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Das war noch die Zeit, in der ungeschrieben aber unbestritten das Gesetz galt: dem Volke muß es schlecht gehen, damit es der Volkswirtschaft gut gehe.
In der ersten Hälfte der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts war Mariahilf einer der vornehmsten der zehn Bezirke Wiens. Geschäftsleute, denen man beruhigt borgen konnte, wohnten dort und angesehene Gewerbetreibende, die fest auf dem goldenen Boden ihres Handwerks standen, erbgesessene, behäbige Bürgersleute, deren größter Ehrgeiz es nicht bloß war, einen Orden im Knopfloch stecken oder den Titel eines kaiserlichen Rates auf der Visitkarte gedruckt zu haben, sondern es noch viel weiter, bis zum Mariahilfer oder Gumpendorfer Hausherrn zu bringen. War es so weit, dann gab es ein beschauliches Ausruhen und Rückblicken auf den steinigen Weg zur zwei- oder dreistöckigen schwindelnden Höhe hinauf, von der aus sie geringschätzig hinunterschauen konnten auf die armen Leut'.
Die armen Leut' waren dünn gesät in Mariahilf. Hausmeister, Kutscher und sonst nur noch ganz wenige waren im eigentlichen Mariahilf angesiedelt. Richtige Proleten in größerer Zahl hausten im südlicheren Gumpendorf. Die Färber, Appreteure und Wäscher, die in den Betrieben am stinkenden Wienfluß ihr täglich Brot mit spinnwebdünnen Butterschichten drauf verdienten.
Und überhaupt war das noch eine zeithaberische Zeit, Automobile und Straßenbahn und das Telephon und die raffinierten Maschinen waren noch nicht erfunden und die Nerven auch noch nicht, und wer viel Geld hatte, war wer, und wer keines hatte, war der reine Niemand, mit einem Wort: man lebte mitten drin in der so viel beweinten »guten, alten Zeit« und wußte es eigentlich gar nicht.
Die Bewohner des einstöckigen Einundzwanzigerhauses in der Hirschengasse schnarchten dem nächsten Tag entgegen.
Die Hausfrau vom Einundzwanzigerhaus konnte heute aber nicht gut schlafen, denn die Schlechtigkeit der Menschen verfolgte sie bis in ihre Träume. In wachen Momenten sagte sie sich selber ins Ohr, was seit Erschaffung der Welt die ältere Generation zu sagen pflegt: »Eine Welt ist das heutzutag' und die heutigen Menschen... ja, früher, zu meiner Zeit... aber das kann sich net halten.«
Freilich war es zum Beispiel für diese Hausfrau früher schöner, weil sie selbst früher auch jünger und schöner gewesen ist, aber das wird die ältere Generation nie verstehen.
Vor dem Einschlafen stellte die Hausfrau gewöhnlich den Leuchter mit der flackernden Kerze auf das Nachtkastel, setzte die Brille auf die Nase und las ihr Leibblatt. Ihr Leibblatt wurde es wegen seiner soviel schönen Romane, in denen die Tugend immer siegte und das Laster bestraft wurde und nach vielen Widerwärtigkeiten der edle Graf sein schönes Freifräulein kriegte. Da konnte man Vergleiche anstellen zwischen edlen Grafen und dem Mannsbild im Bett nebenan, das man sich eingewirtschaftet hat, und heiße Tränen vergießen und das patzweiche goldene Wienerherz unter dem wogenden Busen tanzen lassen.
Die Zeitung ersetzte ihr die Schlafmittel des Apothekers, die so teuer und obendrein für die Katz waren. Sonst immer las sie zuerst die Romanfortsetzung und weiter kam sie höchstens bis zu den Hof- und Personalnachrichten. Es erhob hoch über den Alltag, teilnehmen zu dürfen an dem glanzvollen Leben der noch Höheren und ganz Hohen. Danach ließ sie das Blatt zu Boden sinken und erstickte mit dem nassen Zeigefinger das Kerzenlicht, weil sie schon zu träg geworden war, sich zu erheben.
Heute war das anders. Gestern haben sie unten in der Gumpendorferstraße einen Juwelier erschlagen und ausgeraubt. Sie hat die gruselige Geschichte wohl schon vormittag beim Fleischhauer haargenau erfahren und dabei eine Gänsehaut gekriegt, dann noch einmal bei der Kräutlerin, und der Herr Gemahl hat die Bezirkssensation wieder so ausgeschmückt, als wäre er knapp neben dem Mörder gestanden; aber wenn man das schwarz auf weiß liest und man den Ermordeten so gut gekannt hat, bekommt man doch einen anderen Begriff von der schauerlichen Moritat.
»Stückerlweise sollt' man den Verbrecher hinrichten, net so human auf einmal. Erst die Augen ausstechen, am andern Tag die Haxen ausreißen, bis nix mehr übrigbleibt. Das Ganze is nur der blasse Neid und weil die Leut' ka Religion mehr haben. Sie vergönnen's einem nicht, wenn man sich a bisserl was erwirtschaftet hat. I, wann i was zu schaffen hätt', i möcht den Leuten schon die verruckten Ideen austreiben.«
So sprach sie zu ihrem Herrn Gemahl, der sich, erbost über diese Störung seiner Nachtruhe, auf die andere Seite drehte, wobei das Bettgestell unter dieser Last unwillig knarrte.
