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DIE VERSUCHUNG

Der Himmel scheint in einer kleinen Stadt der Erde viel näher zu sein als in Berlin, und wenn diese kleine Stadt in der Nähe des Bodensees liegt, kommt der Himmel an den schönen Sommertagen bis auf die Erde und berührt die Wälder, Hügel und Wiesen, glüht in den Blumen und leuchtet im nahen See und in den fernen, wildgezackten Bergen der Schweiz. Das Leben geht seinen gelassenen Gang, und auch der Briefträger Hull in jener kleinen Stadt ging seinen gelassenen Gang. Jeden Tag wanderte er durch die Straßen, ein Bote des Schicksals, und verteilte Licht und Schatten, Freude und Leid. Hull war ein stolzer Mann, er kannte die Welt und hatte viele Freunde, aber sein größter Stolz war seine Tochter Marianne. Sie war schön und in ihrer strahlenden Gesundheit wie eine kleine Madonna anzusehen.

Hull war ein stolzer Träumer. Seine Frau war gestorben, aber sie schien in ewiger Jugend in ihrer Tochter auferstanden zu sein. In seinen früheren Jahren hatte Hull als Matrose die Meere befahren und viele Andenken von seinen Reisen mitgebracht. Und wenn der Vater von den fremden Ländern erzählte, da war es, als ob die Stube gläserne Wände hätte. Die Lackarbeiten, die Holzschnitzereien und Matten belebten sich und waren mehr als Kulisse schöner Berichte. Die schwäbische Sommersonne erfüllte das Zimmer und rückte Amerika, Australien und Asien in ihre Glut. Und wenn der Vater als Bote des Schicksals seine Post verteilte, stand Marianne bei den fremden Gegenständen und hörte die Stimmen fremder Länder und Meere. Ihre Kinderseele war aufrührerisch, ihre kleinen Gedanken jagten in die Welt und suchten das Abenteuer. Vor allen schönen Dingen liebte sie einen kleinen chinesischen Gott, sie nannte ihn: Herr Du. Der Vater, der die Liebe des Kindes sah, schenkte ihr den steinernen Götzen. Damals war sie dreizehn Jahre alt. Die Puppen liebte sie nicht mehr, sie trieb sich mit den Jungens im nahen Wald und manchmal auch am See herum, sie konnte schwimmen, laufen und klettern wie ein Junge. Ihre blonden Haare flogen um das erhitzte Gesicht wie eine Flamme.

Jeden Tag kam eine alte Frau, die das kleine Haus in Ordnung hielt. Manchmal half auch Marianne mit, aber sie lag lieber in den Wäldern oder auf dem Wasser. Der Vater ließ ihr allen Willen und liebte sie zärtlich.

Marianne wurde vierzehn Jahre, und an ihrem Geburtstag kamen Zirkusleute in die Stadt. Der große Krieg war schon lange vorbei. Der Direktor der weißen, wehenden Zelte nannte sich Pierre Marteau und stellte wilde Tiere, Hanswürste und Seiltänzer zur Schau. Mit dem Vater und der Wirtschafterin besuchte das Mädchen jenen Zirkus, die alte Frau schrie, als die Seiltänzer über die dünnen Seile liefen und tanzten. Marianne schrie nicht, sie legte die weiße Hand in die rote Klaue des Vaters und besah sich mit kühlen Augen die Löwen und Tiger, die schwarzen und die weißen Pferde. Sie bewunderte auch die chinesischen Gaukler, die mit Feuersbrünsten und Schwertern arbeiteten.

»Gelt, das ist schön!« sagte der Vater und erzählte dann leise von Schanghai, der großen Stadt, in der sich die alte Welt und die neue Welt wie zwei heftige Gewitter treffen. Marianne wußte nichts von der alten und nichts von der neuen Welt, aber als sie die gelben Leute mit den Schwertern und den Feuern hantieren sah, wurde das Schwert für sie die alte und das Feuer die neue Welt. Sie lächelte den Vater an. Hull lächelte zurück. Kein Liebespaar konnte sich ohne Worte besser verstehen als Eugen und Marianne Hull.

Dann kamen zwei Artisten, die sich bunte Bälle zuwarfen und das Spiel schön und wild ausbauten. Das Mädchen ließ den Vater allein. Sie hatte, als sie klein war, auch mit Bällen gespielt, jetzt war sie alt, ihr Herz flog anderen Dingen zu. Sie schlich sich fort und kam in ein Extrazelt, in dem der junge Marteau ein Fernrohr bediente und die Besucher in den Himmel blicken ließ. Vor allem aber in den Mond. Es war Abend. Der Mond rollte am Himmel. Kein Mensch war bei dem Fernrohr. Der junge Marteau blickte auf, als Marianne kam.

Und Marianne blickte in den Mond.

Henry war siebzehn Jahre alt, er war ein schöner Jüngling mit wilden Augen. Er stellte der Vierzehnjährigen das Glas ein und erklärte dann melodisch das bleiche, ferne Gestirn. Sie hörte nur die Musik, nicht den Sinn der Worte, sie sah in den Mond, der im Weltraum rollte und auf seiner Silberkugel die erloschenen Krater, die brandigen Narben hoher Gebirge und die dunkleren Schatten zerrissener Täler zeigte. Das Dach des kleinen Zeltes war der warme Sommerhimmel, in dem die Sterne wie Funken stoben. Aus den nahen Stallungen kam das heisere Geknurr der drei Löwen. Hier war die feste Erde. Im großen Zelt tanzten die Bälle der Artisten, Beifall und Gelächter kam in den Abend. Ein Clown machte seine Späße.

