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Fünfzehntes Capitel.


Seit Victor zu den Erwachsenen gezählt wurde, war seine Stellung zu Herrn Wagner eine andere geworden. Er war noch immer dessen erster Schüler, hatte seinen bestimmten Platz in der von demselben dirigirten Capelle, vertrat oft sogar schon des alten Meisters Stelle, ja, hatte einen großen Theil der Musikstunden übernommen, die jener früher ertheilt, aber seines herannahenden Alters wegen mehr und mehr aufgegeben hatte. Seitdem Viktor sich auf diese Weise auf eigene Hand etwas erwarb, hatte Frau Artefeld aufgehört, die Pension für ihn zu zahlen. Nicht aus eigener Veranlassung, nur auf des jungen Mannes dringendes Bitten hatte sie es gethan, und Herr Wagner, der jede Regung von Selbstständigkeit in Victor's Charakter begünstigte, war ganz damit einverstanden, daß dieser nicht länger, als es nöthig war, diese Geldunterstützung seiner Wohlthäterin annahm.

Ganz ohne Piquirtheit von Seiten Frau Artefeld's war es dabei nicht abgegangen, aber Viktor hatte sie glücklich besiegt. Freilich mußte er nun auch, was früher nicht geschehen war, die Unterrichtsstunden honorirt nehmen, die er Georg gab, aber obgleich er sie lieber als eine Schuld der Dankbarkeit und als ein Vergnügen für sich selbst betrachtet hätte, so war doch mit Frau Artefeld in dem Punkt nichts anzufangen. Sie war wohl großmüthig im Geben, aber nicht so großherzig, um je etwas zu nehmen. Sie wollte Andere sich verpflichten, aber nicht Anderen verpflichtet sein, und es war und blieb für sie ein Gefühl großer Befriedigung, daß sie nie nöthig gehabt hatte, sich von irgend Jemand etwas schenken zu lassen. Das hinderte sie jedoch nicht, sehr scharf den dummen Stolz Viktor's zu tadeln, als der junge Mann sich von ihren Wohlthaten emancipirte, und die ehrerbietige Weise, in der es geschah, söhnte sie nur halb mit der Thatsache aus.

Damit war jedoch erst ein Schritt zu einer selbstständigen Stellung gethan, Viktor hatte nicht die Absicht, dabei stehen zu bleiben und fand hierin willige Unterstützung von Seiten seines Lehrers und Freundes. Seine Sehnsucht nach einem weiteren Spielraume zur Ausbildung seines Talentes konnte kaum stärker sein, als Herrn Wagner's Streben, ihm dazu zu verhelfen. Er fand, daß er das Seinige gethan. Er hatte seinem Schüler eine gründliche Vorbildung, hatte dem Geschmack desselben eine klassische Richtung gegeben, er hatte einen edeln Ehrgeiz in ihm angefeuert und genährt, hatte es versucht, sein Streben möglichst unabhängig vom Beifall der Menge zu machen.

Herr Wagner unterschätzte seine eigenen Fähigkeiten und Leistungen nicht, aber er stellte sie nicht in die erste Reihe des Verdienstes, und glaubte nicht sich selber herabzusetzen, wenn er seinem Schüler die Gelegenheit zu erweiterten Studien, die Bekanntschaft der zur Zeit lebenden musikalischen Größen und durch diese die Möglichkeit gewährt wünschte, der Meisterschaft näher geführt zu werden.

Der Gegenstand beschäftigte oft Lehrer und Schüler. Viktor schmiedete abenteuerliche Pläne, Herr Wagner sagte nur: »Kommt Zeit, kommt Rath,« und benutzte im Stillen die Zeit, die That vorzubereiten, was noch über den Rath geht.

Viktor wäre am liebsten mit all' der glücklichen, übermüthigen Zuversicht, die der Jugend wie dem Genie eigen zu sein pflegt, in die Welt gegangen, Herr Wagner aber sagte: »Es ist schon manche Künstlernatur im Vagabondenleben untergegangen, das sollst Du nicht,« und obgleich Viktor die Gefahr für sich nicht zugestehen wollte, unterwarf sein dankbares Herz sich doch willig dem Ausspruch des Lehrers.

Da kam ihm eines Morgens Herr Wagner mit einem Gesicht entgegen, auf dem er nur mühsam die Freude unter einer Miene der Gleichgültigkeit versteckte, und sagte:

»Jetzt habe ich es heraus, wie ich Dich los werde. Gottlob, die Gelegenheit bot sich mir und da habe ich sie ergriffen. Da weißt Du zugleich mein ganzes Verdienst, wenn Du mir etwa danken willst. Komm her, lies!«

Dem jungen Manne tanzten die Buchstaben vor den Augen, er überflog den Brief, warf ihn aber dann auf den Tisch und sagte:

»Ich weiß, bei Gott, nicht recht, was darin steht. Daß ich auf Reisen gehen soll, sehe ich, aber wann und wie, ist mir unklar. Sagen Sie es mir lieber, Herr Wagner, hören kann ich trotz des Herzklopfens, aber lesen nicht.«

Herr Wagner lachte und theilte ihm dann in kurzen Worten mit, daß ein russischer Fürst, selbst Musikkenner und Liebhaber, für seinen Sohn, in dem er ein großes Talent zur Musik zu entdecken geglaubt, einen jugendlichen, dieselbe Kunst ausübenden Gefährten wünsche, um mit dem jungen, etwas schüchternen Menschen gemeinschaftlich Musik zu treiben und dann zum Zweck musikalischer Studien mit ihm auf Reisen zu gehen. Jugend, heiterer Sinn und ein etwas selbstständiger Charakter waren die Bedingungen, die außer den Ansprüchen an die Kunstleistungen selbst gestellt wurden, denn so sehr der Fürst wünschte, in seinem Sohne das Talent gepflegt zu sehen, so war ihm doch eben so viel darum zu thun, die durch natürliche Anlage wie durch lange Kränklichkeit veranlaßte, zur Schwermuth geneigte Stimmung des jungen Mannes durch wechselnde Scenen des Lebens, wie durch den jugendfrischen Geist eines passenden und anregenden Gesellschafters zu heben.

