Arkadij Awertschenko
Kurzgeschichten
Arkadij Awertschenko

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Wahrheit oder Dichtung

Ich saß in der Theatergarderobe einer bekannten Schauspielerin und sah zu, wie sie sich schminkte. Ihre zarten, schlanken Hände erfaßten rasch die Pinselchen, Puderquasten, Lippenstifte und fuhren über Wangen, Augenbrauen und Lippen.

Sie hat wunderbare Hände, wie aus Marmor gemeißelt, dachte ich. Sie ist einfach entzückend! Und unwillkürlich sagte ich halblaut:

»Schura, Sie sind entzückend! Sie gefallen mir! Ich liebe Sie!«

Sie schrie leise auf, schlug nervös die Hände zusammen, wandte sich um, und nach einer Minute lag sie in meinen Armen.

»Liebster, endlich hast du das entscheidende Wort gesprochen. Ich habe so lange auf diese Worte gewartet. Warum hast du mich gequält? Ich liebe dich!«

Ich zog sie schweigend an mich und küßte sie . . .

Schura lächelte.

»Kind«, sagte ich, »jetzt hast du mich an das zarte, hübsche Mädchen aus dem Stück ›Die Chrysanthemen‹ erinnert: Weißt du, in dem Augenblick, da sie sich in die Arme des Gutsbesitzers stürzt. Sie ruft in demselben Tonfall: ›Ich liebe dich!‹«

Unser Leben war schön und wolkenlos.

Ab und zu zankten wir uns. Diese Streitigkeiten entstanden immer wegen irgendeiner Dummheit.

Das erstemal begannen wir damit, weil ich bemerkte, daß Schura, als ich sie küßte, den Spiegel studierte und den Kuß darin betrachtete . . .

Ich wandte mich ab und sagte:

»Weshalb schaust du weg, wenn ich dich küsse?! Denkt man in einem solchen Augenblick an den Spiegel?«

»Siehst du«, antwortete sie sichtlich verlegen, »du hast mich ein wenig ungeschickt umarmt. Du hast mich nicht um die Taille, sondern um den Hals gefaßt, und Männer müssen eine Frau um die Taille fassen.«

»Was heißt das: müssen?« fragte ich erstaunt. »Gibt es denn ein verbrieftes Recht, daß man eine Frau nur um die Taille fassen darf?«

»So eine Regel gibt es nicht. Du mußt aber einsehen, daß es sonderbar ist, wenn ein Herr eine Dame um den Hals nimmt. Das ist einfach lächerlich!«

Ich war beleidigt und sprach mit Schura zwei Stunden lang kein Wort.

Dann kam sie zu mir geschlichen, schlang ihre zarten, schlanken Arme um meinen Hals, küßte mich leidenschaftlich und sagte:

»Mein Dummes, wer wird denn gleich so böse sein! Ich will aus dir einen klugen, interessanten Mann machen. Und dann will ich, daß du unter meinem Einfluß eine Rolle spielst. Ich will dir nur den Weg ebnen!«

Bald darauf ging sie ins Theater. Die Phrasen kamen mir bekannt vor. Ich hatte sie schon irgendwo gehört. Und plötzlich erinnerte ich mich. Unlängst wurde im Theater ein Stück: »Das Rad des Lebens« gespielt. Schura spielte die Hauptrolle und sagte, als sie den Helden küßte:

»Mein Dummes, wer wird gleich so böse sein!« und so weiter . . .

Sonderbar, sagte ich mir, man weiß wirklich nicht, was bei ihr Wahrheit und was Dichtung ist!

*

Seit jenem Tage begann ich Schura zu beobachten, und nach und nach überzeugte ich mich, daß zu mir nicht Schura, sondern die Schauspielerin sprach. Bald sah ich vor mir die leidende Wera aus dem Drama »Die Unglücklichen«, bald die Heldin der Tragödie »Man liebt nur einmal«, bald die Grande Dame aus irgendeinem Lustspiel. Wenn ich zum Stelldichein zu spät kam, fand ich nicht Schura, sondern eine tragische Heldin, die ihre Hände zusammenschlug und mir mit zitternder Stimme zurief:

»Liebster! Ich klage dich nicht an. Ich habe dich nicht in meine Netze gelockt! Ich habe nie die Freiheit eines Menschen, den ich liebe, beeinträchtigt. Ich sehe nur einen Ausweg, der es mir ermöglicht, diese Ketten zu zerreißen – das ist der Tod!«