Der junge Marteau wurde unruhig. Kr sah nichts als das Mädchen, die nach dem Mond blickte. Der Wind kam sanft und flüsternd aus dem nahen Wald, und da beugte sich der Siebzehnjährige nach der Vierzehnjährigen und küßte sie. Sie zuckte zusammen. Der Mond entrollte und fiel ins Nichts. Sie war nun auf der Erde, ein junger Bursche legte seinen Arm um sie und bettelte:

»Gib mir einen Kuß.«

»Laß mich los!« herrschte sie ihn an, »Du bist ein Feigling. Da hast du deinen Kuß wieder!« sagte sie und stieß ihre Faust vor seine Brust. Dann stürzte sie aus dem Zelt, weinte ein wenig vor Scham, trocknete die Tränen und kam zum Vater zurück. Er hatte ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt. Die Artisten waren abgetreten. Ein junges Mädchen raste auf einem schwarzen Pferd durch die Arena. Die Peitschen knallten, der Clown lief der schönen Reiterin traurig nach und machte tragische Fratzen.

»Wie gefällt es dir, Marianne?« fragte der Vater.

»Es ist schon schön,« antwortete sie, »und zu meinem nächsten Geburtstag habe ich einen großen Wunsch.«

»Was ist dein großer Wunsch?«

»Ich will ein schwarzes Pferd. Ich will Kunstreiterin werden. Ich will zum Zirkus.« Der Vater lachte.

»Ich schenke dir einen indischen Elefanten,« scherzte er, »einen richtigen, mit so großem Rüssel!« Dabei zeigte er die Größe des Rüssels und stupste sie an die Brust. Marianne wurde fröhlich, sagte kein Wort von den Küssen unter dem Mond, sie besah sich dann mit dem Vater noch den kleinen Film, der gezeigt wurde, und ging friedfertig nach Hause.

Aber der ferne Mond verfolgte sie noch lange. Sie ließ die Freundschaft mit den Jungens, ihre Augen verschleierten sich, die Hände wurden fahrig, und manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf. Da lag die Kammer voll strömendem Licht. Die Sterne waren zu sehen und man hörte auch das ferne Sausen der Welt. Das Mädchen fieberte und war kühl, die kleine Brust hob und senkte sich, sie fühlte sich einsam und verlassen. Der Vater war weit und lebte wie auf einem andern Stern. Die Stadt schlief schon lange, vom Bodensee her hörte man die kurzen Explosionen der Motorboote, die auf Fischfang aus waren. Die Sterne waren fern, der Mond war nahe, das süße, sehnsüchtige Lied eines Nachtvogels im nahen Gehölz begann zu flöten. Und dann kam in die helle Kammer und durch das strahlende Licht ein junger Mensch, der kleine Franzose kam und küßte sie.

Solche Wachträume erlebte sie viel, und am Morgen war sie wie zerschlagen. Der nächste Geburtstag brachte kein schwarzes Pferd, sie ging nicht zum Zirkus, sie kam bald aus der Schule und wurde zu einer Putzmacherin in die Lehre gegeben. Aus dem wilden Mädchen Marianne wurde ein Fräulein Marianne, das um starre Formen belangloser Hüte schwellende und duftige Gebilde baute. Sie schloß sich vom Vater immer mehr ab und fand die Freundschaft einer Neunzehnjährigen, die auch Hüte machte und für das Theater schwärmte. Die Freundin hieß Flora und stammte aus Pforzheim. Sie spielte am Stadttheater in winzigen Rollen und schwärmte von großen Rollen in Berlin. In Marianne fand sie eine willige Zuhörerin.

Über diese Mädchenfreundschaft wäre noch viel zu erzählen, nur das soll gesagt sein, daß Flora und Marianne unzertrennlich wurden, daß Marianne manchmal das kleine Theater besuchte und einmal in einer stummen Rolle mitspielen durfte. Der chinesische Gott, der Herr Du, war gestürzt, neue Götter wandelten durch ihr Herz, die Schauspieler auf der Bühne, die großen Helden oder schwarzen Schufte auf den weißen Wänden der Lichtspielhäuser, die auch hier zwei große Kinos eingerichtet hatten und das Gesicht der Menschen umformten. Marianne ließ sich leicht umformen, sie schnitt die schönen Haare ab, sie trug ganz kurze Kleider, sie erregte Aufsehen und war stolz darüber. Mit Flora sah sie den ersten Film, die rührende Leidensgeschichte eines amerikanischen Mädchens, das aus aller Armut und Erniedrigung wie ein Stern aufstieg und am guten Ende über alle Niedertracht siegte.

»Das ist Kunst, Flora,« flüsterte sie, als sie das Kino verließen. »Das ist Kunst, Flora und viel mehr als auf dem Theater. Ich will auch Filmschauspielerin werden.«

»Auf der Bühne ist die viel größere Kunst, Mariannle,« antwortete Flora, »auf der Bühne mußt du reden, und das ist viel viel schwerer, als nur das Gesicht zu verziehen.«

Sie stritten sich eine kleine Weile darüber, was die größere Kunst sei, das Theater oder das Kino, und konnten sich nicht einigen. Und vier Wochen später reiste Flora ab, sie ging nach Konstanz und hatte dort an dem Theater eine feste Anstellung für kleine Rollen bekommen. Marianne war wieder allein, sie wurde melancholisch und wetterwendisch wie ein Tag im April.