»Wenn er nur nicht verrückt oder einfältig ist,« sagte Viktor, nachdem er das Nähere vernommen, »mit Schwermuth und Trübsinn will ich es schon aufnehmen. Aber ich habe einen Verdacht gegen tiefsinnige Fürstensöhne, die aufgeheitert werden müssen. Wolken getraue ich mir fortzuspielen, zu schwatzen und zu lachen, aber an dem leeren Nichts zerbricht auch der Zauberton der Geige.«

»Junge, was denkst Du, werde ich Dich denn an den Irrsinn verhandeln?« fragte Herr Wagner fast ärgerlich. »Meinst Du, ich werde Dich auf's Meer schicken, ohne nachzusehen, ob die Barke, die Dich tragen soll, auch nicht etwa einen Leck hat? Willst Du oder willst Du nicht?«

»Ob ich will? Natürlich will ich!« rief Viktor lebhaft. »Ich schiffe mich auch auf einer Barke ohne Boden ein, wenn es nicht anders sein kann, und verlasse mich auf die Delphine.«

»Dein Plan, nach Amerika zu gehen und den Yankees das Geld abzuschwindeln, das Dir weitere Studien ermöglichen soll, war wenigstens nicht viel mehr als eine Barke ohne Boden,« bemerkte Herr Wagner, »raisonnire also nicht über die meinige, die einen Boden und noch dazu einen goldenen Resonanzboden hat. Gieb die Töne, die verlangt werden, auf demselben an, damit sie Dir wiederklingen, was Du bedarfst. Ich kann also zusagen für Dich? oder vielmehr, ich habe es schon gethan, habe auch versprochen, daß Du in vierzehn Tagen von hier nach Petersburg abgehst, ist's recht? Glaubst Du, daß es so zu Deinem Besten ist?«

»O, Herr Wagner,« sagte Viktor bewegt, »ich gehe, wohin Sie mich schicken, gehe an's Ende der Welt und spiele den Eisbären zum Tanz auf, wenn Sie es wollen, und denke auch dann noch, daß es das Beste für mich ist. Durch etwas Anderes kann ich Ihnen ja nicht danken.«

»Dummer Junge,« brummte Wagner, mehr durch Victor's Miene als dessen Worte gerührt und zu seiner Lieblingsbenennung Zuflucht nehmend, um dies zu verbergen, obgleich der Junge, den er dumm schalt, nun stark in's zwanzigste Jahr ging und mit der Dummheit auch nicht annähernd je etwas zu thun hatte.

»Wie steht es nun mit Deinen übrigen Angelegenheiten?« fragte Wagner nach einer Weile, »Hast Du Schulden, wie steht's mit der Garderobe, hast Du Geld?«

»Ich habe weder Schulden, noch Kleider, noch Geld,« sagte Viktor mit höchst vergnügtem Tone, »das heißt, Kleider habe ich wohl, aber abgetragene. Man braucht zu viel, wenn man, wie ich, so vielen jungen Damen Musikunterricht ertheilen muß.«

»Narr,« brummte Herr Wagner.

»Als Lehrer hatte ich sonst keine Autorität,« fuhr Viktor fort, »da zog ich mir Frack und Glacéhandschuhe an und gewann an Stunden, was die Schneiderrechnung mehr betrug.«

»Wovon wirst Du Dich denn aber nun equipiren?« fragte Herr Wagner, »denn obgleich Dein Schüler keine Dame ist, wirst Du in der Welt doch wahrscheinlich auch Deine Würde auf Kleider stützen wollen?«

»Gewiß,« gestand Victor zu, »ich bin kein Kleidernarr, aber ein schäbiger Rock ist wider meine Natur. Ich werde mich also einrichten und die Schuld von meinem ersten Jahrgeld abbezahlen.«

»Nein, das sollst Du nicht,« unterbrach ihn Herr Wagner, »das leide ich nicht. Ich bin so gut wie Dein Vormund, ich werde Dich mündig erklären und Dir Dein Vermögen auszahlen, sieh her!« Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, legte einige nicht unbedeutende Geldrollen vor Viktor hin und sagte, ihm ein Blatt Papier überreichend: »So, hier hast Du die Berechnung, sieh nach, ob sie richtig ist.«

Halb mechanisch nahm Viktor ihm das Blatt aus der Hand, es mit den Augen überfliegend. Es enthielt eine genaue Aufzeichnung all' der kleinen Dienstleistungen, die Herr Wagner von Viktor verlangt hatte: Abschreiben von Noten, Hülfsstunden u. s. w., mit Angabe des dafür gezahlten Preises, dann eine genaue Berechnung der von Frau Artefeld für Viktor gezahlten Pension, wobei der Ueberschuß gleichfalls Viktor zu Gute geschrieben war. Das Alles, durch viele Jahre angesammelt, bildete eine ansehnliche Summe, die Herr Wagner zum Theil zinsentragend angelegt hatte und nun seinem Zögling zur freien Verfügung überwies.

Dem jungen Manne sank das Blatt aus der Hand, er sah mit fast angsthaft fragendem Blick Herrn Wagner an.

»Ich habe mich ja nicht durch Dich bereichern wollen,« erklärte dieser, »sollte ich Deine jungen Kräfte für mich mißbrauchen, während ich wußte, daß Geld ein gewaltiger Hebel in der Welt ist, daß selbst der edelste Künstler in Gefahr kommt flügellahm zu werden, hängt sich Noth an seine Fersen? Bah, ich brauchte ja für mich nicht mehr als ich hatte, Du hast mir nicht einen rothen Heller gekostet, wie ich Dir keinen geschenkt habe. Unsere Abrechnung ist einfach. Ich habe Dir einen reinen Freudenquell geöffnet, daraus schöpfe für mich einen Labetrunk für meine alten Tage. Von Geld ist zwischen uns Beiden nicht die Rede. Was ich Dir gebe, habe ich nur für Dich verwaltet, es ist Dein wohlerworbenes Eigenthum, und daß ich es Dir nicht früher gab, geschah nur der vielen Glacéhandschuhe wegen. Du hättest sonst immer neue getragen, jetzt ließest Du doch zuweilen welche waschen.«

Trotz dieser scherzenden Wendung liefen Viktor die hellen Thränen über die Wangen.

