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Von den überbliebenen Geschwistern der Familie Hebedich sahen sich nur mehr zwei des öfteren. Die andern waren in der ganzen Welt verstreut. Aber zwischen diesen beiden, dem Oberleutnant Christoph Hebedich und seiner Schwester Martha, bestand das zärtlichste Verhältnis.
Die Hebedichs stammten aus Schlesien und waren auf Wiener Blut gepfropft. Von Schlesien her hatten sie ihre Tiefe, Bescheidenheit und die geruhige Seele, von Wien ein heiteres, adliges Lebenlassen anderer mitbekommen. Etwas Umständliches war aber beiden aus dem schlesischen Blute verblieben. Es äußerte sich bei Christoph als übertriebene Scheu vor neuen Menschen, bei Martha in einer unüberwindlichen und ihr selber peinlichen Wortkargheit, die ihr den Mund sogar dann verschloß, wenn sie sich zu einer wichtigen Aussprache gedrängt wußte.
Nur mit ihrem Bruder konnte sie freier und lebendiger verkehren: vielleicht auch mit darum, weil viel Kontrast da war. Schon äußerlich. Der Bruder war aristokratenblond, die Schwester braun, beide ungemein adlig gebaut, sie aber zierlich. Marthas Gelenke und ihre gepflegte Gestalt forderten jedem Manne von Geschmack ein stillwünschendes Nachschauen ab. Aber fast niemals unternahm es einer, dem merkwürdig abweisenden und in sich geschlossenen Mädchen auf der Straße nachzutrollen, oder, im Festsaal etwa, das Gespräch mit ihr in leichtes Fließen zu bringen.
Der Oberleutnant lebte für sich, Martha bei ihrer Mutter. Die alte Frau sah fein und zierlich aus, war hilfreich, tüchtig, aber beängstigend korrekt. So sehr korrekt, daß jedem unbefangenen Menschenkinde bei ihr bange wurde und man sie gerne wieder allein ließ. Vor ihrer Art, pfahlsteif zu sitzen, verdarb einem der Spaß im Munde und eine Art männlichen Vakuums entstand immer von neuem um die Exzellenzenswitwe. Ja sogar Bewerber für Martha blieben aus, weil die Mama alles Heiratliche offiziös betrieb. Ein reizendes kleines Hindernis, einen verliebten, winzigen Betrug, wie etwa ein Stelldichein ohne ihr Vorwissen? Sie strafte es augenblicklich mit einem Schicklichkeitsbriefe von solcher Eiseskühle, daß das allzu deutlich gemahnte Maskulinum kopfscheu werden mußte.
Mama Hebedichs altmodische Grenzpfahlkorrektheit und Marthas Schweigsamkeit waren also schuld, wenn das reizende Mädel, welches das ungeheure Geschenk eines ahnungsaufreizenden, etwas verdämmerten Wesens besaß, einsam blieb.
»Der Hebedichsche Eishauch,« hieß es sogar von Christoph im Kameradenkreise. Und doch: der Grund dieses scheinbaren Aristokratendünkels war nichts als knabenhafte Scheu einer ahnenden, allzufrüh verschreckten Menschenkenntnis. Freilich, die Hebedichs machten kein Hehl daraus, daß sie auf das Alter und die Erinnerungen ihrer zwar bürgerlichen, aber von jeher »feinen« und wirklich wackern Familie stolz waren. Da konnte die Legende vom gefrornen Hochmut wohl entstehen. Hierüber eine Anekdote.
Der Oberleutnant Christoph Hebedich besaß in Wien nur ein Zimmer. Aber der Kameradenwitz, der über ihn ging, sagte, eben diese unselige Einzahl des Zimmers nage an Hebedichs Herzen. Er wäre zu arm oder zu sparsam, um sich ein Vorzimmer – nein, ein Antichambre dazuzugönnen und nun müsse er, so oft ein Kamerad oder sonstwer ihn besuchen käme, immer erst einmal dringend ›wo anders‹ nach dem Treppengang hinaus, bloß damit der Besuch etwas warten und Hebedich erst nach einer schicklichen Weile mit hocherhobenem Gönnerhaupte zum Bittsteller eintreten könne!
Daß es bloß Hemmung und Bangigkeit waren, welche Christoph Hebedich vor jedem Besuche erst eine Weile mit sich kämpfen hießen, bis er sich endlich den Entschluß abrang, schon wieder ein fremdes Menschengesicht zu sehen, das wußte niemand. Alle hielten es für Dünkel. So war Hebedichs Ruf, und ähnlich war der seiner eleganten und reizenden, aber verschlossenen Schwester. Beiden tat man Unrecht und wirklich unnahbar und versteinernd für jeden freieren, menschlichen Verkehr war nur die Mama.
Christoph Hebedich sehnte sich nach Freundschaft, nach etwas, wenngleich seltener Geselligkeit, Martha sehnte sich auch. Und dennoch blieben sie beide einsam. Mit Mama sprach die verschlossene Martha nicht zehn Worte am Tag. Bei den Verwandten hieß es, daß das stille, braune Mädel eine große Liebe zu verbergen hätte, welche ihre unerbittlich strengdenkende Mutter niemals billigen oder verstehen könne. Unheimlich fremd lebten also diese zwei Frauen aneinander vorüber.
Endlich, in einer Schule für Kunstgewerbe, bekam Martha Hebedich etwas wie eine Freundin, und damit beginnt diese Geschichte.
Oft am Abend machte sich um diese Zeit Martha von ihrer anstandsvollen Mama los und lief in die nahe Wohnung des einsamen Bruders, der ja sonst über seinen Büchern und Karten bis in alle Mitternächte saß. Aber gerne ließ er sich von ihr herausreißen.
»Was hat die Grete heut wieder gesagt?« war dann seine gewöhnliche Frage. Und Martha erzählte dann von Grete Lobes.
»Kein Mensch möcht ihr ansehen, daß sie Jüdin ist! Sie hat gar nichts von dem schläfrigen oder spähenden oder ausweichenden Mandelblick der orientalischen Rasse; nein! Ihre Augen sind blau, groß, offen. Oft kindlich erstaunt. Fast immer klar anfragend.« »Die Wimpern?« »Sind lang und schön.« »Die Hände?« »Fein und beweglich. Die Finger lang; nicht jene gewissen dicken, gepolsterten Handrücken!«
»Sie ist ein Phänomen,« sagte Christoph lachend.
Aber Martha fuhr eifrig fort. »Sie ist ehrgeizig, stolz und sehr aufrichtig. Wie lange hat es gedauert, ehe die an mich herankam! Mit den andern verkehrt sie überhaupt nicht. Keine Spur von dem Andrängeln, von dem Eindrängeln der andern Kolleginnen.«
»Ist sie schick?« fragte der Bruder.
»Sehr. Und so vermögend sie ist, sie macht sich alles selber; namentlich Blusen und Hüte. Da will sie keine fremde Hand dulden. Kein anderer Geschmack genügt ihr.«
»Ihr Vater –?«
»Ja der? Freilich nur ein schmunzelnder Geschäftsmann. Zwar auch ein wenig zurückhaltend und beinahe mit etwas wie einer Spur von Humor. Witze macht er keine. Immer aber gute Bemerkungen. Ich kenne ihn nur von wenigen zufälligen Begegnungen, aber ihm sieht man den Juden recht wohl an.«
»Woher dann eine so aparte Tochter?« fragte Christoph sinnend. Denn von der verstorbenen Mutter wußten beide nichts anderes, als daß Herr Lobes sich im ersten Schmerze über ihren Verlust hatte aus dem Fenster stürzen wollen, wie er denn auch nach diesem Verzweiflungsausbruch ein Musterbeispiel jüdischen Familiensinnes geblieben war und die Kinder, Grete und Wolfgang, mit ergreifender Zärtlichkeit betreute. Freilich hieß es auch, daß er beide nach der Art seines Volkes bis ins Affenhafte verzogen habe. Erst die Schule und der Hohn der Kollegen vermochten die aufreizend gewordene ›Chutzpe‹ der beiden Kinder zu ducken, welche sich bis dahin für Alleingeborne dieser Erde hielten, denen alles erlaubt war. In der Schule aber kam es so, daß nun doch etwas wie bescheidene Menschen draus geworden waren.
»Sonderbar, sonderbar,« sagte dann Christoph Hebedich immer, wenn er von diesen Widersprüchen hörte, und ging in seinem Zimmer nachdenklich auf und ab.
»Soll ich dich mit ihr bekannt machen?«
»Aber nein. – Was fällt dir ein?« rief dann der Bruder. »Mir ist nicht einmal ganz angenehm, daß du mit ihr verkehrst. Jüdin ist und bleibt sie doch.«
Da begann Martha denn wieder die Freundin zu verteidigen und erzählte auch dem Widerstrebenden von ihr weiter. Von den klugen, würdigen und bestimmten Antworten, die sie Kollegen und Professoren zu geben wußte; von ihrem Ehrgeiz, von ihrem Fleiß, und wieder von ihrer geradezu reizenden, weiblichen Neugier. Und der Bruder hörte doch wieder zu; gefangen, ja fast benommen.
Daß Grete Lobes ihrerseits die Freundin ebensosehr um den Bruder ausforschte, wie dieser um ihretwillen stundenlang aufhorchen konnte, das verschwieg die scheue Martha. Es konnte Christoph unangenehm sein.
»Nun?« fragte der Bruder.
»Ja, du; – heute war die Gretel entzückend.«
»So, so.«
»Wirklich. –« Und Marta kämpfte, wie immer, mit den Schwierigkeiten, die es ihr machte, eine Erzählung zu beginnen.
»Wie das?«
»Sie war so herzig feige!«
»Nanu!«
»Ja, also denk' dir. Wir waren in einer hypnotischen Sitzung. Der Hypnotiseur hat alles mögliche gezeigt; zuletzt hat er die ganze linke Saalhälfte: – alles, was darin gesessen ist, – so vollkommen gelähmt, daß keiner sich rühren konnte. Und die Lobes hat ihre blauen Augen offen gehabt, so weit vor Entsetzen. Sie hat sich um meine Hand geklammert, als sollte ich ihr das Leben retten! Wie ein todwundes Äffchen hat sie mich festgehalten und nicht losgelassen, bis alles zu Ende war.«
»Du warst also wieder die Mutige und Ruhige.«
»Ja; darum hat sie sich auch so an mich geschraubt. ›Bei Ihnen fühle ich mich so sicher, so behütet,‹ hat sie geflüstert. Dieses Schutzsuchen hat mich wirklich gerührt.«
»Das ist nur typisch: beim typischen Gastvolk,« sagte Christoph nachdenklich. Aber immer mußte er sich die angstvoll aufgerissenen, blauen, aufrichtigen Augen des fremden Mädchens vorstellen. Er wurde das Bild nicht los, auch als Martha zu Ende erzählt, gute Nacht gesagt und sich nach Hause begeben hatte.
Immer stellte es sich ihm dar: Dieses hilfeflehende, kindhafte, fieberische Anklammern, dieses Entsetzen vor einer, durch den heutigen Verstandesbesitz noch nicht schulgerecht festgelegten Naturgewalt. Freilich: diese geheime Kraft ist auch für den Klügsten nicht zu sezieren, nicht zu analysieren, nicht zu präzisieren. Nur zu ahnen. Obskurantenhaft zu ahnen! Er, o er ahnte diese Kraft genau. Ja er fühlte sich in ihr, kindlich und gläubig, geborgen. Jene Fremde aber, die niemals wie er im Gotteserdenschoße heimisch gewesen, sie mußte fassungslos gewesen sein, als die Urströmung nach ihr griff.
Er lachte leise in sich hinein. Da war einmal etwas, was diese Leute mit ihrer fertiggeschulten Kritik nicht fassen konnten! Er freute sich; aber ihm kam ihre Tieresangst auch gar lieb und rührend vor. »Wahrhaftig: Eine Jüdin, die endlich einmal fassungslos wird! Und nichts zu sagen weiß! Endlich einmal unfertig und bloß ahnungsvoll!«
Wirklich; von dem Abende an gefiel sie ihm!
Christoph Hebedich war, wie erwähnt, halb schlesischen Blutes. Seine Familie hatte vor beinahe dreihundert Jahren Jakob Böhmen, den mystischen Schuster, zum entfernten Verwandten gehabt. So arm die Hebedichs damals selber waren – Weber –, sie hatten dem gottsuchenden Vetter in seinen Nöten immer treulich geholfen. Da war nach des Schusters Ende dessen Glaskugel, die er, zwischen Auge und Arbeit, tausendnächtelang durchklügelt haben mochte, an die Familie gekommen und wurde seither als rührsames Andenken bewahrt.
Jakob Böhmes Schusterkugel! Was mochte an Gotteskindschaft, an Vertrauen und Zweifel, an Herzeleid, Sehnlichkeit und Heimbegehren durch den bläulichen Kristall dieser mit Wasser gefüllten Kugel hindurchgezogen sein, während der arme, tiefe Schlesier hinter ihr seine Stifte ins Sohlleder schlug! Hebedich hatte diese liebe Kugel einmal an sich genommen; die Mama hatte sie ihm schweigend gelassen. Mama hatte weder Gottesbedürfnis, noch auch jene andere, faulheitsmäßig angewöhnte Religion. Ihr war auch die Schusterkugel gleichgültig.
Ihm aber, dem Christoph Hebedich, bedeutete sie eine Welt. Eine Welt, die jetzt, vielleicht für Jahrhunderte, erstorben schien, wie ein eingetrocknetes Infusor. Und die irgendwann, – ein makrobiotus, – plötzlich aus der Mitternacht irgend einer großen Leidenszeit wieder hervorglomm und neu lebte:
Religion!
Hebedich war voll Gottverlangen. Er versuchte, trotz seiner Zweifel, ja Verzweiflung an dem heutigen Dogmenglauben, immer noch ein getreues Kind der Kirche zu bleiben. In seiner Seele behielt er sich vor, alle Dogmen der katholischen Lehre nur als symbolisch, als für die denkunfähige Menge zubereitet, anzusehen. Dahinter strahlte die ewige Klarheit jener allgegenwärtigen Religion, welche ebensogut in einem brahminischen Hirn, wie in einem franziszëischen Herzen ihr Heim finden muß. Er liebte es, über ›den‹ ewig Unerforschten zu grübeln, der die Tierchen der Meerestiefe entzückende, mathematisch genau bestimmte Spitzen klöppeln hieß und der die Ellipsen und Parabeln der Sternlinien träumend auf den großen Nachthimmel zeichnete. Der immense, unbewußte Mathematiker!
›Ihm‹ ging er immerdar nach; an ihn, den Unpersönlichen, dachte er in jeder freien Stunde und in den langen Nächten. Er freute sich, daß ihm die schlesische Erbkraft dazu nicht versagt worden war. Die Schusterkugel Jakob Böhmes hätte er nicht hergegeben.
Er wußte um die rätselhafte Kraft, die das All durchströmt; der unsere eigene nur ein kurzer, bald wieder abgeschalteter Kabelanschluß ist. Er wunderte sich nicht über die wunderbar tätigen Ausströmungen des Glaubens und des Willens. Er war vollkommen beruhigt, daß dieser eine, ewige Strom durch uns alle fließt; vom einen bewußt, vom andern ahnend benützt, von jedem verschieden gebraucht. Was für lähmende und aufpeitschende Gewalt zugleich lag nur in der Emanation eines strahlenden, verliebten Auges!
Und wieder dachte er an Gretel (denn solchen Namen gab er ihr schon), an ihre angstvollen, weiten, blauen Augen.
Einmal traf er ja nun doch mit dem fremden Mädel zusammen. Ob er nicht doch lieber jetzt schon Martha bäte: »Du, stell mich ihr vor«?
Wenn die geängstete Jüdin sich nur einmal vor ihn hinwerfen wollte: »Erklären Sie mir diese Kraft, dieses ›Luz‹, dieses Schauerliche!« Wie würde er überhaupt Worte finden für ihren geschulten Lernsinn, der bei keiner Unklarheit sich festhalten ließ? Wie überhaupt mit Worten zu ihr hinfinden?
Immer dachte er: »Was kann ich ihr sein? Was geben?« Denn, daß sie aus der suchenden Unrast ihrer Gastseele heimwollte in den arischen Friedensbereich, das wußte er aus ergreifenden Beispielen, die ihm Martha erzählt hatte. War es nicht schön, dieser Seele nach Hause zu helfen?
»Heim! Denn was alles der Jude sich immer erringen mag; – das eine ist ihm nie beschieden: lebende Erde sein, daheim sein. Daheim, wie jede Blume, wie sich sogar die haltlose Wolke im erquickenden Gewitter wiederfindet!«
Und die ganze Nacht dachte er an die großen, an die entsetzten, blauen Augen des sonst so endgültig klugen und kühlgeklärten, aber heute plötzlich kindgewordenen Judenmädels. Etwas wie ritterliches Mitleid für etwas Verwaistes, vielleicht auch romantische Bekehrsucht war mit dabei. Aber zu tiefst lockte doch das erotische Flimmern des Weibes, das am reizendsten ist, wenn es gänzlich hilflos wird.
So summte es in seiner Phantasie, in der einsamen Phantasie des etwas schwerfälligen und spätreifen Mannes, wunderlich herum. Er wußte selber nicht, wie gefährlich es schon um ihn stand.
»Du, Martha, – sag mir: Merkt man Jargon, wenn sie spricht?«
»Nein; sie redet das appetitlichste Deutsch, das du dir denken kannst. Ich höre ihr wirklich gerne zu, so reinlich akzentuiert sie. Nie macht sie einen Fehler. Sogar ihr Papa verfällt selten in einen.«
»Gott sei Dank.«
»Du interessierst dich also für sie.«
»Wie für alles Ethnologische.«
»Und sie sich für dich; ebenso – ethnologisch.«
»Sooo?«
Martha war über sich selber erschrocken. Jetzt, unter dem Blick ihres Bruders, schämte sie sich, daß sie daran gewesen war, Kuppelei zu treiben. Es war auch für diesmal nichts mehr aus ihr herauszubringen.
Grete Lobes hatte freilich inzwischen wohl hundertmal gefragt: »Wie sieht Ihr Bruder aus? Haben Sie kein Lichtbild von ihm? Sieht er Ihnen ähnlich? Ist er auch so schweigsam und abweisend wie Sie?«
Zuerst hatte Martha sich schwerhörig gestellt. Dann mußte sie doch manchmal, wenn ihr eine Frage unbedeutend oder zu drollig schien, lachend antworten.
Etwa, wenn es so hieß: »Trägt er vielleicht einen Kaiserbart?«
»Nein; ein verdrossenes, kleines, englisches Zahnbürstchen.«
»Schwarz?«
»Nein, hellblond.«
»Blond,« hatte damals Grete träumerisch gesagt und für diesen Tag nichts mehr gefragt.
Andern Tages aber kam sie mit einer gewissen Aufgeregtheit, ja mit etwas wie Schadenfreude und Neuigkeitsgeladenheit zum Arbeitspulte ihrer Kollegin hin.
