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TRÄNEN VON DAMALS

Der Frühlingshimmel wölbte sich strahlend über Berlin. Das Eis auf den vielen Seen und Gewässern war geschmolzen, die Vögel sangen in den grünen Wäldern, die ersten Blumen dufteten, und in Werder blühten die Kirschen und die Pfirsiche. Die Havel leuchtete verklärt, als verströme sie unter italienischer Sonne.

Die Perlenkette, die Daniel Kreß damals im Herbst der schönen Marianne Hull schenken wollte, war zerrissen, aber als der alte Mann zur Ruhe gekommen war, hatte er selbst die einzelnen Perlen aufgesammelt. Es war ein schmerzliches Suchen und Sammeln, es war, als bedeute jede Perle ein verlorenes Jahr. Er wog die schimmernden Kugeln in der flachen Hand. Das Bild von Marianne ging unter. Ein neues Bild stieg auf. Daniel Kreß war müde, einsam und alt. Er suchte Trost und Jugend. Er fand Trost und Jugend.

Die Verträge mit Lyssander waren auch zerrissen, aber der Film mußte trotz der Faustschläge fertige gestellt werden. Kreß ließ sich bei den Aufnahmen nicht mehr sehen. Er vernachlässigte den Film und wandte sich immer mehr der Chemie zu. Eines Tages kam auch die kleine Gritt Eisemann nicht mehr. Sie hatte ihre kleine Rolle ausgespielt. Sie war jung, schön und klug und hatte eine neue, eine größere Rolle übernommen. Die kleine Gritt kannte das Leben. Sie war über Nacht die Freundin von Daniel Kreß geworden.

Lyssander hatte dann am Aufbau der eigenen Gesellschaft gearbeitet. Die Franzosen machten mit, und auch die Lola Lopez beteiligte sich an der »Symphoniespiel und Tongesellschaft.« Der erste Film war ein stummer Film und wurde von zwei jungen Frauen getragen, von der grazilen Französin und der blonden Hull. Lyssander hatte in diesem Film seine letzte Rolle gespielt. Zum letztenmal lächelte er sieghaft in die bebenden Frauenherzen und in die weißen Mädchengesichter, zum letztenmal rührte er sein Volk als Schauspieler. Zum letztenmal wurden um Lyssander in den verdunkelten Lichtspielhäusern heiße Tränen vergossen.

Bernhard Glaß und Alfred Bencke waren auch in die »Symphonie«, wie die neue Gesellschaft kurz genannt wurde, übergetreten. Nach dem stummen Film wurde mit einem Tonfilm begonnen. Er sollte den eisernen und elektrischen Alarm der Millionenstadt mit der Melodie der schrankenlosen Natur verbinden und aus dem Maschinendasein der Gegenwart zur Einfalt der Herzen führen. Die Aufnahmen in Berlin und Paris waren schon gedreht, in den nächsten Wochen sollte um das steinerne und gläserne Gerippe und Gefüge der großen Städte das blühende Fleisch deutscher und französischer Landschaften gelegt werden, Turbinen und Blumen, Schnellzüge und Kinder, Untergrundbahnen und Schmetterlinge, Menschen und Tiere sollten in dem neuen Tonfilm sein und ihre Sprache oder Musik verkünden.

An diesem Sonntag aber wurde nicht gefilmt.

An diesem Sonntag waren Lyssander und Marianne in Werder. Sie saßen in einem blühenden Garten und tranken Wein.

Unter ihnen lag die alte Stadt auf gelbem Sand, aber über allem Sand flammte aus Milliarden Blütenkelchen das ewige Leben. Die Kirschen blühten wie Alabaster, die Apfelbäume zeigten ihren blutbetupften Schnee, die Pfirsiche ihre rosige Glut. Werder war eine Stadt der Blüten und der Trunkenheit. Zweihunderttausend Berliner füllten die Straßen, Gärten und Restaurants. Sie waren ihren steinernen Käfigen entflohen, marschierten über die sandigen Wege und Straßen, sie stürmten die Blütengärten und Cafés. Ihr Geschrei und Lachen stürzte über die Havel, über die sanften Hügel, über die schimmernden Blüten und füllte den blauen, strahlenden Himmel mit brüllender Wollust.

