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Wir saßen in einer kleinen, gemütlichen Gesellschaft, und ich erwähnte, daß ich demnächst eine Reise nach der Krim unternehmen wollte.
Jelena Nikolajewna, eine entzückende, junge Witwe mit grauen Augen und blondem Haar schaute mich vielversprechend an und sagte:
»Sie auch? Wann reisen Sie denn?«
»Gegen Ende dieser Woche!« erwiderte ich.
»Mein Gott!« rief Jelena. »Ich auch! Ach, wissen Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Fahren wir zusammen! Sie begreifen, daß allein zu reisen für eine Frau etwas Furchtbares ist. Wollen Sie mich begleiten?«
Ich schaute mir Jelena noch einmal an. dann sagte ich höflich: »Gnädige Frau, es wird mir ein Vergnügen sein.«
Mein Freund Perepletow sprang vom Sessel auf, blickte mich mit Bedauern an und machte mir ein Zeichen. Als wir das Zimmer verlassen hatten, fragte ich ihn:
»Lieber Freund, was ist los?«
»Bist du wahnsinnig geworden?« fragte er erregt. »Wozu hast du dieser Frau deine Begleitung zugesagt?«
»Aber sie ist doch eine entzückende, junge Witwe . . .«
»Um so schlimmer«, erwiderte gallig mein Freund, »eine Reise mit einer solchen Frau ist immer eine Gefahr für den Mann!«
Und seine Stimme klang prophetisch:
»Von nun an wirst du nicht wissen, was Tag und was Nacht ist. Du wirst ihr Lakei, ihre Zofe, ihr Träger, ihr Hausknecht sein. Du wirst die Verantwortung für alle von ihr vergessenen Sachen, für das Zuspätkommen zum Zug, für den Mangel eines Sonderabteils, für Hitze im Coupé und alle Unannehmlichkeiten, die auf der Reise passieren, tragen. Am Morgen wirst du die Seife suchen, die sie im Hotel vergessen hat, dann wirst du auf den Stationen Tee holen. In der Nacht wirst du nicht schlafen können, denn du wirst Wache halten, damit niemand das Coupé betritt . . . Um drei Uhr morgens wird sie plötzlich Kopfweh bekommen, du wirst im Zug herumlaufen und ein Beruhigungsmittel suchen. Du wirst der Aufpasser ihrer Koffer sein, du wirst die Sorge um das Hotel haben, du mußt das Menü fürs Mittagessen zusammenstellen, zuerst für sie und dann für dich. Mit einem Wort, du bist ein Dummkopf, daß du diese Mission übernommen hast . . .«
Ich schaute meinen Freund an, lächelte und sagte:
»Ein Mann – ein Wort. Jetzt läßt sich nichts mehr ändern. Aber ich denke, die Sache ist nicht so schrecklich.«
»Na, wir werden sehen!« Seine Stimme klang trocken und kühl. Wir kehrten in das Zimmer zurück, und ich traf mit der entzückenden Jelena meine Verabredung: Samstag, elf Uhr nachts auf dem Hauptbahnhof.
Samstag abends kam ich hin, stellte meinen Handkoffer unter den Diwan im Restaurant erster Klasse und ging spazieren.
»Mein Gott, da ist er! Endlich finde ich Sie!« tönte hinter mir eine Stimme. »Ich habe Sie überall gesucht! Wo stecken Sie denn?«
»Ach, da sind Sie, gnädige Frau«, antwortete ich erfreut, »wie geht es Ihnen?«
»Danke!« sagte sie kurz. Dann schaute sie mich an und fragte: »Was machen Sie hier?«
»Ich bummle«, antwortete ich.
»Haben Sie die Fahrkarten genommen?« fragte sie weiter.
»Welche Fahrkarten?« erwiderte ich erstaunt.
»Aber gestatten Sie, man kann doch nicht ohne Karten reisen?« bemerkte sie schnippisch
»Sie haben nicht unrecht«, sagte ich nach einigem Nachdenken, »man müßte die Fahrkarten nehmen.«
»Dann gehen Sie!«
»Wo soll man sie nehmen? Ich weiß ja nicht, wo die Kasse ist!«
»Sie sind ja wie ein hilfloses Kind! Sagen Sie es dem Träger, und er wird die Karten besorgen.«
»Und wenn der Träger mit dem Geld durchgeht?«
»Wozu hat er denn eine Nummer?«
»Eine Nummer? Und wer garantiert mir, daß ich diese Nummer nicht nach einer Minute vergesse? Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis!«
»Dann notieren Sie sich die Nummer!« bemerkte sie lachend.
