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Zehntes Kapitel.
Die Flügel einer Taube

Die Sopransängerin war der Stolz des Kirchenchores. Sie besaß eine wundervolle Stimme; und als sie in einem Nachmittagsgottesdienst, den Frau Sinclair mit Daisy besuchte, die Hymne »Auf den Flügeln einer Taube« sang, klang es, als erfülle Engelsmusik den heiligen Raum.

Frau Sinclair glaubte, noch nie einen solch schönen Gesang gehört zu haben, und ihr Blick streifte unwillkürlich ihr Töchterchen. Die Händchen gefaltet, die großen schwarzen Augen, in denen Tränen schimmerten, andächtig gen Himmel erhoben, stand das kleine Wesen wie verzückt da. Sie sah selbst beinahe wie ein Engel aus. Eine tiefe Rührung ergriff die Mutter, und sie beschloß, Daisy öfter in den Nachmittagsgottesdienst mitzunehmen. Er wirkte augenscheinlich gut auf sie ein.

»Nun, mein Kind!« fragte Frau Sinclair die Kleine unterwegs, »wie hat dir denn der Gesang gefallen?«

»Ach! es war himmlisch!« entgegnete Daisy begeistert. »Ich wünschte, ich wäre auch eine Taube mit schönen Flügeln.«

Frau Sinclair lächelte ihrem Töchterchen freundlich zu. Und als sie im Dekanat angelangt waren, küßte sie die Kleine bedeutend herzlicher als gewöhnlich, bevor sie sie in den Garten schickte.

»Eng'chen,« rief Daisy schon von weitem ihrem Brüderchen zu, als sie seiner ansichtig wurde, »möchtest du nicht gern eine Taube sein?«

»Nein,« entgegnete das Engelchen schnell, ohne Besinnen. »Ich möchte ein Mann werden.«

»Aber würdest du nicht gern die Flügel einer Taube haben wollen, damit du fliegen kannst, wohin und wann du willst, überall hin, und wenn es auch noch so weit ist?«

»Ssa,« stimmte das Bübchen zu. »'Gelchen fiegen möchte.«

»Nun, siehst du, dann wollen wir fliegen. Aber wir müssen noch ein Weilchen warten. Ich muß zuerst die Flügel machen – zwei für dich und zwei für mich – das sind vier. Und dann müssen wir sie uns anbinden, und dann – dann fliegen wir – – so – so!« Und Daisy schlug mit den ausgebreiteten Armen auf und nieder, als ob ein Vögelchen flatterte.

Das Engelchen sah ihr mit Bewunderung und Interesse zu; aber da er bis jetzt noch ein Bübchen von wenig Worten war, erwiderte er bloß: »sa, sa!«

Nun zog sich Daisy in eine entlegene Ecke des Gartens zurück, die sie ihre ›Geheimnislaube‹ nannte und sammelte Stöcke, die sie zu verschiedenen Formen bog. Augenscheinlich kam jedoch nichts Passendes heraus; denn sie schüttelte unzufrieden den Kopf, stand auf und lief auf das Haus zu. Vor dem Arbeitszimmer ihres Onkels blieb sie eine Zeitlang stehen und betrachtete, die Händchen auf dem Rücken verschränkt, nachdenklich die schönen Rosen, die an der Mauer des Arbeitszimmers am Spalier gezogen waren, so daß die Blüten in die Fenster hineinnickten.

Dieser Rosenstock war der Stolz und die große Freude des Domherrn, wie Daisy sehr wohl wußte.

»Es ist beinahe schade, ihn abzuschneiden,« hielt sie ein Selbstgespräch. »Aber ich finde keine anderen Stöcke, die gerade eine solche gebogene Form haben, wie diese. Ich fürchte zwar, es wird den Baum etwas häßlich machen; aber Onkel John sagte ja neulich, wir müßten auf Dinge, die wir sehr lieb haben, verzichten, und darum nahm er mir auch mein Lieblingskind (die Kleine meinte ihre Puppe) fort und schenkte sie einem gräßlichen Bettelkind; und es tat ihm gar nicht ein bißchen leid, als ich so furchtbar weinte. Deshalb wird er natürlich auch sehr gerne einige Zweige von seinem Rosenbaum fortgeben, damit ich Flügel für Eng'chen und für mich machen kann.«