»Sie, liebe Hebedich, ich habe mir über Ihren Bruder einen Witz erzählen lassen; aber, ich kann ihn Ihnen leider nicht wiedergeben.«
»Wenn er aus Offizierskreisen stammt, so ist es eben der einzige, gewisse, der über meinen Bruder zirkulieren kann. Denn niemand kennt meinen Bruder; nicht einmal ich,« sagte Martha ruhig.
Grete Lobes stutzte und besann sich eine Weile, legte dann den Kopf schief, wie eine Amsel, die einen Wurm aus der Erde ziehen will, aber es stand ihr das sehr hübsch, und sie wußte es auch und sagte, beinahe bittend und demütig: »Sprechen Sie, liebste Kollegin: Ist er denn wirklich so förmlich und bis zum Lächerlichen stolz!«
Martha erkannte sogleich die oben angedeutete Anekdote. – Ein oberflächlicher Kamerad, einer, der Christoph niemals anders als mit seinen beiden Vornamen Christoph Martin nannte und von seinem scheuen Wesen verärgert war, hatte sie in Kasinolaune erfunden. Nun ging die schadenfrohe Geschichte über den einsamen Offizier, den man mehr über die Feldzüge Napoleons als über das Billard gebeugt wußte, unerbittlich in ganz Wien umher und verhalf ihm zu einer ungewollten Volkstümlichkeit.
Die Lobes stand immer noch demütig abwartend vor Martha, wand sich aber in ihrem Innern vor schwer zu bekämpfendem Vergnügen.
»Ich weiß,« sagte Martha endlich nachdenklich. »Wir werden beide für hochmütig gehalten. Für hochmütig auf nichts. Denn wir sind arm und unsere Familie ist nur bürgerlich. Aber ist es nichts Schönes, wenn man mehrere Jahrhunderte rein und anständig gebliebenen Blutes in sich weiß? Darüber darf man sich doch freuen. Und: Ist es etwas Schlimmes, wenn man sich dann vor anderen Menschen, an denen man in Erfahrungen völlig andere Lebensansichten kosten mußte, fürchtet und scheu wird?«
»Nein, gewiß nicht,« sagte die Lobes.
»Nun, etwas anderes ist diese ungeschickte Art weder bei meinem Bruder, noch bei mir. Wir fürchten uns beide vor den Menschen. Wir bleiben, jeder mehrere Male gewitzigt, lieber allein. Wir entschließen uns schwer … Darum windet sich auch mein armer Bruder immer so lange, ehe er daran geht, eine neue Maske zu prüfen. Denn eine Larve trägt doch fast jeder, der etwas von uns will.«
»So muß ich ja stolz sein, daß ich mir so etwas wie Ihre zögernde Kollegialität verdienen konnte,« sagte Grete Lobes.
»Sie, ja, nun; – ich will Ihnen keine Komplimente machen, aber eine Maske nehmen Sie doch nicht vor; wozu auch? Und daß Sie mir gefallen, daß Sie gescheit und interessant sind, das wissen Sie ja selber.« Martha war bei diesen Worten errötet. Kaum jemals war sie gegen ein Menschenkind so freigebig herausgegangen. Sie fühlte auch, daß etwas wie ein Trieb, ein nobles Almosen zu geben, sie zu der für ihre Artung ungewöhnlichen Schmeichelei verführt hatte.
Grete Lobes setzte sich augenblicks zu ihr und legte ihren Arm um die schlanke Hüfte des knabenhaft herben Mädchens.
»Nein, Martha, wie mich das freut! Wie süß das von Ihnen jetzt war! Wie wilder Bienenhonig aus einer Eiche! Sagen Sie, flöße ich Ihnen wirklich keinen Abscheu ein?!«
»Nein,« sagte Martha, wortkarg, aber weicher, als sie sonst zu reden pflegte.
»Und jetzt erklären Sie mir mehr von diesem sonderbaren Familienstolz, den Sie da haben oder gar pflegen! Wie kommt das? Sie wissen von zwei oder drei Jahrhunderten Vorfahrenschaft, gut; aber wissen gar nicht genau, ob die sich auch wirklich rein erhalten hat. Und was Ihnen da hinzukam? Mein Volk kennt keinen Ahnenstolz, und dennoch blicken wir auf mindestens drei Jahrtausende engster Rassenzucht zurück!«
Martha, in ihrer Betretenheit, schwieg, wie sie beinahe immer zu schweigen pflegte.
»Ich weiß, was Sie mir da nicht antworten wollen,« sagte die intelligente Jüdin. Und leise fügte sie hinzu: »Sie denken: Ja, aber was für eine Rassenzucht.«
Martha wurde wieder dunkel über ihr blaßbräunliches Antlitz.
»Ich habe also recht,« sagte Grete Lobes noch leiser. »Ja … darüber kommt kein Christ hinweg.«
Martha sah lange Zeit auf ihre Arbeit, dann begann sie stockend und langsam: »Wenn Sie nur nicht immer das Wort Christ sagen wollten. Es hat mit unserm Bekenntnis, das obendrein ersten Anfangs von drei oder mehreren Juden stammt, gar nichts zu tun. Wir fühlen uns Ihnen gegenüber fremd, verlegen und anders. Aber nicht wegen Synagoge und Kirche! Ein Beispiel: Die Ostgoten und die Westgoten zogen beide in Länder, deren Bewohner ihnen an Bildung, Feinheit, Lebensart und vielleicht sogar an Schönheit, vor allem an Menschenliebe, weit überlegen waren. Ja, vielleicht sogar an Gerechtigkeit! Und dennoch vermischten sie sich Jahrhunderte lang nicht mit diesen Völkern und starben lieber aus, als daß sie ihr Wesen aufgegeben hätten.
Ihre Volksgenossen vermischten sich auch nicht; aber, ganz umgekehrt: sie setzten alles daran, nicht auszusterben. So ist Ihnen also dieses Leben ungeheuer wichtig. Uns Ariern, im tiefsten, nicht.
Das ist vielleicht das ganze, was uns so sehr trennt. Unsere Nachdenklichen achten, im Grunde, weder Bankgrößen, noch sonstige Milliardäre aus dieser Spanne Zeit. Aber freilich, unsere schlechten Kerle (jedes Volk dürfte den gleichen Prozentsatz davon haben), die kriechen natürlich vor dem Gelde, massenweise! Im Anblick dieser vielen Erbärmlichkeit haben auch Sie vielleicht eine grenzenlose Verachtung des immer zu kaufenden und immer dummen Gojs; so nennen Sie uns ja.
Nun, sehen Sie: ich betrachte Sie als ein Menschenkind, das aller Aufrichtigkeit wert ist. In seinem tiefsten fühlt sich bei uns jeder kleinste Leutnant, ja jeder Arbeiter einem baronisierten Juden gegenüber so, wie etwa der Ostgote sich dem Griechen gegenüber gefühlt haben mochte. Dem Griechen, weil der alles mit Verstand und Schlauheit übte. Dieses Gefühl sagt ihm: ›Ich bin der Aristokrat; eben weil ich mich ausnützen, weil ich mich betrügen lasse! Weil ich durch diese Lebensspanne, die mir unwesentlich und nur gerade erträglich erscheint, hindurchgehe, ohne ihr viel Wichtigkeit beizumessen.‹ Liebste Freundin, das ist unser geheimstes und tiefstes Gefühl. Aus ihm entstanden ja so romantische Lächerlichkeiten, wie die Kreuzzüge, aber auch der Ritterschlag mit seinem Schwur, alles für Witwen und Waisen hinzugeben. Es haben's ja dann sehr wenige Herren so gehalten. Und das lockt Ihnen vielleicht, in eben diesem Augenblicke, Ihr hübsches Lächeln ab?«
»Nein,« sagte Grete Lobes. »Mich freute nur, daß Sie mir die Ehre schenken, bei Ihrer sonstigen Schweigsamkeit so viele Worte an mich zu wenden, – die ich aber schon hundertmal anderswo gelesen habe.«
»So; warum fragen Sie mich dann?« sagte Martha kaum hörbar.
»Weil ich eine Bestätigung haben wollte,« sagte Grete Lobes.
Martha Hebedich stand schweigend auf und wollte weggehen. Da trat die Kollegin neben sie und sagte: »Aber Kind, Kind! All das habe ich ja erwartet und kenne und weiß es längst! Ach, wir sind das gewöhnt! Sie haben mir nicht im geringsten wehe getan. Und überdies können Sie doch nicht die Kinderei begehen, jetzt am Ende mir zu schmollen, weil Sie sich haben hinreißen lassen, mir Dinge zu sagen, die Ihnen wehe getan hätten, wenn man sie Ihnen gesagt hätte? Nun, gehen Sie. Ich lasse Sie schon allein. Und weil es Ihnen gar so schwer fällt, jetzt eine Antwort zu finden, so will ich Ihnen selber sagen, auf was Sie eine Stunde später kommen werden, was Sie mir hätten antworten sollen: ›Warum haben Sie mich dann zum Reden gebracht?‹ Nun: Mich freut's, daß ich Sie zum Reden gebracht habe, das ist es. Denn immer wollen wir was wissen und lernen.«
Damals wollte Martha Hebedich mehrere Tage der Schule fernbleiben. Am andern Morgen aber schämte sie sich, wurde trotzig, ging hin und wurde froh, als Grete Lobes so tat, als seien gestern nur unwichtige Dinge zwischen ihnen beredet worden.
Was hatte es Martha am Abend vorher für Überwindung gekostet, ihrem einzigen Vertrauten, dem Bruder, langsam, widerwillig und stockend, all das zu gestehen, was ihr wie ein Vergehen erschien oder wie eine große Dummheit! Immer erschien sie sich unglaublich dumm, sobald sie zu reden begann.
»Das war nicht recht von dir,« tadelte er. »Solche Sachen sagt man nicht. Was hilft es, wenn du jemandem sagst: Ich fühle mich dir überlegen? Er hat vielleicht ganz dasselbe Gefühl. Und wenn er's verschweigt, so hat wahrscheinlich er recht; nicht der, welcher es herausgesagt hat. Überdies hast du sie gekränkt.«
»Das nun wohl sicherlich nicht,« sagte Martha langsam.
Überrascht sah ihr der Bruder in die Augen.
»Du hältst sie für dickfellig und ausgeschämt?« fragte er schnell.
»Nein; im Gegenteil. Sie hat etwas sehr Mädchenhaftes und oft beinahe traurig Bescheidenes,« sagte die Schwester. »Aber sie hat mir viel zu gut und viel zu klug geantwortet, als daß sie irgend ein Gefühl der Niederlage haben konnte. Eher habe ich es.«
»So, ja so,« sagte der Bruder gedankenvoll. »Unsereins schämt sich sonst immer, wenn er gesiegt hat.«
Die Schwester machte große Augen. » Das hätte ich ihr gestern sagen sollen. Du hast recht!«
»Es war gut, daß du es ihr nicht gesagt hast. Sie hätte es für unmöglich oder für Lüge gehalten.«
Heute küßte er seine Schwester auf die Stirn, ehe sie ging. »Wirst du jemals den Mann finden, der deiner wert wäre?« fragte er.
Martha lächelte still und schwermütig. Eine Weile grübelte ihr der Bruder nach, als sie gegangen war: »Hat sie was? Hat sie wen?«
Dann aber modulierten seine Sinne in ein anderes Thema über. Das Wort der Schwester klang in ihm nach; es klang immer bedeutungs- und reizvoller nach:
»Sie hat etwas sehr Mädchenhaftes und oft beinahe traurig Bescheidenes.«
Das wurde in ihm wie zu einer kleinen Wunde, die ihm etwa die verliebten Zähne eines Mädchens gebissen haben konnten. Er fühlte sie stets; aber sobald sie ihn zu stören begann, freute er sich auch schon darüber.
»Wie ist das doch alles so unjüdisch! Von den Namen Gretel und Wolfgang an! Ist darin nicht allein schon ein Zu-uns-kommen, ein Heimbegehren? Ein Hunger nach arischem Wesen?« fragte er sich. – »›Wolfgang, Gretel.‹ Wenn ich sie schon nicht gerade kennenlernen möchte – es wird ja doch sicherlich eine Enttäuschung –, den Bruder werde ich mir doch einmal ansehen. Schon um einen Juden gekannt zu haben, der Wolfgang heißt, oder Piligrin!«
»Mädchenhaft und eher traurig bescheiden! Nein, schau, schau!«
Christoph Martin Hebedich, wie die Kameraden den in sich selber gesperrten Oberleutnant ausführlich zu nennen pflegten, stand in seinem Zimmer, zu dem ihm das Antichambre fehlte, und hielt erwägend ein Kruzifix in der Hand.
Ein wunderschönes, sogar ein sogenanntes gotisches Kruzifix aus jener Zeitentiefe, da, um Dürers Seelennöte herum, deutsche Mystik gegen romanische Leichtbehilflichkeit rang. Um die Zeit, als Michelangelo beinahe um Dante starb und um seinen Herrgott beinahe zusammenbrach. Und auch um dieselbe Zeit, als Raffael Santi alles – Religion, Antike – sozusagen mit einer Kinderhand hinspielte. Er, der ganze Künstlerscharen zum Geldverdienen und zur Schönheit eines leichten Fürstenlebens heranzog.
Christophs Kruzifix war also aus einer Zeit, die schon anatomisch richtig zu schneiden verstand, aber es war schön zugleich, obwohl noch in Qualen und Mitleid erdacht und geschnitten.
Er hatte es gern. Öfter sah er es an und überlegte immer wieder, wieweit der selbstbewußte Galiläer, den man in allen Zeiten änderte und anders abbildete, Gott geworden war! Oder ob er, wie der Judengott, bloß eine Bedarfsdichtung wäre: Dieser eine praktische, jener eine unpraktische. Und daraus schriebe sich am letzten Ende vielleicht der ganze Unterschied zwischen Indochrist und Punier …
Herr Tscharudatta aus dem altindischen Drama Vasantasena – und etwa König David oder Herr Mazo, voll phönikischer Kolonialbeflissenheit. – Dreht sich die ganze Erde bloß um diese zwei Arten Mensch?
»Das eine möchte ich wissen,« sagte er und hielt immer noch den Kruzifixus, »ob sie,« er sagte immer, schon ohne es zu merken, ›sie‹, »ob sie auf diesen völlig unpraktischen Volksgenossen hier mit demselben entsetzten Grauen und dem niemals verstehenden Hasse schaut, wie die Tages- und Lebensjuden sonst alle? Oder ob sie heimbegehrt nach ihm …«
Er verweilte bei seinem Lieblingsworte Heimbegehren und sagte dann: »Es wäre gar zu schön!«
Wie im Spiel abwägend, nahm er dann in die Linke seine andere Reliquie, die Schusterkugel. Ihr zuliebe hatte er, noch halb ein Knabe, Lehrstunden bei einem besinnlichen, aber ein wenig vertrunkenen Schuster genommen. Sein Lebtag behielt er eine humorvolle Vorliebe für dieses Handwerk, neben dem es sich sonderbar gut spintisieren läßt.
Er dachte daran, wie er sogar Mama einst ein Paar zwar derbe, aber gute Ausflugschuhe von seiner Hand auf den Namenstagstisch gestellt. Die Dame, steif, streng und korrekt wie ein schwarzweißroter Grenzpfahl, hatte aber kein Verständnis für diese Schöpfung seiner launiges Grille und bat ihn, wenn schon nicht den Sinn, so doch die Hände von solcher Sache zu lassen.
Er zuckte heute noch im Erinnern an ihren Scharfedamenton zusammen und legte die Schusterkugel weg, fuhr sich über die krause Stirn: »... ja, richtig; ich soll arbeiten.«
Dann legte er auch das Kruzifix hin und vertiefte den Sinn, über sich selber halblaut lachend, in die Technik eines Maschinengewehrs, das, trotz seiner leichten Transportfähigkeit und einem grazil erscheinenden Kühlmantel, in der Minute dreihundert Menschenleben sauber hinwegzuputzen vermochte.
»Nein, eine Rasse sind wir,« sagte er halb trübselig, halb erheitert. »Maschinengewehr und Gottsucherei! Was etwa Gretel dann für Christus fühlen kann?«
»Vielleicht lacht sie ihn liebevoll aus, wie ich mich selber über die unsrigen. Schon das wäre etwas. Merkwürdig, diese Angst und der Haß, den fast alle ihre Leute gegen ihn, als den ihnen Unheimlichsten ihres eigenen Stammes, hegen. Und uns ist er so heimatlich …«
Mit solchen Dingen, die man mit demselben Fremdwort Spekulationen bezeichnet, das in Kaufmannsmunde sogleich etwas völlig anderes bedeutet, gab er sich wohl noch oft ab, der unpraktische und schwerfällig im Leben herumsuchende Offizier. In seinen phantastischeren, wünschenden Stunden aber dachte er nur mehr an Grete Lobes, die er nie gesehen hatte und nie so recht sehen wollte: schon deshalb, weil er seiner eigenen Phantasie zum Teil mißtraute, zum andern aber eben diese Phantasie liebte und sie nicht entbehren konnte.
In dem einen waren also Deutscher und Jüdin völlig gleich. Jedes malte, rätselte und zifferte an der großen Unbekannten in der Gleichung: »Was ist im Grunde um sie? Oder um ihn?« Denn wenn Grete Lobes schon über den meist wortlosen und nur einmal verratenen Rassendünkel Marthas innerlich gereizt war, um wieviel mehr beschäftigten sich ihre unbändige Lernbegier und ihr Ehrgeiz, auch jenen dämmrig fernen, stolzen, armen Offizier zu ergründen. Und dann gründlich kleinzukriegen! Ihn, der heute über den Feldzügen Napoleons und den Mahnungen der indochristlichen Mystik zugleich grübelte.
Manchmal wußte das, beinahe stets über sich klare Mädchen ganz genau, daß sie da etwas wie einen Eroberungs-, vielleicht einen Vernichtungszug antreten wollte. Einen Feldzug, wie Nabuchudonosor oder Kambyses ihn liebten. Man rottet das fremde Volk völlig aus oder entführt es geschlossen ins Exil, zu völligem Sklavendienst. Aber diese Erobererphantasie, die in ihr nervös kribbelte, entbehrte durchaus nicht einer Gier, die man beinahe Liebe oder mindestens einen Appetit nennen konnte, der sich vom wirklichen Hunger nur mehr ungenau unterscheiden ließ.
Dieses hastige Heranwollen verleitete Grete auch bei ihrem eilfertigen Temperamente zu einer Unvorsichtigkeit, welche ihr beinahe das ganze Hebedichsche Blut für immer verstockt und unnahbar gemacht hätte.