»Ich habe Dich geführt, so weit ich kann,« fuhr Herr Wagner fort. »Ich wäre wohl auch ein Stück weiter gekommen, hätte ich nicht um des lieben Brodes willen immer auf derselben Stelle sitzen müssen. Das kam aber von dem leidigen frühen Heirathen, denn ein verheiratheter Mann ist im besten Fall nur ein halber, in den meisten Fällen ist er aber gar kein Mann mehr. Heirathe also nicht zu früh, mein Junge. Hat man es gethan und ist leidlich gut weggekommen, möchte man es natürlich nicht rückgängig machen, aber es hemmt das Genie. Der Adler kann nicht in die Höhe, wenn er einen Schatz mitnehmen muß. Als meine Frau starb, ja da war es zu spät, Neues zu beginnen, da war ich festgewurzelt an der Stelle, nun hätte sie immer noch leben bleiben können. Man gewöhnt sich schwer an das Alleinsein, aber es ist nicht anders. Auch Du mußt gehen, Du mußt in die Welt, Junge, Du mußt meinem Künstlerstolz auf Erden huldigen, ich will Dich, den ich flügge machte, hoch über meinem Kopf sehen. Nun nimm hier und rüste Dich zum Flug.«

»Und Tante Dorothee nannte Sie geizig!« sagte Viktor in einem Tone, als müsse er an ihrer Stelle seinem Wohlthäter die falsche Beschuldigung abbitten.

»That sie es?« lachte Wagner, »nun sie wird nicht die Einzige gewesen sein, die es gethan. Mögen die Leute doch reden, was sie wollen, wenn sie mit ihren schlechten Voraussetzungen nur nicht die Wahrheit treffen, kümmere ich mich keinen Strohhalm darum. Nun nimm aber hier, rechne es Dir durch, ob Alles richtig ist, und stelle mir die nöthige Quittung aus. Ordnung muß sein! Nimm, nimm, es ist Dein wohlerworbenes Eigenthum!«

»O sagen Sie das nicht,« bat Victor, »ich habe nichts verdient und nichts erworben. Es macht mir viel mehr Freude, wenn Sie es mir schenken, wenn ich Ihnen danken darf.«

»Halte das, wie Du willst, aber danke mir nicht mit Worten, auch nicht mit Thränen, denn es ist etwas verwünscht Gefährliches um gewisse nasse Augen, sie stecken ärger an als die Pocken. Danke mir nie anders als mit der Geige in der Hand oder mit einer Melodie im Herzen. Vor Allem aber heirathe nicht zu früh. Thu es nicht eher, als bis Du weißt, was Du bist und wie Du mehr werden kannst, und heirathe Keine, die nicht darin Deinen Glauben theilt. Meine Frau nannte mich immer einen tüchtigen Musiklehrer, heirathe Keine, die Dich so nennt.«

Viktor mußte lachen, obgleich die Rührung noch sein Herz durchbebte.

»He, mein Junge,« fuhr Wagner fort, »hast Du schon einmal beim Violinspiel an eins von den hübschen, glatten Gesichtern gedacht, in die Du Dich so vom vierzehnten Jahr an nach und nach verliebt hast?«

»Nein, ich glaube wirklich nicht,« lachte Viktor.

»So! nun dann hat es noch keine Gefahr gehabt, dann warst Du noch nicht in der richtigen Stimmung,« fuhr Herr Wagner fort.

Es wurden nun noch mancherlei die Zukunft betreffende Verabredungen getroffen; mancher kernige, gediegene Rath, als scherzende Sentenz von Herrn Wagner in das Gespräch gestreut, fiel, ein fruchttragendes Samenkorn, auf guten Boden, und als wenige Tage darauf Viktor Breslau verließ, für's Erste um nach Waldau, dem Gute der Frau Artefeld zu gehen und seine Wohlthäterin mit seinen veränderten Verhältnissen bekannt zu machen, geschah es mit einem Herzen, das eben so hoffnungsvoll der Zukunft entgegenschlug, als es selbst zu den schönsten Hoffnungen berechtigte.

In Waldau traf Viktor auf viel üble Laune. Es war Spätsommer, und Frau Artefeld erwartete vergeblich eine Nachricht über den projektirten Besuch ihrer Kinder. Sie war empört über die Rücksichtslosigkeit derselben; Georg, der sich alle Mühe gegeben hatte, Entschuldigungen für die Uebelthäter aufzufinden, wurde oft hart deshalb angelassen, ersah aber immer wieder die Gelegenheit, mildernde Erklärungen für Elisabeth's und Eisenhart's Schweigen zu günstiger Stunde anzubringen.

Er hatte Elisabeth seit ihrer Verheirathung nicht wiedergesehen, sie lebte nicht so in seinem Gedächtniß fort wie Flora, von der Uebles zu denken er sich nie entschließen konnte, obgleich seine Mutter sie undankbar und kaltherzig nannte, aber verlöscht war auch das Bild der Schwester nicht. Sein kindliches Herz hing noch mit Zärtlichkeit an ihr. Selbst seinen Schwager hatte er lieb; freilich nur der Verwandtschaft wegen, denn er vermochte es nicht, ganz ohne Groll daran zu denken, wie jener ihn früher immer: kleiner Schurke oder kleiner Millionär oder kleiner Commerzienrath genannt hatte, Worte, die zwar von sehr verschiedener Bedeutung waren, wie er jetzt einsah, die ihm aber damals alle drei den Eindruck von Schimpfreden gemacht und ihn so tief verletzt hatten, daß der Gedanke an seinen Schwager sich immer mit dem an etwas recht Rohes und Unliebenswürdiges verband. Trotzdem freute er sich des verheißenen Besuchs der Geschwister und that sein Möglichstes, die Mutter mit diesen zu versöhnen, als Tag auf Tag, ja Woche auf Woche verging und sie weder kamen, noch den Tag ihres Eintreffens meldeten. Er war erfinderisch in Auffindung neuer Entschuldigungsgründe für sie und unverdrossen im Vorbringen derselben, obgleich die Mutter ihm schon hundertmal gesagt hatte:

»Du bist ein lebendiger Entschuldigungszettel. Dies ewige Plaidiren für Andere ist unausstehlich, lege diese Thorheit ab, oder wir erzürnen uns noch ernstlich.«

Wie war es denn aber möglich, sich ernstlich mit einem Kinde zu erzürnen, das nur durch Güte seine Mutter zur Unzufriedenheit reizte, und das jede Rüge dieses Fehlers mit einer Herzensfreundlichkeit und Demuth aufnahm, die den Aerger augenblicklich abschnitt.