»Ich habe keinen Bleistift bei mir.«
»Mein Gott, wir werden zu guter Letzt den Zug versäumen!«
»Nichts leichter als das«, antwortete ich auf die Uhr schauend, »er geht nämlich in fünf Minuten ab.«
Sie schlug die Hände zusammen und rief mir zu:
..Bleiben Sie hier stehen! Rühren Sie sich nicht vom Fleck! Ich werde selbst die Fahrkarten holen!«
»Gut«, erwiderte ich, »ich werde warten!«
Ich blieb ruhig stehen und sah zu, wie das Publikum sich zum Ausgang drängte.
»Kommen Sie, kommen Sie«, ertönte plötzlich hinter mir ihre Stimme, »gleich wird der Zug abgehen!«
Sie lief voran, ich folgte ihr. Plötzlich blieb sie stehen und fragte:
»Wo sind denn Ihre Sachen?«
»Ich habe meinen Koffer im Restaurant unter den Diwan gestellt. Man kann ihn ja später holen.«
»Was heißt später?« rief sie nervös. »Holen Sie ihn sofort!«
»Und wo werde ich Sie finden?« fragte ich meine Reisebegleiterin.
»Mein Gott«, rief sie voller Verzweiflung, »er ist wie ein dreijähriges Kind . . . Einen schönen Reisebegleiter habe ich mir da ausgesucht! Laufen Sie rasch ins Restaurant. Ich warte hier.«
Ich holte den Koffer, eilte zu dem Platz zurück, wo ich die junge Witwe verlassen hatte, und dann liefen wir beide den Perron entlang.
»Wo ist unser Zug?« fragte sie schwer atmend.
»Ich denke hier«, sagte ich und wies auf einen einzeln stehenden Waggon hin.
»Aber das ist doch ein abgekoppelter Waggon. Sie dummer Mensch! Wir brauchen einen Zug . . . Ah, da kommt mein Träger. Sie, Träger, wo ist der Zug nach Odessa?«
»Da steht er, gnädige Frau!« sagte er, höflich die Mütze lüftend.
Kaum hatten wir Platz genommen, setzte sich der Zug auch schon in Bewegung. Jelena Nikolajewna wischte sich das erhitzte Gesicht ab, lächelte und sagte:
»Ohne mich würden Sie heute den Zug versäumt haben!«
»Zweifellos«, erwiderte ich. »Ich wundere mich, wie Sie sich auf diesen Eisenbahnen auskennen! Diese Fahrkarten, die Träger können einen ja verrückt machen . . . da kann man leicht den Kopf verlieren.«
*
Eine halbe Stunde verbrachten wir im Gespräch, dann sagte ich:
»Ich habe Hunger! Ich will essen!«
»Weshalb haben Sie nicht im Bahnhofsrestaurant gegessen?« bemerkte meine Begleiterin.
»Ich hab' es vergessen!«
»Wie kann man das Essen vergessen? Warten Sie – bald wird eine Station mit Restaurant kommen. Schauen Sie im Reiseführer nach!«
»Ich habe keinen Reiseführer!«
»Da haben Sie meinen!« sagte sie lächelnd.
Ich nahm den Führer, schaute ihn an und bemerkte:
»Oho, das ist ein umfangreicher Führer! Da müssen viele Stationen mit Restaurants sein.« Ich begann zu blättern und sagte:
»In drei Stunden wird erst eine Station sein . . . Furchtbar!«
»Welche Station?«
»Terrioki!«
»Was?« rief sie erstaunt, »welche Strecke schauen Sie denn nach?«
»Hier . . . diese gelben Blätter!«
»Mein Gott, Sie brauchen ja noch eine Kinderfrau . . . Er weiß nicht einmal, wie man mit einem Führer umgeht!«
»Ich möchte den Menschen sehen, der sich da auskennt!«
»Geben Sie her«, rief sie nervös, »in zwanzig Minuten kommt eine Station mit Restaurant. Der Zug hält dort acht Minuten!«
»Das ist zuwenig. Ich werde den Zug versäumen!«
»Beruhigen Sie sich, Sie großes Kind. Ich werde mit Ihnen gehen!«
»Sagen Sie«, fuhr sie weiter fort, »wie leben Sie eigentlich? Wie leben Sie, wenn Sie überallhin zu spät kommen, wenn Sie bei der kleinsten Kleinigkeit den Kopf verlieren?«
»Ich lebe schlecht«, sagte ich mit einer Stimme voller Tränen. »Mein Vater ist tot, meine Mutter ist weit . . . Und lauter fremde Menschen, Kassen – die Leute laufen herum und schreien! Nein, wirklich, ich freue mich, daß wir zusammen gefahren sind!«
»Schon gut«, sagte sie beruhigend, »schon gut, mein Kleiner. Irgendwie werden wir unser Ziel erreichen . . . Wo wollen Sie schlafen? Auf dem unteren oder auf dem oberen Bett? Ich hoffe, daß Sie mir das untere Bett überlassen?«
»Gewiß überlasse ich es Ihnen. Nur entschuldigen Sie, wenn ich Sie in der Nacht aufwecke.«
»Wieso?« fragte sie erstaunt.