Gretes Freundin, Martha Hebedich, hatte nämlich die Eigenheit, daß sie sich ohne erotische Absicht, sondern aus lauter Künstlertrieb und Schönheitsliebe, vielleicht auch aus einem norddeutschen Scheuer- und Reinlichkeitswahn heraus, bis zur Ängstlichkeit sauber hielt. Wenn etwas ihren Ernst und ihren Fleiß unterbrechen konnte, so war es der Zeitverlust, der ihr daraus erwuchs, sich während der Arbeit mindestens siebenmal an einem Vormittage Hände und Arme überrieseln zu lassen und sich zu waschen. Ebenso pflegte sie aber auch – die alles witternde Lobes merkte genau auf – ihren Körper, ihre Kleider, ihre Schuhe; kurz alles, was an ihr war. Ohne eitel zu sein, putzte und glättete sie beständig an sich; so instinktiv, wie eine Katze oder eine Wespe. Das machte auf Grete schon lange Eindruck, und mit wahrem Fanatismus ahmte sie hierin Martha nach, ja, suchte sie zu übertreffen oder sie mindestens davon zu überzeugen, daß sie geradeso reinlich und sauber sei wie Martha. Diese, die das für selbstverständlich hielt, freute sich, daß beide hierin so gänzlich eines Sinnes wären.
Aber Grete Lobes, wie sie schon hinter allem, was die fremde Kollegin unternahm, Plan und Ziel und Zweck dort zu suchen gewöhnt war, wo jener bloß Ahnung und Trieb geboten, sie witterte etwas wie dunkle, vielleicht unbewußte Erotik.
Oder. Vielleicht war da wirklich ein geheimer Liebhaber!?
Martha war nicht prüde. Sie verhehlte die Schönheit ihrer Körperform, wenn sich die Mädel nach der Arbeit mit Lehm und Gips einmal gemeinsam reinigten und umkleideten, nicht ängstlich vor der Kollegin, die ja nun so etwas wie Freundin geworden war; aber sie stellte sich ihr nur ungern entblößt dar. Auch das bemerkte die leicht unruhig gemachte und gereizte Lobes. Reservierte sich das verschlossene Mädel für irgendwen? Und war sie wirklich vollkommen schön? Ergaben sich nicht interessante germanische Charakteristika, Rassemängel des Körperbaues? Je verhohlener und nur scheinbar unbefangen ihr Martha hier schien, desto aufmerksamer wurde sie auf das fremde, verhaltene Mädel, an dem sie der Gedanke reizte, sie könnte irgend einem Liebhaber alles geben, was sie der Freundin versteckte. Grete Lobes war neugierig, öfter brachte sie das Gespräch auf Körperkultur und auf die vielen antiken und modernen Bildwerke, die in ihrer Schule umherstanden. Die boten ihr einmal Gelegenheit, die Freundin ganz plötzlich mit harmloser Frage zu überfallen.
»Fühlen Sie sich so schön und tadellos, wie dieses badende Mädchen da?« fragte sie einmal.
»Und Sie?« gab Martha zurück.
»Heißt das, Sie möchten wissen, wie ich aussehe?«
»Nein,« sagte Martha mit ihrer gewöhnlichen Wortkargheit. Und sie ließ das ihr völlig unbedeutsame Gespräch fallen.
Nun war aber auch Wolfgang, Gretes Bruder, von dem abweisenden, adlig geformten und aparten Mädchen völlig benommen. Immer fragte auch er seine Schwester aus, mehr als Christoph die seine. Und er erhielt viel genauere und gesprächigere Antwort. Denn was die einen Geschwister vor einander hehlten und verschwiegen, das auszusprechen machte dem Paar Lobes nicht den geringsten Gram.
»Hast du sie schon näher gesehen? Ist sie so gebaut, wie ihre festen und trainierten Arme erraten lassen? Sie muß beinahe etwas Knabenhaftes haben, in der Herbheit ihrer Formen!«
»Ich werde dahinter kommen,« sagte Grete zuversichtlich. »Es dauert nur immer lange bei ihr und ungeduldig darf man da nicht werden; soviel habe ich schon heraus.«
»Du, das reizt mich sehr, daß es lange dauert,« gestand der Bruder.
»Mich auch,« sagte Grete.
Einmal war dann den Mädchen der Kunstgewerbeschule ein weiblicher Akt zum Zeichnen aufgegeben worden. Sie arbeiteten nach einem guten, kräftigen, aber nicht unfein gebauten Modell aus der Vorstadt und Grete Lobes verlor sich flüsternd in fachgemäße Betrachtungen über Rassen. Sie sprach zu Martha von dem schmalen Becken und den breiteren Schultern der Mittelmeerfrau, von dem derben, niederländischen Ideale Rubens' und Rembrandts; von den völlig grob und materialistisch enthüllten Schönheitsfehlern der Helene Fourment auf dem »Pelzchen«. Zuletzt kam der bei ihr charakteristische Überfall:
»Würden Sie sich getrauen, als Akt zu sitzen?«
»Mir selber schon,« sagte Martha gleichmütig.
»Jedes hat an sich zu tadeln. Man kann das nicht ändern.«
»Sie müssen doch, nach allem, was ich, natürlich nur als Künstlerin, an Ihnen prüfen konnte, beinahe einwandfrei – sich sehen lassen können.«
»Ich lasse mich nicht sehen,« wehrte Martha lachend ab.
»Und doch gäbe ich weiß Gott was darum, wenn ich Sie photographieren könnte!«
»Dazu gibt es eine Menge hübscher Berufsmodelle,« sagte Martha kühl und verbiß als aufgeklärtes Mädel die Verlegenheit, welche ihr diese Wendung des Gespräches verursachte.
»Aber ich bitt' Sie, diese mollete Wiener Rass',« sagte Grete, welche jetzt mit Absicht den Dialekt kopierte.
Martha zuckte die Achseln, schwieg und zeichnete.
»Photographieren, mit einem Blumenstrauß vor dem Gesicht; so daß kein Mensch Sie erkennen könnte; – falls Sie mir mißtrauen sollten.«
Martha kroch ein leises Frösteln des Abscheus den Rücken entlang, aber als resolutes Mädel lachte sie. Antwort gab sie überhaupt keine mehr.
»Ich hätte Sie für tapferer gehalten; für freier und weniger philiströs,« sagte Grete seufzend.
»Dann photographieren Sie doch, bitte, sich selbst.«
»Halten denn Sie mich für schön?« fragte Grete wieder.
»Ich habe noch nie darüber nachgedacht,« sagte Martha, diesmal wirklich ehrlich lachend.
Damit war dieses Gespräch zu Ende gebracht. Grete schwieg etwas gereizt und gekränkt, während die ganze Geschichte der andern erst abends wieder einfiel und sie, als sie wieder beim Bruder in dessen Zimmer auf- und niederging, etwas schweigsam und nachdenklich machte.
Er hatte gut fragen. Heute sagte sie ihm kein Wort und auch am andern Tage nicht; bis sie merkte, daß er unruhig zu werden begann und offenbar etwas viel schlimmeres annahm und witterte, als diese, im Grunde unwesentliche, vielleicht harmlose Geschichte.
Ungern, immer wieder stockend, und, eben weil sie stockte, in immer größerer Verlegenheit, und bald in Ärger über sich selber, begann sie:
»Na, also; es ist bloß etwas Komisches und vielleicht ganz Belangloses.«
»Herrgott, mach keine Einleitungen,« rief er ungeduldig und besorgt.
»Ja, du: Dann kann ich erst recht nicht mit der Sprache heraus,« sagte sie leise und verlegen. »Wenn du im Vornherein gleich eine Geschichte so wichtig nimmst!«
»So war's doch etwas Schlimmeres?«
»Aber nein.«
»Mit der Grete Lobes?«
»Natürlich, ja.«
»Nun, so ist es wenigstens interessant,« sagte er, sogleich behaglicher werdend.
»Nicht einmal das.«
»Hat sie etwas?«
Martha schüttelte den Kopf.
»Mit irgend einem andern?« fragte er gespannt weiter.
»Aber nein.«
»So hat sie von dir was wollen?«
»Ja, – eher.«
»Aber was denn?«
»Sie hätte, – na, sie hätte mich als Aktstudie gebraucht und wollte mich photographieren. Mit einem Blumenstrauß vor dem Gesicht,« setzte sie hastig hinzu, als sie sah, wie der Bruder sich nach Art der Mama kerzensteif im Sessel aufrichtete.
Eine Pause. Dann: – – »Das, – das ist stark,« sagte er atemholend.
»Vergiß nicht, daß wir in einer Kunstschule sind, wo so etwas nicht gemessen wird wie in der Gesellschaft.«
»Und du; was hast du geantwortet?«
»Du kannst dir denken, daß es mir trotzdem peinlich war. Ich habe lachend abgewinkt.«
»Einsilbig oder erklärend?«
»Ich hab sie bloß gefragt, warum sie sich nicht selber photographiert.«
Der Bruder schwieg.
Sosehr seine Phantasie mit Grete Lobes beschäftigt war und sosehr der, sonst unbekümmerte und freie Offizier in ihm zu einer neugierigen Frage trieb, hätte er auf keine Weise vermocht, die Schwester zu fragen: »Und sie, ist sie selber sich dazu nicht schön genug?« Oder auch nur: »Was hat sie darauf geantwortet?« Er brachte, hastig und beunruhigt, das Gespräch auf andere Dinge und brach erst nach einer halben Stunde, plötzlich empört, mitten in nicht Dazugehörigem, heraus: »Und Jedem hätte sie das Bild gezeigt und gesagt: Das ist die stolze Martha! Vielleicht wollte sie dich sogar nur für einen Bestimmten aufnehmen, die Kanaille!«
Martha erschrak. Daran hatte sie nicht gedacht. Etwas verwirrt und zerstreut ging sie heim. Der Bruder sprühte vor Zorn.
»Mit der bin ich fertig,« sagte er noch, als er die Türe hinter der Schwester abschloß.
Die ganze Nacht rannte er aufgeregt in seinem Zimmer auf und nieder und überlegte, ob er die seiner Familie angetane Schmach rächen könnte.
»Jetzt wäre, im Grunde, der Augenblick, wo ich sie kennen lernen sollte!« Er blieb stehen. »Sich selber wäre sie zu gut gewesen, zu solch einem Versuch! Aber meine Schwester! – – Ah! Ob nicht ich der anderen einmal eine solche Bitte stelle, damit sie erfährt, was Beschämung ist!« Er rannte noch lange und fiebernd in seinem kargen Zimmer auf und nieder, ehe er sich zur Ruhe begab.
Das war kein gutes Wort, mit dem er an diesem Abende den Schlaf gesucht hatte.
O ihr kontrapunktischen Abgründe des Herzens!
Seine Gereiztheit schwamm einträchtiglich mit einem beständigen Gedenken an das aufreizende Mädel. Er hielt oft mitten im lyrischen Dahinstreichen seiner Empfindungen inne und erkannte, daß er da soeben eine Art Angewöhnungsübung machte, ihren Namen geschmackvoll und süß zu finden: – »Grete Lobes; Grete Lobes.« Schließlich tat der Schreibname ja nichts dazu. Grete; der Name allein war schön.
Dann hielt er sich lachend und halb unwillig den Kopf. »Herrgott, ich kenn' sie ja gar nicht. Ich Narr! Weil ich aber auch so abgeschieden lebe!«
Vier Tage brachte er so in seinen wunderlichen Phantastereien zu. Am fünften Abende, als zwischen den Geschwistern nichts mehr über das unruhige und neugierige Mädel gefallen war, überrumpelte er seine Schwester plötzlich mit der Frage: »Ist in jener Angelegenheit noch ein Wort zwischen euch beiden gefallen?«
»Kein einziges,« sagte Martha.
»Und sie: Ärgert oder schämt sie sich?«
»Nichts von alledem. Sie ist unbefangen wie immer.«
»Sie wird denken: Mach ich bei Martha nicht dieses Geschäft, mach ich ein anderes,« sagte der Bruder.
»Du tust ihr vielleicht Unrecht. Wenigstens in dem, daß sie überlegend und berechnend sein soll. Sie ist impulsiv und selber viel fassungsloser als ich, wenn ihr etwas widerfährt.«
»So ist sie? Wirklich?«
»Aber ja. Sie ist ein völliger Kindskopf. Und ich habe den Eindruck, daß sie mit allem, was sie nur immer gelernt hat, bloß so gescheit tut, weil bei ihren Leuten das Gescheittun als besonders schön empfunden wird.«
»Hätte sie eine Ahnung,« sagte Christoph, »daß es für unser Empfinden das gerade Gegenteil erzeugt und daß wir eher den lieb und dumm ins Leben Dreinspringenden und den Schweigenden anbeten, dann wäre sie wie umgewandelt.«
»Grete ändert sich nicht. Wer von uns richtet sich denn nach der Meinung anderer?«
»Ich nicht, und du nicht. Wir haben nichts Werbendes. Sie aber hat es.«
»Mein Bruder ist genau so ein Hemmungsmensch wie Sie,« sagte zur Vorsicht Grete Lobes an einem Tage, als Wolfgang beide zu einem Einkauf in ein Modehaus begleiten wollte, in dem er bekannt war und wo er ihnen billige Preise versprochen hatte.
Wolfgang war jetzt wirklich immer bescheiden, ja gedrückt anständig in seinem Wesen. Nur, wenn er Theaterkarten zu verschaffen wußte oder Martha irgendwo einen Einkauf verbilligen konnte, wurde er lebhafter und dringlicher. Sonst hielt er sich immer sehr, sehr zurück
»Mein Bruder ist gerade so ein Hemmungsmensch wie Sie.« Das hatte Martha gut gefallen und sie sagte, auf eine Frage ihres Bruders, zu Christoph: »Ja, zwar ist er Jude und ihm kennt man's ein wenig an. Aber er ist von der netten Sorte.«
»So; das gibt es?« sagte der Bruder ungläubig. Diesmal schwieg Martha beinahe gekränkt. Sie litt es nicht, wenn man ohne Grund und Kenntnis jemandem Unrecht tat. Einmal war sie mit Wolfgang, der sie immer dienstfertig und bescheiden bei ihren Einkäufen begleitete, von einem Wolkenbruch überrascht worden und beide mußten beinahe eine Stunde lang in einem dunklen Hausflur stehen und warten. Auch damals war er zartfühlend, bescheiden, schüchtern und sanft geblieben. Nicht der leiseste Ton der Vertraulichkeit war in seine Stimme getreten. Das rechnete ihm Martha hoch an.
Dann aber kam es wieder einmal so, als sollte Christophs Mißtrauen recht behalten.
Grete Lobes hatte einen Ausflug zu dritt verabredet; sie beredete Martha dazu, aber so, als ob der Spaziergang nur für sie zweie gemeint wäre: »Unter uns Pfarrerstöchtern,« sagte sie. »Gehn wir heute einmal auf einen heurigen Wein?« Und als Martha, die wenig vom Hause fortkam, neugierig und frohgelaunt am Platz des Stelldicheins ankam, nahe von irgend einer kleinen Leutgebschaft, wo an alte Freunde insgeheim ein herrlicher Traiskirchner Muskatwein neben dem bodenständigen, schärferen und grünlichen Sieveringer abgegeben wurde, da war Bruder Wolfgang, ganz wie selbstverständlich, auch da. Er war aber bescheiden wie immer und ging mehr neben der Schwester.
»Ich gäbe, ich weiß nicht was,« sagte Grete, »wenn Sie meinen scheuen Bruder ein bißchen verrückt machen könnten. Oder, nein: Wissen Sie was! Entsetzen, erschrecken Sie ihn! Versuchen Sie einmal, im Weinschwips, so recht aus Ihrer Eingeschaltheit herauszugehen! Mir zuliebe seien Sie einmal fesch, recht fesch! Machen Sie ihm den Hof: ich sage Ihnen, wir werden uns an seiner namenlosen Betretenheit weiden! Wenn ihm nämlich eine Frau entgegenkommt, da ist er, in seiner Verlegenheit, schon zu drollig! Er kriecht dann förmlich in sich selber hinein! Bitte, bitte, tun Sie mir den Gefallen. Und sich selber auch; denn es wird ein bodenloser Jux daraus!«
Wirklich glaubte Martha der Kollegin alles aufs Wort. Sie fand solch einen verschüchterten Wolfgang in ihrer Seele ungemein sympathisch und bat ihm ins geheim alles ab. Voll guten Willens also, »lieb und nett« gegen Herrn Wolfgang zu sein, ging sie mit, ohne sich durch die unvorhergesehene Programmnummer, daß er ungebeten mitmachte, auch nur im kleinsten gestört zu fühlen.
Grete Lobes hatte aber, wenn sie in ihrer Impulsivität jemals berechnet hätte, etwas übersehen, was ihren lustigen Plan zerlaufen ließ. Das war nämlich, um es ganz gröblich zu sagen, die Geeichtheit der andern Rasse. Ein Plan war wirklich da: Sie wollte einmal das zusammengefaßte und verhohlene Mädel womöglich außer Rand und Band, wenigstens aber an einem Zipfel ihres Wesens gelüftet sehen. Sie hatte keinen schlimmen Plan, und an eine etwaige Kuppelei dachte sie höchstens mit dem leisen Vergnügen, welches alle Frauen an dergleichen Dingen finden. Sie war ein vorzeitig kluges, aber kein arglistiges Mädel. Gutmütig und leicht gerührt, hilfreich (namentlich, wenn es schnell dabei herging und keine weitschweifigen Folgerungen daraus entstanden) war sie immer gewesen! Ja, sie konnte, wenn ihr gerade die Stimmung kam, wirklich aufopfernd werden. Da sie diese ganze Landpartie nun nur aus ihrem wirklich gutmütigen, wenn auch leichtlebigen Blut veranstaltet hatte, das der verhaltenen Fremden und Exzellenztochter eine kleine Entgleisung gar wohl gönnte, so fühlte auch Martha heute nichts Arges. Sie, die sonst jenen wunderbaren Instinkt besaß, für dessen drollige Sicherheit man im Mittelalter das Wort »thumb« geprägt hatte; – eben jenes Wort, aus dem die Tagsichtigen von der Art Gretes später das Wort »dumm« machten.
Es wurde wirklich ein weinfroher Nachmittag. Die Lobes und ihr Bruder bekamen einen kleinen und nicht unschönen Wirbel, der sie zu stetem Lachen und Necken verleitete, während die Vorfahren der geruhigen Martha deren Kopf mit jedem Glase, das sie voreinstmals selber zuviel getrunken haben mochten, behüteten. Martha blieb also klar im Tun und Lassen und wurde nur immer verwunderter, als sie anhören mußte, wie man nun mit Wolfgang Brüderschaft machen sollte. Daß sie ja innerlich auch mit Grete längst per Du sei. Und daß sie ein aufreizendes, weil unergründliches Mädel wäre.
Martha lachte die Zumutung, mit Wolfgang das Du zu trinken, hinweg. Sie war es von je gewöhnt, bei jeder Gefahr, die ihre Mädchenhaftigkeit bedrohte, zu lachen. Es tat auch den beiden andern scheinbar nichts, daß die Exzellenztochter vorbeigehört hatte. Mit Grete Lobes trank sie ja herzhaft auf Du und Du, und auf alle Fragen, warum sie denn gar so verschwiegen und verhalten wäre und ob nicht dennoch Feuer unter dem vereisten Vulkan liege, lachte sie nur wieder. Es war nichts aus ihr herauszubringen.
