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Achtes Kapitel.
Die Auferstehung

An einem warmen Sommernachmittag saß das kleine Teufelchen in einem langen Schlafrock auf dem Fensterbrett, und, die Beinchen hin und her schlenkernd, schaute es spähend nach seinem Prinzen aus.

»Denke dir, lieber Prinz,« rief sie, als der Ersehnte endlich den Gartenpfad entlang schlenderte, »Denke dir nur, ich bin heute auferstanden!«

»So?« bemerkte der ›Prinz‹ in einem Tone, der ihn nicht kompromittieren sollte. Denn seit dem Erlebnis mit der Schildkröte – dem ›Tod in der Familie!‹ – war er sehr vorsichtig mit seinen Mitleidsbezeugungen, bis er wußte, ob sie auch angebracht wären.

»Ja, ich bin von den Toten auferstanden,« fuhr die Kleine wichtig fort und nickte mit ihrem Köpfchen. »Du weißt doch, wie es in dem Glaubensbekenntnis heißt.«

»Du wirst doch hoffentlich nicht spotten?« bemerkte er zurechtweisend. »Ich würde dir niemals gestatten, mit heiligen Dingen Scherz zu treiben.«

»Es ist kein Scherz, sagt Thomas,« entgegnete sie gekränkt. (Thomas war Haushofmeister beim Dekanat.) »Ich meinte es wirklich ganz ernst. Aber es hat ja keinen Zweck, daß ich mir Mühe gebe, gut und heilig zu werden, weil immer alles, was ich tue, schlecht wird.«

Da der Prinz außerstande war, die unleugbare Wahrheit dieser Behauptung zu bestreiten, ging er nicht weiter darauf ein, sondern fragte nur:

»Weshalb wolltest du denn sterben?«

»Dieses Mal war es Lises Schuld,« bemerkte die Kleine.

»Es ist gewöhnlich die Schuld eines anderen, wenn du Dummheiten machst, scheint mir, liebe Prinzessin. Ich bin aber fest davon überzeugt, daß Lise nicht gewünscht hat, daß du sterben solltest,« widersprach er.

»Nun, genau so hat sie es allerdings nicht gesagt. Aber als ich sie fragte, wie ich wohl ein wirklich gutes Kind werden könnte, entgegnete sie mir, sie vermutete, ich würde das ohne ein Wunder nie werden, bis ich ein Engel in der anderen Welt wäre.«

»Um Gottes willen, du bist doch nicht – –?« Der junge Doktor stockte. Er fürchtete beinahe, daß die Kleine, in diesem Jahrhundert krankhafter Frühreife, versucht haben könnte, dem Schicksal vorzugreifen.

»Ob ich ein Engel gewesen bin, meinst du? Nein, ich bin keiner gewesen; ich habe Lise darum gefragt und sie sagte, ich wäre ganz sicher keiner gewesen. Und mehr, meint sie, wagte sie nicht mir zu sagen.

»Warum denn nicht?«

Das ›Teufelchen‹ sann einen Moment nach und ihre Augen nahmen den träumerischen, in weite Ferne schweifenden Blick an, der ihr so oft eigen war. Plötzlich, anscheinend gar nicht zur Sache gehörig, fragte sie:

»Du kennst doch den Sargladen ganz unten in der Bischofstraße?«

»Jawohl!«

»Nun, da sah ich einen ganz kleinen Sarg stehen, ungefähr so groß wie für mich, nur hatte er keinen Boden und keinen Deckel. Und ich fragte den Mann, wieviel er kostete; und er sagte, er koste nichts; er würde in Stücke zerschlagen werden. Nun sagte ich ihm, er würde sehr gut für mich passen. Da behauptete der Mann, ich hätte ihn furchtbar erschreckt – ich weiß wirklich nicht, weshalb – und ging böse davon.«

»Du müßtest an solche Orte überhaupt nicht gehen. Wo war denn Lise?«

»Die hatte ich im Garten verloren, wie ich es immer tue, wenn ich wo allein hingehen will. So ging ich zufällig dorthin. Als der Mann fortgegangen war, kam gleich darauf der Bursche, und da bat ich ihn, er möchte doch den kleinen Sarg nach dem Dekanat bringen. Ich würde ihm auch dafür ein schönes neues Fünfzigpfennigstück geben. Er fragte mich warum, und ich sagte, er sollte in Stücke zerschlagen werden, und ich wollte ihn so furchtbar gerne haben. Da meinte er, es wäre wohl ein Schabernack, und er brachte ihn mir. Und er stellte ihn auf einen Tisch in dem Arbeitszimmer von Onkel John; und ich gab ihm das Fünfzigpfennigstück. Er sagte aber nicht einmal ›danke‹ oder so etwas ähnliches, sondern nur: ›O, du meine Güte!‹«

»Nun aber, bitte, erzähle mir, welchen Unfug du damit treiben wolltest,« forschte der Prinz.