»Ich wälze mich nämlich von einer Seite auf die andere und werde zweifellos herunterfallen.«
»Hm«, sagte sie nachdenklich, »dann schlafen Sie im unteren Bett, Sie armer, hilfloser Junge!«
Sie streichelte scherzend mein Haupt, und in ihrer Stimme klang mütterliche Besorgnis . . .
*
Niemals bin ich mit einem solchen Komfort gereist wie dieses Mal. Man sorgte sich um mich, man gab mir zu essen und zu trinken. Trotz meiner großen Figur, trotz meiner tiefen Stimme behandelte man mich wie ein Kind. Meine Reisebegleiterin legte mich schlafen, bedeckte mich mit ihrem Reiseplaid, löschte die Lampe aus, wenn ich einschlief und brachte mir Kaffee aus dem Waggonrestaurant, wenn ich erwachte. Es amüsierte sie, wenn ich mir beim Erwachen die Augen mit der Faust rieb, und sie rief laut: »Baby ist erwacht! Baby will Kaffee!«
Ich war glücklich.
Mein Handkoffer stand jetzt bei ihren Koffern und wurde auf den Umsteigestationen mit ihren Sachen mitgetragen. Ich ging langsam hinterdrein, die Hände in den Taschen, ein Liedchen summend. Jelena Nikolajewna lief voran, schaute sich ab und zu besorgt um und sagte voll Unruhe:
»Sind Sie da? Verlieren Sie mich nicht! Ich werde Ihnen Orangen kaufen. Warten Sie hier! Gehen Sie nicht fort wie gestern, wo ich beinahe Ihretwegen den Zug versäumt habe!«
»Was soll ich denn tun?« bemerkte ich.
»Ich weiß, ich weiß . . . Man muß hinter Ihnen her sein wie hinter einem kleinen Kind!«
In Odessa suchte sie ein Hotel auf, bestellte für mich ein Bad, dinierte und soupierte mit mir. Als wir auf dem Dampfer nach Sebastopol fuhren, legte sie mich schlafen, bedeckte mich mit ihrer Reisedecke, bekreuzigte mich, klopfte mir leise auf die Wange und sagte:
»Schlaf, Kindchen, schlaf!«
Als wir nach Petersburg zurückreisten, telegraphierte ich meinem Freunde und bat ihn, uns am Bahnhof zu erwarten.
Kaum blieb der Zug stehen, so sprang ich aus dem Waggon und umarmte stürmisch meinen Freund.
»Den Mantel«, rief die besorgte Jelena Nikolajewna, aus dem Fenster schauend. »Ich will nicht, daß Sie sich verkühlen. Ziehen Sie sofort Ihren Mantel an! Wie ist die Telephonnummer Ihrer Pension? Ich werde anläuten: Man soll Ihnen ein Frühstück vorbereiten . . . Sie haben heute noch nichts gegessen!«
Mein Freund schaute mich erstaunt an. Dieser Blick amüsierte mich.
Jelena Nikolajewna kam aus dem Abteil, richtete mir meine Krawatte und sagte:
»Haben Sie die Bücher mitgenommen? Haben Sie den Stock nicht vergessen? Dann ist alles in Ordnung. Auf Wiedersehen!«
»Und die Sachen?« fragte erstaunt mein Freund. »Wo sind deine Koffer?«
»Seine Sachen sind bei mir«, antwortete lachend Jelena Nikolajewna, »man kann ihm doch nichts anvertrauen, er ist wie ein Kind, er verliert alles. Ich werde den Koffer mit meinem Mädchen in seine Pension schicken!«
Sie lächelte und verschwand in der Menge.
Perepletow schüttelte sein Haupt, schaute ihr lange nach und sagte dann zu mir:
»Ich begreife nicht, wie es dir gelungen ist, diese launenhafte Person zu zähmen. Sie ist so besorgt um dich! Du mußt mir das Geheimnis verraten.«
»Lieber Freund«, antwortete ich geheimnisvoll lächelnd. »Solche Dinge darf man nicht verraten. Aber eines sage ich dir: diese kleine Witwe ist die idealste Frau, die ich je kennengelernt habe. Vielleicht mache ich mit ihr noch eine zweite Reise – meine Hochzeitsreise . . .«
Dann verließen wir beide den Bahnhof.