin tot, und alles ist dahin. Was kann ich aber mehr verlangen, wenn meine gegenwärtige Weise zu handeln die eines vernünftigen und geselligen Wesens ist, das mit der Gottheit unter gleichen Gesetzen steht?

3.

Alexander, Cäsar und Pompejus, was sind sie gegen einen Diogenes, Heraklit und Sokrates? Die letzteren erkannten die Dinge, ihre wirkenden Kräfte und ihre Bestandteile, und waren immer in gleicher Seelenruhe. Bei jenen aber, welche Besorgnis vor so vielem und welch knechtische Abhängigkeit von wie vielem!

4.

Und wenn du gleich platzen solltest, sie werden nichtsdestoweniger ebenso handeln.

5.

Vor allen Dingen laß dich nicht beunruhigen; alles geht ja doch so, wie es der Natur des Ganzen gemäß ist. Noch eine kurze Zeit – und du wirst nicht mehr sein, so wenig wie Hadrian und Augustus. Demnächst fasse deine Lebensaufgabe unverwandten Blicks ins Auge und erinnere dich dessen, daß du ein guter Mensch sein sollst, und was die Natur des Menschen von dir fordert, das tue unverrückt und rede auch nur, was dir als durchaus gerecht erscheint, aber immer auf eine bescheidene, ruhige und ungeheuchelte Weise.

6.

Die Allnatur ist immer geschäftig, die vorhandenen Dinge von einer Stelle zur andern zu versetzen, sie umzuwandeln, sie von hier wegzunehmen und dorthin zu verpflanzen. Alles wechselnd und doch auch an gleiche Gesetze gebunden! Alles gewöhnlich! Man darf also nichts Ungewöhnliches befürchten.

7.

Jedes Naturwesen ist zufrieden, wenn es ihm wohl geht. Einem vernünftigen Wesen geht es aber wohl, wenn es in die Reihe seiner Vorstellungen nichts Unwahres oder Ungewisses aufnimmt, seine Triebe nur auf gemeinnützige Handlungen richtet, seine Neigungen und Abneigungen allein auf das lenkt, was von uns selbst abhängig ist, und jedes von der Gesamtnatur ihm zugeteilte Los mit Wohlgefallen aufnimmt. Ist es ja doch ein Teil von ihr, wie das Blatt ein Teil von der Pflanze ist, mit dem Unterschied jedoch, daß das Blatt ein Teil von einer empfindungsleeren, vernunftlosen, Hindernissen unterworfenen Natur ist, die Menschennatur dagegen ein Teil einer über alle Hindernisse erhabenen, vernünftigen und gerechten Natur, insofern sie jedem Wesen nach Maßgabe seines Wertes gleichen Anteil an Dauer, Stoff, Kraft, Wirksamkeit und Begegnissen verleiht. Zu dem Ende vergleiche nicht die einzelnen Eigenschaften der Wesen miteinander, sondern vielmehr das Ganze einer Gattung mit dem Ganzen einer andern.

8.

Wenn es dir nicht vergönnt ist zu lesenS. III, 14. V, 5. so ist dir's doch vergönnt, Schändliches von dir abzuwenden; vergönnt, Lust und Schmerz zu bemeistern; vergönnt, dich über eitle Ruhmsucht erhaben zu zeigen; vergönnt, gefühllosen und undankbaren Menschen nicht zu zürnen, noch mehr, ihnen Gutes zu erweisen.

9.

Niemand höre von dir, eine Beschwerde über das Hofleben oder über dein eigenes Leben.

10.

Die Reue ist eine Art Selbststrafe, weil man sich etwas Nützliches hat entgehen lassen. Das Gute aber ist notwendigerweise nützlich, und deshalb muß der gute und edle Mann sich darum kümmern. Dagegen hat es ein guter und edler Mann wohl noch nie bereut, daß er sich ein Vergnügen hat entgehen lassen. Mithin ist die Sinnenlust weder etwas Nützliches noch auch ein Gut.

11.

Dieser Gegenstand hier, was ist er an und für sich nach seiner eigentümlichen Beschaffenheit? Was ist er seinem Wesen und seinem Stoffe nach? Welches ist seine wirkende Kraft? Was tut er in der Welt, und wie lange dauert er fort?

12.

