Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Zweiter Band
Berthold Auerbach

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Viertes Buch

Erstes Kapitel.

Ein leiser Morgendämmer schimmerte durch den herzförmigen Ladeneinschnitt in das kleine Gemach. Die Wasseramsel im Röhricht versuchte ihren ersten Ton. Walpurga erwachte und horchte hin, sie hörte den Atem ihres Kindes, den Atem ihres Mannes – dreifacher Atem ist ihr Leben!

»Guten Morgen, Tag, ich bin daheim!« sprach sie leise und es war ihr so wohlig im eigenen Bett. Plötzlich faltete sie die Hände:

Ich danke dir, lieber Gott! Jetzt weiß ich, wie es sein muß, wenn man in der Ewigkeit erwacht, und ist erst recht daheim und hat alles bei sich und muß niemand verlassen und bleibt ewig beieinander; und jetzt wollen wir noch schön miteinander leben, gut leben und brav leben. Laß mir nur alles gesund und laß alles dahinten sein, was nicht gut und gerad ist ...

Sie schloß wieder die Augen und dachte zurück. Gestern in der Nacht hatte ihr die Mutter gewinkt, war mit ihr in den stillen Grasgarten hinter dem Hause gegangen und hatte gesagt: »Schau dort oben die Sterne, sieh hinauf und sag: kannst du deinen Mann und dein Kind mit reinem Munde küssen? Wenn – was Gott verhüte – es nicht wäre – –«

»Mutter,« hatte Walpurga gerufen, »Mutter, ich kann. Da heb' ich meine Hand auf; ich bin noch so, wie ich gewesen, als ich von da weggegangen.«

»So,« sagte die Mutter, »das thut gut; jetzt sterbe ich gern.«

»Nein, Mutter, wir wollen noch gut miteinander leben.«

»Ist mir auch recht. Jetzt laß dir was sagen und da folg mir: Schau, du bist fast ein Jahr in der weiten Welt gewesen und bist in Kutschen gefahren und derweil habe ich hier gelebt, in dem Häuschen und in dem Garten, und hab' dein Kind auf dem Schoß gehalten und bin in Gedanken auch in der Welt herumgekommen, weit, weit, und drüber hinaus, wo man nicht vierspännig hinkommt. Jetzt hör mich getreu an und folg mir.«

»Ja, Mutter, von Herzen gern.«

»Also folg mir: gönn dir Zeit, dich wieder einzugewöhnen; verlange nichts, was unnatürlich ist. Schau, du kannst nicht von deinem Kind verlangen, daß es dich lieb hat, du bist nicht bei ihm gewesen die lange Zeit, es kennt dich nicht, es ist alles auseinander gewachsen; und so nimm's auch an mit allem andern. Will nicht, daß alles so sei, wie wenn du gestern dabei gewesen wärst, und weil du brav bist, so zeig's an andern. Dein Mann hat's schwerer gehabt als du, fast ein Jahr lang allein.«

Mutter und Tochter wurden hier unterbrochen. Hansei rief aus dem Stubenfenster, was sie denn noch draußen zu thun hätten in der Nacht.

»Und jetzt schlaf!« schloß die Mutter. »Ich hab' dir dein Bett drei Tage lang gesonnt. Schlaf gut! Gute Nacht!«

Die Mutter führte die Tochter an der Hand wie ein kleines Kind, und als sie über die Schwelle getreten, fiel sie dem Kinde um den Hals und herzte und küßte es in der Dunkelheit ...

So hatte jetzt Walpurga die Augen geschlossen. Was in der vergangenen Nacht geschehen war, stand vor ihr, alles war doppelt, wie in der Nacht die Sterne im See wiedergeschienen und ein doppelter Himmel war, ein Himmel droben und einer unten im See.

Beim Gedanken an den See richtete sich Walpurga auf, kleidete sich still an, beugte sich über das Kind und über ihren Mann und ging, leise die Thür öffnend, hinaus aus der Stube, aus dem Haus. Sie ging durch den Garten, der Holunder an der Hecke duftete stark und der Fink schlug hell auf dem Kirschbaum, sie hätte ihm gern zugerufen: Sei still, wecke niemand, bis ich wiederkomme.

Sie ging weiter. Aus dem Röhricht am See, wo die Wasseramsel sang und der Rohrsperling plauderte, flog ein Volk wilde Enten auf und zwitscherte im Fluge.

Die Sonne ging auf und der ganze See war wie ein wallender, weithin gebreiteter goldener Mantel.

Walpurga schaute um und um, dann plötzlich mit einem Ruck war sie entkleidet und sprang in den See. Sie tauchte unter und wieder auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht und plätscherte glückselig wie ein Fisch auf dem Grunde. Der Goldmantel des Sees wurde zu Purpur und Walpurga schaute auf zu der purpurnen Sonne und über den rot durchglühten See. »So ist's und so ist's recht, ich bin wieder da und wieder dein und alles ist von mir herunter. Ich bin nie fortgewesen.« Unter den dichten Weiden kleidete sie sich rasch wieder an und sie mußte sich zurückhalten, nicht laut aufzusingen, so wohl und frei war es ihr im Gemüte. Blaugrüne Libellen schwebten über dem Wasser. Jetzt flogen die Schwalben über den See und tauchten ihre Schnäbel in die allmählich verblassende Fläche, und drüben vom Walde rief der Kuckuck. Ein Storch stand im Röhricht und schaute Walpurga zu, wie sie sich wieder ankleidete; sie winkte abwehrend, als sie den Vogel gewahrte, der mit seinem großen Schnabel klapperte. Sie ging rasch zurück nach ihrem Hause. Der Fink schmetterte noch seinen Morgensang vom Kirschbaume, die beiden Kühe im Stalle brummten, sonst aber war alles noch still. Walpurga stand lange vor dem Blumenbrett am Stubenfenster und roch mit Entzücken an Nelken und Rosmarin. Diese Blumen hatte sie in ihrer Kindheit gepflanzt, damals, als sie noch kein eigen Gärtchen besaß: nur so viel Erde als in den Töpfen ist, konnte sie ihr eigen nennen; jetzt kann sie viele Ackerbreiten kaufen, aber wer weiß, ob so viel Freudenduft daraus emporsteigen wird, wie jetzt aus diesen henkellosen rußigen Töpfen.

Die Nelken schienen es auch darauf abgesehen zu haben, zur Heimkehr derer, die sie gepflanzt und gepflegt, aufzublühen, es waren fast keine Knospen mehr da und auch diese wenigen streckten schon rote Zünglein heraus. Immer wieder roch Walpurga an ihren Nelken und konnte sie gar nicht satt bekommen. Plötzlich lachte sie in sich hinein, sie gedachte einer alten Geschichte, die ihre Mutter erzählt von der seligen Suse, die immer davon satt wurde, wenn sie an einer Blume roch. Ja, aber die Meinigen werden davon nicht satt, lächelte sie und ging ins Haus.

Mutter, Mann und Kind schliefen noch. Eine kleine Weile saß Walpurga bei der Wiege ihres Kindes, dann ging sie hinaus in die Küche und mit reinen Händen entzündete sie das erste Feuer auf ihrem eigenen Herde. Sie schaute still in die aufsteigende Flamme und droben am See läutete die Morgenglocke. Sie hielt beide Hände fest auf das Herz gepreßt, als könnte sie damit die überquellende Glückseligkeit in sich beschützen und behüten.


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