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Am Abend kam die Königin zu Walpurga und sagte:
»Ich nehme nicht Abschied von dir. Wir wollen nicht vom Weggehen reden. Ich habe dir nur von Herzen danken wollen für die Liebe, die du mir und meinem Kinde bewiesen.« »O Königin, wie können Sie mir danken? Das sag' ich keinem Menschen auf der Welt, daß die Königin sich bei mir bedankt hat,« rief Walpurga. »Aber Sie sind so gut und wollen mir's leicht machen, und das können Sie mir glauben, jeden Blutstropfen gab' ich her, jede Ader ließ' ich mir schlagen für Sie und unser Kind. Ach lieber Gott, unser Kind! Ich darf nicht mehr so sagen, morgen schon nicht mehr, ich muß fort, aber ich krieg' mein eigen Kind daheim.«
»Ja, Walpurga, das ist's, was ich dir sagen wollte. Glaube mir: das beste, was man auf der Welt haben kann, ist daheim sein; und so viel wirst du eingesehen haben, daß es eins ist, ob in einem Schloß oder in einer Hütte.«
»Da haben Sie recht, mehr als satt essen und satt schlafen kann man sich nirgends. Morgen früh kommt mein Hansei. Darf ich ihn auch zu der Königin bringen, daß er sich bedankt, und auch zum König und den guten Herrschaften allen?«
»Laß das, Walpurga, das ist nicht nötig. Der Arzt hat mir eigentlich verboten, von dir Abschied zu nehmen, es kann aber sein, ich sag' dir morgen noch einmal Lebewohl. Du kannst mir's glauben, es ist mir auch leid, daß du fortgehst.«
»Wenn's die Königin will, bleib' ich da, und mein Mann und das ganze Nest kommt mit her.«
»Nein, geh du wieder heim, das ist besser; und wenn ich einmal in deine Gegend komme, besuche ich dich. Und meinem Sohn will ich auch schon sagen, wie gut du gegen ihn warst; er soll dir's nie vergessen.«
Walpurga hatte das Kind in die Wiege gelegt und sie rief:
»Sehen Sie, er spricht drein! Wir erwachsenen Menschen verstehen nicht, was Kinder sagen, aber er versteht uns!« Nun erzählte Walpurga mit Jubel, daß ihr der Prinz heute einen Kuß gegeben, und sie redete ihm zu, daß er jetzt auch seiner Mutter einen gäbe. Aber das Kind that's nicht.
»Frau Königin,« sagte Walpurga, »ich lasse Ihnen noch was Gutes da: ich hab' was für Sie gefunden.« Ihr Angesicht glühte und die Königin fragte:
»Was hast du?«
»Frau Königin, ich hab' eine Freundin für Sie, die beste. Die Frau Gunther, die kann auch wie Sie einem so aus dem tiefsten Herzen heraus reden, aber doch wieder anders. Ich meine, die sollten Sie recht oft besuchen und ich meine, es thäte Ihnen auch wohl, wenn Sie manchmal auf eine gute Stunde in ein gutes Nachbarhaus gehen könnten. Sie kämen allemal viel frischer wieder heim.«
Walpurga war voll Eifer, der Königin das Glück eines Nachbarbesuches zu erklären. Die Königin lächelte, da Walpurga noch immer keine Vorstellung von den Bedingungen des Hoflebens hatte. Sie erklärte ihr indes, daß sie nur mit denjenigen Verkehr pflegen könne, die ins Schloß kämen. Walpurga war sehr traurig, daß sie nicht noch zu guter letzt die beiden Frauen zusammenbringen konnte. Die Königin zog sich zurück.
»Jetzt ist sie fort,« sagte Walpurga, »und ich hab' ihr noch gar nichts gesagt, und ich mein', ich müßt' ihr noch so viel sagen.« Sie hatte das Gefühl, daß sie die Königin nicht verlassen dürfe; sie allein meint es getreu mit ihr und kann ihr beistehen, wenn ihr die Menschen etwas anthun wollen, wer weiß was.