Bloß, als Wolfgang in seiner Redelaune durch das viele Lachen des sonst ernsthaften Mädchens mutiger wurde und von Liebe (Mannesliebe und Frauenliebe nebeneinander betrachtet) sehr gescheit zu sprechen begann, da warf Martha einmal ein nachdenkliches Wort zwischen hinein.
Wolfgang sprach davon, daß Frauenärzte soviel Glück bei ihren Patientinnen hätten und führte diese Wahrnehmung darauf zurück, daß ein Weib, wenn sie sich einmal entschlossen hätte, sich einem Manne völlig darzustellen, eben mit dem Schamgefühl auch jede Hemmung abgestreift hätte, diesem einen gegenüber zurückhaltend zu sein.
Dem Mädchen war diese Wendung des Gespräches nicht angenehm, aber sie kämpfte ihr Unbehagen hinunter. Dann sagte sie:
»Sie schätzen die Frauen falsch ein oder Sie kennen nur phantasievolle und neugierige Frauen und unterscheiden nicht zwischen liebenden und verliebten. Solche sind immer zu haben; denn das Neue reizt sie vor allem. Aber es gibt Frauen, welche durch nichts zu überraschen sind und die so leben, als wären ihnen Welt und Leben von früher her längst bekannt und ziemlich abgetane Sachen. Das müssen nun eben keine Stockfische sein, weil Sie jetzt so überlegen schmunzeln. Aber es steht so: Der Mann, der heiße, meinethalben sonst der beste Mann, ist immer nur zu einem Drittel in wirklicher Liebe aufgelöst, aber zu zwei Dritteln ist er bloß verliebt. Die ganze Frau, auch wenn sie den begehrtesten Mann der Welt gewonnen hätte und ihn täglich zu verlieren fürchtet, liebt immer mindestens zu zwei Dritteln und ist nur mit einem Drittel, ihren Sinnen also, verliebt.«
»Wie genau Sie sich auskennen,«, sagte Wolfgang schmunzelnd, aber mit dem Unbehagen dessen, der fühlt, hier könne er nicht weiterkommen.
»Ermessen Sie daran,« sagte Martha in heiterer Höflichkeit, »wie sehr ich Sie als Freund empfinde, da ich solche Dinge mit Ihnen bespreche.«
»Könnten Sie mir diese hübsche Wendung nicht in der Diplomatensprache, also auf Französisch, wiederholen?« sagte Wolfgang.
Lachend übersetzte Martha ihren Satz und ließ dem viel sprachengewandteren Bruder der Lobes die Freude, sie in ein paar Feinheiten und Bosheiten zu verbessern.
»Hübsch, daß man auch da von Ihnen lernen kann,« sagte sie dankbar.
»Ich bin sonst eher zu bescheiden,« gestand Wolfgang. »Aber ob Sie nicht doch manches von mir lernen könnten, Fräulein Martha?«
»Wenn jeder lernen wollte, was Sie können, so gäbe es keine Köchin und keinen Schuster,« sagte sie. »Nun sehen Sie, es gibt aber glückliche Köchinnen und große und weise Schuster.«
»Hehe!«
»Na, – Hans Sachs, Jakob Böhme, –«
»Setzen Sie da keinen so zuversichtlichen Beistrich,« sagte Wolfgang. »Einen dritten Schuster finden Sie nicht.«
»Dann meinetwegen einen Zimmermannssohn oder einen Zeltweber,« sagte Martha lachend.
Es wurde eine Pause. Die beiden Geschwister in ihrem ewigen Mißtrauen überlegten, ob da etwa eine Spitze des ewigen Feindes, des Christen, gegen sie hervorgestreckt worden wäre.
Überdies grübelte Wolfgang auch noch über Marthas vorige Antwort weiter: »Der Mann ist zu zwei Dritteln verliebt; zu einem Drittel höchstens liebt er. Das rechte Weib aber ist nicht mit den Sinnen verliebt; es liebt.«
So entstand eine gewisse Zerstreutheit bei allen dreien. Martha überlegte, ob und wie sie beide Ausflugsgenossen verletzt hätte, ja, ob sie am Ende gar taktlos gewesen sein könnte. Wolfgang dachte nach, auf welch anderem Wege er diesem aufreizend schicken Mädchen nahekommen müßte, das sich doch für irgendwen putzte und also ihre Angriffsstelle haben mußte, und Grete überlegte, wie etwa erst Marthas Bruder hier geantwortet hätte. Denn sie argwöhnte, daß die Kollegin von ihm ihre Logik hatte, oder – –
»Sonst muß sie einen ganz interessanten Liebhaber eingefangen haben,« schloß sie bei sich selber. »Ja, das wäre das Lustigste: Zuzusehen, ob Wolfgang sie dem nicht noch einmal auszuspannen versteht … Denn alles geht.«
Übrigens kehrten bald alle drei wieder unbefangen und heiter geworden heim.
Von diesem Versuch Gretes nun, sie, mit vieler Geschicklichkeit, auf ihren Bruder anzuhetzen, erzählte Martha dem immer nachdenklicher werdenden Christoph nichts, trotzdem sie bloß ein dumpfes Gefühl davon abhielt; denn durchschaut hatte sie nichts.
Sie hatte bemerkt, daß die vereinsamte Phantasie ihres Bruders bei ihren Erzählungen leicht überzukochen begann. Alles beleidigte und reizte ihn, und der in jedem wirklichen Soldaten latente Judenhaß verleitete ihn zu einer Voreiligkeit und Ungerechtigkeit nach der andern.
Bald aber kam ein ganz schlichtes Ereignis dazwischen, um den »Rosche« zahm zu machen, und Christoph haßte nicht mehr.
An einem erstickend heißen Abend, da man auf dem breiweich gewordenen Asphaltpflaster Wiens wie auf einem sehr dicken Maffersdorfer Knüpfteppich ging, bemerkte er in einiger Entfernung seine Schwester, die er auch von hinten und in einem ihm neuen Sommerkleide an ihrer scheuen Art, die Füße zu setzen, erkannte. Er sah sie mit einer andern Dame aus einem Kaufhaus treten und ziemlich schnell die Straße hinuntergehen. Nun konnte er beide nicht einholen, ohne in würdelose Hast zu verfallen; zuerst fühlte er auch keine Veranlassung dazu. Die Bekannten seiner Schwester mied er; auch die aus den verschiedenen Garnisonen des Papas übernommenen Offizierstöchter.
Eine solche war, seinem Bedünken nach, die, mit welcher Martha heute Besorgungen machte. Aber diesmal war er rätselhaft benommen. Die Fremde, welche da links neben seiner Schwester hinschritt, hatte einen so graziösen Gang und so wundervolle Fesseln (wie er sich als Reiter auszudrücken gewöhnt war), daß seine Augen rund und groß wurden. Er fühlte sich geheim angerufen.
Die Fremde hatte eine eigene Art, die Fußspitzen sauber nach auswärts zu setzen. Daran erkannte er, daß sie unmöglich Grete Lobes sein könnte. »Die müßte doch wenigstens die Fußspitzen einwärts setzen! Nein, einen so disziplinierten Tritt der kleinen Füße hat nur eine hochgezüchtete Offizierstochter aus altem Blut.«
Und dann war noch eine Menge anderes zu bemerken. Jeder Schritt einer Frau verrät ja ihren Charakter und ihre Gaben. Die Schwester schritt immer scheu, vorsichtig, schmalwildartig. Die Neue dort setzte die kleinen Füße mit einer ungewöhnlich taktvollen Impulsivität voreinander, so daß man ihr ansah, wie sie vor lauter klug beherrschtem Temperament geradezu federte.
Dann war der Gang, man konnte kein anderes Wort dafür finden, blitzgescheit! Eine Intelligenz, eine gefährliche Intelligenz redete aus diesem beherrschten und aufreizend graziösen Spiele der Fesseln. Damals kamen langsam kurze Kleider auf, und die Neue hatte gleich letzte Mode genommen. Es war zufällig ein glückliches Jahr; man konnte die kleinen Spitzbübereien der Mode gern tragen. Und mit dem tiefen und liebevollem Ernste eines Gelehrten studierte Christoph den rassig schlanken und doch weiblichen Ansatz der Unterschenkel, als taxierte er arabisches Vollblut. – Selbstverständlich, als Reiter, bei den Beinen beginnend!
Alles benahm heute ihm den Atem. War es die Stickluft? Sein Herz bekam Zustände. Er wäre gern langsamer gegangen, aber die da vorn hatten es eilig, und er fühlte, daß er nicht mehr von jener dort loskonnte.
Ohne etwas anderes zu sehen, ohne zu wissen, daß Bekannte ihm, dem Verlorenen, staunend oder wissend nachsahen, schritt er seines selig-unseligen Weges weiter; nur seine ruhig gebliebenen Augen zeichneten und zifferten, jede Bewegung und jede Linie registrierend, an der ihn Aufwühlenden.
Ihm gefielen solch halbe Knabengestalten unter den Mädchen. Da waren schlanke Hüften und eher breite Schultern. »Mittelmeerrasse; vor allem keine vorderasiatische!« sagte er sich. »Erst in Indien beginnen wieder solche Glieder.«
Die Fremde hielt die Arme eng an den Körper geschlossen und beherrschte sie in einer Weise, daß sie niemals eine ausstrebende Geste machte. Das hatte er über alles gern. Dieses Ansichgehaltensein, dieses Insichgepreßtsein. Das war kein alltägliches Mädel. Ihr Schritt war zwar frei, frech aber nicht im kleinsten. Nur anregend.
Sonderbar, daß sie den Kopf etwas gesenkt trug. War es Demut, dann gefiel ihm das ohne Maßen. War es innerliche Belastung, dann wiegelte es sein Mitgefühl auf. Ihr Schritt war so, daß man ein kecklich hocherhobenes Haupt erwarten hätte müssen. Aber sie trug den Kopf etwas träge. Vielleicht auch sommermüde.
Jedenfalls trat dadurch die Nackenlinie nur um so reizvoller vor seine Blicke. Einer in germanischem Sinne Freien schrieb er dieses dienende, oder, wie er sich jetzt ausdrückte, magdhaft Geneigtsein nicht zu. Aber vielleicht der Königin aller Königinnen; der Madonna.
Noch einmal: War sie demütig aus freiem Willen oder nur müde? Die rasche Beherrschtheit aller übrigen, feingehaltenen Bewegungen widerriet. Nur in dieser Kopfhaltung lag Sommermüdigkeit oder Lässigkeit, aber vielleicht auch Nachgeben gegen die eigene Disziplin. Bei diesem Gedanken sott ihm das augustschwüle Blut. Er senkte den Kopf und grübelte: »Was ist das jetzt mit mir! Was hat mich so benommen?«
Als er sich dann abermals beide Augen voll von der Unbekannten nehmen wollte, da waren Schwesterlein und neues Erlebnis von der Straße weggetilgt.
Dem Offizier trat ein Schreck ins Geblüt, als hätte er jetzt seines Lebens Bedeutung irgendwie verloren; – er war zuerst fassungslos. Dann studierte er sorgfältig alle Kaufläden ab und war entschlossen, sich den Damen anzuschließen. Er habe die Schwester erkannt und hätte ihr dringend zwei Worte zu sagen: Wollte die Fremde etwa taktvoll fort, so konnte er mit einem lieben und ritterlichen Worte um ihr Bleiben bitten, und das stellte er sich köstlich vor.
Aber für diesen Tag fand er nicht mehr, was er suchte.
Er blieb dann abends bis elf Uhr, ohne eines seiner kriegsgeschichtlichen Werke lesen zu können, wach und unrastvoll, aber heute kam die Schwester nicht. Es langte bei ihm noch zu einem letzten Trotze, und er vermochte es über sich, nicht zu Mama hinzugehen. Aber dafür schlief er die ganze Nacht auch nicht eine Stunde wirklichen Schlafes. Immer war halbwache Revolution der Sinne bei ihm, und was er bei ganzer Besinnung nicht duldete, das träumte er sogleich, sich wälzend, und erschreckt über sich selber wieder auffahrend.
Gott sei Dank, daß seine Schwester ihm das Ende der Leine in die Hände geben konnte, die sonst ins Unbekannte geführt hätte! In ein Niemehrwieder, das ihn elend gemacht hätte!
Am andern Tage, der ebenso heiß und entnervend war, wie der vorhergegangene und ihm zur Entschuldigung für seine erstaunliche Willensschwäche dienen mußte, war er recht kleinlaut. Denn immer dachte er an die Begleiterin linker Hand der Schwester. Nur wenige Augenblicke lang kam es, daß er den Humor fand, sich selber ein Stück Hohn anzutun und sich vorzustellen: »Du kennst sie nur von hinten. Wie nun, wenn eine schicke Großmama sich umdreht? Oder wenn dir ein rassevolles Geiergesicht entgegenschaut, mit Rasiermesseraugen!? Denn gescheit ist sie, und gescheit sind beinahe immer die Häßlichen. Die haben Zeit und Anlaß, aus sich was zu machen!«
Am Abend, als die Schwester abermals nicht kam, ging er entschlossen zu Mama. Er wurde, weil er lange Zeit nicht dagewesen war, nur eben empfangen wie ein erwarteter Büßer, so daß ihm wenigstens der Antritt erleichtert war. »Na also, endlich,« sagte Mama in ihrer schnellen, kurzen Art.
»Wo ist denn Martha?«
»Brauchst du sie? Sie wird gleich kommen.«
»Nein, ich brauche sie nicht.«
»Hast du was Neues?«
»Arbeit; immer Arbeit.«
»Immer noch die Feldzüge Friedrichs des Zweiten?« (Als unversöhnliche Habsburgerin sagte Mama niemals: »des Großen«.)
»Nein, Napoleons.«
»Daran erkenne ich, wie lange du weggeblieben bist.«
Mama, die sonst stets bereit war, alles, aber auch alles für andere zu opfern, nur nicht ein liebes und weiches Wort, brachte ihrem Sohne, was ihre spartanische Speisekammer nur hergeben wollte. Sie bediente ihn rasch und unmerklich, so daß der verträumte Offizier erst nach einer ganzen Weile dahinterkam, daß Mutter sich für ihn in Eifer lief. Nun hielt er sie an der Hand fest, zwang sie auf ihren Sitz und aß, immer ernsthaft eine Hand auf den Arm der Mutter gelegt. Gesprochen wurde von beiden nichts.
Endlich kam Martha herein, und Christoph forschte während des unbefangenen und lässigen Grußes, den er ihr bot, unauffällig in ihrem Gesicht, ob sie etwas gemerkt oder ob etwas Besonderes sich in ihr ereignet haben könnte? Nein; Martha sah drein wie alltäglich.
Daß das Mädel aber dennoch sogleich fühlte, wie der Bruder sie abforschte, kam ihm nicht in den Sinn. Wie abgewichst und ausgemustert müßte ein Mann auch sein, der eine kluge Frau ausforschen wollte, ohne daß sie es merkte.
Martha spannte sich also in ihrem Innern. Sie fürchtete, daß es sie selber angehen könnte. Und ihr Geheimstes, das gab sie auch dem Bruder nicht her. Den ganzen Abend gingen unbefangene Fragen hin und wieder, und diese Fragen und Antworten federten, wie zähe Kugelfänge aus jenen alten Tagen, da man Mauern und Glockentürme einer belagerten Stadt gegen die unvollkommenen Stückkugeln noch mit abdämpfenden Matten behängen konnte.
Diese unerklärliche Zähigkeit machte Christoph noch fassungsloser, und er sah, daß er jeglichen Umweg aufgeben müßte. Als er Mama um eine angebliche Lieblingsspeise hinausgeschickt hatte, brach er unvermittelt heraus:
»Wer war das, mit dem du gestern gegangen bist?«
Marthas Gesicht blieb unverändert, aber sie fühlte, daß sie sich auf einen Angriff gefaßt zu machen hatte.
»Wer? Ich habe völlig vergessen, mit wem ich gestern zusammen war.«
»Nachmittags, die in sandfarbenem Kleid, mit ebensolchem, blaßlila geputztem Hut.«
Martha verbiß ihre Erleichterung. »Na, doch die Lobes,« sagte sie.
Jetzt war es an Christoph geraten. Er wurde, vollkommen ersichtlich, blaß.
»Ist es dir denn so ein Greuel, daß ich mit ihr verkehre?« fragte Martha, die zwar bemerkte, daß sich ihr Bruder verfärbt hatte, die es aber seinem Fanatismus auslegte.
»Das, das war unmöglich die Lobes!«
»Wenn du aber sagst, sandfarbige – – und es war nach sechs Uhr abends?«
»Ja, ja,« sagte Christoph, sich zusammenfassend.
»Wir sind über die Kärntnerstraße gegen die Rotenturmstraße hinuntergegangen, haben bei –«
Mama kam herein, und Christoph war so fassungslos, daß er die Hand gegen die Schwester vorwarf, sie möchte schweigen.
Da es nicht ihre eigene Sache betraf, merkte die Schwester diesmal nicht, wie ihr Bruder betroffen war, und dachte nur, Mama solle nichts Kritisches über den glühenden Widerwillen des Bruders gegen das intelligente und ihr interessante Streuvolk erwidern. Von da ab saßen die beiden heute nur mehr unter der Führung Mamas, in der jegliche Frage unpersönlich und sachlich erörtert wurde. Christoph mußte sich, wenn er sich der Schwester gegenüber nicht verraten wollte, entfernen, ohne sich noch einmal über die Lobes sattfragen zu können.
Die Schwester war es, die ihm auf der Treppe noch zu einem Almosen verhalf.
»Du bist unangenehm berührt, daß ich mich mit einer Jüdin so gut verstehe.«
»Eigentlich ja. Aber, obwohl ich mich niemals in deine Angelegenheiten einmischen würde: Wenn es dir gefiele, – ich möchte sie doch einmal aus der Nähe beobachten und dir dann erst sagen, was ich über sie denke. Sei überzeugt,« schloß er hastig, »daß ich ohne Voreingenommenheit über sie urteile, und vor allem, daß ich deinen Verkehr niemals irgendwie störend beeinflussen werde.«
Martha sah ihn an; sie ahnte irgend etwas, aber sie fragte noch:
»Wie gefällt sie dir denn?«
»Ich habe sie von vorn nicht gesehen! Auch dich habe ich nur von hinten erkannt!«
Martha war nicht imstande, das schwesterliche Wort herauszubringen: »Möchtest sie nun auch gern von vorn sehen, nicht wahr?« Darum antwortete sie: »Ich weiß bestimmt, daß du von ihr nur angenehm enttäuscht sein wirst. Sie ist keine Jüdin mehr. Sie ist aufgesogen; ist verarisiert, wie ihr Vater zu sagen pflegt.«
»Gäbe es das?« fragte der Bruder, betroffen und hoffend zugleich.
Martha mißverstand und erwiderte: »Dich macht dein Rassedünkel und dein frühgotischer Haß ungerecht und spöttisch. Sieh sie dir nur erst einmal an.«
»Es ist gut. Ja,« sagte der Bruder, der sich den Anschein verbissener Entschlossenheit zu geben versuchte, um nicht loszujubeln.