Sooft du dich ungern dem Schlaf entreißest, denke daran, daß die Ausübung gemeinnütziger Handlungen sowohl deine Pflicht als deiner Menschennatur gemäß ist, das Schlafen aber hast du sogar mit den vernunftlosen Tieren gemein. Was aber der Natur eines jeden Wesens gemäß ist, das ist ihm entsprechender, angemessener, ja sogar auch angenehmer.

13.

Jederzeit und womöglich bei jeder Vorstellung mußt du die Lehren der Physik, der Ethik, der Dialektik in Anwendung bringen.Die Stoiker teilten die Philosophie gewöhnlich in drei Teile ein: Physik, d. h. Studium nach Wesen und Beschaffenheit, Ethik, d. h. nach dem sittlichen Wert, Dialektik, d. h. zur richtigen Beurteilung.

14.

Wenn du mit jemandem verkehrst, lege dir sogleich die Frage vor: Welche Grundsätze hat er von dem Guten und von dem Bösen? Denn je nach den Ansichten, die er von Lust und Schmerz und den Ursachen beider, von Ehre und Unehre, Tod und Leben hegt, kann es mich nicht wundern noch befremden, wenn er so und so handelt. Vielmehr will ich dabei bedenken, daß er gezwungen ist, so zu handeln.

15.

Denke daran, daß es ebenso schimpflich ist, darüber sein Befremden zu äußern, daß die Welt das hervorbringt, wozu sie in sich die Keime hat, als darüber, daß der Feigenbaum Feigen trägt. Wäre es doch auch für einen Arzt und einen Steuermann schimpflich, wenn jener über einen Fieberkranken und dieser über einen Gegenwind sein Befremden äußern wollte.

16.

Bedenke, daß du nicht gegen deine Freiheit handelst, wenn du deine Meinung änderst und dem, der sie berichtigt, nachgibst. Denn auch dann vollzieht sich deine Tätigkeit nach deinem Willen und Urteil und sogar auch nach deinem Sinn.

17.

Rührt ein Übel von dir selbst her, warum tust du's? Kommt es von einem andern, wem machst du Vorwürfe? Etwa den Atomen oder den Göttern? Beides ist unsinnig. Hier ist niemand anzuklagen. Denn, kannst du, so bessere den Urheber; kannst du das aber nicht, so bessere wenigstens die Sache selbst; kannst du aber auch das nicht, wozu frommt dir das Anklagen? Denn ohne Zweck soll man nichts tun.

18.

Was stirbt, kommt darum noch nicht aus der Welt. Wenn es nun hier bleibt, so verwandelt es sich auch hier und wird in seine Grundstoffe aufgelöst, die es mit der Welt und mit dir gemeinsam hat. Auch die Elemente selbst verwandeln sich und murren nicht.

19.

Jedes Wesen, Zum Beispiel ein Pferd, ein Weinstock, ist zu irgendeinem Zwecke da. Was Wunder? Auch die Sonne wird dir sagen: Ich bin zu einer Wirksamkeit entstanden, und so auch die übrigen GötterDie Stoiker erblicken in den Gestirnen lebendige, göttliche Wesen. Zu was bist du nun da? Etwa zu sinnlichen Freuden? Sieh doch einmal zu, ob der gesunde Menschenverstand eine solche Behauptung zuläßt.

20.

Die Natur nimmt auf jedes Wesen Rücksicht, und zwar nicht minder auf sein Ende als auf seinen Anfang und seine Fortdauer, so wie der, der den Ball in die Höhe wirft, auf ihn Achtung gibt. Was widerfährt nun dem Balle Gutes, wenn er emporgeworfen wird, und was für ein Übel, wenn er herunterkommt oder zu Boden fällt? Was für eine Wohltat der Wasserblase, wenn sie zusammenhält, oder was für ein Leid, wenn sie zerplatzt? Ebenso ließe sich in betreff eines Lichtes fragen.So ist auch Leben und Tod an sich gleichgültig.

21.

Kehre einmal das Innere deines Körpers um wie ein Kleid und schau, wie er inwendig beschaffen ist und was er sein wird, wenn Alter, Krankheit und Ausschweifung ihn aufreiben! Von kurzer Lebensdauer ist sowohl der, welcher lobt, als der, welcher gelobt wird, der, welcher eines andern gedenkt und der, dessen gedacht wird. Und zudem nur in einem Winkel dieses Erdstriches geschieht es, und selbst hier stimmen nicht alle miteinander, ja der einzelne stimmt nicht einmal mit sich selbst überein. Nun ist aber die ganze Erde nur ein Punkt.