»Ich bin viel zu gut gegen Dich,« sagte Frau Artefeld dann wohl, wenn Georg's Handkuß sie versöhnt hatte, »ich fühle es, ich werde alt, da läßt die Strenge nach, vielleicht lohnst Du mir aber meine Nachsicht besser, wie Deine Geschwister mir die strengere Zucht gelohnt haben. Du bist ein guter, kleiner Schelm, Du bist meine einzige Freude, ich lebe ja nur für Dich.«

Für solches Wort wäre Georg am liebsten für die Mutter durch's Feuer gegangen, obgleich sein zweiter Gedanke immer der war: »O, sie soll auch noch wieder für Flora und Elisabeth leben, sie soll dem armen Richard verzeihen, die gute Mutter, sie wird, sie muß es.«

Sie war aber noch weit davon entfernt, Eisenhart und Elisabeth auch nur ihr rücksichtsloses Schweigen zu verzeihen, als Viktor kam und seine Freudenbotschaft auf das steinigte Erdreich warf.

Sie wurde ganz dem entsprechend aufgenommen

»Es freut mich sehr, doch auch gelegentlich etwas von der Sache zu erfahren,« sagte sie, als Viktor seine Erzählung beendete, »es ist sehr gütig von Dir, daß Du mir wenigstens eine Mittheilung über das Resultat Deiner Handlungen machst, da mein Rath dabei, wie es scheint, unnütz war.«

»Ich habe selbst erst von der Sache erfahren, als sie abgeschlossen war,« wandte Viktor mit bescheidenem Tone ein.

»Nun, dann ist es Herr Wagner, der sehr eigenmächtig und rücksichtslos gehandelt hat,« fuhr Frau Artefeld fort, »ich denke, ich hätte mir wohl das Recht erworben, mitzusprechen, wenn von Deiner Zukunft die Rede war. Selbst wenn ich von dem abstrahire, was man mir schuldig ist, so wundere ich mich, daß er nicht schon aus Gründen der Nützlichkeit auf die Idee kam, Deinen künftigen Protektor an mich zu verweisen. Du bist unter meinen Augen aufgewachsen, Herr Wagner wird wahrhaftig nicht so viel Acht auf Dich gehabt haben wie ich. Eine Frau erkennt ja auch in einem Augenblick leichter den Charakter eines Menschen, als ein Mann in zehn Jahren. Er wußte aber wohl, warum er mich überging. Ich würde niemals zugegeben haben, Dich in Verhältnisse zu bringen, die Dich Deinem eigentlichen Beruf entfremden müssen. Ich weiß nicht, was dabei herauskommen soll!«

»Ein Künstler!« sagte Viktor mit jugendlichem Selbstbewußtsein.

»Ich hätte es sicherer und solider gefunden, Du wärst Herrn Wagners Hülfslehrer geblieben und später in seine Stelle eingetreten. Solch' vagabondirendes Künstlerleben sagt mir nicht zu. Gottlob, daß der Himmel mich nicht mit einem Sohn gestraft hat, der Künstler werden will. Das könnte mich gerade unter die Erde bringen. Nun, Du bist nicht mein Kind, wenn ich auch besser an Dir gehandelt habe, als manche Mutter an ihrem Kinde. Ich habe Dir natürlich nichts zu sagen, Du hast mich ja auch nicht gefragt. Ich kann mir übrigens denken, daß, wie Dich die Liebe zur Ungebundenheit gelockt hat, sich Herr Wagner wahrscheinlich durch das Dir gebotene reiche Gehalt hat bestechen lassen. Uneigennützigkeit ist nie seine Tugend gewesen. Wie viel mußt Du ihm abgeben, um die Kosten Deiner Erziehung, die ich eigentlich hauptsächlich getragen, zu decken?«

Viktor biß sich auf die Lippen, seine Wangen flammten, aber er bezwang sich und erzählte statt aller Antwort nur Herrn Wagner's großmüthiges Verfahren gegen ihn. Frau Artefeld lächelte.

»Es ist leicht, die Kirschen zu verschenken, die in des Nachbars Garten gewachsen sind,« sagte sie.

Das war denn doch auch für Viktor's Geduld zu viel, der Hohn in diesem Vorwurf weckte einen gedankenschnellen Entschluß und dieser ein eben so rasches Wort.

»Frau Commerzienräthin,« sagte er, »das, was ich durch Ihre jahrelange Güte mir erworben: die Ausbildung meines Talents, die Hoffnung auf eine Künstlerlaufbahn, kann ich Ihnen nicht zurückgeben, dafür kann ich Ihnen nur dadurch danken; daß ich den übeln Voraussetzungen, die Sie von meinen neu eingegangenen Verhältnissen hegen, durch die That widerspreche; aber die andere, die bei Weitem geringere Schuld der Dankbarkeit, die Sie mir auferlegten, eine Schuld, die ich bisher nicht als eine solche anerkannte, die erst Ihr heutiger Vorwurf mir drückend macht, die vermag ich mit der Zeit abzutragen, und das will ich, bei Gott, das will ich!«

Frau Artefeld sah den jungen Mann betroffen an.

»Weiß Gott, mit was für Menschen ich es auch immer zu thun habe,« sagte sie, »ich kann es noch so gut mit Jemand meinen, noch so aufopfernd gegen ihn sein, es kommt der Moment, wo ich den Schlag für meine Güte empfange. Wahrhaftig, es könnte Einem verleidet werden, sich um das Wohl von irgend Jemand zu bekümmern Was habe ich denn jetzt nun eigentlich gethan, eine solche Beleidigung von Dir zu verdienen?«

Es war viel von Frau Artefeld, es war vielleicht das erste Mal, daß sie nicht kurzweg mit dem brach, der ihr Widerstand entgegensetzte. Sie hatte es bisher immer gethan, während ihre jetzige Frage doch die Möglichkeit einer Ausgleichung zuließ.

Viktor ergriff sie, denn in dem Augenblick, in dem er ihren unzarten Vorwurf beantwortete, fiel es ihm schwer auf's Herz, wie wenig er der Eigenthümlichkeit seiner Wohlthäterin Rechnung getragen, wie sie wirklich und aus ganzem Herzensdrang seine Wohlthäterin gewesen, wie seine Dankbarkeit wohl tief genug sein könne, um Worte nicht abzuwägen, wo Thaten sprechen. Ein Blick auf Georg verstärkte seine Reue. Der Knabe stand da, blaß vor Schreck und Aufregung, die unverkennbare bange Frage in seinem Antlitz., ob denn Jeder, der an dem häuslichen Herde der Mutter seinen Platz gehabt, diesen Zorn empfindend und Zorn erregend verlassen müsse.