»Wenn sie wirklich so blaue, aufgescheuchte, geradeaus sehende Augen hat, wie Martha sagt, dann muß ja alles recht sein! Dann ist sie kein Kind aus historischer Gewordenheit! Dann kommt sie direkt aus der Hand Gottes!
Das gibt es ja; das gibt es wirklich, immer wieder, zum Erstaunen immer wieder,« schloß der ehrliche Offizier, der in seinem Zimmer ein lautes Selbstgespräch führte.
Er hatte zu tun, daß er seine Ungeduld versteckte. Wann beliebte es nun seiner Schwester, sie ihm zuzuführen, ehe er darum bat!
Bitten? Da wollte er eher leiden, vergiftet im schmerzenden Genusse dieser unruhigen Neugierde.
Bis es dann soweit kam, und das dauerte bei Marthas Unbeteiligtheit lange, hatte Christophs sommerheiße und vereinsamte Phantasie schon ein recht heilloses Stück Arbeit getan.
Endlich entschloß er sich, seiner Schwester, von der er Grund hatte, anzunehmen, daß sie heute mit Grete zusammenträfe, nachzugehen. Aber Martha kam mit einem ihm fremden Herrn zusammen, der sie vertraulich, aber ehrfurchtsvoll begleitete, so daß Christoph, dem der Kopf vor anderer Ungeduld wirbelte, nicht daran ging, an dem neuen Erlebnis zu deuteln. Er schüttelte seine Gedanken ab: »Martha ist so gescheit, als wäre sie großjährig. Ich würde eine lächerliche Rolle antreten, wenn ich sie ausfragte. Sie hat das Recht, mich, der sie weder ernährt, noch ihr sonst hilft, abzuschnabeln, wenn ich mich einmischen wollte. Überdies weiß sie von je, was sie will.«
An diesem Abend entschwand ihm die Schwester abermals im Straßengewimmel, und Christoph mußte ihr noch zweimal ergebnislos nachgehen, bis sie ihm endlich wieder, mit der Jüdin diesmal, erreichbar wurde.
Er paßte heute genau auf, was die Mädchen begannen und war glücklich, zu vermerken, daß das Fenster eines Kaufhauses sie auf einige Zeit zu fesseln schien.
Wenn das nur eine Minute dauerte, so konnte er auf der andern Straßenseite nach vorn eilen, ihren Weg überqueren und ihnen dann, zufällig und harmlos, entgegenkommen.
So ging es auch, so wurde es.
Gott sei Dank, er hatte zwar nicht seine bestgeschnittene, aber dennoch eine gute Garnitur Uniform an! Das sagte sich der sonst vom Markttag losgelöst lebende Mensch wirklich ernsthaft vor.
Dann hatte er nichts mehr zu tun, als sich gut, unauffällig und wie ein Mann zu halten, dem ein angenehmer Zeitverlust entsteht.
Er wollte, nach vertraulichem Brudergruße, scheinbar vorüber. Martha war es, die ihn lachend anrufen und aufhalten mußte: »Aber! Ich gehe doch mit Grete Lobes.«
Da durfte er erfreut stehenbleiben.
»So? Ach so? Ja, das ist einmal ein Ereignis!«
Nicht anders, als weltmännisch liebenswürdig war ihm das gelungen, und diesmal glaubten auch die beiden klugen Mädchen bloß an einen Zufall.
Es war hingegen für Martha Anlaß da, genau zu beobachten, wie diese beiden so verschiedenen Menschenkinder sich ansahen, die sich vom Hörensagen längst kannten, die sich jeder über des andern Wesen ein wenig erbittert und doch von ihm magisch angezogen fühlten. Grete von dem abweisenden Rassedünkel des reingezüchteten Lehensmannes und Offiziers, dieser hinwider von der Unruhe und Eindringelei des neugierigen und gescheiten fremden Mädchens.
Wenn zwei Menschen frei und vielleicht eben gelangweilt oder gar sehnsüchtig sind, und jedes weiß vom andern alle Geschichten, daran sich Phantasie und Widerspruch entzünden, längst, ehe die zwei sich Aug' in Auge kennenlernen dürfen, dann gibt es, wenn beide schöne und sich sinnlich ergänzende Menschenkinder sind, einen rettungslosen Kurzschluß.
Keines wich dem Blicke des andern aus. Unverwandt sahen sie sich an, und noch ehe sie wußten, daß sie damit nicht prüften, sondern genossen, begannen ihre Augen zu leuchten. Es war geschehen.
Diesen fragenden, klaren, strahlend blauen Augen verzieh und gestattete Christoph alles, was ihn bisher an der Unbekannten geärgert hatte.
Diesem ungewollt vornehmen Manne, der in seiner seelischen Schlichtheit wie aus Bronze gegossen vor ihr stand, war Grete Lobes verfallen, wie ein dummes, junges Ding.
Christoph besaß noch die Scheu, sich verabschieden zu wollen, aber das Mädchen sah ihn, bei den ersten Worten dazu, mit einer kaum merkbaren Betroffenheit an. Sogleich fügte er sich dem Blick ihrer Augen und begleitete die beiden Frauen auf dem weiteren Geschäftsgange. Er half ihnen, etwas verlegen und zurückhaltend, wählen, wenn sie ihn um Rat fragten, und freute sich, wenn Grete sagte: »Da sieht man alte Kultur,« und seinem Rate folgte und kaufte, was ihm gefiel.
Seine verlegene Jungenscheu, die Grete an einem großen Menschen so noch nie gefühlt hatte, erregte das Blut der Mitgefangenen. Sie ahnte die edle Betretenheit eines Landjunkers etwa, der keine Seereisen gemacht und zum Weltmann zwar geboren, aber noch zu schüchtern war. Hier, in diese gute, treue Gothenseele zündend und erobernd einfallen dürfen, dünkte ihr ein erregendes Glück. Und es war wirklich so, daß beiden die Pulse flogen und die Hände bebten, als sie nebeneinander standen und ein Band hielten. Sie waren so benommen, daß sie nicht daran dachten, ihre Ergriffenheit und ihre süße Seelenangst zu verstecken. Martha sah und durchschaute vieles, zu dem sie, insgeheim staunend und bedenklich geworden, den Kopf schüttelte. Das da begriff sie nicht. Freund konnte sie einem Andersrassigen sein; Lieben und aufgehen in ihm bis zur Vermengung, das konnte sie nicht. Und seht nun die Zielbewußten, wie die Männer sich dann nennen, wenn sie am dümmsten sind! Wieviel vorlauter war der Bruder in seinen Theorien gewesen, als sie in ihrem Instinkt! Er hatte mit Schmähungen dort verurteilt, wo sie, kaum sachte unbehaglich, sogleich wieder frei wurde. Jetzt sah sie ihn mit einer Mischung von geängstigten Gefühlen an.
Freilich bemerkte sie auch mit dem Triumphe des Weibes seine rührend eingestandene Niederlage, das die Gewalt seines Geschlechtes gern zur Kenntnis nimmt und sie erfreulich findet. Aber sie hatte doch das Gefühl der Scham, daß es bei ihrem stolzen Bruder mit dessen spartanischen Theorien und »indogermanischer« Sicherheit nicht weit her sein könnte.
Den beiden andern fiel es gar nicht auf, daß Martha immer einsilbiger und nachdenklicher wurde. Sie sprachen zwar wenig miteinander, aber jedes ihrer Worte bebte.
Endlich mußten sie sich trennen, weil Martha nach Hause verlangte und der Bruder doch nicht sogleich, der Fremden zuliebe, die Schwester allein gehen lassen konnte.
Als sie sich die Hände gaben, merkten beide, daß es völlig andere Hände geworden waren. Früher sommerheiß. Jetzt eiskalt. So sehr war beiden alles Blut ins Herz getreten.
Die Lippen der Fremden zitterten, als sie sagte: »Auf Wiedersehen?«
Und Christoph brachte, trotz dieser verheißenden Frage, die ihm beinahe unglaubhaft erschien, kein lautes Wort hervor; so sehr würgte ihm Erregung die Kehle. Er nickte bloß, sah Grete an, als wollte er sich einen ganzen See voll blauer Augen ausschöpfen, – und empfahl sich dann: Ritterlich und in zusammengenommener Höflichkeit. Denn jetzt erkannte er zu spät, daß er all seine Karten auf den Tisch geworfen hatte.
Diese, durch den Zufall wohl vorbereitete Leidenschaft war emporgeflogen, wie entzündetes Pulver.
Es konnte fortab für beide vielleicht noch einsame Tage geben, aber es war sicher, daß beide zueinander arbeiteten, wie Bergleute, welche sich von beiden Seiten eines Felsengebirges her einen Tunnel bohren. Ja durch Wände von Stahl wären sie zueinander gelangt, – früher oder später!
An diesem Abende wich Christoph dem Besuche der Schwester aus. Er suchte Schutz vor ihren besorgten Augen im Stehparterre der Hofoper. Aber dort wurde Tristan gegeben. »O weh,« sagte er, als er drinnen stand: »Davon hab' ich ohnehin alles in mir selber.« Entzündeter, als er gekommen war, rannte er nach dem Ende wieder hinaus; er suchte Nachtkühle und fand sie nicht. Dann umkreiste er seine eigene Wohnung und gab acht, ob nicht Licht oder ein Schatten die Schwester verriete, die vielleicht oben noch auf ihn wartete. Endlich klingelte er und fragte die Hausbesorgerin, ob Martha dagewesen wäre. Ja; aber sie war schon fortgegangen.
Da sog er den ersten, frischen Luftstrom dieses Abends ein. Allein wollte er sein. Allein wie einer, der ein Verbrechen ausdenkt.
In seinem Zimmer ging er mit leidenschaftlichen Schritten auf und nieder. Der arme Kerl hielt sich das Haupt, als müßte er es vor dem Bersten behüten. Die Pulse handwerkten von beiden Seiten, rüde wie fremde Maurer, die einen Verputz abklopfen, an seinen Schläfen, und er selber rang wie ein Mensch, welcher Herzzustände hat, um Atem.
»Herrgott, Herrgott!«
Und dann wieder: »Grete, Grete!«
Was war das nur mit ihm? Was war gegen ihn geschehen!
Im Mittelalter hätte dieser selbe Mensch an Hexenwerk geglaubt und gegen die Entnervung sich entsetzt gewehrt, als einem Spuk der seltsamen Jüdin.
Jetzt hielt er sein bilderreich gewordenes, anbetendes Haupt mit einer Inbrunst und Dankbarkeit in Händen, als hielte er das Sakrament des Altars darin über sich empor. Er betete an. Er verehrte dieses eigene, völlig verlorene und hingegebene Gehirn, wo nur ein Unisono brauste: »Grete, Grete!«
Daß die ersehnte Hexe Jüdin war, erhöhte die Leidenschaft des ewigen Frondeurs, der Christoph immer, wiewohl bisher nur im Dienste und gegen Vorgesetzte, gewesen war.
Er sagte sich, daß er ein Beispiel geben müsse. Sich und der ganzen Rasse, die er naiv die germanische nannte, der er sich bisher unbedingt angehörig fühlte. Leuchtete dieses Beispiel, so erlöste es. Verbrannte es ihn, so war es des Versuches wert gewesen.
Beseligend wert, wie die vergebliche Entdeckung und Eroberung des neuen Weltteiles Winland, in dem der Nordgermane nichts hinterließ, als seine bleichenden Knochen und die dunkle Sage von einer ungeheuerlichen Tollheit! Beide Rassen werden später einmal ja doch verschmolzen, und ist denn Björn Herjulfson, bloß weil er keinen Erfolg hatte, in seiner Kühnheit weniger wert, als sein kluger Nachschleicher Colombo?! Muß man denn immer ein halbes Jahrtausend nach dem Allerersten geboren sein?
Er glaubte in seiner Verrücktheit beinahe, daß er der erste Arier wäre, der bewußt eine Jüdin ehelichte.
»Ah! Daß es so etwas gibt! Daß so etwas in den Inhalt dieses Lebens überhaupt hineingeht? Zwei, für unvereinbar gehaltene Rassen!«
So trieb er es die ganze Nacht, beinahe ohne Variante. Ihm aber war es viel zu kurz und zu wenig, was er da in sechs Stunden seufzte, bis der Morgen ihn mahnte, Haltung anzunehmen.
Freilich: sogar das kluge Mädel hatte sich in ähnlicher Fassungslosigkeit herumgeworfen. Nur, daß sie über sich selber nur halb selig, und für die andere Hälfte nur halb verzweifelt war. Christoph wollte fassungslos sein; sie wollte klug bleiben, aber beiden half gar nichts. Sie waren beide gleich verloren.
Der nächsten Tage einer kam Grete zur Freundin und war in wirklicher Verlegenheit; denn sie hatte nicht einmal an eine gescheite Ausrede gedacht dafür, daß sie kam. Sie sagte, wie irgend ein anderes, armes und hilfloses Menschenkind, gar nichts, ging zerstreut umher, nahm verschiedene Gegenstände in die Hand und stellte sie wieder hin. Endlich fragte sie, wirklich schüchtern:
»Bin ich dir sehr unsympathisch?«
»Nein,« sagte Martha; freundlich, aber auch nicht herzlich. Diesmal, wo es sie selber nicht anging, hatte sie Sorge ob einem kühl angezettelten Plan und war unnötig scharf auf der Hut.
Aber die Lobes sah übernächtig und angegriffen aus und hatte einen ängstlich flehenden Blick. Ihre Augen waren leuchtend, wie immer; nur hatten sie nicht mehr das, was Martha an ihnen bisher besonders hübsch gefunden. Die Lobes hatte sonst niemals etwas Ausweichendes gehabt, sondern eher etwas Mutiges, anschauend Aufrechtes. Das war heute fort. Ihre Augen wanderten.
Martha war bald eher von Mitleid ergriffen, als von Mißtrauen. »Was haben Sie? Sie sind krank.« »Ja, ein bißchen,« gestand Grete und lächelte. Halb schmerzlich wegen Marthas »Sie«, halb glücklich wegen Christoph.
»Und dennoch haben Sie etwas vor!« sagte Martha gerade heraus.
»Ja. Ich möchte von dir wissen, ob die Sache, von der wir schon öfter und nie in recht erfreulicher Weise redeten, ob das mit dem feindseligen Rasseinstinkt eures Blutes etwas Eingebornes oder Anerzogenes ist. Außer dir antwortet mir kein Mensch aufrichtig. Mein Bruder behauptet, er fände diesen ›Instinkt‹ nur bei den Frauen der herrschenden und gebildeten, vielleicht also auch verbildeten Stände. Die Mädchen des Volkes entbrennen, wie er sagt, leicht und schnell für Männer von seiner Artung; – – von seiner Rasse, meinetwegen.«
Martha dachte nach, aber Grete fiel schnell in die Pause:
»Vielleicht gibt es wirklich, wie in Frankreich, ehe der dortige Adel ausgerottet worden ist, eine gewisse Oberschicht unseres Volkes, voll von den Idealen der Templeisen Wolframs von Eschenbach? Eine germanische Oberschicht, die wenigstens zu einer solchen Romantik hinneigt? Die breite Masse ist dann meinetwegen illyroslavisch oder weiß Gott was. Sie vermischt sich ebenso, wie etwa der Ungar mit – – mit – –«
»Mit dem Zigeuner?« frug Martha arglos.
»Mit uns,« sagte die Lobes ruhig.
»Nein; das Wort uns paßt nicht auf Sie. Sie sind ein Ausnahmskind; eben darum rede ich ja viele Dinge zu Ihnen heraus, was ich sonst … Es wäre schlimm für uns beide, wenn ich Ihnen gegenüber davon schweigen müßte.«
»Und mein Bruder? Was fühlst du für ihn?«
Martha wurde verlegen, weil sie so oft das »Sie« gebraucht hatte.
»Deinen Bruder habe ich daraufhin noch gar nicht geprüft und betrachtet,« erwiderte das Mädchen etwas geärgert.
»Wir beide, Wolfgang und ich, sind also verschiedene Menschen?«
»Wie Geschwister immer sind.«
»O, bei euch beiden fühlt man eine kaum zu glaubende Einhelligkeit!«
»Das macht vielleicht nur, weil wir alle Abende zusammen sind und miteinander alles ausreden.«
»Du, Martha? Und alles ausreden,« rief die Lobes lachend.
»Nun,« sagte Martha: »Irgend etwas wie Worte kommen unter uns doch immer vor. Wenn auch Christoph, in seiner leidenschaftlichen Art, immer mehr zu sagen hat als ich.«
»Hat er auch gegen deine Freundschaft mit mir etwas zu sagen gehabt?«
»O ja,« erwiderte Martha unbefangen. »Aber er hat immer Interesse für dich gezeigt.«
»Ja? Danke,« sagte Grete zerstreut.
»Wofür,« fragte Martha.
»Für euer ethnologisches Interesse.«
»Nein, nein; unser Interesse ist immer leidenschaftlich und persönlich gewesen.«
Als darauf die Freundin recht gedrückt und unglücklich aussehend fortging, fiel es Martha ein, daß ja die Fremdgeborene und von ihr Fremdgehaltene an sich selber und an ihrer eigenen Seele leiden könnte, und gern wäre sie ihr mit einem guten Worte nachgegangen. Es fiel ihr aber von neuem ein, Grete könnte auf den von ihr benommenen Bruder einen Plan gerichtet haben. Und das kam ihr wie ein großes Unglück Christophs vor.
»Menschen,« hatte Christoph manchmal gesagt, »sind wie Sterne und sollen nur innerhalb ihres mathematisch zugewiesenen Systems kreisen. Stürzt auch nur das kleinste Gestirn in ein anderes hinein, so gibt das einen Weltenbrand.«
Ein andermal wieder hatte er gesagt: »Du! Wollen die Juden in uns hinein oder wir in sie?«
Martha hatte geantwortet: »Sie wollen zu uns.«
»Aus rührenden, aus heimatbedürftigen Dingen der Seele?«
»Es scheint manchmal so; aber selten.«
»Und was erreichen sie bei uns?«
»Zumeist äußern Reichtum,« sagte Martha lachend. Er aber fragte ernst weiter:
»Aus unserer Schuld? Aus ihrer Schuld? Oder gar aus ihrem Wollen?«
»Vielleicht sind wir zum Teil schuld, weil wir sie zwingen, zu bleiben, was sie waren; denn wir verachten sie. Das mag ihnen eingeben, jenes Geld zu erstreben, das sogar unsere Besten verderben kann,« sagte Martha. »So haben wir an ihnen eine Warnung, wie man ein Volk nicht behandeln und erziehen soll. Jeder Druck findet seinen Gegendruck. Die Juden sind unsere Mahnung.«
»Und unsere Strafe,« sagte Christoph nachdenklich. »Ich, und, wie ich weiß, auch du, wir gönnen ihnen alles Gold der Erde und allen Schein, den der Erfolg dieser Erdrinde geben kann, gern! Das alles soll ihrer sein; – wie geschrieben steht bei Luther: Kennst du das alte Lied der Evangelischen?