22.

Habe jedesmal acht auf das, um was es sich handelt, auf das, was du denkst, was du tust, auf den Sinn der Worte, die du aussprichst. Sonst geschieht dir eben recht. Du willst lieber morgen erst gut werden als es heute schon sein.

23.

Bin ich tätig, so bin ich es mit Rücksicht aus Menschenwohlfahrt; widerfährt mir etwas, so nehme ich es hin und beziehe es auf die Götter und den allgemeinen Urquell, von dem alle Ereignisse engverbunden herfließen.

24.

Was siehst du beim Baden? Öl, Schweiß, Schmutz, klebriges Wasser – lauter widerliche Dinge. Von eben der Art ist jeder Teil des Lebens und alles, was darin vorkommt.

25.

Lucilla sah den Verus sterben, nachher starb auch Lucilla, Secunda den Maximus, und dann folgte Secunda ihm, Epitynchanus den Diotimus, und bald folgte Epitynchanus diesem, Faustina starb vor Antoninus und dann Antoninus selbst, Hadrian vor Celer, und dann starb auch Celer. So ging´s mit allen. Jene Scharfsinnigen, jene Seher oder jene aufgeblasenen Leute – wo sind sie? Wo sind zum Beispiel die scharfsinnigen Männer Charax, Demetrius der Platoniker, Eudämon und andere der Art? Alles Eintagsgeschöpfe und nun längst schon tot. Von einigen hat sich nicht einmal auf kurze Zeit ein Andenken erhalten; andere Namen aber wurden zur Fabel, andere wiederum sind bereits auch aus der Reihe dieser verschwunden. Denke also daran, daß auch dein Körpergewebe sich auflösen, dein Geist verlöschen oder fortwandern oder anderswohin sich versetzen lassen muß.

26.

Es gewährt dem Menschen Freude, wahrhaft menschlich zu handeln. Wahrhaft menschlich aber ist das Wohlwollen gegen seinesgleichen, Verachtung der Sinnenreize, Unterscheidung bestechender Vorstellungen, Betrachtung der Allnatur und ihrer Wirkungen.

27.

Der Mensch steht in drei Beziehungen: erstens zu der ihn umgebenden körperlichen Hülle, zweitens zum göttlichen Ursprung, von dem alles herrührt, was uns begegnet, drittens zu seinen Zeitgenossen.Daraus folgen die Pflichten gegen uns selbst, gegen Gott und gegen unsere Nebenmenschen.

28.

Der Schmerz ist entweder für den Leib ein Übel – so mag sich denn dieser darüber beschweren – oder für die Seele; dieser aber ist es ja vergönnt, ihre Heiterkeit und Ruhe zu behaupten und jenen für kein Übel zu halten. Denn Urteil, Trieb, Neigung und Abneigung – alle haben ihren Sitz tief im Innern, und bis dahin versteigt sich kein Übel.

29.

Unterdrücke die Einbildungen, indem du beständig zu dir selbst sprichst: Es steht ja allein bei mir, in dieser Seele keine Bosheit, keine Begierde und überhaupt keine Leidenschaft aufkommen zu lassen, hingegen will ich alles von dem richtigen Gesichtspunkt aus betrachten und jedes Ding nach seinem Werte benutzen. Gedenke dieses dir von der Natur geschenkten Vermögens.

30.

Im Senat sowohl als im Umgangsleben rede geziemend, ohne affektiert zu werden. Rede mit gesunder Vernunft.

31.

Der Hof des Augustus, seine Gemahlin, seine Tochter, seine Enkel, seine Schwiegersöhne, seine Schwester, Agrippa, seine Verwandten, Hausgenossen und Freunde, Arius, Mäcenas, seine Leibärzte und Opferpriester, kurz, sein ganzer Hof – eine Beute des Todes! Von da geh weiter, nicht etwa zum Tode eines einzelnen Menschen, sondern ganzer Familien, wie der Familie der Pompejer. So manches Grabmal führt die Aufschrift: der Letzte seines Geschlechts. Nun bedenke einmal, wie sehr ihre Vorfahren um einen Nachkömmling besorgt waren, und doch mußte notwendig einer der letzte sein. Erwäge überdies den Tod ganzer Völker.

