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»Ich glaube nicht, daß ich heute mit dir sprechen kann, lieber Prinz!« rief einige Abende später ein feines Stimmchen aus dem Fenster des Kinderzimmers hinunter.
Herr Georg machte seinen »Zigarrenspaziergang«, wie die kleine Daisy seine Abendpromenade benannte, und um die Wahrheit zu gestehen, hatte er heute ganz das »kleine Teufelchen von nebenan« – diesen Namen hatte seine Familie dem kleinen Mädchen gegeben – vergessen, als die Worte sein Ohr trafen.
Im Nu stand er unter ihrem Fenster und nickte lächelnd zu ihr hinauf. Aber als er das tränenüberströmte Gesichtchen der Kleinen erblickte, nahm der junge, sehr weichherzige Doktor auch sofort eine ernste Miene an und fragte teilnehmend:
»Nun, was fehlt dir denn, mein kleines Prinzeßchen? Hast du schon wieder Kummer?«
»Furchtbaren Kummer!« tönte es klagend zurück. Es war erstaunlich, wie das kleine, schmiegsame Organ die Empfindung des Leides wiederzugeben vermochte. »Wir haben einen Tod in unserer Familie!«
»Das tut mir sehr leid, wirklich – ganz außerordentlich leid!« rief der junge Mann erschreckt. »Ich hatte keine Ahnung, daß bei euch jemand krank sei.«
»Es ist auch niemand krank gewesen – es ist ein Mord!« erklärte das traurige Stimmchen weiter.
»Barmherziger!« stieß Herr Evans hervor, jetzt ernstlich erregt. »Du armes, kleines Ding!« Er überflog im Geiste noch einmal die Abendzeitung, da es ihm zweifellos schien, daß der Gemordete ihr Vater sein müsse, ein augenblicklich in Indien stehender Offizier, der sich gerade in einem Kriegszug gegen in den Bergen lebende aufrührerische Eingeborene befand. Und rasch fragte er: »Wer ist denn gestorben, mein Herzchen?«
»Es ist der liebe Julius Cäsar,« entgegnete die Kleine, in heftiges Schluchzen ausbrechend.
»Gottlob! Ihr Vater ist es nicht!« sagte sich der junge Mann etwas beruhigt. »Vielleicht ist es dann ein Stiefbruder! – Und welch ein prophetischer Name! – Wunderbar, als ob man sein trauriges Geschick vorausgeahnt hat!« Laut fragte er dann die Kleine weiter: »Und wer ist Julius Cäsar, mein Herzchen?«
»Es ist unsere liebe Schildkröte!« lautete die betrübte Erwiderung.
»Zum Kuckuck mit der Schildkröte!« rief Georg mit einer an ihm sonst ungewohnten Heftigkeit, die jetzt nur durch den plötzlichen Umschlag des Gefühls veranlaßt wurde.
»Ach! Ach!« rief das kleine Mädchen erschreckt, während sie einen Augenblick zu weinen aufhörte. »Tut es dir denn gar nicht ein bißchen leid?«
»Nein, Donnerwetter, nein! – Das heißt,« fügte er rasch hinzu, als sie wieder zu weinen begann, »es ist dies doch noch nicht so schlimm, wie es hätte sein können. Denke doch nur, wenn es das Engelchen gewesen wäre!«
»Ach, dieses ist viel schlimmer,« entgegnete sie im Brustton der Überzeugung.
»Schlimmer? Warum denn?« fragte der junge Mann, aufs höchste erstaunt.
»Weil ich Eng'chen wiedersehen würde, und – und Lise sagt« – hier wurde das Schluchzen heftiger. – »es steht nichts davon in der Bibel, daß Schildkröten auch in den Himmel kommen, und sie meint, ich werde meinen lieben Julius Cäsar nie wieder sehen – niemals mehr!« jammerte sie. »Und – und ich glaube, ich mache mir jetzt nicht ein bißchen aus Eng'chen!«
»O du meine Güte!« rief der junge Evans erschreckt. »Nun, nun, weine nur nicht mehr, – um Gottes willen, weine nicht mehr – ich werde dir morgen eine andere Schildkröte schenken – eine wunderschöne große. Wenn du willst, auch zwei, damit ihr jeder eine habt.«
Das Schluchzen ließ nach.
»Du bist sehr gut, lieber Prinz. Aber es würde immer nicht dieselbe Schildkröte sein. Doch,« fügte sie rasch hinzu, »würde ich ganz gerne eine Schildkröte für mich allein haben. Aber, bitte, schenke dem Eng'chen keine; weil die Schildkröte doch ihm allein gehörte; und er hat sie tot verhungert; und er weinte auch nur ein ganz klein bißchen, als sie tot war, und hörte gleich auf, als Lise ihm einen Bonbon gab. Und es hat ihm gar nicht ein bißchen leid getan, daß die arme Schildkröte hungriger und immer hungriger wurde, und so unglücklich war, bis sie starb, und« – hier schluchzte sie wieder heftig auf –, »und die arme Schildkröte hat für all ihren Kummer keinen Trost, wenn sie nicht in den Himmel kommt.«
Da Herrn Evans' Ansichten über die Zukunft der Schildkröten nicht derartig waren, daß sie das kleine Mädchen getröstet hätten, so sann er auf andere Beruhigungsmittel.