Der Vater bemühte sich sehr um seine Tochter, er erzählte neue Geschichten von seinen Abenteuern, aber diese Geschichten wiegelten nur ihr Herz immer mehr auf. Und einmal fuhr sie nach Konstanz hinüber und kam in eine Gesellschaft junger Leute, denen die Welt ein grandioses Theater und das Theater eine grandiose Welt war, wenn sie auch hungerten. Flora hatte eine Liebschaft mit einem jungen Maler, der Heiligenbilder und neue Sachlichkeit malte, und als er Marianne kennenlernte, ließ er seine alte Freundin und schwärmte mit der kleinen Putzmacherin durch den schönen Tag. Am Abend gab es Tränen von Flora, und Marianne mußte versprechen, nicht mehr nach Konstanz zu kommen.

Sie kam auch nicht mehr nach Konstanz, die Jahre rollten vorbei und waren unfaßbar schön und unsagbar traurig. Marianne war bald in der kleinen Stadt verschrien. Die Leute schüttelten die Köpfe, wenn sie von ihr sprachen, keiner prophezeite ihr ein gutes Ende. Sie sammelte Autogramme berühmter Filmhelden, und als ihr Herz immer verzweifelter wurde, sie hatte keine Freundin, da ließ sie sich mit einem jungen Kaufmann ein und suchte in seinen Küssen doch nichts als den ersten Kuß, sie fand kein Glück und da reifte in ihr der Plan, die Stadt zu verlassen. Sie war achtzehn Jahre alt. Die jungen Männer liefen ihr nach. Es war ihr gleichgültig.

Flora war nicht mehr in Konstanz, sie war jetzt in Nürnberg und hatte geschrieben, daß sie nach Berlin wolle. Und Berlin war auch ihr Reiseziel. Sie hatte große Pläne. Das Theater lockte. Aber noch mehr der Film.

An jenem Frühlingstag war sie besonders zärtlich zum Vater. Sie küßte ihn und ließ sich wieder küssen. Sie hörte geduldig seine alten Geschichten von der Seefahrt an, sie blickte ihm frei ins Gesicht, als wolle sie für immer die guten und vertrauten Züge bewahren. Dann weinte sie und ließ sich wie ein kleines Kind trösten. Am Abend verließ sie die kleine Stadt. Dem Vater hatte sie einen Brief hinterlassen, einen verzweifelten Brief, der sein Herz rühren sollte.

Sie fuhr durch den dunklen Abend, sie reiste durch die lange Nacht, sie kam durch den aufblühenden Morgen und durch viele Dörfer und Städte. Deutschland war ein schönes Land und war auch dann noch schön, als sich keine Berge mehr erhoben. Berlin, Berlin, hämmerten die Räder der Eisenbahn auf den blanken Schienen. Sie wußte wenig von der Stadt. Sie wußte nur, daß in der Friedrichstraße die großen Filmgesellschaften saßen und Ruhm und Reichtum verteilten. Sie wußte, es gab dort Cafés, in denen Arbeit vergeben wurde. Sie kannte die Geschichte des polnischen Fräuleins Chalupez, das unter dem Namen Pola Negri weltberühmt war, und die Pola Negri kam auch einmal arm und hilflos in die Stadt Berlin und leuchtete jetzt über der Welt wie ein großes Feuer. Daher dachte Marianne an den Vater. Der Vater würde ihr verzeihen. Ja, einmal würde er stolz auf seine Tochter sein.

Hinter Nürnberg hatte sich ihr ein Mitreisender genähert, ein älterer Herr mit leblosem Gesicht, in dem die Augen unruhig wanderten. Er stellte sich als Aribert Hondt vor und war Theateragent, der sich auf Anfängerinnen spezialisierte und sie obskuren Bühnen ebensogern zuführte, wie reichen Lebemännern. Herr Hondt befragte das Mädchen nach ihrem Reiseziel, und sie erzählte von einem Besuch in Berlin. Dann kam die Rede auf das Theater. Marianne begann zu schwärmen. Hondt fuhr nach Leipzig und berichtete von großen Namen, die er berühmt gemacht habe.

»Kleines Fräulein,« sagte er zum Abschied, »hier ist meine Karte. Wenn Sie in Berlin länger bleiben, besuchen Sie mich bitte, ich könnte Ihnen Engagement an der Bühne verschaffen. Mit Kußhand. Die Dorsch habe ich entdeckt und auch die Frigga Brodt, der Reinhardt ist ein alter Bekannter von mir. Sie haben ganz die Figur, die man braucht, und auch das Gesicht ist nicht übel. Das Theater ist eine große Sache. Haben Sie Lust zur Bühne?«

»Ach,« sagte sie, »ich habe auch schon einmal eine kleine Rolle gespielt. Meine Freundin Flora ist Schauspielerin. Ich habe schon Lust, aber noch mehr zum Film.«

»Zum Film ist allemal noch Zeit, Fräulein,« sagte er, »aber auch da könnte ich dienen. Der Direktor der Filmschule ist mein guter Freund. Aber wie steht es mit dem da?« Er machte die Geste des Geldzählens, und als er das erschreckte Gesicht des Mädchens sah, lachte er und fuhr fort: »Na ja, umsonst ist der Tod, Pinkus muß zwitschern, aber wenn ein schönes Mädchen zwitschert, ist das allemal noch viel mehr wert als Pinkus.«