32.

Du mußt in dein ganzes Leben wie in jede einzelne Handlung Ordnung bringen, und wenn du dir bei allen Handlungen sagen kannst: Ich tat nach besten Kräften, so kannst du ruhig sein, und daß du deine ganze Kraft einsetztest, daran kann dich niemand hindern. »Aber es kann sich von außen her ein Widerstand erheben?« Gewiß keiner gegen ein gerechtes, besonnenes und überlegtes Handeln. Aber vielleicht tritt sonst etwas deiner Tätigkeit in den Weg? Doch lassest du dir nur jenes Hindernis gefallen und schreitest zu dem, was dir noch freisteht, mit Überlegung fort, so tritt sogleich ein neuer Gegenstand der Tätigkeit an die Stelle und wird sich in die Lebensordnung fügen, von der wir reden.

33.

Ohne Anmaßung nimm an, ohne Bedauern gib hin!

34.

Hast du schon einmal eine abgeschnittene Hand oder einen abgehauenen Fuß oder Kopf, vom übrigen Körper getrennt, daliegen sehen? Gerade so nimmt sich derjenige aus, der über sein Schicksal unwillig wird, sich von anderen absondert oder sich gemeinschädliche Handlungen erlaubt. Du hast dich so gewissermaßen ausgestoßen, von der naturgemäßen Einheit getrennt. Denn als ein Teil warst du ihr einverleibt und hast dich nun selbst davon abgesondert. Aber hier ist es noch bewundernswert, daß du dich mit ihr von neuem vereinigen kannst. Diese Möglichkeit, nach Trennung und Verstümmlung mit dem Ganzen wieder zusammenzukommen, hat Gott keinem andern Teile der Natur verliehen. Erwäge doch die Güte, womit er den Menschen bevorzugt hat. Denn er hat beides in seine Hand gelegt, seine Lostrennung vom Ganzen gleich anfangs zu vermeiden, aber auch nach seiner Trennung sich wieder mit demselben zu vereinigen, sich von neuem ihm einzuverleiben und seine Stellung als Teil wieder einzunehmen.

35.

Jedes von uns vernünftigen Geschöpfen hat neben seinen übrigen Kräften von der Allnatur auch noch folgende erhalten: so nämlich wie diese allem, was ihr widersteht und entgegenwirkt, eine andere Wendung gibt, es in die Kette ihrer Notwendigkeit einreiht und zu einem Bestandteile ihrer selbst macht: so kann auch das vernunftbegabte Wesen jedes Hindernis zu einem Gegenstand seiner Wirksamkeit machen und sich desselben zur Erreichung seines jedesmaligen Zweckes bedienen.

36.

Laß dich nicht durch die Betrachtung deines Lebens in seiner Gesamtheit entmutigen! Fasse nicht alle Unannehmlichkeiten, die dir vielleicht noch begegnen könnten, nach Beschaffenheit und Menge auf einmal in Gedanken zusammen, sondern frage dich vielmehr bei jeder einzelnen, wenn sie da ist: Was ist denn daran eigentlich nicht zu ertragen und auszuhalten? Du mußt dich ja schämen, es zuzugestehen. Denke ferner daran, daß weder das Zukünftige noch das Vergangene, sondern immer nur das Gegenwärtige dir lästig werden kann, des letzteren Last aber gemildert wird, wenn du erwägst, wie kurz es ist, und wenn du deiner denkenden Seele die Schwäche vorhältst, daß sie nicht einmal eine kleine Bürde aushalten könne.

37.

Sitzen etwa auch jetzt noch Panthea oder Pergamus am Grabe des Verus? oder Chabrias und Diotimus an dem Hadrians? Das wäre lächerlich. Wie aber, wenn sie wirklich dasäßen, würden jene es fühlen, und wenn sie es fühlten, würde es sie freuen, und wenn sie es freute, würden sie darum unsterblich sein? War es nicht ihr notwendiges Geschick, erst zu altern und dann zu sterben? Und können denn die Klagenden dem Tode entrinnen? Dieser ganze Körper ist Moder und Verwesung.

38.

Wenn du Scharfsinn besitzest, so zeige ihn in weisen Urteilen.

39.

In einem vernünftigen Geschöpfe finde ich keine Tugend, die der Gerechtigkeit widerstreitet, wohl aber eine, die der Wollust entgegensteht, die Enthaltsamkeit.