»Hör auf!« rief ich nervös. »Das ist ja die Szene aus dem zweiten Akt des Stückes ›Die lebend Begrabenen‹. Du spielst die Rolle der Olga!« Sie lächelte bitter:

»Haha, du willst mich kränken – schön! Quäle, erniedrige mich, nur um eines bitte ich dich: wenn wir auseinandergehen, bewahre mir ein gutes Andenken!«

»Verzeih«, unterbrach ich sie, »im Text heißt es – ein treues Andenken. Hast du den Monolog aus dem vierten Akt, siebente Szene, der ›Sturmvögel‹ vergessen?«

Sie schaute mich leidend an, brach im Sessel zusammen, schaute heimlich in den Spiegel und studierte die Pose.

Endlich wurde mir die Sache zu dumm, ich zog meinen Mantel an und wollte davon.

Sie schaute mich an und rief schluchzend:

»Du gehst?«

»Höre, Kind!« rief ich empört. »Auch das ist nicht dein eigenes Wort. Dieser Satz ist aus dem Stück ›Weib und Leidenschaft‹! Das sagt die Gräfin, als sie der Fürst verlassen hat. Du selbst hast diese Rolle gespielt. Auf der Bühne ist es vielleicht ein Spaß, aber wozu diese Scherze im Leben? Meine Liebe sei, wie du in Wirklichkeit bist. Ich will die Schura lieben und mit Schura sprechen, aber nicht mit einer Phantasiegestalt, die in den Gehirnen verschiedener Dramatiker entstanden ist. Sei natürlich!«

Ihre Augen waren voll Tränen, sie stürzte zu mir, umfaßte und küßte mich und rief nervös:

»Ich liebe dich! Du bist wieder zurück, Liebster!« Dann faßte sie meine Hand, schmiegte sich an mich und weinte vor Glück . . .

*

Als ich sie beruhigt hatte, fuhr ich ins Amt und kehrte zu Mittag zurück. Schura war nicht wiederzuerkennen. Sie war ganz aus der Theaterrolle gefallen, war die Natürlichkeit in Person. Sie lief mir im Vorzimmer entgegen, küßte mich auf die Stirn, zupfte mich beim Ohr und rief:

»Mein liebes, gutes, altes Eselchen ist gekommen!«

Am Abend spielte sie in einer Premiere. Selbstverständlich war ich im Theater. Im zweiten Akt trat ein dicker Mann auf, er spielte die Rolle des betrogenen Ehegatten. Schura, die seine Frau spielte, lief ihm entgegen, lächelte, küßte ihn auf die Stirn, zupfte ihn am Ohr und rief:

»Mein liebes, gutes, altes Eselchen ist gekommen!«

Das Publikum brach in lautes Lachen aus, aber ich saß da und lachte nicht . . .

*

Heute bin ich der glücklichste Mensch der Welt. Heute habe ich Schuras eigentliche, urwüchsige Natur kennengelernt.

Ich saß im Sprechzimmer und schaute die neueste Nummer der Bühnenzeitschrift durch, da hörte ich in der Küche die Stimme Schuras. Ich stand auf, öffnete leise die Tür und horchte ein wenig. Dann rannen die Freudentränen über meine Wangen. Zum erstenmal hörte ich die Stimme Schuras ohne Theaterphrasen.

Sie zankte mit der Wäscherin:

»Wird so gewaschen? Was sind das für Strümpfe? Das sind doch gar nicht meine Seidenstrümpfe! Woher sind sie, woher diese Löcher? Was? Wenn Sie nicht waschen können, dann scheren Sie sich zum Teufel. Suchen Sie sich ein anderes Handwerk! Werden so die Hemden für meinen Mann gebügelt? Das ist ein Skandal. So ein Trampel!«

Ich hörte diese Worte, und sie erklangen mir wie paradiesische Musik. »Das ist Schura! Die natürliche, wahre Schura!« rief ich leise . . .

Übrigens, verehrter Leser, bist du mit der allerneuesten dramatischen Literatur bekannt? Gibt es vielleicht ein Stück, in dem die Hausfrau ein derartiges Gespräch mit der Wäscherin führt? Wenn ja, dann verständige mich, bitte!


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