Arkadij Awertschenko
Kurzgeschichten
Arkadij Awertschenko

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Stepa und der Indian

Die Frau trat zu ihrem Mann ins Zimmer und sagte :

»Wassilij Nikolajewitsch, dein Neffe ist gekommen!«

»Was will er denn?«

»Gratulieren!«

»Zum Teufel mit ihm!«

»Er ist doch ein Verwandter. Dazu noch ein armer Teufel! Geh hinaus und schenk ihm was.«

»Kannst du das nicht besorgen?«

»Ach Gott, ich kann mich wirklich nicht zerreißen! Jetzt muß ich noch den Indian braten.«

»Hm, Indian – was tun wir damit?«

»Du hast doch für heute und morgen Gäste eingeladen! Was für ein Unglück! Mit einem einzigen Indian kann man nicht so viel Leute bewirten. Ich bin ganz verzweifelt.«

»Kann man nicht die eine Hälfte heute und die andere morgen servieren?«

»Willst du, daß man sich über uns lustig macht? Morgen weiß es die ganze Stadt.«

»Ja, ja, eine peinliche Geschichte – wo ist der Dummkopf, der Stepa?«

»Stepa? Der sitzt im Vorzimmer.«

»Schick ihn herein.«

Der Neffe kam. Er war ein großer, stämmiger Bursche mit breitem Mund, verschwommenen Augen und überlangen Armen. Seine Haare fielen tief ins Gesicht und verdeckten die Stirn.

»Ich gratuliere dir zu den Feiertagen, Onkel.«

»Danke, ja. Hm – was ich sagen wollte: Wir haben da ein Unglück im Haus, nur einen Indian, aber heute und morgen Gäste. Weißt du, was man da machen kann.«

Stepa biß die Lippen zusammen und dachte nach.

»Jemand von den Gästen müßte sagen, daß es schade ist, den Indian anzuschneiden.«

Der Onkel überlegte, dann sagte er nachdenklich:

»Stepa, du wirst zu Mittag bei uns bleiben. Wenn man den Indian hereinträgt, wirst du Einspruch erheben.«

»Und wenn die Gäste über mich herfallen?«

»Sie werden sich schämen und nichts tun. Vielleicht werden sie sogar meinen, du seist ein origineller Kauz. Ich werde der Form halber anbieten, aber du mußt ihn zurückweisen. Was stehst du, Stepa? Setz dich!«

»Onkel«, sagte Stepa entschlossen und schaute seine zerrissenen Sohlen an. »Sie müssen mir aber neue Schuhe kaufen.«

»Schon gut«, rief der Onkel gedankenlos. »Du sollst haben, was du willst.«

*

Als die Gäste an der Tafel saßen, wies der Onkel auf Stepa und sagte:

»Meine Herrschaften, das ist mein Neffe – ein origineller Kauz. Stepa Fedorowitsch, nehmen Sie Platz. Ein Gläschen Wodka gefällig?«

Stepa lächelte, rieb die knochigen Hände und trank den Schnaps in einem Zug aus.

»Ich kenne einen General«, sagte er dann, »der trinkt Wodka direkt aus der Flasche.«

»Ist das der General, bei dem du Taufpate warst?« rief großartig der Onkel.

»Nein«, sagte Stepa obenhin. »Es ist ein anderer. Als ich unlängst im Ausland war, habe ich sehr viele Generäle gesehen.«

»Sie waren im Ausland?«

»Ach, ich mache jährlich Auslandsreisen. Ich liebe die italienische Oper. Überhaupt bin ich ein lebenslustiger Mensch. Ja, meine Herrschaften«, sagte er und biß energisch in ein Kaviarbrötchen, »man muß sich zu helfen wissen.«

»Stepa Fedorowitsch, essen Sie doch! Ein Pastetchen zur Suppe!«

»Die Engländer essen überhaupt keine Suppe. Wozu Suppe essen? Ja, in England . . .«

Stepa hat das Gespräch an sich gerissen. Er erzählt die unglaublichsten Abenteuer. Eben erzählt er von der Verhaftung eines internationalen Fassadenkletterers, da öffnet sich die Tür, und Dascha kommt mit einem knusprig gebackenen Indian ins Zimmer.

Alle sehen ihn gierig an.

Stepa schlägt die Hände zusammen und ruft:

»Auch das noch? Nein, es ist unglaublich! Meine Herrschaften – haben wir nicht schon genug gegessen? Ich für meine Person muß sagen, daß es zwecklos ist, den Indian anzuschneiden.«

Die Gäste murmelten etwas und schüttelten die Köpfe.

»Das meine ich auch«, rief Stepa. »Tragen Sie doch den Indian hinaus.«

»Schade«, sagte der Hausherr. »Schade. Aber wenn die Herrschaften darauf bestehen, dann bringen Sie doch, Dascha, den Indian wieder in die Küche zurück. Sonderbar, daß Sie keinen Appetit mehr haben. Es ist ein schöner Indian und überdies mit Kastanien gefüllt.«

»Mit Kastanien?« murmelte Stepa dumpf. »Mit Kastanien?« Und dann gab er sich plötzlich einen Ruck.

»Wenn er wirklich mit Kastanien gefüllt ist«, sagte er, »dann ist es etwas anderes. Man muß ein Stückchen kosten.«

Das Tranchiermesser in der Hand des Hausherrn zitterte. Er hatte nur noch die Hoffnung, daß Stepa sagen würde: »Ich habe einen Scherz gemacht – fort mit dem Indian.«

Aber Stepa sagte entschieden: »Onkel, schneiden Sie mir dieses Stück ab.«

»Bitte«, flüsterte der Onkel außer sich.

»Wenn er nun noch einmal angeschnitten ist, darf ich auch um ein Stückchen bitten«, bemerkte lachend die Nachbarin Stepas, ein reizendes junges Mädchen.

»Und mir auch!«

Nach wenigen Minuten war der Indian verschwunden.

Der Hausherr stand auf, sah Stepa an und sagte:

»Übrigens – ich hatte vergessen, Ihnen vorhin auszurichten, daß der General angerufen hat. Sie sollen sich bei ihm melden. Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Telephon.«

Stepa erhob sich langsam und folgte dem Onkel wie einer, der zum Tode verurteilt ist.

*

Der Onkel schloß die Tür dicht hinter sich und sagte :

»Du Lump! Was soll das bedeuten? Du hast fast allen Fisch aufgegessen, drei Schnitzel verschlungen und den ganzen Salat. Am Schluß aber hast du ein Stück Indian verlangt, obwohl du ihn hättest zurückschicken sollen. Willst du mir das erklären?«

Stepa drückte die Hand an seine Brust und sagte traurig:

»Onkel, warum haben Sie mir nicht vorher gesagt, daß der Indian mit Kastanien gefüllt ist. Ich esse Kastanien leidenschaftlich gern. Noch nie hab' ich einen Indian mit Kastanien gegessen . . .«

Der Onkel packte Stepa am Kragen, schüttelte ihn und stieß ihn auf den Korridor.

»Hinaus!«

Stepa stand im Stiegengang. Das Haar fiel ihm in die Stirn. Seine Mundwinkel hingen herab.

»Onkel, und die Schuhe?« fragte er sanft.

Dann drehte er sich um und ging seufzend die Treppe hinunter.


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