Vielleicht war es auch diese Frage in dem blassen Gesichte gewesen, die Frau Artefeld veranlaßt hatte, nicht gleich zu Viktor zu sagen:

»Du kannst gehen, wir haben nichts mehr mit einander zu tun.«

»Verzeihen Sie mir,« sagte dieser jetzt mit einer so unwiderstehlichen kindlichen Offenheit in Blick und Ton, daß schon das erste Wort Frau Artefeld milder stimmte. »Es ist mir wahrhaftig nie schwer geworden, eine Wohlthat von Ihnen anzunehmen, und ich habe auch immer gedacht, das Geld, das Sie für mich ausgegeben, sei die geringste gewesen, aber man hat gerade in Betreff von Geld solchen dummen Stolz. Man fühlt sich so abhängig davon, und jeder Vorwurf, daß man es nehmen mußte, liegt Einem wie eine Schande auf der Seele. Man denkt, man kann das Geld schnell wiedergeben, aber das ist Unsinn, wenn wir doch Alles behalten, was uns dasselbe gewährt hat. Was ich durch Ihre Güte gelernt habe, kann und will ich Ihnen ja doch nicht zurückgeben, ich will nur auch getrost das Geld behalten und in nichts Anderm als in Dank meine Schuld abtragen, und wenn Sie es mir noch zehnmal vorwerfen, daß ich es nehmen mußte.«

»Ich habe Dir nichts vorgeworfen und es ist mir lieb, wenn Du Deine Uebereilung bereust,« sagte Frau Artefeld und reichte ihm die Hand, durch diese freundliche Bewegung die Steifheit ihrer Worte gut machend. Viktor küßte sie ehrerbietig. In dem Augenblick aber flog ihm Georg um den Hals und sagte, während Schluchzen beinahe seine Stimme erstickte:

»Gottlob, daß Du nicht auch böse auf die Mama bist und sie auf Dich, daß Du nicht auch in Zorn von ihr gehst, das könnte ich nicht aushalten!«

Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich beruhigte, und in Frau Artefeld's Seele stiegen wieder düstere Betrachtungen über die doch nur auf Kränklichkeit deutende Reizbarkeit des Knaben auf, Betrachtungen, die in letzter Zeit den sichtlichen Zeichen gestärkter Gesundheit gewichen waren, welche die Landluft, wie überhaupt die gesündere Lebensweise auf Georg's Wangen gemalt hatte.

»Was helfen nun alle Opfer, seine Nerven sind doch zerrüttet,« dachte sie seufzend, »man muß ihn wie ein rohes Ei behandeln, muß seinen Weg überall ebnen, daß er nirgends auf ein Hinderniß stößt, muß sein Glück voraus bedenken und ihn demselben zuführen, in kleinen Dingen ihm den Willen lassen, in großen, die bedeutungsvoll für sein Leben werden könnten, muß man ihn lenken. Eigene Entscheidungen trifft man nicht ohne Gemüthsbewegung, die darf er nicht haben, ich sehe es ja, welche Wirkung sie auf ihn hat. Glatt muß sein Pfad sein und voraus geordnet sein Schicksal. Gottlob, daß ich weiß, was ihm gut thut!«

 

Am Abend desselben Tages hatten Georg und Viktor noch eine ernste Besprechung mit einander. Sie machten einen Spaziergang zusammen. Frau Artefeld ging nie spazieren, ja ein Spaziergang war ihr etwas so Undenkbares, so Unvernünftiges, Kindisches und Unnützes, daß sie hierin selbst nicht Georg's Bitten nachgab, wenn er einmal die Begleitung der Mama wünschte. Heut hatte er sie jedoch nicht darum gebeten, im Gegentheil, er wollte mit Viktor allein sein.

»Du hast die Mama lieb,« begann er das Gespräch, »das habe ich heut gesehen, deshalb kann ich Dich wohl auch fragen, was das mit der Mama eigentlich ist. Sie ist so sehr gut und doch fürchten sich so Viele vor ihr, wie kommt das? Wie kommt es, daß mein Bruder verstoßen ist, daß Keiner von Flora mit ihr sprechen darf, daß Elisabeth nie zu uns kommt? Sie können nicht Alle schlecht sein, der alte Gebhard weiß doch auch, was gut und was schlecht ist, und er hat gleich die Thränen im Auge, wenn ich einmal Richard's, Flora's oder Elisabeth's Namen nenne. Dabei sagt mir Keiner, ob Richard lebt oder nicht. Die Mama sagt: für uns ist er todt, und Gebhard versichert, er wisse nichts von ihm, aber was eigentlich zwischen ihm und der Mama vorgefallen ist, will er mir auch nicht sagen. Ich habe Dich schon immer fragen wollen, aber ich dachte, ich wollte erst noch älter werden; nun gehst Du auch fort, deshalb frage ich Dich jetzt.«

Die Frage setzte Viktor in Verlegenheit. Wie sollte er sie beantworten, ohne entweder die Wahrheit zu umgehen oder das kindliche Herz seines kleinen Freundes zu verletzen? Georg errieth sein Bedenken.

»Sprich nur ganz ruhig,« sagte er, »ich kenne ja die Mama, und ich kann sie lieb haben und die Geschwister, das weiß ich. Ich möchte sie nur Alle wieder zusammen haben, und darum will ich wissen, was geschehen ist.«

Viktor besann sich nun nicht länger.

»Ich weiß nicht Alles, weiß es nicht ganz genau, ich war ja damals auch noch ein Kind,« sagte er, »aber was ich weiß, sollst Du erfahren.«

Er erzählte ihm nun den Grund des Zerwürfnisses zwischen Richard und seiner Mutter so wahrheitsgetreu und so schonend als möglich.

»Deine Mutter hat sehr viel Willenskraft, hat immer nach eigenem Ermessen gehandelt und hält fest an ihrer Autorität,« sagte er, »sie war vielfach durch Richard's Widerspruch gereizt und wollte ihn ein- für allemal brechen. Das Motiv zu ihrer Verfahrungsweise war vielleicht eben so gut und richtig, als diese selbst hart und für Richard's Charakter falsch berechnet war. Richard glich in Manchem Deiner Mutter und ihr fester Wille stieß auf einen eben so festen. Richard,« fuhr er, seine Worte schärfer betonend und seinen kleinen Zuhörer bedeutungsvoll ansehend, fort, »Richard war damals noch ein Knabe, aber er sah die Jahre voraus, in denen er ein Mann sein wollte, und dieser Wille war's, der seiner Unterwerfung eine Grenze steckte, die er nur in zu schroffer und unkindlicher Weise behauptete. So sagte mir wenigstens Herr Wagner, der allerdings auch der Ansicht ist, daß Deine Mutter es ihren Söhnen schwer macht, Männer zu werden, der da meint, nur selbstständige Entwickelung bilde den Mann, und man werde leicht weichherzig, willenlos und weibisch, wenn man gewöhnt sei, immer nur bestimmter Führung zu folgen.«

Georg erröthete.