Sie dachte zurück an jene Stunde, da die Königin sie geküßt. Wieviel haben sie seitdem miteinander erlebt! Ist's denn möglich, daß es noch nicht ganz ein Jahr ist?
Sie setzte sich an die Wiege und saß lange zusammengekauert da; dann begann sie leise zu singen:
»Mein Herz trägt eine Ketten,
Die du mir angelegt,
Und ich wollt' das Leben wetten,
Daß keiner schwerer trägt.«
Ihre Stimme war heute zitternd. Das Kind schlief. Sie stand auf und sagte zu Mamsell Kramer, daß sie noch bei allen im Schlosse Abschied nehmen wolle. Mamsell Kramer widerriet ihr dies. Nur zu Gräfin Irma ging Walpurga, aber sie traf sie nicht im Schlosse, sie war bei einer großen Gesellschaft im Hause ihres Bruders. Walpurga sagte dem Kammermädchen, daß sie morgen früh abreise, und es thäte ihr wehe, wenn sie der guten Gräfin nicht Lebewohl sagen könnte; einstweilen sagte sie dem Kammermädchen Lebewohl und empfahl ihm, recht acht zu haben auf die gute Gräfin, daß sie immer gesund bleibe.
Walpurga reichte dem Kammermädchen die Hand, aber sie mußte sie leer zurückziehen, denn jene hielt beide Hände in den Taschen ihrer seidenen Schürze und machte einen halb spöttischen Knix.
»Je vornehmer, je besser sind die Menschen,« sagte Walpurga, als sie wieder in ihrem Zimmer war. »Die Königin ist die Höchste und auch die Beste.«
Walpurga wurde zur Oberhofmeisterin gerufen. Sie fand sie auf derselben Stelle, in derselben Haltung wie damals, als sie vor bald einem Jahr hierher gebracht wurde. Tagtäglich fast hatte sie die strenge Dame gesehen; sie war nicht zutraulicher geworden, aber immer gleichmäßig gütig. Es schien, daß es in ihrer Art oder vielleicht auch in ihrem Amte lag, Walpurga nun auch ordnungsmäßig zu entlassen.
»Du hast dich brav gehalten,« sagte Gräfin Brinkenstein mit freundlicher Handbewegung. »Die Allerhöchsten Herrschaften sind zufrieden mit dir. Nun lebe wohl und sei auch fernerhin brav.«
Sie stand nicht auf, sie reichte Walpurga keine Hand, sie nickte ihr nur zum Abschied, und Walpurga ging.
Diese doch gewiß nicht leutselige Entlassungsweise that Walpurga doch innerlich wohl; sie hatte ein Gefühl, wie wenn sie einen ehrenvollen Soldatenabschied bekommen, und soldatisch streng aber auch verläßlich und immer sich gleich war die Oberhofmeisterin geblieben; diese Beständigkeit übte ihren gerechten Einfluß auf das Gemüt Walpurgas.
Im Zimmer Walpurgas standen zwei große Kisten vollgepackt und geschlossen. Sie hatte im Laufe des Jahres so viel Sachen bekommen und an Geld eine so große Summe, daß man ein mäßiges Bauerngütchen dafür kaufen kann. Sie setzte sich bald auf die eine, bald auf die andre Kiste, und als sie sich endlich niederlegte, blinzelte sie noch lang hinüber nach ihren Kisten. Wie umwandelnde Geister gingen die Gedanken Walpurgas durch die Gemächer des Schlosses und dann wieder daheim durch ihre Hütte, durch den Garten, über die Berge und plötzlich erwachte sie von einem Schrei des Kindes. Sie mußte sich besinnen, ob das ihr eigen Kind oder ein fremdes; sie beruhigte den Prinzen bald, blieb aber an seiner Wiege sitzen. »Der Schlaf soll uns keine Minute mehr nehmen, die wir noch beisammen sein dürfen,« sagte sie leise.