Nachdem Daisy so ihr Gewissen beruhigt hatte, begab sie sich nach dem Gewächshaus, von wo sie sich eine Gartenschere holte. Hierauf fing sie an, einen großen Zweig, der ihr für ihr Vorhaben gut geeignet erschien, abzuschneiden. Ihre Kraft reichte jedoch nicht dazu, und da alle ihre Bemühungen vergeblich blieben, versuchte sie es mit einem dünnern. Und auf diese Weise fuhr sie fort, an den Rosen herumzuschneiden, bis sie so viel Zweige hatte, wie sie für ihren Zweck brauchte. Triumphierend, wenn auch mit zerrissenen und blutenden Händen, kehrte das kleine Mädchen nun nach ihrer Geheimnislaube zurück; dabei die langen Zweige der einst so schönen Gloire de Dijon, die sie mit so übel angebrachter Ausdauer von der Mauer des Arbeitszimmers abgeschnitten hatte, hinter sich schleppend.

Eine Stunde danach hallte der Garten von Rufen nach dem Engelchen wider.

»Wo er bloß sein mag?« murmelte die Kleine verwundert, während sie überall nach dem Brüderchen suchte – in dem Laubengang, den Büschen, im Obstgarten, und schließlich in ihrem eigenen Gärtchen, wo sie ihn endlich entdeckte, ganz ruhig mit Soldaten spielend.

»Hast du mich denn nicht rufen hören, Eng'chen?« fragte sie vorwurfsvoll.

»Ssa!« entgegnete der Kleine mit Engelsruhe.

»Warum hast du mir denn nicht geantwortet?«

»Mich nicht mochte,« erwiderte er gelassen.

»Hast du vergessen, daß wir fliegen wollen?«

»'Gelchen kann nich fiegen.«

»Du kannst nicht fliegen, weil du noch keine Flügel hast. Aber ich habe dir Flügel gemacht, wie die, welche wir in dem Buch sahen, das Mütterchen uns neulich zeigte, und wir werden sie uns anbinden, und dann fliegen wir beide hoch – hoch – ganz hoch in die Luft, wie der Mann, von dem Mütterchen uns erzählte. Du weißt doch, Eng'chen?«

»Ssa,« antwortete das Bübchen.

»Nun, dann komm mit. Zuerst werde ich dir die Flügel anbinden.« Und das Brüderchen anfassend, führte Daisy ihn in die Geheimnislaube, wo sich die wunderbaren Gegenstände befanden, die sie aus Packpapier, Bindfaden und Rosenzweigen verfertigt hatte.

Engelchen betrachtete die Flügel mit den vielen Dornen mit augenscheinlichem Mißfallen.

»Mich sie nich mag!« erklärte er entschieden.

»Aber sie sind doch wunderschön, und sie werden dir schon gefallen, wenn du sie erst um hast. Stehe nur still, Eng'chen!« Und Daisy ließ ein Paar Flügel über seinen Kopf gleiten. »So! – Nun, ist das nicht herrlich? Möchtest du nicht gerne nach Indien fliegen, und Väterchen besuchen, und das Meer und alle die anderen schönen Dinge sehen?«

»Ssa!« erwiderte das winzige Menschenkind.

»Siehst du, dann wollen wir dahin fliegen. Du mußt nur noch warten, bis ich die Flügel ganz fest angebunden habe. Und du mußt dich auch nicht immer so rühren, sonst fallen sie ab. Die Vögelchen bewegen sich niemals so heftig hin und her; sie fliegen ganz ruhig.«

Nachdem Daisy mit dem Brüderchen fertig war, befestigte sie ihre eigenen Flügel; dann traten die beiden Kleinen, welche zwei sehr aufgeputzten Vogelscheuchen glichen, aus der Geheimnislaube heraus.

Lise, welche im Garten mit einem Nähzeug beschäftigt saß, hatte von Zeit zu Zeit einen flüchtigen Blick nach den ihr anvertrauten Kindern geworfen; und da sie – nach ihrer Meinung – in harmlosem Spiel beschäftigt waren, fuhr sie ruhig mit ihrer Arbeit fort, was sie sicher nicht getan haben würde, wenn sie Daisys Rede gehört hätte.