Marianne wußte nicht, was Pinkus war, aber sie lächelte und versprach, Herrn Aribert Hondt in Berlin aufzusuchen, wenn die Schwester nichts gegen die Bühne oder den Film einzuwenden hätte. Und für die Filmschule interessiere sie sich sehr. Der Mann mit den unruhigen Augen tätschelte ihr, als der Zug in die mächtige Halle des Leipziger Hauptbahnhofes einfuhr, gelinde ihre schönen Hände, er zog seinen Künstlerhut, nahm den kleinen Lederkoffer, auf dem die bunten Marken ausländischer Hotels leuchteten, und grüßte ergeben, als er das Abteil verließ.

Das Mädchen atmete auf, als sie allein war. Aber sie blieb nicht lange allein. Ein blonder Handlungsreisender kam und versuchte auf der Reise durch das flache Land ein flaches Gespräch über irgendeine billige Revue und fand erst Interesse, als er vom Film zu erzählen begann und stolz gestand, daß er jede Woche fünfmal ins Kino, ins Lichtspieltheater, wie er sagte, gehe. Zwei Dialekte, der sächsische und der schwäbische, vereinten sich bis Bitterfeld, der schwarzen, häßlichen Fabrikstadt, zu einem Hymnus auf die Zaubermacht des Filmes. Der Reisende stieg aus und verkaufte kosmetische Artikel. Auch er winkte lange vom Bahnsteig wie in Leipzig der Herr Hondt.

Bitterfeld war schon ein bittres Feld! Vom Zug aus sah das Mädchen in die schwarze und trostlose Landschaft. Sie sah in die tiefen Krater der Kohlengruben und in die kummervollen Straßenfluchten der Arbeiterquartiere. An der Strecke bauten sich die grauen und verwaschnen Hügel der Halden auf. Die Wälder waren arm und gelichtet. Vor ihnen flatterten wie Fahnen oder Flammen die grünen Wipfel der Birken. Marianne bekam Angst. Sie sehnte sich nach der Heiterkeit schwäbischer Landschaft. Berlin, das wußte sie, lag zwischen Sand und Sumpf. Und aus Sand und Sumpf sollte das Lichtwunder des Filmes kommen?

Der Eisenbahnzug rollte und hämmerte weiter, donnerte über die breitdahinfließende Elbe, hielt einige Minuten in Wittenberg und ließ die Türme der alten Stadt sehen. Hinter den Türmen der alten Stadt aber standen die Schornsteine und Eisenkonstruktionen einer neuen Siedlung. Wie ein Gleichnis unsrer Zeit hatte sich dort die chemische Industrie festgesetzt: aus der alten Historie und auch aus Wittenberg holte sich die neue Zeit für ihre geschäftlich gut fundierten Lichtspiele die rührenden und tragischen Stoffe. Aber davon wußte das Mädchen noch nichts.

Die Elbe war überquert. Dann kamen Wälder und Heiden, kleine Dörfer, grüne blühende Wiesen und wogende Felder. Zwei, drei Städte reckten sich aus der Landschaft, blieben zurück und bald zeigte Berlin seine ersten Siedlungen. Villen leuchteten, Wohnlauben und Gärten verdeckten den Sand. Dann kam die versteinerte Wucht der Vorstädte. Wie die großen, stählernen Nervenbündel der Weltstadt liefen die vielen blanken Gleise der Strecke neben dem Zug. Bald klirrten elektrische Schnellbahnen auf hochgestellten Anlagen vorbei. Ein Gasometer blähte sich. Fabriken qualmten. Von den schwarzen Wetterwänden hoher Häuser knallte Reklame. Kanäle wurden wie im Anlauf übersprungen. Ein Hafen öffnete seine Becken. Dann kam die Dunkelheit. Marianne fuhr in die schwarze Halle des Anhalter Bahnhofs ein und trieb im Strom der Reisenden durch die Sperre.

Sie war nun in Berlin.

Marianne war in Berlin und deponierte zuerst den kleinen Koffer. Sie überzählte ihre Barschaft. Siebzehn Mark, das war das ganze Vermögen. Die Pola Negri halte drei Mark, als sie nach Berlin kam. Marianne hatte ein mutiges Herz. Auch ihr würde das Glück lächeln. Das Glück war ja bei ihr. In der Handtasche fühlte sie den grünen Götzen aus China. Es war abends in der fünften Stunde. Die Bureaus schlossen. Und als sie sich nach der Friedrichstraße durchgefragt hatte – das Europahaus verblüffte sie, der große Park dahinter machte sie freudig – rollte sie in der Menschenflut wie ein winziges Sandkorn die Straße abwärts und wunderte sich sehr, daß alle Leute grußlos aneinander vorbeitrieben. Die Leute eilten und trieben aneinander vorbei, als hätten sie keine Zeit, als müßten sie immer hetzen und jagen, es war, als seien sie auf einer atemlosen Flucht.