Es tagte. Walpurga hatte das Kind zum letztenmal an der Brust. Eine Thräne fiel auf sein Haupt; es schaute zu ihr auf. Dann schlief es wieder an ihrem Herzen und sie hielt sein linkes Händchen an ihren Mund und sprach leise Worte hinein.
Sie legte das Kind wieder in die Wiege, heftete noch einen schweren Blick auf dasselbe, dann ging sie, mit dem Rücken gegen die Wiege gewendet, dreimal um diese herum und endlich sagte sie zu Mamsell Kramer:
»Jetzt geh' ich. Jetzt ist's Zeit.«
Diener kamen und holten die Kisten. Walpurga war so versöhnlichen Herzens, daß sie selbst der Französin die Hand zum Abschied reichte. Sie schaute nicht mehr um nach der Wiege, ging hinab und ließ die Kisten nach einem Wirtshaus in der Nähe des Schlosses bringen, wohin sie Hansei bestellt hatte; er müßte eigentlich schon da sein, sie hatte ihm genau die Stunde angegeben, wann sie ihn dort treffen wollte. Aber Hansei war nicht da.
Hier im Wirtshaus war schon früh ein bewegtes Leben, denn hier kehrten die Hofbedienten ein. Es wurde bereits laut gezecht und einige Livreebediente schalten sehr unehrerbietig auf die Herrschaften, die heute nacht auf der Soiree beim Grafen Wildenort die Bedienten im Vorhause und die Kutscher auf dem Bock fast drei Stunden hatten warten lassen. Es hieß, Graf Wildenort habe die Allerhöchste Erlaubnis bekommen, ein Roulette aufzustellen, und die Herrschaften hätten hochgespielt; der König wäre auch dagewesen, die Königin aber nicht.
Walpurga saß bei der Wirtin im Verschlag auf ihrer Hauptkiste. Sie ging vor das Haus, um nach Hansei zu schauen; er kam noch immer nicht. Baum brachte ihr die Botschaft, sie solle noch zur Gräfin Irma kommen, aber erst um neun Uhr. Walpurga ging in der Stadt umher wie verirrt: da rennen die Menschen aneinander vorüber, keiner weiß vom andern und sie haben auch nicht Zeit zum Fragen. Man sieht um diese Zeit keinen runden Hut auf der Straße, die Stadt hat jetzt nur mützentragende Einwohnerschaft; Bäckerjungen und Metzgerburschen tragen pfeifend Brot und Fleisch aus, an den Ecken stehen Mägde und lassen sich Milch zumessen, und die Marktweiber vom Lande eilen mit Körben und Handkarren nach ihren Standorten.
»Morgen früh ist das alles wieder so und du bist fort; es geht dich auch heute nichts an,« sagte sich Walpurga, während sie dem Treiben selbstverloren zuschaute. Ein großer Buchladen wird jetzt aufgemacht und da hängt ihr Bild hinter der Scheibe – was nützt es sie? Niemand fragt, wie es ihr im Herzen ist.
»Und morgen wird das Bild auch dahängen, und es ist eins, ob du noch da bist oder nicht; es ist überhaupt eins, ob du auf der Welt gewesen bist oder nicht,« so schloß Walpurga, als eben ein Leichenwagen vorbeizog, und niemand fragte, wen sie da begraben. Alles zog seinen Weg.
In schweren Gedanken ging Walpurga dahin, und immer wieder zerrte etwas an ihr, nach dem Schlosse zurück, zu dem Kinde. Sie ging vors Thor, wo Hansei hereinkommen mußte. Er kam noch nicht.
Wenn er gar nicht kommt, wenn das Kind daheim krank, wenn es gestorben ist, wenn – Walpurga wurde sterbensbang vom Ausdenken dessen, was alles möglich sei. Sie setzte sich auf eine Bank in der Promenade vor dem Thor, Reiter jagten vorbei und ein blinder Invalide spielte einen lustigen Walzer auf seiner Orgel ...