›Laß fahren dahin,
Sie haben's kein Gewinn.
Das
Reich muß uns doch bleiben!‹
Das Reich der Seele, die sich selbst ihr einziger Gewinn ist.«
»Nun, so bleib' halt, was du sein willst; arm, – und deutsch,« hatte Martha damals gesagt. Christoph aber war aufgefahren:
»Siehst du. Das ist es eben: Sie dringen auch in unsere arische Seele ein und durchwühlen sie, wie etwa Schlupfwespen einen armen Wurm; schmerzhaft, langsam und tödlich! Sie haben ihre Zeitungen, sie haben ihre Komödianten, Professoren, Theaterschreiber und Kritiker, und die kommen alle, aus hundert Richtungen, auf unser armes, noch dumpfes junges Hirn los! Eben dies, unser Reich lassen sie nicht, sich langsam ausbildend, gedeihen! Sie fressen es aus, sie fressen es leer, ehe es in seiner langsamen, blauen Blüte aufstand! Nur das ist es, warum ich ihnen entgegen bin! Das Reich wollen sie uns nehmen, ehe es gedieh! Und da beginnt auch bei mir der Kampf auf Tod und Leben.«
»Laß uns erst wieder verarmen; da gehen sie schon wieder fort von uns,« hatte Martha damals in heiterer Frauenhaftigkeit erwidert. Er hatte sie erstaunt angesehen.
»Du magst recht haben; vielleicht brauchen wir die Armut. – Heute sind wir ja alles eher als demütig, alles eher als gesammelt, ja selbst nur ritterlich!«
Dieses Gespräches entsann sich Martha jetzt. Und eben jetzt wollte er, der damals bereit gewesen war, auf Leben und Tod für das zu stehen, was er »das Reich« nannte, eine Vermischung beider Seelenarten eingehen.
Dazu schien ihr nun ihr Bruder zu gut.
Früher war er eifersüchtig gewesen, daß seine Schwester in jene Hände fallen könnte, welche nach seinen Worten mehr als das halbe Diesseits, und nicht das mindeste von der unbekannten Welt zu erraffen vermocht hatten, aus der wir kommen, der wir angehören, die wir auch hier leben, in die wir gehen und in der jeder Bauer sich, wie von ewig her, daheimfühlt!
Jetzt war sie es, die um den Bruder besorgt wurde.
Aber jene Gehemmtheit im Sprechen, von welcher die Schwester besonders in ihren eigensten und eigentümlichsten Empfindungen zu beinahe völliger Unfähigkeit sich auszudrücken, geführt wurde, sie trat auch jetzt, wo sie um das brüderliche Blut in Sorge war, wie ein Zwang hervor. Zwei- oder dreimal war sie abends bei ihm; aber nie kam mehr ein Wort zwischen ihnen auf, das über die Lobes ging. Er litt darunter, aber weil er merkte, daß die Schwester es vermied, selbst von ihr zu beginnen, fragte er mit keiner Silbe.
Sie erkannte eben daraus, wie ernst es um ihn stehen müßte.
Nur einmal, in der Sommerhitze, lehnte sie neben dem Bruder im offenen Fenster. Beide sahen wortlos auf die Straße hinaus. Da begann Martha, die sich nicht zu reden getraute, wie ein neugieriger Backfisch auf dem weißgestrichenen Fensterrahmen ein G und ein L zu zeichnen. Sie hatte im Sinne gehabt, ein Herz umherzulegen und dann ein Fragezeichen dazuzutun. Der Bruder merkte es heute nicht; er starrte geistesabwesend vor sich hinunter und registrierte scheinbar jedes Gehaben dort mehr als das ihre. Im selben Augenblick aber bedachte Martha, daß Christoph sie vielleicht ernsthaft und zornig, wegen eines schlechten Spaßes, zur Rede stellen könnte, und sie wischte die angefangenen Buchstaben wieder aus.
»Was kritzelst du denn?« fragte der Bruder sommerverschlafen und gelähmt.
»Nichts!«
»Einen dir teuren Namen?«
»Den würde ich doch dir nicht herschreiben.«
»Du; hast du einen solchen?« Und der Bruder richtete sich auf.
Jetzt war es einen Augenblick, daß der Teufel Martha ins Genick fuhr. Und sie fragte: »Was würdest du, zum Exempel, sagen, wenn es Wolfgang Lobes wäre?«
Seine Augen wurden vor Entsetzen weiß und weit.
Martha sah ihn jetzt mit viel größerer Festigkeit an und fragte weiter. »Das könnte doch ebensogut mir widerfahren, wie es dir widerfahren könnte, daß du dich in die Grete verliebtest!?«
Er kämpfte erkennbar um Fassung.
Martha schwieg und sah in ihrer eigenen Angst, nun dennoch das Gefürchtete losgelöst zu haben, vor sich nieder. Und lange Zeit schwieg auch er. Endlich holte er nach: »Das kann unmöglich dein Ernst sein.«
»Ernst bei dir, oder bei mir?«
»Bei dir!«
»Warum nur bei mir?«
»Weil, – ja so: Weil ein Mann immer nur eine Geliebte sucht. Außer er braucht, als Bauer, eine Art von Haushälterin, Köchin und Mutter und so weiter. Und, – weil eine Frau beinahe nie den Geliebten, sondern immer den Gatten und Vater sucht. Selbst, wenn es bei uns beiden so käme, dem Manne sind seine Kinder viel gleichgültiger. – – Dir aber –«
»Um mich brauchst du keine Sorge zu haben,« sagte Martha. »Mir wäre der Beste gerade gut genug.«
»Hast du einen solchen?«
»Ich habe jetzt nur Sorge um dich,« sagte Martha trocken. Er ahnte nicht, daß in ihrer Stimme ein Nebenton, wie von Angst, lag.
»Wolfgang Lobes wird dir nicht gefährlich!?«
»Nein; bei meiner und deiner Ruhe, nein,« lachte Martha.
Und dennoch sah der Bruder die Schwester eine ganze Weile an. Er mißtraute sich selber, also auch ihr.
Martha legte ihm ihre ruhige Hand in die Rechte.
»Also Ehrenwort?« fragte er.
Sie wandte sich ab, wie vor etwas Unnötigem.
»Kein kleines serbisches, kein mittelgroßes rumänisches Ehrenwort?« fragte er, schon halb lachend, weil er die Schwester beleidigt sah.
»Nein,« rief sie ihn ebenso an: »Großes goldenes!«
An ihrem Ärger erkannte er, daß sie es mit ihm ernst und ehrlich meinte. So streckte er denn die Hände vor sich hin und gestand: »Verschaff' mir die Lobes.«
»Wozu?« staunte sie.
»Wozu du willst. Zur Geliebten, zur Frau; – ich selber kann nicht mehr weiterdenken. In mir ist alles Skandal.«
»Armer,« sagte Martha. »Und mir hast du dasselbe zugetraut!«
»Ich wäre, hernach möglicherweise, fast erleichtert gewesen, wenn dir das widerfahren wäre.«
»Du, das ist arg.«
»Ja, arg,« sagte er müde.
»Wenn ich nun,« begann sie, schwieg aber sogleich stille und war entsetzt, daß sie irgend etwas, was in ihr arbeitete, überhaupt hätte aussprechen können. Sie sah den Bruder von der Seite an. Der hatte gar nicht gehört. Er ließ den Kopf hängen wie ein Verwundeter, der viel Blut verloren hat.
Das Mädel biß über sich selber die Zähne zusammen und ärgerte sich, daß sie die wehe und wunde Schwäche des Bruders hatte ausnützen wollen, um ihn etwa gefügig zu stimmen für eine große Leidenschaft, die er sich selber sehr wohl gestattete, die er aber bei der Schwester niemals geduldet hätte. Auch Mama hatte niemals im Leben geahnt, was das heißt, um einen andern, aber einzigen Menschen lieber zugrunde zu gehen, als um eines billigen Ausgleiches willen mit einem Philister ein acht oder zwölf Meter hohes Nest zu bauen.
Sie biß ihre eigene Geschichte hinunter, und niemals erfuhr einer von ihrer Familie davon. Dieser Augenblick, der sie anreizte, einen Verbündeten zu gewinnen, war der erste in ihrem todverschwiegenen Leben, und eben deshalb, weil er aus einem Moment auflauernden Berechnens gebaut war, auch der letzte. Fortab behielt das Mädel ihr Geheimnis in sich.
In einem aber war Martha durch diesen Augenblick eigener Schwäche behutsamer gemacht worden. In der Art, wie sie die Wunde des Bruders behandelte.
Sie begann also mit einer Überwindung, welche er bemerkte, von neuem: »Verschaff' mir die Lobes: Was soll das heißen?«
»Frag sie, ob sie mich mag.«
»Ist es sehr schlimm bei dir?«
Er nahm die Schwester an den Händen und warf ihr einen kurzen, angstvollen Jungebubenblick zu, der sogleich wieder zu Boden sank. So verstört war er schon durch die Gewitter in ihm, welche ihm vorher völlig unahnbar gewesen waren. Leidenschaft, das hatte er nie gekannt.
»Gut, ich will bei ihr ansetzen, was ich kann,« sagte sie vorläufig und nahm Abschied.
In der Schule gab die Lobes dann selber den Anlaß.
»Warum redest du nie?« fragte sie in ihrer jäh zufassenden Art einmal die Hebedich. »Sprich doch du nur einmal zuerst aus, was dich beschäftigt! Du gibst immer Antworten von drei elliptischen Sätzen; oder von zwanzig Buchstaben! Sag' mir einmal was. Frag' mich einmal was!«
»Bist du in meinen Bruder verliebt?« fragte Martha plötzlich, aber ruhig.
Die Lobes wurde dunkelrot.
Da wurde es Martha auch.
Sie fühlte, daß es in solchen Dingen völlig gleich erschreckend zugeht bei Jude und Christen und daß nun sie selber eine reißende Taktlosigkeit begangen hätte. Sie drückte der Kollegin schnell die Hand, und in ihrer Eile, gutzumachen und zu verbessern, sagte sie: »Verzeih mir. Aber er hat mich gebeten, dich zu fragen.«
Jetzt wurde das in diesem Augenblick wehrlose Mädel blaß.
»Habt ihr was unter euch ausgeredet?« fragte sie tonlos.
»Er dauert mich so,« antwortete die durch ihren Sieg über Grete niedergedrückte Martha.
In den Augen Gretes glomm etwas. »Was heißt das?«
»Er hat sich ja völlig an dich verloren,« sagte Martha.
»Komm, komm auf den Schulgang hinaus,« flüsterte Grete leise.
Die beiden Mädchen gingen hinaus, und draußen warf sich Grete, statt irgend etwas Gescheites zu sagen oder zu tun, wie Martha geargwöhnt hatte, an den Hals der so schwer zu erobernden Freundin und weinte wildlings drauflos.
Damit war Martha Hebedich nun freilich gewonnen.
»Was will dein Bruder von mir,« fragte Grete dann mit offenkundiger und wahrer Seelenangst.
»Alles; nur von mir?« fragte Grete.
»Aber nein,« antwortete Martha, der es beinahe vorkam, als begänne das weinende Mädel schon mitten in ihren Tränen zu feilschen. Sie erschrak aber zugleich über solchen Gedanken, der die Hilfeflehende kränkte. »Alles von dir, ja; ebenso, wie er alles, was er selber ist, hingibt.«
»Glaubst du das? Weißt du das?«
»Sicherlich.«
»Von ihm? Was hat er gesagt? Was hat er dir aufgetragen?«
»Nichts,« erwiderte Martha. »Es scheint mir nur, daß du mit ihm machen kannst, was du willst.«
»Scheint; so! Es scheint dir,« rief Grete Lobes.
»Wenn du mir mißtraust, geh' deiner Wege allein.«
»Nein, nein! Bring' mich mit zu ihm. Ich kann ja nicht zu ihm von selber gekrochen kommen!«
Das sah nun Martha freilich ein und versprach, alles unauffällig und zu keines Teiles Verlegenheit zu ordnen.
Als sie dann allein mit sich war, während sie nach Hause ging, sagte sie sich mehrere Male: »Kupplerin! – Kupplerin!« –
Aber es klang gar nicht so beleidigend, wie sie es von sich selber erwartet hatte. Eher gefährlich und mit einem süßen, brennend süßen Beigeschmack.
Wolfgang Lobes hatte einmal, auf jenem Weingartenausflug, frechlich gesagt: »Ein Kuppler ist ein Mitarbeiter Gottes.«
Nun stand sie wehrlos vor diesem eben erst unmöglich scheinenden Ding.
Was war es mit dieser Leidenschaft der zwei, die hier ihren Weg nahm, als müßte sie, die Leidenschaft, – und nicht die Menschen?
Sie kannte aber solch eine entsetzliche Leidenschaft; – von einmal her. An sich selber. Aber da war sie langsam gewachsen, wie eine Eiche. Sie war gekommen, wie geweiht von allen Geistern. Sie weiß auch das: Es wird ihr kein Leuchtenderer, kein Liebreicherer, kein Gefährlicherer und Abgründigerer; alles in allem kein Größerer mehr in den Weg kommen als der, den sie liebt. Das weiß sie. Ihr Leben ist auch heute noch so schön, wie ein verlassenes und zerstörtes Bergschloß: Efeu! – Tut es zur Sache, was war, oder was ist? Erleben muß man können; was war und was ist.
Aber die Lobes? Und ihr Bruder? Gilt ihnen beiden nur das heutige Marktdatum?
Und immer denkt Martha an das spöttisch überlegene Wort Wolfgangs; an jenes Wort: »Mitarbeiter Gottes«. »Pontifex: heißt das nicht Kuppler?«
Der wehrlose Bruder! – Ein Jahr lang hatte der nichts anderes erlebt, als was seine Studien ihm gaben oder nahmen! Das Löschpapier hatte sein Blut getrunken. Leben war keines für ihn da, das an ihm gesaugt hätte. Jetzt, in der Sommerschwüle, war der allzu Bewahrte verloren gegangen.
An was für eine Seele? Martha ahnte nur; sie wußte nichts. An wen nur?
Kennt der Christ den Juden? Wenn, dann nur, wenn er sein Leben lang mit ihm zusammen ist. Und sich selber bewahrt.
Kennt der Jude den Christen? Er kennt nur jene, die sich mit ihm vermengen, und obendrein fast nur jene, die sich um Geld weggeben und sich selber verlieren.
Da nun der Jude unter einer überwältigenden Mehrzahl von solchen lebt, welche wurzeln wie Bäume, so irrt er, suchend, unter ihnen, so lange umher, bis er genügend viel von denen findet, die selber den Erdboden, gleich ihm, durch Asphalt und Ziegelmauern abgetrennt, verloren haben. Wenn die nun sich um ihn scharen, so meint er, er kenne den Einwohner des Landes! Als ob der Städter oder der Arbeiter im Massenleben jemals der Einwohner des Landes wäre!
Nur Entwurzelte findet der Entwurzelte zu Freunden. Und das vielleicht allein ist es, was den Juden niemals belehrt. Zur Erde selber kann er nicht. Und damit nicht zum Mysterium der Erdentwachsenen.
»Erdentwachsen! Kennt das ein Wolfgang Lobes!?« So hatte Christoph einst zur Schwester geredet:
»Der Städter legt seine Friedhöfe außerhalb der Stadt an und führt seine Toten im Galopp oder im Trabe, lächerlich eilig, dort weit hinaus.
So kehrt der Städter in eine ihm fremde Erde zurück!
Ehedem lag jeder Friedhof, auch in der Stadt, mitten im Orte; um die Kirche herum. Die Toten machten genau so, wie heute noch auf dem Lande, alle Versammlungen und alles Festgeläute und Notgebet der Lebendigen mit. Sie blieben bei ihnen. – Dabei und darin. Und die Lebenden blieben bei den Toten, ihnen verwandt und ohne Furcht. Heute werden die Toten als gesundheitsschädlicher Kehricht abgeschlossen. Aber ach, – mit ihnen geht auch der Trost des Erdgefühls dahin.
Bleibt den Toten doch treuer und ihnen näher! Verbrennt sie lieber, aber vergeßt nicht, daß ihr selber ihres interessanten Reiches nächste Erben seid und ihre Heimat bald die eure.«
»Lasset die Toten ihre Toten begraben? – – Wahrlich! Denn niemand lebt, der nicht weiß, daß er von Jahrtausenden her lebt und weiterlebt. Der Jude lebt das ewig getäuschte, neue Ich im Ich! Gemildert durch seine große Kinderliebe, die zugleich sein Fluch ist. Denn beinahe nur er erzieht seine Kinder so fürchterlich kurzsichtig zu jenem Ich im Ich.« So hatte ihr Christoph gepredigt. Und eines solchen Volkes Kind sollte jetzt durch ihn hereindringen!
Ihr Widerstreben half Martha freilich wenig. Ging sie zu Grete, so wußte ihr Bruder um den Weg, und wenn er die wesensfremde Mutter ausholen gemußt hätte. Ging sie zu Christoph, so war abends Grete wie zufällig bei ihr und begleitete sie. Die beiden waren durch nichts mehr getrennt, als durch das Angstgefühl und die Scham, die bei jeder großen Leidenschaft, warnend und sie doch nur verstärkend, mitgehen.
Zuletzt, an einem Tage, an dem Martha besonders widerstandslos, unlustig und müde war, fragte sie ihre Freundin: »Willst du die Bude meines Bruders sehen?«
»Wie sieht sie denn aus?«
»So wie die eines Fanatikers. Eisernes Bettgestell, keine Bilder an den Wänden; bloß ein Kruzifix.«
»Ein Kruzifix? Ist er denn strenggläubig,« fragte Grete entsetzt.
»Nein. Er hat eben denselben still entstandenen Allglauben, der sich seit etwa hundert Jahren fernab von jeder Kirche ausgebildet hat.«
»Aber das Kruzifix?« sagte die Lobes.
»Er ist, als Offizier, ziemlich hoffnungslos hinter dem Menschen Christus her.«
»Und bleibt dabei Soldat?«
»Er zuckt die Achseln über sich selber und sagt freilich dazu: ›Weh' dem, der in meinen Händen der Stecken und die Rute meines Zornes wird.‹«
»Du, das steht aber im Alten Testament.«
»Ja, ja, eben das! Er glaubt alles, was Christus von dorther glaubte. Er tut aber auch alles, was die Traditionen unseres Volksstammes ihm zu tun gutgeheißen.«
»So ein Indianer,« rief Grete Lobes lachend, aber nur noch verliebter. »Bring' mich hinauf, wenn er nicht daheim ist.«
Martha blieb stehen: »Wenn er aber daheim ist?«
»Geh', bered' das jetzt nicht. Wir nehmen an, daß er fort ist.«
Gretes Augen funkelten. Sie war zornig, daß ihr Martha, ›in echt deutscher Taktlosigkeit‹ und Schwerfälligkeit, den letzten, schicklichen Vorwand zufällig hinaufzukommen, genommen hatte. Jetzt war ihr alles gleich geworden und in der Tür, die der Oberleutnant öffnete, streckte sie ihm zuerst, unbefangen lachend, die Hand entgegen.