Als die Kleinen aus dem Bereich von Lisens Blicken waren, blieb Daisy stehen und besichtigte prüfend das Brüderchen.

»Du siehst genau so aus wie der Mann, der über den Berg flog,« versicherte sie ihm höchst befriedigt.

»Mich gar nich gut sein,« entgegnete das Bübchen klagend, und zog die Flügel über eine Schulter.

»Ach! Du wirst es schon wunderschön finden, wenn du erst fliegst,« beruhigte ihn die Schwester. »Komme nur weiter. Wir müssen auf einen hohen Baum klettern.«

Und nun führte Daisy, welche sich alles im voraus überlegt hatte, das Brüderchen nach einer hohen Mauer, gegen die eine Leiter gelehnt stand. Da hinauf kletterte sie zuerst, und dann mit ihrer Hilfe das kleine, durch seine Flügel sehr behinderte Brüderchen. Dann krochen beide vorsichtig die Mauer entlang bis zu einer sich weit ausbreitenden Ulme, die Daisy als ein sehr geeigneter Ausgangspunkt für ihre Flugpartie erschien. Sie wählte einen hübschen Ast für Engelchen, damit er seine Luftreise von dort aus begann, während sie selber noch auf der Mauer stehen blieb und aufmerksam zusah, wie er seinen Fuß aufhob, um auf den Ast zu steigen. Aber, ach! Dem Engelchen schienen die dichten Blätter ebenso sicher wie der dicke Ast und harmlos trat er auf eine grüne Masse, welche sofort unter seinen Füßen nachgab, so daß er ungefähr vierzehn Fuß tief auf die Erde herabstürzte.

Gerade in diesem Moment blickte Lise auf, um zu sehen, ob »der kleine Teufel« auch nicht ihren Liebling in Gefahr brächte. Mit einem durchdringenden Schrei stürzte sie auf das Kind zu, welches vor Schmerz laut schrie und weinte.

Beim Anblick des jammernden Engelchens sprang Daisy, weder an die große Entfernung noch die beabsichtigte Flugreise denkend, von der Mauer herab, um dem Brüderchen Hilfe zu leisten.

Eine Minute lag sie ganz betäubt – ein Ast war zum Glück ihrem freien Fall hinderlich gewesen; sonst hätte ihre unbedachte Handlung wohl sehr schlimme Folgen nach sich gezogen – aber auf sie achtete niemand. Lisens Angstrufe, im Verein mit denen des kleinen Knaben, hatten zwar den ganzen Hausstand herausgetrieben, aber alle starrten nur wie entgeistert auf das Bübchen, das stark aus einer Kopfwunde und verschiedenen anderen unbedeutenden Wunden und Schrammen blutete.

Endlich hob Lise den kleinen Verletzten auf und schritt langsam mit ihm dem Hause zu. Daisy, die sich wieder ermuntert hatte, folgte dicht hinterher, dabei in weichem, zärtlichem Tone fragend: »Armes Eng'chen! Tut es sehr weh?«

»Tut es sehr weh?« wiederholte Lise höhnisch. »Als ob du dir etwas daraus machtest, du kleiner Teufel! Eine gute Tracht Prügel verdienst du! Du hast ja deinen kleinen Bruder beinahe getötet!« Und sie gab Daisy einen heftigen Schlag auf den Rücken.

Das Kind stieß einen leisen Schmerzenslaut aus; dann schlich es, ohne ein Wort zu sagen, davon.

In diesem Moment schritt der junge Dr. Evans, welcher die Angstrufe vernommen hatte, auf die Gruppe zu, um seine Dienste anzubieten.

»Bist du verletzt, Herzchen?« fragte er zärtlich, als Daisy an ihm vorbeischritt.

Das kleine Mädchen kniff die Zähne fest zusammen. »Bitte, sieh' nach Eng'chen,« sprach sie besorgt. »Er ist beinahe tot!«

Der junge Doktor kam ihrem Wunsche nach.