40.

Wenn du deine Meinung von dem aufgibst, was dich zu betrüben scheint, so hast du dich selbst in vollkommene Sicherheit gebracht. Wer ist dies Selbst? Die Vernunft. »Aber ich bin ja doch nicht die Vernunft.« Du sollst es sein, und mithin soll die Vernunft nicht sich selbst betrüben. Ist aber sonst noch etwas an dir in schlimmem Zustand, so möge dieses selbst über sich aburteilen!

41.

Beschränkung der Sinnlichkeit ist ein Übel für die tierische Natur, Beschränkung des Triebes ist es gleichfalls. Ebenso gibt es auch manches, was der Entwicklung des Pflanzenlebens hinderlich ist. So ist demnach auch die Beschränkung der Vernunft ein Übel für die vernünftige Natur. Wende auf dich selbst alle diese Beobachtungen an. Unlust oder Lust berühren dich? Da mag die Sinnlichkeit zusehen. Gegen deinen Trieb erhebt sich ein Widerstand? Wolltest du nun deinem Triebe unbedingt nachgeben, so wäre das schon ein Übel für dich als vernünftiges Wesen. Siehst du aber jenen Widerstand als etwas Gewöhnliches an, so wird kein Nachteil oder Hindernis für dich eintreten. In den der Vernunft angehörigen Kreis pflegt fürwahr nichts anderes störend einzugreifen; denn diesen tastet weder Feuer noch Eisen noch ein Gewaltherrscher, nicht Lästerung noch sonst etwas an. Solange eine Kugel besteht, bleibt sie eben rund nach allen Seiten.

42.

Ich verdiene es nicht, mich selbst zu betrüben, da ich ja nicht einmal einen andern jemals geflissentlich betrübt habe.

43.

Dem einen macht dies, einem andern jenes Freude; die meinige finde ich im Besitz einer gesunden, mich beherrschenden Vernunft, die von keinem Menschen und von keiner menschlichen Angelegenheit sich abwendet, sondern alles mit wohlwollendem Auge ansieht und aufnimmt und jegliches nach Maßgabe seines Wertes benutzt.

44.

Auf, benutze die gegenwärtige Zeit; denn diejenigen, die mehr dem Nachruhm nachgehen, bedenken nicht, daß die kommenden Geschlechter ebenso beschaffen sein werden wie die jetzigen, über die sie sich beschweren. Auch jene sind ja sterblich. Überhaupt, was kümmert es dich, wenn unter ihnen diese und jene Stimmen über dich laut werden oder sie diese und jene Meinung von dir haben?

45.

Nimm mich und versetze mich, wohin du willst. Überall werde ich meinen hilfreichen Genius besitzen, das heißt einen Geist, der zufrieden damit ist, wenn er seiner eigentümlichen Natur gemäß sich verhalten und wirken kann. Sollte wohl jenes so erheblich sein, daß dadurch meine Seele sich schlecht befindet und verschlimmert und gedrückt, sehnsüchtig, zerrüttet, bestürzt unter sich selbst herabsinkt? Was gäbe es wohl, das solch eines Opfers wert wäre?

46.

Dem Menschen kann nie etwas begegnen, was nicht ein menschlicher Vorfall wäre, so wenig wie dem Stiere etwas, was nicht seiner Stiernatur, oder dem Weinstock etwas, was nicht der Natur des Weinstocks, oder auch dem Steine etwas, was nicht der Natur des Steines angemessen wäre. Wenn nun jedem begegnet, was gewöhnlich und natürlich ist, warum wolltest du ärgerlich darüber werden, da die Allnatur dir nichts Unerträgliches widerfahren läßt?

47.

Wenn ein Gegenstand der Außenwelt dich mißmutig macht, so ist es nicht jener, der dich beunruhigt, sondern vielmehr dein Urteil darüber; dieses aber sofort zu tilgen, steht in deiner Macht. Hat aber die Mißstimmung in deinem Seelenzustande ihren Grund, wer hindert dich, deine Ansichten zu berichtigen? Desgleichen, wenn du darüber mißmutig bist, daß du dich nicht in einem Tätigkeitskreise befindest, der dir als vernünftig erscheint, warum nicht lieber tätig als mißgestimmt sein? »Aber ein Hindernis, stärker als ich, stellt sich in den Weg.« So sei dennoch nicht mißmutig; der Grund deiner Untätigkeit liegt ja dann nicht in dir. »Aber das Leben hat keinen Wert mehr für mich, wenn das nicht ausgeführt wird.« Nun so scheide aus dem Leben, so ruhig, als wenn du es vollbracht hättest; doch vergiß nicht, deinen Widersachern zu verzeihen.