Aus der Erde, aus den Bahnhöfen der Untergrundbahn quollen die Menschen in den frühen Abend, Männer und Frauen, Mädchen und Jünglinge. Über den blankgescheuerten Asphalt sausten die Autos. Die Ampeln an den Straßenkreuzungen flammten gelb, grün und rot auf und regelten den Verkehr. Durch die Leipziger Straße klapperten die gelben Straßenbahnen, rollten die Autos, schwankten wie riesige Büffel die großen Autobusse. Ja, es war auch Frühling in der Stadt. Irgendwie wehte in den heißen Dünsten Erinnerung an kühle Meere, tiefe Wälder und blühende Wiesen, aber es war ein phantastischer Frühling, in dem über alle Erinnerungen die Technik allein triumphierte. Marianne war wie erschlagen. Zu Hause hatte sie einmal einen Film gesehen, der das Leben und Treiben einer amerikanischen Großstadt zeigte, aber die Lichtbilder waren ja stumm und geisterhaft gewesen, Schatten einer fernen Welt, aber nun war die Welt da, die Schatten gegenständlich, mit den Händen zu greifen, brüllend und gefährlich.

Auch die vielen Frauen und Mädchen der Stadt erschreckten sie. Das war ja alles selbst wie ein Film oder wie der Anfang eines Spieles, in dem auch aus Schönheit und Reichtum große Tragödien hervorbrechen. Viele der Frauen und Mädchen waren geschminkt und gepudert. Sie trugen am Werktag kostbare Kleider und saßen lässig in den weichen Sesseln der großen Cafés. Neben ihnen saßen elegante Kavaliere. Manchmal hörte man auf der Straße die Fetzen wilder, hymnischer Takte aufwühlender Musik. Das Mädchen ging weiter und verweilte an den Schaufenstern der großen Warenhäuser, in denen der Reichtum aller Länder aufgestapelt war. Und als sie vor einem Juweliergeschäft stand und die edlen Steine sah, die wie funkelnde Wintersterne flammten, wurde sie angesprochen.

»So allein, gnädiges Fräulein?« fragte eine dunkle Stimme. Sie drehte sich um, sah in ein kühnes Gesicht und wurde verlegen.

»Ja, ganz allein,« sagte sie endlich, »ich bin erst heute nach Berlin gekommen. Das ist aber eine sehr große Stadt.«

Der Mann stutzte.

Dann lachte er leise.

»Und bei den Brillanten bleiben Sie stehen? Das ist gefährlich, liebes Fräulein.«

»Warum?« fragte sie voller Unschuld.

»Das ist eine lange Geschichte. Ich will Sie Ihnen gern erzählen. Aber nicht auf der Straße. Darf ich mir erlauben, Sie zu einer Tasse Kaffee einzuladen?« Er wartete keine Antwort ab, nahm ihren Arm und führte sie die Straße entlang. Das Mädchen ließ sich willenlos führen. Sie sagte kein Wort auf seine Fragen, sie wagte nur ab und zu einen schnellen Blick in das schöne Gesicht.

Das Cafe war bald erreicht.

Marianne lächelte.

Ja, es war schon wie in einem Film. Ein reicher Herr spricht ein armes Mädchen an und führt sie freundschaftlich durch eine große, fremde Stadt. Ihr Begleiter ließ ihren Arm frei, ein goldbetreßter Portier schlug die spiegelnde Drehtür auf und diese Tür schaufelte sie in einen kostbar ausgestatteten Raum. In einer blitzschnellen Sekunde sah sie alles: die tiefen roten und weichen Sessel, die eleganten Kavaliere, die geschminkten Frauen und Mädchen, ein Neger sang in einer fremden Sprache ein schluchzendes Lied, dazu näselten die Saxophone, auf den weißen Marmortischen standen rote Rosen – das alles sah das Mädchen in einer blitzschnellen Sekunde und ließ sich voller Angst durch die drehende Tür wieder auf die Straße schieben. Dann lief sie atemlos und schnell davon. Sie schämte sich ganz einfach, in dem billigen Kleidchen unter die schönen Frauen und Mädchen zu treten. Ihr Begleiter stutzte, kam auch auf die Straße und sah ihre schnelle Flucht. Zuerst war er verdrossen, dann lachte er leise und nachdenklich.

Das Mädchen lief und lief und hielt erst Unter den Linden an. Endlich beruhigte sie sich und bummelte dem Bahnhof zu. Die Straßenmädchen an der Dorotheenstraße beneidete sie um die schönen Kleider, sie fühlte sich unglücklich, sie schämte sich auch ihrer Flucht. Aber dann hatte sie Hunger und aß bei Aschinger mit dem gesunden Appetit junger Menschen viele belegte Brötchen. Sie dachte dabei an jenen Mann, der sie bei den Brillanten angesprochen hatte und hätte brennend gern gewußt, was für eine Gefahr bei den funkelnden Steinen laure. Dann ging sie weiter. Am Admiralspalast sah sie in den Schaukästen die Bilder der halbnackten Frauen und Mädchen ausgestellt. Sie schämte sich für die ihr unbekannten Schwestern und hörte nicht, daß ein junger Mann auf sie einsprach und ihr galante Anträge machte. Der junge Mann, ein Student der Philosophie, verfolgte sie bis zur Weidendamer Brücke und ließ sie dann mit einem zynischen Fluch weitergehen. Berlin, Berlin!