»Wir stören Sie und wir wollen Sie stören. Martha erzählt mir zuviel von Ihren Studien. Wenn nicht rechtzeitig ein paar Frauen dazwischen kommen, hetzen Sie Ihren Generalstabschef noch zu einer Kriegserklärung.«
»Ich kenne den Generalstabschef nicht,« sagte Christoph, der verdutzt und ernsthaft war, obwohl ihm das Herz die tollsten Umstände bereitete. Er konnte kaum reden. Immer stärker wurde das Gefühl entsetzlicher Angst: »Jetzt ist sie bei dir!«
»Sie haben es da sehr kahl,« sagte Grete, angefröstelt von dem leeren Zimmer, in dem kaum das Notwendigste stand.
»Ich muß immer bereit bleiben sogar auf ein Zelt zu verzichten,« erwiderte ihr der Offizier. »Jemand kultiviert wohnen sehen, das ist meine Freude. Er wohnt auch deshalb so, weil ich ihn darin beschütze.«
»Sie selber wollten das nie?«
»O ja, doch. Auf meine alten und ausruhsamen Tage. Ich sammle sogar Sachen dazu. Martha bewahrt mir sie.«
»Gott sei Dank,« sagte Grete erleichtert.
»Gott sei Dank; warum? Daß Sie mir nicht Barbar zu sagen brauchen?« lächelte Christoph.
»Nicht ganz. Aber bei einem Menschen, der so weiterlebte, hielte es keine Frau aus.«
»Darin habe ich Ihnen die Antwort früher schon gegeben. Die unsereins beschützt, die sollen so schön und kunstvoll leben, wie es nur möglich ist.«
»Das Leben Ihrer Frau soll behaglich sein und Ihr eigenes unbehaglich?« rief Grete Lobes. »Glauben Sie, daß eine Frau diesen Makel auf sich ruhen lassen würde?«
Christoph merkte, daß das kluge Mädchen ihm weniger gefiel, wenn sie ihn durch das beschäftigte, was der starke und kluge Mann an der Frau eher verabscheut als sucht. Durch ihr Reden.
Er beschränkte sich fortab lieber darauf, in den Anblick der Bildung ihrer Gestalt zu versinken, ohne sich durch jene andere ›Bildung‹ stören zu lassen. Er horchte, was immer sie sagen mochte, auf nichts mehr, als auf den wohllautenden Beiklang ihrer Stimme, auf das lebhafte und sinnliche Vibrieren, welches dieser Ton hatte. Und er sah das werbende Leuchten ihrer Augen an. Er wollte nicht in seiner Leidenschaft gestört sein.
»Aber Sie hören mir gar nicht zu und geben geistesabwesende Antworten,« rief Grete endlich beinahe verletzt.
»Sprechen Sie, was Sie wollen, Ihre Stimme wird immer schöner sein als das, was Sie sagen,« antwortete Christoph.
Grete lächelte. Er hatte sich reizend herausgeredet.
»Erlauben Sie wenigstens, daß ich Ihnen sitzend vorbringe, was Sie ja doch nicht anhören?« sagte die Lobes, welche glücklich war, den Offizier in Verlegenheit gebracht zu haben.
Er riß eilig die paar bosnischen Taburetts herbei, die sich bei ihm befanden, und von denen er erst allerlei wegräumen mußte. Die Schwester und er standen zumeist im Fenster, und sonst empfing er kaum Besuche.
Grete Lobes saß nun und sah sich den Mann an, der vor ihr stand. Sie ärgerte sich über ihn, und sie war doch um so mehr verliebt, je ferner er sich seine Welt von der ihrigen abgezäunt zu haben schien.
»Da kann man Sie gar nicht zu uns einladen. Sie werden uns als Genießer und Weichlinge verachten,« sagte sie und ließ ihre blauen Augen trostlos umhergehen.
»Nein, das drittemal! Ich liebe den Luxus bei andern! Zum Teufel: Ich bin doch kein Prolet, der ihn nur bei sich selber lieben kann,« rief er geärgert. »Erzählen Sie aber, Fräulein Grete, wie es bei Ihnen aussieht! Erzählen Sie von Vater und Mutter. Und von sich. Wenn mir dann was gefällt, werde ich aufhören auf den Ton Ihrer Stimme allein zu horchen.«
»Was soll ich? Ich werde lauter Dinge erzählen, die Ihnen nicht gefallen,« sagte Grete lachend, und begann von ihrem Vater zu berichten, der die Mutter so lieb gehabt hatte, daß die Kinder ihn mit Anstrengung ihrer letzten Kräfte vom Fenster wegreißen mußten, durch das er sich auf die Straße tief unten stürzen gewollt, als der Arzt gesagt hatte: »Mutter ist dahin.«
Sie erzählte, wie ihr Bruder Wolfgang, als halbreifer Junge noch, in der Schule geprügelt und geschmäht worden war, so daß er einmal verzweifelt ausrief: »Ausgeschämt nennt man mich! So gern möchte ich mich schämen wie andere! Kann man es aber, wenn sogar die Seele eine dickgeprügelte Eselshaut bekommen hat, sozusagen?«
»Schrecklich,« sagte Christoph nachdenklich.
Er begann nun doch, Grete auch ein wenig mit dem Herzen lieb zu gewinnen und ihr in seinem Innern abzubitten. Wenn man ihm eine solche Jugend bereitet hätte, er wäre dem Goj lebelang gegenübergestanden »Auge um Auge, Zahn für Zahn.«
Grete erzählte unter dem Blick seiner Augen immer stockender. Sie wollte nicht bitter werden und sie wollte sich nicht weich zeigen. Alles, was sie jetzt tat, kam dem klugen jungen Weibe, das immer sich selber mitprüfte, wie Schauspielerei vor. So wurde sie langsam einsilbig und verträumt.
Das Gefährlichste, was ein Weib einem seelisch reichem Manne entgegenhalten kann. Zu dem Schweigen des Weibes erzählte er sich dann selber viel – Zu viel!
Dieses sommerliche Stillewerden, das die im Lufthauch schlagenden Fenstervorhänge und die summenden Fliegen allein hörbar machte, führte ihn wieder zu dem, was er in seiner einsamen, wehrlosen Sehnsucht gewesen war.
Wenn Grete schwieg, redete ihre Schönheit allein. Sie war göttlich. Wenig Ungöttlicheres, als ein eifrig agierender und redender Mensch.
Christoph, wie er sie so ansah, wand sich in der Qual eines reifenden Entschlusses. Grete hatte wohl nur aus Verlegenheit und wegen der anwesenden Schwester plauderselig und klug getan. Er sah, wie sie vor innerer Erregung nicht mehr weiter konnte. Die Schwester mußte weg. Solange die da war, wurden zwecklose Worte mühsam erfunden; es war unerträglich, und dem mußte ein Ende gemacht werden!
Er verbiß seine Aufregung. »Verzeihen mir die Damen,« fragte er, »wenn ich an meinen Kommandanten eine kurze Entschuldigung schreibe? Ich müßte längst im Dienste sein.«
»Aber dann gehen wir,« rief Grete erschreckt.
»Gott sei Dank ist es da zu spät,« sagte Christoph. »Jetzt muß ich gerne hierbleiben und Sie bei mir. Ich werde meinen Diener, der draußen bei der Quartierfrau sitzt, um etwas Eis für uns alle drei schicken, und Sie müssen nun schon die karge Gastfreundschaft des Hagestolzes bis zum Ende auskosten.«
Er schrieb ein paar Worte auf einen Zettel: »an seinen Kommandanten,« wie er sagte.
Das war aber nicht wahr. Es standen einfach, für seine Quartierfrau und an ihre Anschrift gerichtet, folgende Worte drauf: »Liebste, goldene Frau Danzel! Holen Sie sich meine Schwester, um Gottes willen, unter irgend einem Vorwande aus meiner Bude! Fragen Sie sie um ein Kochrezept oder ums elektrische Bügeleisen, aber halten Sie sie fünf Minuten hin; – womöglich fünfzig!«
Was Frau Danzel dachte, war ihm gleichgültig. Hauptsache war, er wußte, die immer hilfreiche und eifrige Frau kam in einer Minute händeringend um Marthas Hilfe bitten.
Er klingelte seinem Diener, übergab ihm den Zettel und sagte: »Sofort an die Adresse bringen. Und erst, wenn Sie das besorgt haben, bringen Sie uns aus dem Kaffeehause von da drunten Eis. Was? Ja, was halt Gutes zu haben ist; mit Waffeln. Aber erst auf dem Rückweg!«
Es kam, wie er wollte und wie es mußte. Kaum war der Offiziersbursche fort, so stürzte Frau Danzel wehklagend herein.
Nicht, ohne sich einen kurzen, aber völlig wissentlichen Augenblitz voll von dem Bilde der hübschen Anderen zu nehmen, rief sie: »'tschuldigen die Herrschaften, aber ich könnt das Fräulein Martha gar so brauchen, weil sie g'rad da is'! Ich hab' noch aus'm Gebirg' grüne Nussen kriegt, zum Einkochen. Aber jetzt kommen's mir doch schon zu hart vor. Wenn mir das Fräulein Martha helfen möcht? –«
»Ja, lassen sich die Nüsse noch mit einer Spicknadel durchstechen?« fragte Martha interessiert. »Man muß nämlich –«
»Kommen's, kommen's, Fräulein Martha und helfens selber,« bat die Wirtin und Martha ging gutwillig ab.
»Jetzt haben Sie neben der dienstlichen Unannehmlichkeit obendrein mich auf dem Halse,« sagte Grete betreten. Der Zufall, allein mit ihm sein zu müssen, machte ihr Angst.
Er wartete. Aber die Tür war kaum hinter Martha zu, da sagte Christoph mit erstickter Stimme: »Grete, ich habe Martha hinauslocken lassen. In drei Minuten ist sie wieder da. Diese drei Minuten entscheiden mein Leben. Ich liebe Sie. Ich liebe Sie! Zum Verrücktwerden ist das!«
Grete wurde blaß bis in die Lippen und vermochte kein Wort hervorzubringen. Sie lehnte sich ans Fenster, klammerte eine Hand in die Draperie; aber bald fiel diese Hand wie ein getroffener Vogel wieder herab.
»Grete,« sagte er und trat ganz nahe an sie: »Ja, oder nein?«
Sie rang nach der Kraft, die zu diesem einzigen Worte nötig war. Er faßte ihre Hand an, die sie ihm ließ. Die Hand war kalt.
»Ja, oder nein,« sagte er und legte den Arm um sie. Sie rührte sich nicht und vermochte auch die Lippen nicht zu bewegen, so zerhagelt war sie von dem jähen Leidenschaftsausbruch.
Er bog ihren Kopf zurück und küßte die ringenden und zuckenden Lippen. »Ja?« fragte er dann.
»Ja,« brachte sie hervor. Kaum war es hörbar gewesen.
Er hob sie, um selber zu Atem zu kommen, auf seinen Armen hoch, um sie so, als wäre sie ein kleines Spielzeug, auf und ab zu küssen, solange die karge Zeit reichen wollte, die Martha ihnen ließ.
»Nein, nein,« rief Grete. Sie glaubte, er wolle sie wegtragen und nur so hinwerfen. Die ungeheure Angst, die sogar jedes reingebliebene Tier vor der größten Wende des Lebens hat, durchtobte auch sie wie eine Todesdrohung.
»Es geschieht dir nichts,« rief er bittend. »Aber wenn ich wollte, was du fürchtest?«
Sie rang sich kurzweg von ihm los und stand wieder fest: »Wolltest du das?«
»Nein,« sagte er, schwer atmend.
»Ich will es dir sagen. Deine Geliebte will ich sein; aber nur fürs ganze Leben! Du kannst mich haben; aber ich muß dich haben. Ganz allein und für immer! Und darum lass' mich jetzt und gehe zu meinem Vater einen Weg, der dir und mir keine Schande macht.«
»Ich gehe heute noch. Jetzt aber –«
»Jetzt aber –« Und Grete warf ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn nun erst selber; – solange sie Atem hatte, solange sie keine Schritte hörte, solange sie konnte und so brennend sie es sich gedacht hatte, den Geliebten einstens küssen zu wollen. Sie war aufgespart, wie nur jemals ein Mädchen. Nie hatte sie bisher mit irgend einem Nervenschauer geküßt. Jetzt brachen ihre Lippen los, als hätte sie über nichts anderes nachgedacht, als über die überwältigend geniale Art der Hingabe in ihnen. Der Mann erbebte unter der Hingerissenheit dieser noch, scheuen und dennoch waghalsigen Mädchengeständnisse.
Wie lange sie so zusammengewachsen waren? Schritte kamen, viel zu früh. Sie schraken auseinander. Aber Frau Danzel war eine vollkommene Quartiermutter. Noch vor der Tür, deren Klinke sich schon erschreckend bewegte, vermochte sie wieder ein endloses und wichtiges Gespräch mit Martha anzufangen. Grete konnte sich die Haare ordnen, konnte in den Spiegel sehen und dann ans Fenster treten, während sich der Bruder zitternd an den Tisch setzte. So gelang ihnen eine lässige Gesprächshaltung: Christoph hatte ein Knie übers andere, die Zigarette im Mund.
Aber Martha bemerkte, daß er den Rauch nicht einzog und daß Grete an ihrem Fenster befangen war.
»Da bin ich wohl zu rechter Zeit gekommen,« dachte sie.
Aber es war zu spät. Sie hatte die jähe Angriffsgewöhnung des Offiziers unterschätzt.
Christoph stand nun vor Herrn Lobes. Er prüfte ihn mit einem anfänglichen Unbehagen, welches bald einem völlig menschlichen Befreitsein wich. Herrn Lobes sah man wohl den Juden noch an; an der Wand aber hing überall, und immer gut aufgenommen oder gemalt, das Bild der Mutter. Die mußte hinreißend schön und fein, ja adlig anzusehen gewesen sein. Auch sie erschien, wie Grete, nicht als Jüdin! Ganz was Eigenes, Feingebornes.
Herr Lobes, den der Offizier durch seine Verzweiflung um diese geliebte und einzige Frau schon liebgewonnen hatte, gehörte zu der sattgewordenen und dann oft hilfsbereiten und mitleidigen Art Juden, die viel zahlreicher ist, als man zugeben mag und die beinahe kindlich gutmütig ist. Nicht so sehr seine Presse ist es, welche dem Juden Schutz über die ganze Erde hin zu erschreien weiß; – sie ist beinahe immer knapp daran, das gerade Gegenteil zu erreichen. Die paar gutmütigen, die kindlich heiteren und mitleidigen Juden halten das immerwährend drohende Gewaltschicksal ihres Volkes zurück. Bloß der vertrauensvoll heitere Jude entwaffnet durch sein Menschentum.
Mit gepreßtem Herzen, welches eine Demütigung erwartete, war Christoph diesen Morgen aufgestanden und den schwersten Weg seines Lebens gegangen. Nach fünf Minuten schon saß er neben einem erquicklichen, leise zu belächelnden, aber lieben Bekannten.
»Sind wir aufrichtig, Herr Oberleutnant,« sagte Herr Lobes, der in bester Laune war. »Ich bin ein Jud' und Sie wissen es. Ich weiß es auch. Sie wissen weiter, das ist eine schwere Sach'. Ich weiß es auch. Eine Schand', aber kein Unglück, sagt man. Na also. Eine Schand' schafft man sich eben vom Hals, wie? Man geht unter andere Leute und in andere Verhältnisse. Ich hab's getan. Gut; weiter: Sie gefallen mir. Ich hab' mich längst nach Ihnen erkundigt. Es fehlt eins. Sagen Sie mir im Vertrauen: Wozu soll mein Großvater aus Galizien gekommen sein, wenn Sie als sogenannter zugeteilter Generalstäbler wieder nach Galizien in Garnison müssen? Lassen Sie mich ausreden! Ich hab' eine Frau gehabt, – in Paris die junge Kaiserin Eugenie war damals nicht so schick und so fein! Da hätten Sie lange suchen können, bis Sie die Jüdin gefunden hätten! Und, na: meine Tochter? Also ja, da haben Sie selber geurteilt. Warum, sagen Sie mir, ich bitt' Sie, warum hat sich ehedem mein Großvater von Brody nach Wien hergefunden, unter Ach und Weh? Warum hat mein Vater alles erlitten, bis er sagen konnte: ›So, jetzt zähl' ich bei den Christen mit?‹ Und warum hab' ich so eine feine, so eine schöne und engelhafte Frau geheiratet, und warum hab' ich Kinder mit ihr bekommen (Gott hat's gewollt, nur zwei), die geworden sind wie Adelsmenschen, endlich!? Damit meine Tochter wieder nach Brody zurück muß?«
»Herr Lobes, ich werde –«
»Was werden Sie? Ihren Vorgesetzten gehorchen werden Sie; abdampfen werden Sie, wenn Ihr Regiment transferiert werden wird. Und es wird nach Brody und Tarnopol transferiert, kann ich Ihnen im Vertrauen sagen: denn es ist Dienstgeheimnis. Und nun geben Sie mir die Hand und schlagen Sie ein. Der Generalstabshauptmann Christoph Hebedich kriegt die Gretel. Der zugeteilte Oberleutnant bei Numero soundsoviel in Tarnopol kriegt sie nicht.«
Hebedich stand auf. Sein Gesicht strahlte vor Erleichterung. »Das lass' ich gelten,« rief er.
»Hand drauf?«
»Hand drauf,« sagte Christoph.
Am selben Abend schon saß er in Leidenschaft und Begierde über seinen Studien, verbissener als jemals. Er glaubte, daß er sie kaum weiter zu betreiben brauchte, als er bisher schon getan. Aber jetzt galt es ja dem rein äußerlichen Erfolg und von der Kriegsschule war bekannt, daß dort nicht bloß Wissen vom Soldaten und Kriege an sich, sondern Wissen, so zugerichtet, wie die Vorgesetzten es wollten und ansahen, entscheidend wäre.
Er vertiefte sich also in die Meinungen der erfolgreichen Generäle letzter Abstempelung, setzte seine eigenen Widersprüche beiseite.
Er lernte, als wäre er völlig dumm und hätte nur von andern zu lernen. So hatten ihm die Kameraden, so hatte ihm sogar Grete und deren Vater geraten.
Wurde er wild darüber, so sah er nach seinem kargen Bette hin, über dem Gretes Bild hing. Eines der schönsten und klügsten Mädchen von Wien (die Kameraden sagten auch, eines der reichsten) lächelte, grenzenlos verliebt, zu ihm her. Dann konnte er alles. Sogar sagen lernen, was ihm innerlich widersprach.