Die Sonne flammte.

Die Havel und die Seen flammten mit.

Die großen Bierzelte und Würstchenbuden in der Stadt waren überfüllt. An den Jahrmarktbuden und Karussells und Luftschaukeln vorüber strömte das Volk, hatte sich mit bunten Bändern und Mützen geschmückt, trug Sonnenschirme aus Papier und schwang begeistert die an den Wegen gekauften Weinflaschen. In allen Cafés und Restaurants wurde gesungen. Blechmusik schmetterte in den schönen Tag. Die kleinen Mädchen glühten und wurden liebevoll, die jungen Burschen fühlten sich als Kavaliere und Helden. Luftballons stiegen empor, und durch den Jubel und Trubel wanderten still und innerlich strahlend kleine, quittengelbe Japaner und dachten an das Fest der Kirschblüte in ihrer Heimat.

»Die Welt ist schön!« sagte Marianne und trank Lyssander zu. »Die Welt ist schön, und heute abend kommt Lola aus Paris.«

»Du bist schön!« antwortete Lyssander und starrte auf seine Freundin, die sich mit Kirschblüten geschmückt hatte.

Sie lachte glücklich.

»Die Gritt Eisemann hat mir auch geschrieben,« erzählte sie dann. »Sie war mit Kreß in Paris. Dann sind sie an die Riviera gefahren, und in Monte Carlo hat die Gritt zweihundert Frank gewonnen. Sic schreibt, daß sie im nächsten Film der »Lux« ganz groß herauskommen soll.«

»Viel Vergnügen,« murrte Lyssander. »Ich mag die kleine, eiskalte Person nicht. Aber sie übt Vergeltung an unserm Freund Kreß. Er hat ihr die Perlenkette geschenkt, die erst du haben solltest. Glaß hat es mir erzählt.« Dann lachte er und sagte: »So ein alter Gauner! Die Perlen waren falsch!«

Marianne lachte.

»Das wird die Gritt freuen!« sagte sie fröhlich und wurde wieder ernst. »Damals, als er mich küssen wollte, Eugen, habe ich ihn gehaßt,« fuhr sie fort. »Ich habe ihn wie ein giftiges Tier gehaßt und vielleicht auch gefürchtet. Aber ist das nicht seltsam: jetzt habe ich manchmal Mitleid mit ihm. Und ich lache manchmal, wenn ich an seine Aufregung und Bettelstimme denke ... Ihr Männer seid eine komische Rasse!«

Immer neue Wanderscharen strömten auf die Straßen und Wege und bevölkerten die blühenden Gärten. Die Eisenbahnen klirrten unermüdlich heran. Betrunkene sangen laut. Kleine Kinder wimmerten. Junge Mädchen in hellen Kleidern und blassen Gesichtern juchzten. Die Bettler drehten ihre verstimmten Leierkästen oder hoben anklagend ihre leeren, wie leblosen Hände. Aus den Wanderschwärmen lösten sich Liebespaare und suchten stille Ruheplätze hinter den blühenden Hügeln am See.

»Der Vater hat auch geschrieben, Eugen,« sagte Marianne, »er will nicht für immer nach Berlin kommen. Höchstens mal auf Besuch. Und die Flora hat nun ihren Maler geheiratet. Vielleicht fahren wir doch einmal nach dem Bodensee. Ich will dir meine Heimat zeigen. Bei uns gibt es noch Nachtigallen! Der Vater schrieb, daß du ihm gut gefallen hast, Eugen.«

Lyssander hatte auch Briefe bekommen. Ein bekannter Regisseur, der in Afrika mit seiner Gesellschaft war, hatte geschrieben, daß der junge Georg Hammer an Sumpffieber gestorben war. Aber von diesem Briefe erzählte er nichts. Wie kann man unter blühenden Bäumen und unter blauem Himmel von einem Toten sprechen? Marianne würde es schon noch zur rechten Zeit erfahren. Er betrachtete sie stumm.