Wie groß und abenteuerlich war doch diese Stadt! In der Spree verblutete das Gold der Sonne und loderte auch um den Vergnügungsdampfer, der vom Müggelsee heraufkam und mit den bunten Schleifen, den lachenden Menschen und der letzten Musik voller Frühlingslust war. Hinter der Spree aber lagen die steinernen Straßen und schwarzen Täler der Wohnquartiere. Nicht weit von den Krankenhäusern protzten die Theater. Wie die fahrigen Fahnen vieler Bekenntnisse waren die sielen Geschäfte, Cafés und Buchhandlungen anzusehen. Marianne lief weiter bis zum Stettiner Bahnhof und dann nach dem hohen Norden zu, wo die Fabriken beginnen. Und dort oben besann sie sich endlich, daß sie ja zur Filmbörse wollte. Sie befragte einen jungen Arbeiter nach dem Weg, aber der verstand kein Schwäbisch und meinte, sie suche ein Kino. Da führte er sie in ein Lichtspielhaus, das sich kühn Kristallpalast nannte und einen Film zeigte, der am Rhein spielte. In diesem Film wurde viel geliebt, viel getrunken und auch viel gesungen, wie sich eben das Leben am Rhein verdorbene Phantasie vorstellt. Der Jüngling war begeistert, und als er erfuhr, daß Marianne vom Bodensee herkam, mußte sie in der Pause davon erzählen. Als das Licht erlosch und der junge Mensch ihre Hand faßte und drückte, stand sie mitten im Spiel auf und verließ das Theater. Die Tränen waren ihr nahe.

Nun war es Abend geworden. Die ersten Lampen brannten schon auf der Straße. Unweit des Kinos lärmte ein Vergnügungspark. Marianne schlenderte durch das bunte Tor und dachte an den Zirkus des Herrn Marteau. Sie ging die lauten Reihen ab, sah Ringkämpfer, Sterndeuter, Glücksspiele und Glücksbuden. Wurst und Schinken wurden verlost und auch die Niete war hier noch Gewinn: die nichts gewonnen hatten, bekamen jeder eine Scheibe Wurst in den Mund gesteckt. Der Zirkus in der kleinen Stadt war schon schöner. Ja, da gab es einen fernen Mond und Feuer und Schwert: die alte und die neue Welt. Sie war einsam unter den vielen Menschen. War sie deshalb nach Berlin gekommen? Plötzlich erschien ihr die Flucht sinnlos. Ach ja, sie wollte ja Star werden, sie dachte an die Negri und an Herrn Hondt. Sie würde morgen schon zu dem Agenten gehen. Bühne oder Film: alles war so gleichgültig! Was hat der Vater getan, als er den Brief bekam: Lieber, lieber Vater, ich bin fortgegangen und komme erst wieder, wenn ich berühmt bin? Lieber, lieber Vater, behalte mich lieb?

Sie verließ den Vergnügungspark und war trotz aller Schwermut Kind genug und war auf dem Karussell gefahren. Sie trottete die endlose Müllerstraße entlang bis zur Chausseestraße. Auf der Friedrichstraße stieß sie mit ihrem Schicksal zusammen. Das Schicksal der Marianne Hull war ein Mann. War der Mann, der sie vor dem Juweliergeschäft angesprochen hatte, der Mann, dem sie an der Drehtür entflohen war. Das Schicksal hieß Eugen Lyssander und war der bekannte Schauspieler Lyssander, der im Film eine große Rolle spielte und unter dessen Regie bedeutende Lichtspiele entstanden.

Lyssander war an diesem Sommerabend auf Raub aus. Er hatte schon viele Frauen und Mädchen gehabt, die Frauen und Mädchen liefen ihm nach, aber er hatte genug von der sogenannten Liebe, die doch meistens nur Lüsternheit oder Berechnung war. Lyssander war auf Raub aus, er suchte das Abenteuer. Und Abenteuer für Lyssander waren die kleinen Mädchen, die noch unschuldig waren. Er wollte sie in die Mysterien der Liebe einführen. Und in der kleinen, blonden Marianne, der Madonna, wie er sie nun nannte, als sie entflohen war, in diesem Mädchen sammelte sich an jenem Abend Mine Sehnsucht. Er nannte sich einen Narren, daß er sie hatte laufen lassen. Er war in einer Bar gewesen, hatte getrunken und geträumt, und als er auf die Straße kam, stand Marianne vor ihm.

Sie bemerkte ihn nicht. Sie war vom Feuer der elektrischen Reklamen geblendet, die wie gleißende Bänder von Gold und grünem Silber an schwarzen Felswänden liefen und zuckten. Aber noch mehr war sie von der langen Reihe der bleichen Bogenlampen geblendet, von der endlosen Kette bleicher Monde über dem dunklen Asphalt der Friedrichstraße. Das elektrische Licht glühte und blühte, aber Marianne sah herzklopfend die bleichen und doch strahlenden Monde. Ja, sie war auch müde, aber sie wollte und konnte nicht schlafen. Ihr Blut war verzaubert. Zum erstenmal spürte sie den Rausch der Weltstadt. Sie stand da, verzückt und bleich, die Menschen trieben vorbei, sie stand da, die kleine Marianne, wie ein junger Baum am Strande des wogenden Meeres. Plötzlich berührte eine Hand ihren Arm. Sie ließ die Bogenlampen, blickte auf die Straße und sah in das lachende Gesicht des Mannes, dem sie vor einigen Stunden entflohen war. Sie hörte seine wohlklingende Stimme.