»Ich werde doch ein Mann werden,« sagte er, »und Richard hätte es werden können, auch wenn er der Mutter Willen gethan und Kaufmann geworden wäre.«

»Gewiß,« gab Viktor zu, »aber es mag wohl kaum möglich sein, einen Beruf gut auszufüllen, der Einem zuwider ist.«

»Wenn er die Mutter lieb gehabt hätte, würde er es haben thun können,« sagte Georg fest, und fragte dann: »ist es denn weibisch, seiner Mutter einen Wunsch aufzuopfern?«

»Nein, gewiß nicht,« versicherte Viktor, seinen jugendlichen Gefährten mit Ueberraschung ansehend.

»Ich will Dir etwas sagen,« fuhr dieser geheimnißvoll fort, »aber Du mußt es Niemand erzählen: ich werde auch nicht gern Kaufmann. Ich will lieber etwas Anderes werden, ich weiß schon was, aber es lohnt nicht, erst davon zu reden. Ich will doch meine Mutter nicht unter die Erde bringen. Hörtest Du, was sie vorhin sagte? Genug, ich werde Kaufmann und wenn mich die ganze Welt deshalb weibisch nennt, weil ich meiner Mutter gehorche. Ich habe eigentlich nie recht daran gedacht, daß ich ihr gehorchen muß, ich habe es immer gewollt.«

Viktor küßte statt, aller Antwort den Knaben, dessen feine, weiche Züge er plötzlich von einem Geist durchleuchtet sah, der ihm auf einmal ein neues Verständniß für die Charakteranlage des Kindes gab und ihn überzeugte, daß nicht nur Gemüthstiefe, daß auch Weichheit des Gemüths sich gar wohl mit männlichen Eigenschaften vertrage.

»Nun erzähle mir von Flora und Elisabeth!« bat Georg.

»Von denen weiß ich nur, daß Flora Deiner Mutter entfremdet ist, weil sie eine Heirath wider den Willen derselben schloß,« antwortete Viktor. »Elisabeth war der Mutter immer gehorsam, aber vielleicht war sie es nie mit dem Herzen, wie Du es sein kannst und willst, und deshalb lockerte die widerwillige Heirath mit Eisenhart das Band zwischen ihr und Deiner Mutter.«

»Hat sie ihren Mann wirklich ungern geheirathet?« fragte Georg.

»Sie sagen es Alle,« entgegnete Viktor.

»Das kann die Mutter nicht gewußt haben,« entschied Georg.

»Das ist wohl möglich,« gab Victor, wenn auch gegen seine Ueberzeugung, zu und fuhr dann scherzend fort: »wenn Deine Mutter also einmal von Dir verlangte, Du solltest ein Mädchen heirathen, das meinetwegen rothe Haare oder einen Buckel oder sonst etwas Aehnliches hätte, das würdest Du also nicht thun?«

Georg lachte.

»Ach, ich will gar nicht heirathen. Ich brauche es auch nicht; so lange die Mutter lebt, habe ich eine Frau im Hause und sie ist doch die beste,« sagte Georg mit kindischer Altklugheit und kindlicher Wärme.

»Könnte ich es nur machen, daß unsere ganze Familie einmal wieder zusammenkäme, daß wir Alle bei der Mutter wären!« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »aber von Richard weiß kein Mensch etwas, Flora mag nichts von uns wissen, und Elisabeth geht gar über's Meer. Aber ich will sie doch einmal Alle zusammen haben, und sie müssen Alle die Mutter lieb haben, es ist zu unnatürlich, es nicht zu thun. Richard muß sich auffinden lassen. Wenn ich erst mein eigener Herr bin, suche ich ihn, und dann hole ich auch die Elisabeth zurück und auch zu Flora reise ich selbst. Wenn sie auch zwanzig Kinder hat und jedes einzelne lieber als uns Alle zusammen, deshalb kann sie uns doch lieb haben. Nicht wahr, Victor, das ist doch Unsinn, daß man mit seiner Liebe ganz fertig wird? Wenn man auch Einem noch so viel giebt, man muß doch immer noch für Andere etwas übrig haben, nicht?«

»Gewiß,« bestätigte dieser gerührt.

Während des ganzen Spazierganges phantasirte Georg nun von dem geträumten künftigen Zusammenhalten der Familie. Alle, Alle schaarten sie sich um die Mutter. Das Haus war groß, das Herz derselben weit genug, sie Alle aufzunehmen. Es war ein schöner, kindlicher Traum, den das Herz ersonnen, ein Herz, das fähig gewesen wäre ihn zur Wirklichkeit zu machen, aber Träume sind Schäume, und ehe der Abend noch zu Ende ging, war dieser theilweis in Schaum zerflossen.

 

Die Abendpost brachte wie gewöhnlich die täglich einlaufenden Briefe, unter diesen einen von Jakobi mit einer Einlage verschiedener Zeitungsblätter, in denen er einzelne Artikel mit Rothstift für seine Prinzipalin gezeichnet hatte, sie mit einigen eben so zarten als tiefes Mitgefühl verrathenden Worten auf den unangenehmen Inhalt derselben vorbereitend. Sie überflog dieselben mit raschen Blicken.

Der eine, einem pommerschen Provinzialblatt entlehnt, enthielt, wenn auch ohne Namen und diese nur mit Anfangsbuchstaben bezeichnend, eine Mittheilung des Vorfalls in Häringsdorf, der, alle Entstellung und Uebertreibung abgerechnet, doch in hinlänglich schmutzigen und düsteren Farben spielte, um einen schätzenswerthen Beitrag zu der chronique scandaleuse des Tages zu bieten.