Ja, sie war manchmal kalt und herzlos gewesen, auch zu ihm, aber das war nur am Anfang so, jetzt war sie liebevoll und zärtlich. Manchmal war sie nichts als ein kleines, verliebtes Mädchen. Aus Gier, Berechnung und Begierde war auch für Lyssander Glück und Liebe gekommen.

»Liebste,« sagte er leise, »ja, wir fahren bald einmal nach deiner Heimat. Ich will wissen, wo und wie du groß geworden bist. Und den Vater besuchen wir auch.« Er machte eine kleine Pause und fragte dann: »Marianne, liebe, liebe Marianne, wollen wir für immer zusammenbleiben?«

»Für immer,« antwortete sie leise und fiel ihm um den Hals.

Die Welt versank und erhob sich dann wie eine glühende Wolke über der blühenden Erde. Und auf dieser Wolke flogen die beiden Menschen über der Erde und küßten sich. Von der Erde stieg Geschrei empor. Eine Rotte junger Menschen brach in den Garten ein und stellte die Verliebten wieder auf den festen Boden. Sie standen wieder auf der festen Erde, verließen aber bald den blühenden Garten und fuhren nach Berlin zurück.

Auf der Heimfahrt wurde nicht viel gesprochen. Ja, die Welt war schön!

Auf den grünen Wiesen flammten weiße Margueriten und gelbe Sumpfdotterblumen. In den kühlen und tiefen Wäldern zuckte das Licht. Wilde Enten erhoben sich aus den Fluten und flogen neuen Gewässern zu. Dann kam Potsdam und schwelgte in seiner zauberhaft schönen Architektur und umgürtete sich mit großer Vergangenheit, mit der blauen Havel und dem Park von Sanssouci. Auch in Potsdam strömte das Volk. Die vielen Schlösser, Kirchen und Paläste wurden von den starken Armen Berlins geschüttelt.

Und dann zeigte sich Berlin mit aller Verruchtheit und Größe, mit allem Reichtum und mit aller Armut. Berlin erhob sich aus den Dünen, Sümpfen, Wäldern und Feldern, Berlin, die helläugige, klare und arbeitstolle Stadt war erreicht, die schöne und grausame Stadt der Zukunft. Die ersten Villen und Siedlungen leuchteten auf. Hinter ihnen dunkelte in grandiosen Blöcken das steinerne Gebirge der Wohnbezirke und der Industrie.

Lyssander brachte Marianne nach dem Reichskanzlerplatz.

Und am Abend kam Lola aus Paris.

Sie kam allein und hatte Mister Guerra endlich verabschiedet.

Lola stürzte sich in Mariannes Arme.

Es gab wahnsinnig viel zu erzählen.

Dann wurde sie wieder die kühle, amerikanische Frau, und auf der Fahrt nach dem Hotel gab ihr Lyssander einen umfassenden Bericht über die ersten Monate Arbeit und über den ersten Erfolg der Firma, über den stummen Film mit der Französin und Marianne. Lola hörte gut zu, räkelte sich im Wagen und war zufrieden. Sie wollte in Berlin bleiben.

»O yes,« sagte sie, »die Film habe eine große Zukunft. Und wenn wir fabrizieren Tonfilm, machen wir eine Sprung in die Zukunft. Die Volk will nicht nur sehen, was ist auf die Welt, die Volk will auch hören die Melodie von die ganze Welt... Ich haben getroffen Mister Kreß in Paris. Aber Mister Kreß wollte nicht mich kennen. Er sein eine herzlose Mensch!«

Sie lachte und blinzelte Marianne an.

Marianne wurde verlegen.