»Gnädiges Fräulein,« sagte der Mann neben ihr, »ich bin glücklich, Sie noch einmal begrüßen zu dürfen.« Er tat so, als seien sie alte Bekannte und lächelte sein schönes, berühmtes Lächeln. »Und wenn gnädiges Fräulein nicht anders disponiert haben, möchte ich gern Kempinski vorschlagen.« Er sagte kein Wort von ihrer Flucht, er nahm ihren Arm, ließ ihn fahren, verbeugte sich und nannte seinen Namen: »Lyssander, Eugen Lyssander.«

»Marianne Hull«, sagte sie und hatte auch keine Angst und Müdigkeit mehr. Sie wußte nicht, was das heißt: disponiert zu haben, sie kannte den Namen Kempinski nicht und auch mit dem Namen Lyssander wußte sie wenig anzufangen. Nur das war ihr ganz klar: ein eleganter Herr geht neben ihr, legt seinen Arm in den ihren und lächelt und erzählt. Vielleicht hatte der Anblick der Bogenlampen, die wie Monde schimmerten, ihr Herz verwirrt, vielleicht hatte diese wohlklingende Stimme, die menschlich und bezaubernd durch alle Technik schallte, ihr Herz gerührt, vielleicht war es auch nur ihre entsetzliche Einsamkeit und Schwermut, die sie willig und ergeben machte, es gibt viele Gründe, aus denen ihr Schicksal in dieser Stunde aufstieg und sie die Friedrichstraße hinunterführte. Ja, sie gingen wie alte Freunde Arm in Arm, und als sich die Drehtür von Kempinski blitzend bewegte, da floh Marianne Hull nicht mehr.

Sie saßen bald in den schönen Räumen und Herr Lyssander stellte das Gastmahl zusammen. Er wählte wie ein guter Stratege sorgfältig unter den Speisen und Weinen, die Verwirrung des Mädchens hatte sich rasch gelegt, sie war strahlend und schön unter den blassen, gepuderten und hergerichteten Damen, sie war schon eine schwäbische Madonna mit goldnem Haar, aber eine Madonna, die auf dem Wege zur Dame war. Lyssander zeigte sich von seiner besten Seite und erzählte Witze und Anekdoten vom Film und Theater, sie hörte mit großen Augen und halbgeöffnetem Mädchenmunde zu, und als der Wein das Blut erhitzte, begann sie selbst zu erzählen. Sie erzählte von der kleinen Stadt, vom Vater, von den Nachtigallen im Park, von Flora erzählte sie, vom Mond über dem Bodensee und den vielen Monden über der Friedrichstraße. Von Henry, dem kleinen Franzosen und ihren ersten Küssen sagte sie kein Wort. Aber bei einem Wein, der zuerst verkühlte, um dann wie eine gelinde Flamme aufzubrausen, erzählte sie von der Reisebekanntschaft mit Aribert Hondt und legte seine Karte auf den weißen Tisch.

Lyssander nahm die Karte, und als er den Namen las, verfinsterte sich sein Gesicht.

Das ist nichts für Sie, Marianne,« sagte er dann, »ich kenne den Mann. Der Hondt ist ein Hund. Darf ich die Karte behalten?«

»Nein, nein, bitte Herr Lyssander, nein. Der Herr will mir ja helfen, wenn ich keine Arbeit finde. Sie haben so viel vom Film erzählt, ich möchte so herzlich gern dabei sein.« Sie wurde erregt und legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Hondt kann nicht helfen,« sagte Lyssander. Er blickte das Mädchen verliebt an und machte dann ein erstauntes und verklärtes Gesicht. Jetzt erst sah er, daß Marianne nicht nur ein schönes junges Mädchen war, er erkannte plötzlich in ihr mit dem feinen Gefühl eines begabten Regisseurs die Schauspielerin. Marianne war wunderschön, sie würde die deutsche Gish werden! Das Gesicht mit der schimmernden Stirn, den großen Augen und dem edlen Profil würde, wie er die Menschen kannte, begeistern. Aber was kannte so ein junges Ding von der Welt, von ihrem Leid und ihrer Lust? Sie mußte erst durch die blühende Dornenhecke eines Schicksals gehen und geliebt und gehaßt haben, ehe sie selbst Leid und Lust darstellen konnte. Das alles fühlte Lyssander nur im Unterbewußtsein. In der Bar hatte er schon viel getrunken, jetzt begann der Wein zu wirken, und das Mädchen an seinem Tisch war weiter nichts als schön und hilflos. Das konnte dem Herrn Hondt so passen, mit dieser hilflosen Schönheit schmutzige Geschäfte zu machen! Er selbst würde sie Leid und Lust lehren.

»Er kann gar nichts machen, der Hondt,« sagte er dann, »aber ich kann etwas machen, Marianne. Für einen Kuß will ich alles tun.« Er nahm die weiße Hand, die immer noch auf seinem Arm lag, und küßte sie. Dann fragte er höflich: »In welchem Hotel sind gnädiges Fräulein abgestiegen?«

»In gar keinem Hotel. Ich bin ja wildfremd in der Stadt und habe wenig Geld. Siebzehn Mark noch.« Lyssander lachte leise.

»Dann erlauben Sie, Marianne, daß ich ein Zimmer für Sie belege. Siebzehn Mark ist nicht viel, aber Sie sind voll begnadetem Reichtum und tragen ein Vermögen mit sich herum.«

»Ein Vermögen?«

»Ja, ein Vermögen. Ihre Schönheit, Kind.« sagte Lyssander.