»Vielleicht ist sie gar nicht verhungert,« meinte er, »sie kann ja auch eines natürlichen Todes gestorben sein. Es ist nicht gerade notwendig, daß man den Schildkröten überhaupt Futter gibt; sie fressen schon ganz allein alle möglichen Dinge im Garten. Sie ist wahrscheinlich gestorben, weil sie schon zu alt war.«
»Sie war gar nicht ein bißchen alt; und sie konnte nicht alle möglichen Dinge fressen,« fuhr die kleine Trauernde beharrlich fort, »weil sie ja gar nicht im Garten gewesen ist. Eng'chen hatte sie in einen Kasten gelegt und nahm sie mit sich an sein Bett. Und dann hatte er alles am nächsten Morgen vergessen und stellte seinen Steinbaukasten darauf; und heute, als er den Steinbaukasten vornahm, um damit zu spielen, war der arme Julius Cäsar ganz tot verhungert.«
»Nun, du kannst ihm ja eine schöne Trauerrede halten und ihn dann feierlich begraben, und einen hübschen Grabstein darauf setzen,« schlug der junge Doktor vor.
»Wenn der arme Julius Cäsar nicht in dem Himmel ist, wird ihn ein schönes Begräbnis auch nicht ein bißchen trösten. Außerdem kann ich es gar nicht tun – denn Lise hat ihn gleich fortgeworfen.«
»Dann,« rief Georg Evans halb verzweifelt, »mußt du dich eben mit einer anderen Schildkröte trösten. Sieh nur morgen früh in der Gartenecke nach, und du wirst eine neue und sehr schöne finden. Ich werde es schon nicht vergessen, sie hinzusetzen.«
Bald nach dieser Unterhaltung saß Georg Evans an seinem Schreibtisch und malte auf einem Pappdeckel mit großer Sorgfalt helle rote Buchstaben, als seine Mutter ins Zimmer kam, um, wie sie es häufiger tat, ihm Gesellschaft zu leisten. Ihr mütterliches Gesicht strahlte, als sie den Sohn lächelnd bei seiner Arbeit fand. Denn in der letzten Zeit war er meistens traurig und schwermutvoll, und sie freute sich über jede Ablenkung, die die Wolke von seiner Stirn verscheuchte.
»Georg!« rief sie erstaunt. »Was liegt denn so Amüsantes in der Arbeit, die du da schreibst, und für wen ist sie bestimmt? Doch wohl für das Krankenhaus?«
»Das nun gerade nicht,« entgegnete er, noch immer lächelnd. »Im Gegenteil! Ich glaube, man würde mich für verrückt erklären, wenn man lesen würde, was ich hier zu Papier bringe. Nein, dies ist für das kleine Nachbarkind.«
»Den kleinen schwarzen Teufel? Was für Aufhebens du von ihr machst! Die Dienstboten sagen, sie ist ein schreckliches Geschöpf, richtet immer irgend einen Unfug an, und dazu noch Dinge, auf die ein gewöhnliches Kind gar nicht kommen würde.«
»Sie will gar nicht unartig sein,« sagte der junge Mann entschuldigend, während er die Zigarre aus seinem Munde nahm und sich zurücklehnte, um sein Werk bester in Augenschein nehmen zu können. »Man hat nur kein Verständnis für das arme kleine Dingelchen.«
»So? Man versteht sie nicht? Warum nicht gar?« wiederholte die Mutter spöttisch. »Na, ich würde wohl keine Geduld mit solchem Kinde haben! Wie kann man denn ein Kind überhaupt mißverstehen, das absichtlich einen Krug mit Wasser nimmt und ihn der Köchin auf den Kopf gießt, während diese ahnungslos aus der Küche tritt. Das arme Mädchen kann ja den Tod davon haben!«
»Vielleicht geschah es aus Versehen!« verteidigte der Sohn seine kleine Freundin.
»O nein, es geschah nicht aus Versehen. Sie tat es absichtlich. Sie hat das selbst zugegeben.«
»Ich möchte gerne wissen, warum wohl?« sprach der junge Mann sinnend.
»Aus regelrechter Ungezogenheit – Bosheit würde ich es nennen. Und dann behauptete sie noch, sie hätte es nur getan, um zu sehen, ob die Köchin › etwas entdecken‹ würde, wenn das Wasser ihren Kopf traf, gleich jemand, der etwas entdeckte, als ein Apfel auf seinen Kopf fiel.«
»Aha! Nun begreife ich! Sie hat von dem berühmten Mathematiker Isaak Newton gehört und von dem Gesetz der Schwerkraft, das er entdeckt hat, das arme, kleine Geschöpfchen! Sie wird mißverstanden!« Und damit legte er die letzte Hand an die mühsame Arbeit.
Es war ein Nachruf auf die so heftig betrauerte Schildkröte und enthielt folgendes:
Zur Erinnerung an den verstorbenen Julius Cäsar.