»Es war kein Unfug. Ich meinte es ganz ernst. Und ich dachte, das Arbeitszimmer wäre ein besserer Platz für einen Toten, als das Eßzimmer, und das Wohnzimmer war voll Besuch. Und ich legte viele, viele schöne weiße Blumen in den Sarg und zog mein bestes weißes Kleid an, und machte mein Gesicht ganz weiß mit Kreide, und stieg dann hinein, in der Hand auch ein paar weiße Blumen, und – –«

»Nun?«

»O, lieber Prinz, ich fühlte mich so gut und so glücklich!«

Der Prinz machte sich Luft in dem entsetzten Ausruf: »Um Gottes willen! Deine Mutter ist doch hoffentlich nicht hereingekommen und hat dich so gesehen?«

»Nein, sie nicht; aber Onkel John kam herein. Und er sagte, – nun, vielleicht ist es doch besser, wenn ich das nicht wiederhole, aber er mißbrauchte den Namen des Herrn. Und das war doch sehr unrecht. Deshalb schlug ich die Augen auf und sagte ihm das, und er war furchtbar heftig. Lise sagt, es ist noch ein Glück, daß ihn nicht der Schlag getroffen hat. Und er zog die Klingel und verlangte Wein. Und Thomas kam, und er mißbrauchte ebenfalls den Namen des Herrn; und seine Hand zitterte, als er den Wein eingoß, und verschüttete ihn dabei. Da richtete ich mich auf, denn es hatte doch keinen Zweck, tot zu sein. Und dann kam Mütterchen herein, und sie weinte und lachte zusammen und umarmte und küßte mich zärtlich und nannte mich ihren kostbaren Liebling. Aber Onkel John sprach: ›Ich sage dir, Konstanze, dein kostbarer Liebling wird noch eines Tages mein Tod sein mit ihren unziemlichen Scherzen und Späßen.‹ Und Mütterchen trug mich, noch immer weinend und lachend zu gleicher Zeit, hinaus und legte mich in mein Bettchen, weil sie auch meinte, ich wäre doch ein unartiges Kind, da ich sie alle so furchtbar erschreckt hätte. Und da bin ich nun, wie du siehst.«

»Du solltest wenigstens drin sein,« bemerkte der junge Mann. »Und ich weiß eigentlich nicht, ob es richtig ist, daß ich mit dir spreche, wenn du so – so – nun, so ›unziemlich‹ gewesen bist.« Unartig konnte Herr Evans nicht sagen, denn das war sie nach seiner Ansicht nicht gewesen.

Das ›Teufelchen‹ seufzte.

»Es ist so furchtbar langweilig im Bett,« sprach sie traurig. »Und die ganze Zeit fühlte ich mich schon so unglücklich, weil ich immer dachte, wie wundervoll es gewesen sein müßte, wenn ich wirklich tot gewesen wäre – sie waren alle so traurig! Und Mütterchen bleibt dabei, zu sagen, daß sie dem lieben Gott sehr dankbar wäre, daß es nicht wahr ist. Und Thomas – der arme Thomas – sagt, er wäre sehr betrübt gewesen, als er mich dort liegen sah, und er hätte im ersten Augenblick geglaubt, ich wäre wirklich ein Engel, bis ich mich plötzlich aufrecht setzte und ihn dadurch so fürchterlich erschreckte.«

»Was veranlaßte dich eigentlich, so etwas zu tun? Du weißt doch sehr gut, daß man nicht davon gleich stirbt, wenn man sich in einen Sarg legt. Das war doch nur so zum Schein.«

»Ich erwartete ein Wunder, wie es in der heiligen Schrift steht und wie mir auch Lise sagte.«

»Nun wundere ich mich nicht mehr, daß Lise Angst hat, vor dir den Mund zu öffnen.«

»Weißt du, augenblicklich mag ich Lise gar nicht.«

»Weshalb denn nicht?«

»Sie sagt, ich wäre eine verstockte kleine Sünderin, weil ich nicht sagen will: ›es tut mir leid‹, daß ich sie alle so erschreckt habe. Und ich kann es nicht sagen, weil es nicht wahr ist.«

»Nanu? Es tut dir doch sicherlich leid?« drang der junge Mann auch fragend in sie.

Die großen dunklen Augen füllten sich mit Tränen.

»Nein, ich kann nicht traurig sein. Es war so wunderschön, wie jeder mich lieb hatte, und wie Mütterchen mich so zärtlich küßte und herzte und liebkoste, wie sie es sonst nur mit Engchen tut. Ich möchte jeden Tag sterben, wenn sie dann alle so nett zu mir wären, anstatt daß sie mich einen ›Teufel‹ nennen und eine ›verhärtete Sünderin‹.« Und ein heftiges Schluchzen schüttelte ihren kleinen Körper.

Der junge Doktor räusperte sich und seine Stimme hatte eine verdächtige Heiserkeit, als er nun sagte: »Paß mal auf. Kleine. Du gehst jetzt hübsch artig in dein Bettchen und versuchst einzuschlafen, und ich werde dir dann morgen etwas sehr Schönes zur Überraschung schenken. Nun, was meinst du dazu?«

»O, wirst du das? O, ich danke dir viele, viele Male, mein lieber Prinz. Womit fängt es denn an?«

Der junge Mann dachte einen Moment nach.

»Es fängt mit einem ›A‹ an.«

»Mit einem ›A‹?« sagte sie überlegend. »Das können eine Menge Dinge sein; es könnte ein Apfel sein, oder eine Aprikose, oder ein Affe, oder – –«

»Oder tausend andere Dinge. Gehe nur in dein Bettchen und schlafe und träume von Äpfeln und Aprikosen und allen möglichen anderen hübschen Dingen.«

Daisy stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Nun freue ich mich doch, daß ich noch lebendig bin! Ich könnte ja sonst nicht diese Überraschung haben! Jetzt wird es ganz herrlich im Bettchen sein, weil ich ja so viel zu erraten habe. Gute Nacht, lieber Prinz.«

»Gute Nacht, liebe Prinzessin. Träume süß.«

Und er blieb stehen, bis die kleine weißgekleidete Gestalt sich vom Fenster verzogen hatte.

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