Das Mädchen glühte, sie ließ ihre Hand streicheln, lauschte der Musik und lehnte sich dann, als Lyssander sie nach dem Hotel brachte, wie eine Dame im Polster des Wagens zurück. Im Wagen wurde sie geküßt, aber die Küsse schmeckten nach Wein. Und zwischen den Küssen sah sie die leuchtende Straße wie eine große Feuersbrunst lodern.

»Ich liebe Sie, Marianne, ich liebe Sie,« flüsterte Lyssander. Sie hörte seine Beschwörungen und glaubte daran.

Das Hotel, an dem der Wagen hielt, war ein besseres Absteigequartier. Der Portier lächelte, als Lyssander das junge Mädchen durch die Halle führte. Lyssander war hier gut bekannt und wurde aufmerksam bedient. dann brachte er Marianne selbst in das Zimmer und schloß hinter sich die Tür. Das Mädchen ließ sich in einen weichen Sessel fallen, der Mann lief aufgeregt über die schwellenden Teppiche, blieb an einem wunderschönen Spiegelschrank stehen und sah nichts als seine müde, kleine Madonna. »'Ich bin so müde,« sagte sie, »so müde bin ich und möchte schlafen. Vielen Dank, Herr Lyssander und morgen wollen wir uns wiedersehen.« Sie streckte ihre Hand aus und lächelte dankbar.

Lyssander blieb am Spiegel und sah mit großen Augen auf das Mädchen. Wie rührend und hilflos liegt sie im Sessel, wie zärtlich ist die Geste der ausgestreckten Hand, dachte er und sah eine Filmaufnahme. Seine Gedanken jagten sich und wurden Raubtiere. Da lag im Sessel ein junges Mädchen. Sie war mit einem Mann in später Stunde allein im Zimmer und trug ein billiges Sommerfähnchen, das die junge Schönheit mehr zeigte als verhüllte. Lyssander war kein Jüngling mehr, aber in dieser Stunde war er doch ein Jüngling wie vor zwanzig Jahren. Er verließ den Spiegel und kam näher. Dann ergriff er die ausgestreckte Hand des Mädchens und küßte sie.

Wie im Theater ließ er sich auf den Fußboden nieder, legte seinen Kopf in ihren Schoß und küßte ihr Kleid. Dann stand er auf, beugte sich über den Sessel und küßte Mariannes Mund. Sie ließ alles mit sich geschehen.

»Marianne,« flüsterte er, »Marianne, ich liebe Sie. Ich liebe Sie, Marianne!«

Sie antwortete nichts.

Ihr Mund zuckte.

»Nicht weinen,« bettelte er, »nicht weinen! Wir machen aus dir eine große Dame. Du sollst wie eine Sonne über Deutschland aufgehen. Die Welt muß deinen Namen buchstabieren lernen: Marianne Hull! Marianne Hull! Oh, wir wollen Filme machen, aus denen die Menschheit lernt, was Liebe ist. Marianne, Marianne, liebst du mich?«

Sie lächelte. Im Feuer kommender Größe blühte dieses Lächeln. Ja, sie wollte groß und berühmt werden.

Ihre Filme sollten auch alle Meere kreuzen, ihre Lichtbilder und Lustspiele sollten zu allen Völkern gehen. Sie dachte nur an sich, die kleine Marianne, aber auch Lyssander dachte nur an sich. Als er das Mädchen lächeln sah, ließ er sein beschwörendes Geflüster. Er nahm sie in seine Arme, riß sie aus dem Sessel und warf sie auf das Bett. Marianne schrie.

Und als sich der Mann über sie beugte, da schlug sie ihm mit der Faust in das erhitzte, trunkne Gesicht. Lyssander taumelte zurück, und ehe er noch einmal andrängen konnte, war sie aufgesprungen.

Sie raffte den kleinen Hut, die Handtasche mit dem Götzen aus China und raste aus dem Zimmer. Sie sprang die Treppen hinunter, lief an dem erstaunten Portier vorüber und rannte in einer dunklen Seitenstraße dem Tiergarten zu. Ihr Herz hämmerte. Die Kuppel des Reichstags glühte durch die Dunkelheit, Sie hatte keinen Blick dafür, sie lief und lief, die Stadt war dunkel, die Welt war dunkel. Dann kam der große Park, die rauschenden Bäume, der Wind kam und kühlte. Und Marianne lief weiter, sie stieß mit einem Mann zusammen, der blieb verdutzt stehen, dann endlich wurde sie ruhiger. Die große Ruhe des Parkes überkam auch sie, auf einer Bank brach sie zusammen. Die Tränen trockneten im Feuer der Wut und der Scham.

Zwei Männer kamen vorüber. »Die Nacht ist heller als der hellste Tag, Alfred,« sagte der eine, der wie ein Schauspieler gekleidet war. »Besonders im Feuer der Lichtreklamen, Meister,« antwortete der andre und lachte.

Marianne hörte die beiden Männer sprechen, aber sie verstand den Sinn der Worte nicht. Sie war nur mit sich und ihrem Leid beschäftigt. Der Alarm der vier Millionen donnerte dunkel in das Rauschen der alten Bäume. In dem Alarm der Weltstadt verschwebte der kleine Seufzer der kleinen Hull wie ein leichter Hauch. Sie fühlte sich einsam und verlassen, aber sie weinte nicht mehr.

Das war der erste Tag der Marianne Hull in Berlin.


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