»Und was wollen wir mache heute abend in Berlin?« plapperte Lola weiter. »Ich haben gelesen in Paris von eine Theater in Berlin, die zeigen alte Filme. Wollen wir sehen? Das muß sein sehr interessant!«

»Abgemacht, Lola,« antworteten Marianne und Lyssander.

Im Hotel wurde Lola von Glaß erwartet. Der alte Schauspieler kam ihr in der Hotelhalle stolz entgegen, gab sich als vollendeter Kavalier und überreichte ihr ein Bukett Veilchen.

»Deutschland begrüßt Argentinien,« sagte er feierlich, »Orchideen kennen Sie ja, Miß Lopez, aber nicht die schimmernde Schönheit dieser kleinen Blumen. Es lebe Argentinien!«

Sie nahm den Strauß lachend entgegen. »Orchideen wachsen in unsre Wälder, in unsre Urwälder,« antwortete sie, »in unsre Urwälder gibt es viel schöne Dinge, aber keinen Veilchen. Sie sein eine sehr kluge Mensch, Mister Glaß, und ich danken schön für den Aufmerksamkeit. Es lebe Deutschland!«

Lola ging mit Marianne nach ihren bestellten Zimmern und Lyssander wartete mit Glaß in der großen Hotelhalle, in der Zusammenprall vieler Länder und Menschen war. Aus dem Wintergarten kam Musik, die aufreizenden Hymnen der Neger kamen bis in die Halle und erfüllten die Herzen. Die spiegelnde Drehtür blitzte, die Boys warteten aufmerksam, der Portier stand festlich da, wie der Kriegsminister eines exotischen Landes. Dann erschienen Marianne und Lola. Die kleine Gesellschaft fuhr nach dem Westen. Die Lichter flammten über dem Kurfürstendamm. In einem der vielen Theater saßen dann die Freunde zusammen und besahen sich einige alte Filme, die vor zehn und fünfzehn Jahren gedreht wurden und damals große Sensation waren, Tragödien und Schauspiele, die das Volk erschütterten und mit Tränen überschwemmten. Aber diese alten Bilder und Tragödien erregten heute nur Mitleid und Gelächter. Nicht nur die Moden waren von gestern, auch die Schmerzen, die Tränen und die Probleme schienen von gestern zu sein. Bei der Vorführung dieser alten Filme erlebte man grausam klar die Wandlung der Zeit und der Welt.

Mitten in jenem Gelächter mußte Marianne Hull schauernd an die Vergänglichkeit aller Dinge denken, an ihre Bedingtheit und Sterblichkeit. In fünfzehn Jahren! Was war in fünfzehn Jahren? Würden dann ihre Filmschauspiele, ihre Schmerzen und Tränen auch überlebt, komisch und lächerlich sein? Sie seufzte. Lyssander, der den leisen Seufzer hörte, drückte ihr behutsam die Hand und lächelte tröstlich und wissend, als hätte er ihre Gedanken erraten.

Mitten in der Herzerschütterung von damals, mitten in den tragischen Spielen meldete sich Bernhard Glaß, der neben Lola Lopez saß, zu Wort und sagte laut, daß es auch die anderen Gäste des Theaters hören mußten:

»Da haben wir den Salat! Wir spielen verblendet unsre Spiele, glauben manchmal daran und wollen rühren. Aber in zwanzig Jahren lacht man über uns, Herrschaften! Es ist zum Weinen. Es ist zum Lachen! Aber so ist das Leben... Sie haben es erfaßt, lieber Lyssander, Sie spielen nicht mehr öffentlich mit.« Er schwieg eine kleine Weile und endete nachdenklich: »Ja, liebe Leute, so ist es: Tränen von damals sind Gelächter von heute!«

»Ruhe auf der Galerie!« grollte eine aufgeregte Stimme hinter ihnen. »Was sagt der Herr Volksredner?«

Das ganze Theater schüttelte sich vor Lachen.


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