Eine junge, schöne Frau, die den besten Freund ihres Mannes zum Anbeter hat, ein Stelldichein Beider im Walde, bei dem das einzige Kind der Dame ein lästiger Zeuge, als solcher entfernt wird und sich in Folge dessen im Walde verirrt, die dadurch herbeigeführte Entdeckung der ganzen unsaubern Geschichte, die Rache des Mannes, ob Duell, ob Mord, als fraglich hingestellt, die fluchtähnliche Abreise der Familie: das Alles bildete den Inhalt der tragischen Mittheilung. Der Held, in dem man zugleich den Jugendgeliebten der jungen Frau vermuthete, der Dichter D***, Verfasser des und des Romans. Selbst Frau Artefeld konnte, trotz ihrer geringen Kenntnisse in der Literatur, doch nicht im Zweifel über die Person desselben sein; der betrogene Ehemann, ein Kaufmann E******** aus St*****, des Kindes Name durch ein Wortspiel mit der Flora des Waldes wenigstens für Bekannte der Familie deutlich gemacht – kurz, Frau Artefeld hätte die mitspielenden Personen dieser traurigen Begebenheit errathen müssen, auch ohne die Ergänzung derselben, die das zweite Blatt brachte, in dem der Abschied Eisenhart's von seinen Stettiner Freunden enthalten war.

Frau Artefeld las, ohne eine Miene zu verziehen, aber ihre seit dem Tode ihres Mannes überhaupt farblosen Wangen wurden noch blasser. Als sie aufsah, traf ihr Blick auf Victor, der einen eben gelesenen Brief zusammenfaltete, einen andern noch geschlossenen in der Hand hielt und dessen Gesicht so unverkennbare Bestürzung zeigte, daß sie mit einem an ihr befremdenden Zittern in der Stimme fragte, ob die Post auch ihm traurige Nachrichten gebracht hätte.

»Es ist ein Abschiedsbrief meiner alten Tante Dorothee,« sagte er, »den sie bei ihrer Einschiffung nach New-York für mich zurückgelassen hat. Es ist eine traurige Geschichte,« setzte er zögernd hinzu.

»Eine traurige? Eine schmachvolle ist's!« stieß Frau Artefeld hervor und biß die Zähne zusammen, als wolle sie sich mit Gewalt zwingen, nicht mehr zu fragen. Sie war sichtlich tief erschüttert. Es war das zweite Mal, daß ein vollgefülltes Maß voll Schande auf das Herz der stolzen Frau fiel und die Stelle traf, wo sie am tiefsten zu verwunden war.

»Der Tod löscht viel aus!« sagte Victor leise.

»Nichts löscht er aus,« entgegnete sie hart, »aber wenn auch, was geht mich der Tod dieses Menschen an, dieses« – sie brach ab.

Victor sah Frau Artefeld erstaunt an.

»Weißt Du noch mehr, als hier dem Vergnügen der ganzen Welt in den Zeitungen preisgegeben wird?« fragte sie scharf, Victor's erstaunte Miene bemerkend. »Ist der Brief an mich?« fuhr sie fort, auf den deutend, den Victor noch unerbrochen in der Hand hielt und auf dem ihr scharfes Auge ihre Adresse zu erkennen glaubte. »O, Du brauchst mich nicht zu schonen, wenn es noch schlimme Nachrichten für mich giebt. Mich hat nie ein Mensch geschont, und ich selber habe es nicht thun können. Was ich doch erfahren muß, will ich lieber bald erfahren.«

Sie nahm ihm den Brief aus der Hand, und damit in die Nebenstube gehend, sagte sie zu Victor: »Sage Georg nichts; was er hören muß, soll er durch mich hören.«

Glücklicher Weise war Georg nicht zugegen gewesen, als Victor und Frau Artefeld die Briefe empfingen, und als er jetzt eintrat und Victor seinen Brief noch einmal lesen sah, trat er bescheiden zurück und setzte sich, ein Buch in die Hand nehmend, an's Fenster, um Victor nicht zu stören. Darauf hatte dieser nicht gerechnet. Er wäre nicht im Stande gewesen, jetzt von gleichgültigen Dingen zu sprechen. Die Buchstaben, die ein so trauriges Lebensbild vor ihm aufrollten, tanzten und flimmerten vor seinen Augen, in denen helle Thränen des Mitgefühls für die unglückliche Elisabeth sich mit denen aufrichtigen Kummers über die plötzliche und ohne einen letzten freundlichen Abschied erfolgte Abreise der Pflegerin seiner Kindheit vermischten.

Frau Artefeld las während dessen der kleinen Flora Brief, am Bord des Schiffes geschrieben, das sie am nächsten Tage auf das weite Meer hinaus, einem unbekannten Leben entgegenführen, das sie, eine arme kleine, mutterlose Waise, bald weit von der gewohnten Heimath trennen sollte.

Der Brief lautete:

Liebe Großmama!

Dorothee sagt, ich müßte Dir schreiben und Dir Lebewohl sagen, weil wir dem Papa nachreisen müssen und nicht erst zu Dir können. Ach, liebe Großmama, ich bin recht traurig, die Mama ist gestorben und sie haben sie in die Erde gegraben. Ich wollte es nicht leiden und sie haben es doch gethan, meine hübsche Mama in die finstere schwarze Erde. Dorothee sagt, sie käme in den Himmel, aber der Himmel ist doch oben und die Erde unten. Liebe Großmama, ich kann Dir nicht viel schreiben, sei auch nicht böse, daß ich so schlecht schreibe, ich schreibe sonst besser, aber jetzt geht es gar nicht, weil die Mama nicht da ist. Ich soll Dir aber erzählen, wie Alles kam. Also, Mama war schon krank, als wir abreisten, und als wir nach Schwerin kamen, mußte sie sich zu Bett legen und der Papa, der nicht auf sie warten konnte, ging allein zu Schiff. Und dann war die Mama noch viele Wochen krank und kannte Keinen und sprach sehr viel, was ich nicht verstand, am meisten sprach sie aber von Onkel Dorn, den sie sehr lieb hat. Zuletzt aber kannte sie mich wieder, und da sagte sie mir selbst, daß sie sterben würde, und sagte zu Dorothee, daß sie mich zu Tante Flora bringen sollte. Dorothee sagte aber, daß sie dem Papa versprochen hätte mich ihm zu bringen, und da nickte sie, und dann habe ich ihr etwas versprechen müssen. Ich habe gar nicht recht verstanden, was, aber Dorothee sagt, ich soll es nur behalten, später würde ich es verstehen. Ich mußte ihr nämlich versprechen, nie zu heirathen, wenn ich den nicht lieb hätte, den ich heirathen sollte. Liebe Großmama, das habe ich ihr versprochen. Kannst Du mir wohl sagen, was die Mama damit meinte? Ich denke immerfort daran, ich will gewiß der lieben Mama gehorchen. Ich muß Dir jetzt adieu sagen. Wir sind schon auf dem Schiff, was sehr hübsch ist. Der Capitän ist auch sehr gut und zeigt mir Alles, aber lustig werde ich doch nicht sein. Ich habe ein schwarzes Kleid an und Dorothee hat auch ein schwarzes Kleid an, das nennen die Leute Trauer. Adieu, liebe Großmama, grüße Onkel Georg und behalte lieb

Deine kleine Enkelin
Flora.