48.

Denke daran, daß deine herrschende Vernunft, wenn sie, in sich selbst gesammelt, sich selbst genügt und nichts tut, was sie nicht will, unüberwindlich wird, auch wenn sie einmal ohne genügenden Grund Widerstand leistet. Wieviel mehr also dann, wenn sie mit Grund und mit Bedacht über etwas urteilt? Deshalb ist die denkende Seele, von Leidenschaft frei, gleichsam eine Festung. Denn der Mensch hat keine stärkere Schutzwehr, wohin er seine Zuflucht nehmen könnte, um fortan unbezwinglich zu sein. Wer nun diese nicht kennt, ist unwissend; wer sie aber kennt, ohne zu ihr seine Zuflucht zu nehmen, ist unglücklich.

49.

Rede dir nicht noch von selbst etwas ein zu dem, was die sinnlichen Wahrnehmungen dir unmittelbar verkündigen. Man hat dir hinterbracht, dieser und jener rede schlecht von dir. Gut! Das aber, daß du hierdurch Schaden leidest, hat man dir nicht hinterbracht. Ich sehe, daß mein Kind krank ist. Das aber, daß es in Gefahr schwebt, sehe ich nicht. So nun bleibe immer bei den ersten Eindrücken stehen und setze nichts aus deinem Innern oder selbst hinzu, und dir wird nichts geschehen. Oder willst du etwas hinzusetzen, so tue es als ein Mann, der alle Weltbegebenheiten durchschaut.

50.

Diese Gurke ist bitter. Nun, so wirf sie weg. Hier sind Dorngesträuche am Weg. Weiche ihnen aus. Das ist alles. Frage nicht noch: Wozu gibt es solche Dinge in der Welt? Sonst würde dich ein Naturkundiger auslachen, gleichwie der Tischler und der Schuster dich auslachen würden, wenn du's ihnen zum Vorwurf machen wolltest, daß du in ihren Werkstätten Hobelspäne und Lederabfälle wahrnimmst. Und doch haben diese Leute noch einen Ort, wo sie dergleichen hinwerfen können. Die Allnatur aber hat außerhalb ihres eigenen Kreises nichts. Das ist gerade das Bewundernswerte in ihrer Kunstfertigkeit, daß sie in ihrer Selbstbegrenzung alles, was in ihr zu verderben, zu veralten und unbrauchbar zu werden droht, in ihr eigenes Wesen umwandelt und eben daraus wieder andere neue Gegenstände bildet. Sie bedarf zu dem Ende ebensowenig eines außer ihr befindlichen Stoffes, als sie eine Stätte nötig hat, um das Morsche dorthin zu werfen. Sie hat vielmehr an ihrem eigenen Raum, ihrem eigenen Stoff und an ihrer eigenen Kunstfertigkeit genug.

51.

Sei in deinem Tun nicht nachlässig, in deinen Reden nicht verworren, in deinen Vorstellungen nicht zerstreut; laß deine Seele niemals sich verengen oder leidenschaftlich aufwallen oder in deinem Leben dich von Geschäften völlig mit Beschlag belegen. Mögen sie dich ermorden, zerfleischen und mit ihren Flüchen verfolgen. Was tut denn das? Kann doch deine denkende Seele dessenungeachtet rein, verständig, besonnen, gerecht bleiben! Eine klare und süße Quelle hört ja nicht auf, ihren Labetrunk hervorzusprudeln, sollte gleich jemand hinzutreten und sie verlästern. Und auch wenn er Schmutz hineinwerfen sollte, sie wird diesen doch alsbald zerteilen oder wegspülen, ohne dadurch im mindesten getrübt zu werden. Wie kannst du dir nun eine solche nie versiegende Quelle – und nicht etwa bloß eine Zisterne – zu eigen machen? Wenn du dir selbst stündlich eine freie Gesinnung, verbunden mit Wohlwollen, Einfalt und Bescheidenheit, anzueignen strebst.

52.