Julius Cäsar, du armer Wicht
Mußtest sterben! Du hattest nicht
Dein Leben zu fristen mit Trinken und Essen,
Weil Eng'chen, dein Herrchen, dich hatte vergessen.
Daß du nun wirklich mausetot.
Bereitet den Kindern große Not.
Doch Engelchen, dem Mörder, geschieht ganz recht;
Warum hat er dich behandelt auch gar so schlecht?
Aber sein liebes Schwesterlein
Das soll nun nicht mehr traurig sein.
Denn ein neues, viel schöneres Schildkrötentier
Steht im Garten, und will machen ihr viel Pläsier.
Doch nur für Eng'chens Schwesterlein
Ist dieses Tier. Für sie allein!
Und der kleine, gar so mörderische Mann
Nicht den geringsten Anspruch darauf machen kann!
»Wie findest du das, Mutter?« fragte er, und reichte ihr den Pappdeckel mit einem fröhlichen Lächeln.
Die Mutter las das so mühsam Gedruckte langsam durch, und bemerkte dann zögernd: »Ich sehe keinen Sinn darin, Georg. Was willst du denn damit?«
»Ich werde es an der Mauer aufhängen, damit es das hartherzige Engelchen sieht,« entgegnete er, »Und weil ich hoffe, das kleine Mädchen wird etwas getröstet sein, wenn sie ein Gedicht über den verstorbenen Liebling besitzt.«
»Nun, wenn es dir Vergnügen macht, so etwas zu tun, so hat es ja schon seinen Zweck erreicht,« bemerkte die zärtliche Mutter. »Aber als Gedicht – ich verstehe zwar nicht viel von Gedichten, trotzdem würde ich dieses überhaupt kein Gedicht nennen – noch dazu über eine elende Schildkröte.«
Der Sohn lachte, während er die so verächtlich behandelte Arbeit beiseite legte, um sie dann am nächsten Morgen, seinem Vorhaben gemäß, an der Mauer aufzuhängen, gerade über der Stelle, wo er die neue Schildkröte niedergesetzt hatte. Dann wartete er mit Spannung auf die weitere Entwicklung der Dinge.
Nach einer Weile hörte er kleine, trippelnde Füßchen, und ein schrilles Stimmchen rief: »O, sieh doch nur Daisy! Tomm ßnell sehen! Hier ist meine Fildköte wieder lebendig getommen, und größer als voher. Und da ist auch ein ßönes geducktes Buch an der Mauer.«
Daisy kam schnell herzugelaufen.
Beim Anblick der Schildkröte stieß sie einen Ruf des Entzückens aus, und das Tierchen aus dem Kasten nehmend, küßte sie es zärtlich. Dann, immer dabei die geliebte Schildkröte in ihren beiden Händchen festhaltend, las sie das »Gedicht« langsam, auch hin und wieder einige Worte buchstabierend, mit lauter Stimme vor.
Nachdem sie damit fertig war, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Es ist etwas sehr Schönes, wann einer ein Gedicht über einen geschrieben bekommt, wenn einer tot ist,« bemerkte sie. »Das haben nur wenige Menschen.«
»Ssa,« stimmte das Engelchen zu, das natürlich nichts von dieser Bemerkung noch von dem »Gedicht« verstand.
»Aber, hörst du, Eng'chen, diese Schildkröte ist für deine Schwester – das bin ich –, nur ›für sie allein‹ – nicht für dich, weil du die deine tot verhungert hast – und du »hast keinen Anspruch auf diese.«
»Nicht tot verhungert hat!« rief das Engelchen weinend. »Lise sagt, du bist schlecht, daß du das sagst. Und ich will eine neue Fildköte – ich will – AA–h–h–h–h–hh!«
»Nun, weine nur nicht, liebes Engelchen,« entgegnete Daisy. Und die Schildkröte behutsam wieder in den Kasten legend, schlang sie ihre Ärmchen um den Hals des kleinen Bruders und küßte ihn. »Du kannst auch sagen, es ist deine Schildkröte, aber du darfst sie niemals anfassen.«
»Daisy!« rief Lise, die jetzt auch auf der Bildfläche erschien, der Kleinen zu, »was tust du schon wieder? du ungezogenes Mädchen, machst du wieder den lieben Leslie weinen? Und was bedeutet denn dieser Unsinn, der hier geschrieben steht?«
»Es ist kein Unsinn. Es ist ein schönes Gedicht über den armen Julius Cäsar.«
»Laß mich endlich mit der elenden Schildkröte in Ruhe! Ich will nichts mehr von ihr hören. Und gib sofort deinem kleinen Bruder das Tierchen – dem lieben süßen Engel.«
Daisy setzte ein Mäulchen, nahm die Schildkröte in ihre Schürze und trabte dann mit dem neuen Liebling ab, dabei das Köpfchen schüttelnd und sagend: »Er hat die andere tot gemacht, und er soll diese nicht anfassen – niemals!«
»Kleiner Teufel!« murmelte Lise, während sie sich dem Engelchen zuwandte, um es zu hätscheln.
Es war augenscheinlich, daß Georg Evans der einzige war, der Verständnis für die Eigenart der kleinen Daisy Sinclair hatte.