 

Keine erläuternde Zeile Dorothee's begleitete diesen kindlichen Bericht. Dagegen hatte diese an Victor geschrieben und ihm die ganze traurige Begebenheit mitgetheilt.

 

»Erzähle der harten Frau davon, was Du willst,« hieß es unter Anderm in dem Briefe, »je mehr, je besser; denn ihre Schuld ist es, daß dies arme junge Herz gebrochen wurde, und es muß doch endlich einmal in ihr tagen, daß die Menschen nicht Puppen sind und die Welt kein Comödienhaus, in dem sie Alle nach ihrem Belieben die ihnen zugetheilte Rolle spielen. Ich würde ihr das selber sagen, aber ich habe mich auch einmal eigenmächtig in Geschichten gemischt, die mich nichts angingen, und es sind schlimme Folgen daraus entstanden. Ich kann auch der Frau nicht schreiben Sie hat einmal in böser Stunde meine Handschrift gesehen, sie soll dieselbe nicht wiedererblicken. So habe ich Flora schreiben lassen, und hat sie ein Herz und ein Gewissen, so wird sie schon merken, was zwischen den Zeilen steht, die dies unschuldige kleine Geschöpf als letzten Gruß sendet.

Ich werde jetzt nur noch für das Kind leben, was soll ich auch in dem Lande, wo es, glaube ich, mehr Affen als Menschen giebt, Besseres thun!

›Laß sie nicht heirathen, wenn sie nichts liebt!‹ das waren die letzten Worte der unglücklichen Frau, die kein Mensch nach ihrer Liebe gefragt hatte, als man sie heirathen ließ, und die nun daran gestorben ist. Sie wiederholte diese Worte drei-, viermal; all' der Kummer, all' die Angst, die sie ausgestanden hatte, lag in den Worten; hätte die harte Frau sie nur hören können – –!«

 

In diesem Tone ging der Brief weiter, schloß mit einem zärtlichen Lebewohl und mit dem dringenden Wunsch, Gott möge ihren Liebling, ihren Victor behüten und segnen und ihr wo möglich gestatten, ihn auch noch einmal wiederzusehen, ehe ihre alten Augen sich für immer schlössen und sie hinausginge, Gott von all' ihrem Thun und Lassen Rechenschaft abzulegen und ihn auch wegen des anonymen Briefes um Verzeihung zu bitten, mit dem sie in sein Regiment eingegriffen und so viele Trübsale verschuldet habe.

Victor war mit dem abermaligen Durchlesen seines Briefes noch nicht zu Ende, als Frau Artefeld eintrat. Sie ging auf Georg zu, küßte diesen und sagte mit einer Stimme, die gewaltsam nach Festigkeit rang:

»Elisabeth ist gestorben; Du bist jetzt mein einziges Kind; Gott sei Dank, daß ich Dich habe!« – –

 

Die letzte Sommerszeit verging trübe und ernst. Georg's Herz trauerte um den Tod der Schwester, trauerte um die Trennung von Victor, und wenn Frau Artefeld auch nur durch üble Laune verrieth, daß ihr Gemüth erschüttert war, so ließ sich doch letzteres nicht wegleugnen.

Später als in den vergangenen Jahren, erst als der Herbst weit vorgeschritten war, kehrte Frau Artefeld nach Breslau zurück, ja es wurde ihr schwer, es überhaupt zu thun«

Wie damals bei dem Tode ihres Mannes hatte sie wieder ein Gefühl, als müsse sie ihr Haupt vor aller Welt verhüllen, damit nur Keiner in ihren Zügen lesen könne, wie das von ihren nächsten Angehörigen verübte Unrecht sie innerlich herabwürdige. Aber ihr Antlitz war nur noch kälter, und sie trug ihr Haupt wo möglich noch höher, als sie nun doch keinen Grund auffand, ihr längeres Fernbleiben von der Stadt und ihren Geschäften vor sich zu entschuldigen, und also in dieselbe zurückkehrte.

Mit einer Miene, die viel mehr bedeutete, als Theilnahme an der Trauer seiner Prinzipalin, wurde sie von Jakobi empfangen.

Sie sah ihm eine Hiobspost an, aber ihr zweiter Blick fiel auf Georg.

»Das Beste, was ich habe, ist bei mir,« dachte sie, »ich kann das Schlimmste hören.« Sie hielt den Knaben fest an der Hand, als sie fragte, was geschehen sei.

»Es sind in der letzten Zeit viele Schiffbrüche vorgekommen,« sagte er leise, »unser Haus ist nicht dabei betheiligt und erleidet dadurch selbst keinen indirecten Verlust an irdischen Gütern, aber zu den untergegangenen Schiffen, und zwar zu denen, wo wahrscheinlicher Weise nichts von der Mannschaft gerettet ist, gehört der Merkur. –«

Er schwieg. Auf dem Merkur hatte Moritz Eisenhart sich eingeschifft, in seinem Abschiedsruf an seine Freunde war dieses Umstandes Erwähnung gethan, Frau Artefeld erinnerte sich dessen augenblicklich.

Sie antwortete keine Silbe auf diese Trauerbotschaft. Sie schritt schweigend an Jakobi vorüber, aber sie hielt Georg's Hand krampfhaft fest und ihre Füße trugen sie kaum in die nächste Stube.

Bis in die tiefste Seele war sie erschüttert

Ein verwaistes Kind, vom Grabe der Mutter kommend, auf weitem Ocean allein, nur beschützt von einer alten Wärterin – in der Hoffnung zum Vater zu eilen, – ein unbekanntes Ufer, betreten von dem zarten Fuß – eine fremde Welt, dem suchenden Auge entgegenstarrend – das war ein Bild, vor dem selbst Frau Artefeld bebend die Augen schloß, einen Augenblick rathlos auf demselben verweilend.


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