»Das Bübchen ist mehr erschreckt als verletzt,« beruhigte er dann die furchtbar verängstigte Mutter. »Sonst würde er auch nicht so heftig schreien. Das ist immer ein vorzügliches Zeichen.«

Eine kurze Zeit genügte, um die Wunden des kleinen Knaben, von denen keine sehr ernsthafter Natur war, zu reinigen und zu verbinden. Und dann wollte Georg, nach einer kurzen Unterredung mit der Mutter, auch nach seiner kleinen Freundin sehen.

Aber sie war verschwunden.

»Darf ich sie suchen?« fragte der junge Evans bittend.

»Sie verwöhnen mein ungezogenes Töchterchen viel zu sehr, Herr Doktor,« entgegnete Frau Sinclair kopfschüttelnd. »Aber da Sie der einzige sind, der es tut, so wird es ihr hoffentlich nicht schaden. Mir ist schon manchmal der Gedanke aufgestiegen, das Kind könnte fühlen, daß ihr Bruder mehr Liebe hat als sie –« (»Manchmal,« dachte Georg bitter –) »sie hat zuweilen einen solch sehnsüchtigen Blick. Aber sie ist auch ein höchst eigentümliches Kind. Ich weiß wirklich nicht, was ich mit ihr anfangen soll: ich lebe in beständiger Furcht vor neuen mutwilligen Streichen. Ich fürchte beinahe, daß es unsicher ist, sie mit ihrem kleinen Bruder allein zu lassen.«

»Unsicher? Das sollte ich wohl meinen! Sie müßte in eine Besserungsanstalt kommen. Und wenn sie armer Leute Kind wäre, so würde das auch geschehen. Wenn man bedenkt, daß sie das kleine, süße Geschöpfchen bis an die Spitze des hohen Baumes geschleppt hat, um ihn von da herabspringen zu lassen!« rief Tante Rose empört.

Georg blickte zu der Sprechenden auf, und um seinen Mund huschte ein verräterisches Zucken, als er die gelben Locken und die roten Wangen bemerkte. Aber er war in Unruhe um seine kleine Freundin. Deshalb ging er und eilte raschen Schrittes auf die »Geheimnislaube« zu, wo er sie vermutete. Denn dorthin pflegte sich die Kleine immer zurückzuziehen, wenn sie sich unglücklich fühlte.

Und seine Ahnung hatte ihn nicht getäuscht.

An derselben Stelle, wo sie noch vor einer halben Stunde voller Glückseligkeit an dem mühsamen Werk gearbeitet hatte, saß das kleine Wesen nun als ein Bild des tiefsten Jammers, das winzige Gesichtchen schmerzverzogen und die Flügel zerknittert und zerbrochen von ihren Schultern hängend.

Das erfahrene Auge des jungen Arztes bemerkte sofort eine ungewöhnliche Blässe in dem kleinen Gesicht. Vorsichtig entwirrte und entfernte er die Flügel.

»Bist du auch gefallen, Herzchen?« fragte er dabei teilnahmsvoll.

»Nein. Ich sprang herunter, weil ich so große Angst um Eng'chen hatte. Eng'chen kann nicht fliegen oder so etwas besonderes wie das tun; ach! – ach!«

Dieser Schmerzenslaut wurde durch eine Berührung des Arms hervorgerufen. Georg unterzog ihn nun einer genauen Untersuchung und fand einen schlimmen Bruch. Sehr behutsam band er das verletzte Glied zusammen, dann nahm er die nun ohnmächtig gewordene Kleine auf seinen Arm und trug sie in das Haus.

»Hier ist die wirkliche Leidende, Frau Sinclair,« rief er Daisys Mutter, die er vor der Haustür traf, zu. »Ich glaube, Sie täten gut, das Kind ins Bett zu bringen und nach Ihrem Arzt zu schicken. Sie hat einen komplizierten Armbruch.«

Aufs äußerste erschreckt streckte Frau Sinclair die Arme nach Daisy aus, aber das Kind klammerte sich leidenschaftlich an den jungen Doktor.

»Bitte berührt mich nicht, niemand. Es tut mir alles so sehr weh, und ich kann es nicht ertragen, außer von ihm,« rief sie mit zuckenden Lippen.

So trug denn Georg seine kleine Freundin ins Kinderzimmer, wo sie längere Zeit liegen mußte, und daher zur großen Erleichterung der ihrigen eine Weile keine neuen Dummheiten machen konnte.

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