Wer nicht weiß, was die Welt ist, der weiß auch nicht, wo er lebt. Wer aber den Zweck seines Daseins nicht kennt, der weiß weder, wer er selbst noch was die Welt ist. Wem aber diese Kenntnis fehlt, der kann auch seine eigene Bestimmung nicht angeben. In welchem Lichte erscheint dir nun ein Mensch, der die Lästerung derer fürchtet oder um den lauten Beifall derer buhlt, die nicht wissen, wo oder wer sie selbst sind?

53.

Wünschst du wohl von einem Menschen gelobt zu werden, der in einer Stunde dreimal sich selbst verflucht? Oder wolltest du wohl dem gefallen, der sich selbst nicht gefällt? Oder gefällt der sich selbst, der beinahe alle seine Handlungen bereut?

54.

Nicht bloß dein Odem soll mit der dich umgebenden Luft, sondern auch dein Sinn soll mit dem Vernunftwesen in Übereinstimmung sein, das alles umgibt. Denn die Vernunftkraft ist ebenso über das All ausgegossen und durchdringt ebenso jeden, der sie an sich ziehen will, wie die Luft den, der Atem holt.

55.

Die Bosheit schadet weder der Welt im allgemeinen noch dem Nebenmenschen insbesondere. Sie ist nur dem schädlich, der es ganz in seiner Gewalt hat, sich, sobald er nur will, von ihr loszureißen.

56.

Für meine Willensfreiheit ist die Willensfreiheit meines Nebenmenschen ebenso gleichgültig wie sein ganzes geistiges und leibliches Wesen; denn sind wir auch in ganz besonderem Sinne füreinander geboren, so haben doch die in uns herrschenden Kräfte je ihr eigenes Gebiet. Sonst müßte ja das Laster meines Nebenmenschen mein eigenes Laster sein, was jedoch die Gottheit nicht gewollt hat, damit nicht von der Willkür eines andern mir ein Unglück zugefügt werden könnte.

57.

Die Sonnenstrahlen scheinen von der Sonne herabzufließen, und wiewohl sie sich überall hin ergießen, werden sie doch nicht ausgegossen. Diese Ergießung ist nämlich nur eine Ausdehnung derselben. Führen doch auch ihre leuchtenden Strahlen von dem Worte »ausgedehnt werden«Im Griechischen kommt das Wort »Strahl« von dem Zeitwort »sich ausdehnen«. ihren Namen. Die Natur eines Strahls wird aber daraus ersichtlich, wenn man das Sonnenlicht, so wie es durch eine enge Öffnung in ein verdunkeltes Gemach hereinschlüpft, beobachtet. Es breitet sich nämlich in gerader Richtung aus, und wenn es auf einen dichteren, für die Luft undurchdringlichen Körper stößt, bricht es sich gleichsam; hier bleibt es dann stehen, ohne herabzugleiten oder zu fallen. So muß auch gleichsam unser Geist ausstrahlen und sich ergießen, keineswegs aber sich ausgießen, vielmehr nur sich ausdehnen und gegen die ihm begegnenden Hindernisse keinen gewaltsamen und stürmischen Anlauf nehmen oder herabsinken, vielmehr stehen bleiben und den Gegenstand beleuchten, der sein Licht zuläßt. Alles aber, was die Strahlen nicht durchläßt, beraubt sich selbst des Lichtes und bleibt in Finsternis.

58.

Wer sich vor dem Tode fürchtet, fürchtet sich entweder vor dem Aufhören jeglicher Empfindung oder vor einem Wechsel des Empfindens. Wenn man nun gar nichts mehr fühlt, so wird man auch kein Übel mehr fühlen; erhalten wir aber eine andere Art des Fühlens, so werden wir auch zu anderen Wesen und hören mithin nicht auf zu leben.

59.

Die Menschen sind füreinander da. Also belehre oder dulde sie.

60.

Anders ist der Flug des Geschosses, anders der Flug, den der Geist nimmt. Denn der Geist bewegt sich, mag er nun einer Sache ausweichen oder sich bei ihrer Betrachtung aufhalten, darum doch in gerader Richtung auf sein Ziel zu.Ein Pfeil kann durch Hindernisse aufgehalten werden, nicht der Geist.

61.

Suche in das Innere jedes Menschen einzudringen; aber gestatte auch jedem andern, in deine Seele einzudringen.


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