Es schlug neun Uhr, Walpurga ging in die Stadt zurück nach dem Schlosse. Am Thor stand Hansei und sein erstes Wort war:
»Grüß Gott, Walpurga! Bist endlich da? Wo laufst denn herum? Ich suche dich schon geschlagene zwei Stunden.«
»Komm mit da herein,« sagte Walpurga und führte Hansei in einen bedeckten Gang, »man spricht hier nicht so laut.«
Nun stellte sich's heraus, daß Walpurga in ihrem letzten Briefe ihn nach dem Schlosse und nicht ins Wirtshaus bestellt hatte; sie bat um Verzeihung, sie sei beim Schreiben verwirrt gewesen: dann aber sagte sie: »Jetzt laß dir einen guten Willkommskuß geben. Gottlob, daß alles gesund ist. Ich brauche jetzt viel Liebe und Gutsein.«
Vor dem Zimmer Irmas bat sie ihn, zu warten, und ging hinein. Irma lag noch im Bett, aber sie befahl, daß Walpurga, deren Stimme sie gehört hatte, hereinkomme. Die Gräfin sah schön aus in ihrem weißen Gewande, aber sie war sehr blaß und ihr Haar lag aufgelöst in wilden Strähnen auf den weißen Kissen.
»Ich habe dir noch ein Andenken geben wollen,« sagte Irma, sich erhebend, »aber ich glaube, das beste für dich ist Geld. Nimm das dort! Alles, was dort liegt, alles! Ich will nichts davon! Nimm. Hab keine Furcht, es ist wirkliches Gold, im ehrlichen Spiel gewonnen, ich gewinne immer, immer! ... Nimm dein Tuch heraus und wickle es hinein!«
So rief Irma, ihre Stimme klang heiser. Es war so dämmerig in dem Zimmer, daß Walpurga sich furchtsam umschaute, als befände sie sich in einem Zaubergemach, und sie kannte doch das Mädchen, sie kannte die Tische, die Stühle, sie hörte den Papagei im Nebenzimmer schreien – sie kannte alles, aber der Gedanke verließ sie nicht, daß das böses Gold sein könne; rasch machte sie das Zeichen des Kreuzes darüber, dann steckte sie es in ihre weite Tasche.
»Und nun leb wohl,« sagte Irma. »Sei glücklich, sei tausendmal glücklich! Du bist es mehr als wir alle. Wenn ich einmal nicht mehr weiß, wohin in der Welt, komme ich zu dir. Gelt, du nimmst mich auf und gibst mir ein Plätzchen hinterm Ofen? Jetzt geh, geh! Ich muß noch schlafen. Leb wohl, Walpurga, und vergiß mein nicht! Danke mir nicht! Sprich nichts! Ich komme bald zu dir, dann wollen wir wieder singen, ja singen – leb wohl!«
»Ich bitt' dich, laß mich reden, nur ein einzig Wort!« rief Walpurga und faltete die Hände. »Wir können beide nicht wissen, wer von uns stirbt und dann wär's zu spät.«
Irma drückte mit der Hand die Augen zu und nickte. Walpurga fuhr fort:
»Ich weiß nicht, was mit dir ist; es geht dir nicht gut und es kann dir noch schlechter gehen; du hast so oft kalte Hände und heiße Backen. Damals, am zweiten Tag nach meiner Ankunft, hab' ich dir unrecht gethan, verzeih mir's. Ich will dir mit keinem Gedanken mehr unrecht thun, und es soll dir niemand unrecht thun, es soll dir niemand was Böses nachsagen, aber ich bitt' dich, mach, daß du aus dem Schloß da hinauskommst! Geh auch heim ...«
»Genug, genug!« wehrte Irma ab. Sie hielt die Hände vor, als wären die Worte Walpurgas Steine, die auf sie zuflogen. »Genug!« schloß sie. »Leb wohl! Vergiß mein nicht!«
Sie streckte ihr die Hand entgegen, die Walpurga küßte; die Hand war fieberisch heiß.
Walpurga ging. Draußen im Vorzimmer rief der Papagei noch: »Pfüt di Gott, Irma!« Walpurga erschrak bis ins Herz hinein und eilte wie gejagt davon.