»Zu was i eigentlich verheirat' hin, weiß ich wirklich net. Da kommt er mitten in der Nacht mit ein' dummen G'sicht aus sein' Beisel z'haus, haut sich ins Bett und schlaft wie ein Toter. Kein g'scheites Wort kann man mit ihm reden. Das is meine Ehe.« Das warf sie ihm noch an den Kopf und dachte dabei wehmütig an den edlen Grafen, der gerade in der heutigen Fortsetzung für sein schönes Freifräulein durch einen breiten Fluß geschwommen war. Ob das der ihrige für sie auch täte? Dann schloß sie die Augen. Öffnete sie aber jede Viertelstunde wieder, weil ihr der Raubmörder von der Gumpendorferstraße im Kopf und im Magen gleich neben der gerösteten Leber vom Nachtmahl lag. Selbst im Traum erschien er ihr. Er kniete auf ihrer Brust und schwang mit blutunterlaufenen Augen ein blitzendes Messer über sie. Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus. Hätte das ihr Herr Gemahl erfahren, er hätte es erst nicht für möglich gehalten und dann gewünscht, daß es öfters so sein möge. Völlig erwachte sie erst, als der fette Mops Blunzerl, der auf dem Bettvorleger wie ein Igel zusammengerollt schlief, wütend zu kläffen begann und gleichzeitig zu hören war, wie unten das Haustor zugeschlagen wurde und holzschlapfige Schritte davoneilten.
»Marandjosef, Einbrecher san da«, schrie sie und bekreuzigte sich. Dann griff sie ins Nachbarbett und zerrte ihren Herrn Gemahl an dem Ohrwaschel, an dem sie ihn erwischt hatte.
»Aufstehn, hörst, steh auf, sie wollen uns umbringen. Jessas, die Angst, so steh doch auf, Schlafhauben übereinand!«
Ihr Gekreisch und Blunzerls Gekläff und das Reißen am Ohr rief den Schläfer ins Leben zurück.
»Was hast denn? Heut' bist wieder wo auskommen«, knurrte er und blinzelte aus halbgeöffneten Lidern in die Finsternis.
»So steh doch auf und nimm dir was um, daß d' kein' Schnupfen kriegst, gleich werden s' da sein.«
»Wer?«
»Die Raubmörder. Das Haustor haben s' schon eindruckt, i hörs' schon kommen...«
»Tu dir nix an, auf deine Reize werden sie's abg'sehn haben«, brummte er und zog die Tuchent über die Ohren.
Aber drunten wurden Stimmen laut, eine männliche und eine weibliche, und wieder ging das Haustor auf und flog krachend zu.
Die Hausfrau quietschte, der Hausherr stutzte und der Blunzerl kratzte bellend an der Tür.
»Da muß i doch...« meinte der Hausherr und das klang gar nicht heldenhaft. Er erhob sich vom kuhwarmen Lager, schlüpfte in die Unterhose, ohne die Bandeln unten am Fußgelenk zusammenzubinden, dann in die Filzpatschen und zog den Schlafrock an. Die Hausfrau entzündete zitternd die Kerze und bekleidete sich mit einem Barchentunterrock und mit einem Umhangtuch. Der fette Blunzerl voraus, zeppelten erst der Herr, dann die Frau in die Küche; er bewaffnete sich mit der Holzhacke und sie mit dem Pracker. Dann ging's Schritt für Schritt hinaus auf den kalten, finsteren Gang.
»Ha!« schrie die Hausfrau, »da is wer.« Es war aber nur der Widerschein des Kerzenlichtes an der Mauer.
»Erschreck' mi net«, schluckte der Hausherr.
Der Hausfrau schepperten die Zähne, ihm nicht, denn seine waren drinnen im Wasserglas geblieben. Es war wie der Geisterzug der Ahnherren und Ahnfrauen in einer verfallenen Ritterburg.
Vom Gangfenster sah man in den weiten Hof. In der Hausmeisterwohnung war Licht und Schatten tanzten hin und her.
»Die werden doch net zuerst zum Schuhmeier...«, stotterte die Hausfrau.
Nun kriegte es der Hausherr mit dem Heldentum. Sie soll nur sehen, was für einer er ist. Er öffnete das Gangfenster...
»Mach' zu, es zieht«, verwies ihn die Hausfrau und kuschelte sich noch fester in ihr Umhangtuch... und rief in den Hof hinunter: »Hallo, was gibt's denn?«
Da trat der Hausmeister Eduard Schuhmeier aus der Wohnung in den Hof und rief jubelnd zum ersten Stock hinauf: »Küß' die Hand, nix für ungut, die Hebamm' hab' i g'holt, es is schon alles vorbei, ein Buam haben mir kriegt, Franzl wird er heißen.«
Das war die Nacht zum 11. Oktober 1864.