Was alles aber ihm widersprach, das bewies dann die ihm vorzeitig bewilligte Stabsoffiziersprüfung! Hier soll nur ein Querschnitt durch jene merkwürdige Sitzung getan werden; er wird genügen:
»– – wie würden Sie nun, als Kommandant einer so angenommenen Einheit, die Infanterie Ihrer Division verwenden, wenn Sie sich in dieser völlig freien Steppe durch russische Kavallerie von Samoscie, Staravjes und Bjeloves aus umzingelt sähen? Wohlgemerkt: Die Kavallerie hat sich zur Aufgabe gestellt, jeden Angriff in geschlossener Masse gegen Ihre Truppe zu vermeiden; sie nützt nur ihre Doppelstellung, also als berittene Infanterie, gegen Sie aus. Sie ist so an Zahl überlegen, daß Sie nicht daran denken können, in Marschkolonne über Ploja weiterzugehen und vermeidet, auch wenn Sie zu marschieren beginnen, jeden geschlossenen Einbruch in Ihre Kolonnen, solange diese in Ordnung bleiben. Sie haben es bei einem Versuche erfahren; – sie richtet ihr Feuer dann vornehmlich auf Tragtiere und Mannschaft Ihrer Maschinengewehrabteilungen. Es ist ein völliger Guerillakrieg, seit sechs Tagen. Ihre Truppe, die auf solche Weise bis hierher sich durchwand, wird langsam demoralisiert und unmutig.«
»Wie weit ist die nächste unbesetzte Rast? Ein Ort oder auch nur Wald?«
»Nehmen wir an, das wäre unberechenbar, weil Ihre Patrouillen abgefangen wurden. Deshalb eben ist Ihre Truppe, von bestochenen Bauern absichtlich irregeführt, weil sie ihren Führer desorientiert ahnt, in gedrückter Stimmung.«
»Vor allem, Exzellenz, würde ich es vermieden haben, mich irreführen zu lassen; und ich bitte, mich deshalb an Hand der Karte praktisch zu prüfen, wo Exzellenz immer es wünschen sollten. Ferner, angenommen den Fall, daß es durch irgend einen unvorhergesehenen Unglücksfall mir widerfahren könnte, wie es höchstens ein erzwungener Rückzug in abgedrängter Linie sein könnte, daß ich in mir fremdartige Gegenden verschlagen würde, so würde ich nicht eher marschieren, als bis ich meines Weges sicher wäre. In keinem Falle aber würde ich in eine etwaige Ratlosigkeit, welche ja doch nur Stunden und höchstens Tage dauern dürfte, auch meinen vertrautesten Adjutanten hineinblicken lassen; geschweige denn meine Leute.«
»Ich wünsche Ihnen, daß Sie gegebenenfalls Ihrer Sache ebenso sicher sind,« sagte der Vorsitzende mit einer leicht ironischen Verbeugung. »Was aber würden Sie tun?«
»Vor allem jede Art von Proviant wie zu einer Festung heranziehen; dann – mich eingraben und warten. Den Feind, der gewohnt ist, abzuwarten, um schwache Stellen zu finden, selber solche abpassen. Ihn geschickt, wenn auch durch erheuchelte Unordnung, zu verlustreichen Angriffen zu reizen versuchen.«
»Eine endlose Defensive, bloß auf Hoffnung gestützt? Kunktatortaktik also?« sagte Exzellenz.
»Wenn Exzellenz das Wort belieben. Aber eine mit Berechnung und verständiger Geduld geführte.« Hebedich fühlte, wie ihm bei der offenkundigen Mißgunst des Vorgesetzten die Zorneshitze emporstieg.
»Und wann, mit Ihrer Erlaubnis, wäre Ihre Geduld zu Ende?«
»Erst wenn das Fressen zu Ende wäre. Verzeihen Exzellenz den Ausdruck,« sagte der Offizier, der den übelwollenden Blick des Vorsitzenden längst fühlte, wildgeworden. »Aber da ich ja Kavalleristen gegenüberstehe, so nehme ich an, daß sie früher den Kopf verlieren werden, als ich.«
Oberleutnant Hebedich, der sich hiermit Luft verschafft hatte, sprach von da ab wieder besonnen und in heiterer Ruhe weiter. Der Vorsitzende nämlich war von jung auf völlig Kavallerist gewesen.
Exzellenz verbiß mit der Geschicklichkeit eines Weltmannes seine Betroffenheit. »Es handelt sich hier nicht um dialektische Spitzen,« sagte er ruhig, »sondern um einen Ausweg aus Ihrer Klemme, Herr Oberleutnant. Sie belieben also anzunehmen, daß der feindliche Kommandant als Kavallerist dümmer ist, wie Sie.«
»Nein; aber unruhiger und temperamentvoller,« sagte Hebedich höflich, ja liebenswürdig. »Ich nehme nichts an, als daß er eben ein echter Reiter ist, wie ich ein echter Infanterist. Ich überlasse ihm also die Initiative, die er, nach der Annahme Euer Exzellenz, ohnedies schon in der Hand hat und warte bloß, so lange mir Zeit zum Warten gegeben ist. Ich werde aber versuchen, meinen Gegner (durch die scheinbar größten Dummheiten) sicher und angriffslustig zu machen, – um ihn zu dezimieren und damit noch eiliger zu machen, mir zu schaden. Das werden Exzellenz ohne weiteres zugeben, daß kein Mensch etwas anderes lieber glaubt, als: der andere wäre dümmer als er. Und wenn ich selbst einen gefangenen Juden hinüberschicken müßte, dem ich ein Stück dieser Dummheit, ein Bild von Unordnung und Verwirrung in meinem Lager vorspielen gemußt hätte!«
»Gut; angenommen, die Kavallerie benutzt einen Augenblick scheinbarer Verwirrung und greift Sie, erst vorsichtig und mit kleinen Opfern an Mann und Pferd, an.«
»Ich lasse sie eben nur so viel zurückhalten, daß sie glauben muß, mit stärkerem Einsatz siegreich zu werden.«
»Wie wollen Sie das abwägen?« fragte der Vorsitzende, der bemerkte, daß er und sein Kandidat in ein mehr persönlich interessantes als systemmäßiges Gespräch gekommen waren, der aber hoffte, auch diese ihm wohltuende Aufregung siegreich zu überstehen.
»Ich sende eben jenen kleinen Abteilungen ebenso kleine Abteilungen reiner Kavallerie entgegen. Wahrscheinlich wird dadurch der Gegner gereizt, seine spezielle Waffenehre zu wahren, indem er immer größere Massen auf den Platz wirft. Die mich wenig berührende, – (– ich bitte, nicht als Menschen, sondern als Rechner und als Hungernder! –) die mich wenig berührende Dezimierung einer bald zwecklos gewordenen und nur kostspieligen Truppe steigert den Mut und die Angriffslust des Gegners ebenso, wie etwaige Erfolge meiner – meiner Kavallerie ihn reizen würden.«
»Na, sagen Sie ruhig, meines Anhängsels,« schloß Exzellenz. »Sagen Sie, privatissime, jetzt: Sie scheinen ja eine saubere Meinung von der Kavallerie zu haben?«
»Privatissime, Exzellenz, sie war die schönste Truppe, die ein rechter Mann jemals kannte,« antwortete Hebedich. »Besonders damals, als ihr Offizierskorps noch beinahe völlig aus Analphabeten bestand; – teils wegen zu hohen Adels, teils, weil es vom Roßstall auf diente. Und, Exzellenz, wenn ich noch weiter privat antworten darf: ihre Zeit ist vorüber. Jedes Ding blüht einmal, – und welkt dann ab. Es zu rechter Zeit bemerken, das ist die einzige Klugheit, die man entgegensetzen kann.«
Das war nun sehr unvorsichtig von Hebedich gewesen.
Denn Exzellenz, welche wußte, daß Hebedich in seiner Konduiteliste den für einen Offizier entsetzlichen Vermerk trug: »Schließt sich vor den Kameraden ab,« (Hebedich hatte keine Ahnung von diesem Todesstoß a priori) Exzellenz traute nunmehr dem Outsider zu, daß er diese Prüfung bloß zu einer Demonstration benutzen wolle. Der Vorgesetzte selber war es also, welcher deshalb die Fassung ein wenig mehr verlor, als sonst der Weltmann. Er glaubte sogleich, daß Hebedichs letztes Wort (Jedes Ding blüht nur einmal und welkt dann ab; es zu rechter Zeit bemerken, das ist die einzige Klugheit, die man entgegensetzen kann), er glaubte, daß diese Worte seiner künstlich weitergestreckten Jugend, seinem gefärbten Schnurrbarte und so noch anderem, gälten.
Er beherrschte sich nur mehr mühsam, während der andere noch ganz ruhig, wiewohl voll Interesse die ihn immer mehr erfreuende, weil anregende Prüfung weiter abwartete.
Nach einer Pause, während welcher fast alle Prüfungsbeisitzer irgend einen Krampf im Nacken zu bekommen schienen, der ihre Häupter schief legte, wie die Segelboote einer Flotille unter ganz gleichem Winde und in einer gewittrig drückenden Schwüle, sagte Exzellenz:
»Zur Sache also. – Nun ist die Kavallerie ja endgültig tot. Ehe wir aber weitergehen, würde es mich (und bestimmt die übrigen Herren hier) interessieren, von ihrem Propheten zu erfahren, wie ohne das von Ihnen mit Bann belegte Reitertemperament künftige Schlachten sich entscheiden werden?«
»Ebenso, wie damals, wo man, vor Napoleon, die Stoßkraft der Kavallerie als Menschenkenner noch nicht auszunutzen verstand. Während man sie jetzt technisch nicht mehr ausnutzen kann.«
»Nun?«
»Man wartet ab, wie im Siebenjährigen Kriege, und schießt los, wo der Feind am schwächsten ist.«
»Aber dann entsteht ja wieder ein Siebenjähriger Krieg.«
»Das wäre ein Unglück, – aber ehe kein Ersatz für die Kavallerie durch große Fliegermassen oder etwas noch Unangreifbareres als Panzerreiter es waren, geschaffen ist, sehe ich, bei der jetzigen Technik der Abwehrwaffen, keine Entscheidung.«
»Der – (ich nehme Ihre Sprechweise an, Herr Oberleutnant): der Unvernunft des Sichopferns, des bedingungslosen Angreifens (Exzellenz schnarrte und rasselte) messen Sie also gar keine Bedeutung mehr bei!«
»O doch, wo die Entscheidung bei nicht viel mehr als hunderttausend Mann auf jeder Seite liegt. Da können fünftausend gut und zu rechter Zeit eingesetzte Pferde (Exzellenz zuckte zusammen) alles wettmachen.«
Der Vorsitzende war nahe daran, sich zu erheben.
»Was würden Sie also, in unserem Falle, in Ihrer Langmut tun?« fragte er noch einmal.
»Mich eingraben und abwarten.«
»Und wenn der russische Schnee kommt?«
»Erdhütten, Winterquartiere beziehen,« sagte Hebedich seelenruhig. »Und, wenn alles kahlgefressen ist, weiterziehen; wie die Völkerwanderung, in einer Wagenburg, bis man wieder abwarten kann.«
»In einer modernen Schlacht mißt sich also, nach Ihrer Theorie, nicht mehr die Überlegenheit und Eminenz eines Feldherrn an der des andern?« rief der Vorsitzende, indem er sich erhob, während das Prüfungsauditorium einen wunderlichen, halb lächerlichen, halb rührenden Anblick bot. Alles, was gesträubte Schnurrbärte trug oder sich sonst marsähnlich hielt, hatte sich auf den Kommandoruck der Exzellenz erhoben und flammte empört, wie er. Alles mit kurzen, runden Vollbärten hielt weiter den Kopf wehmütig abwartend auf die Seite und glich einer Reihe von Nordlandsvögeln, welche hilflos, aber leidlich sicher im Sonnenschein an der Küste sitzen. Nur ein paar völlig nervöse, also zwischen beiden Temperamenten schwankende Herren tauschten erregte Bemerkungen. Die gänzlich Beflissenen verhehlten sogar nicht ihren lauten Unmut, so daß Exzellenz selber seine Hand über ihr Gemurmel strecken mußte, edel und gebieterisch, wie der Heiland über das empörte Meer. Und unheimliche Ruhe duckte sofort unter der Imperatorengeste.
Jetzt erst erkannte der arme, bisher so sachlich gewesene Hebedich, daß für ihn längst alles versungen und vertan war.
Er erschrak einen Augenblick und war beinahe daran, sein wehrloses Haupt dem Messer zu beugen. Dann brannte doch die Wut empor, Grete verloren zu haben. Irgend etwas wie alter Ritterstolz spornte ihn an, gerade das, was Exzellenz ihm jetzt vorwerfen wollte (»Mangel an Initiative« hieß es in der Königgrätzer Dienstsprache), im letzten Augenblick herauszukehren und er beantwortete die letzte Frage des aufgebäumten Richters alles Guten und Bösen mit den Worten:
»In einer modernen, also unübersehbaren Schlacht, Exzellenz, messen sich nicht mehr die beiden Temperamente und der Mut ihrer Führer, sondern die Angst zweier Feldherren voreinander. Die Angst voreinander, – und vor ihren eigenen Untergebenen.«
Ein einziger ungeheurer Frechdachs war unter den Herren gewesen; der donnerte jetzt, befreit lachend los. Aber seine ehrliche Lust verschwand sofort unter dem gepreßten Meckern der unbedingten Gefolgschaft seiner Exzellenz. Auch diese schmiegsamen Herren lachten; lachten sogar so höhnisch, daß zuletzt Exzellenz mitlachen konnte.
»Na,« sagte er und schritt auf den etwas verfärbten Hebedich zu: »Wenigstens haben Sie sich einen guten Abgang gesichert. Zu Ihrer Prüfung kann ich Ihnen zwar nicht gratulieren, – aber darüber wird ja die Kommission entscheiden. Zu Ihrem Humor und Ihrer Schlagfertigkeit jedenfalls!«
»Danke, Exzellenz; – obwohl das nicht Zweck der Übung war.«
»Werden Sie doch Herausgeber der ›Muskete‹,« sagte Exzellenz noch einmal ermunternd. Und dann war alles vorbei.
So war auch das geschehen und es muß ehrlich gesagt werden, daß Hebedich zwar meist nur falsche und verlegene Händedrücke von den fortdefilierenden Vorgesetzten bekam, aber auch ein paar so demonstrative, erfreute und offensichtliche, daß ihm beinahe der Arm ausgerissen wurde.
Es war, als hätte seine Aufrechtheit hier Gut und Böse reinlich geschieden, wie Böcke und Schafe am Jüngsten Gericht.
Aber, – Oberleutnant Hebedich war durchgefallen. »Wegen Mangels an Initiative.«
Er ging dennoch, im guten Glauben an sich und seine Aufrichtigkeit sowie an die Schönheit und den Glanz seines Sturzes zu Herrn Lobes und erwartete nichts anderes, als daß man ihm dort Grete jetzt erst recht geben würde.
Aber die Lobeswohnung war abgesperrt und verlassen. »Die Herrschaften haben eine Reise angetreten.«
»Wann?«
»Eben vor einer Stunde ging der Schnellzug ab.«
Herr Lobes hatte bei der Prüfungskommission seine Leute gehabt. Er war, von Viertelstunde zu Viertelstunde, über den sich steigernden Horror unterrichtet worden. Ein junger Herr, den er sich für Grete reserviert hielt und der eine besonders gute Partie bedeutete, hatte den Nachrichtendienst übernommen – und zuletzt die Besorgung zweier Schlafwagenabteile. Und eines neuen, Grete völlig erobernden Vergnügungsprogramms. Kaum daß die Tatsache entschieden war, packte Herr Lobes seine Tochter, gegen welche er auch den Bruder ins Treffen geführt hatte, erzählte ihr von einem jähe sich bietenden, günstigen Anlaß zu einer herrlichen Mittelmeerpartie, die man auf keinen Fall auslassen dürfe und schupfte das überraschte Mädchen in ein Auto.
Erst anderen Tages auf der Reise kam sie zu Bewußtsein und ließ sich die ironischen Andeutungen ihres zweiten Anbeters, vorsichtig und abwartend, über das verwirrte Haupt träufeln. Sie versäumte nicht, in verächtliche Nebenbemerkungen des klugen Herrn über die Dummheit der Gojim einzustimmen, um mehr zu erfahren. Endlich glaubte der andere, daß Hebedich jetzt Gretes ganze Verachtung haben müsse und begann von ihm selbst zu erzählen.
»Er hat sich benommen wie ein Stier; oder sonst wie ein Vieh, ohne Berechnung und Verstand. Na; ein echter Goj! Sogar was er gescheites zu sagen gehabt hat, hat er dort gesagt, wo es nicht gescheit war!«
Der junge Herr, der gute Anekdoten gern weitererzählte und jetzt die tolle, freie Fahrt des Schnellzugs vor sich sah, welche ihn und die reizende Grete ins Grenzenlose führte, begann mit behaglichem Schmunzeln die Pikanterien der Prüfung auseinanderzulegen.
Grete fieberte. Das war ja herrlich! »Christoph, toller, göttlicher Martin Christel!«
Sie ging demütig zu Papa hin. »Du überraschest mich mit dieser Reise. Du hast mir Lords und Seeoffiziere versprochen und an Kleidern einpacken lassen, was reizend ist, hast du gesagt. Taschengeld hast du mir aber keins weder versprochen, noch gewährt.«
Herr Lobes griff sogleich in seine geschwellte Brust und holte reichlich hervor.
In der nächsten Station wollte Grete in den Speisewagen, gerade, als die beiden Herren und der Bruder dringende Geschäfte ausmachten.
»Geh' voran.«
Nach einer halben Stunde aber war Grete weder im Speisewagen noch sonstwo im Zuge zu finden und Herr Lobes schrie auf: »Sie hat sich aus dem Fenster gestürzt!«
Nein, das hatte sie nicht. Aber der Zug hielt fortab fünfzig Kilometer nicht mehr an und der Kraftwagen, den sich Grete sogleich beim Aufenthalt in der letzten Station gemietet hatte, brachte sie zu ihrem Geliebten, ehe noch Papa und dessen Bräutigam einen Rückfahrzug gefunden hatten.
Es war am selben Abend, da Christoph ganz dumpf von Lobes zurückgekehrt war, als Grete bei Christoph anschellte. Er, der bisher am Schreibtisch gesessen hatte und in traurigem Halbbewußtsein mit dem Revolver spielte, während er sich immer sagen mußte: »Abwarten, abwarten,« er stand völlig erstarrt. Er war trotz seiner gesunden Nüchternheit dem Zusammenbrechen nahe, als er die Verlorene vor sich sah.
Sie wartete einen Augenblick: blaß, mit bebenden Lippen, aber so verliebt, daß sie ihm bald mit einem erstickten Ausruf in die Arme fiel und sich an ihn hing, wie verwundet. »Ich bleibe bei dir! Du! Du!«
»Was ist? Bist du dem Vater entkommen?«
»Ja! Ja!«
»Wenn er dich sucht?«
»O, der ist schon weit fort.«
Christoph sah zum Himmel empor, während Grete zu lachen begann. »Er kann nicht vor morgen zurück sein,« fügte sie eifrig hinzu. »Sie haben mich überrascht; ich aber dann um so besser sie. Im Auto bin ich zu dir, mitten aus dem Zuge heraus, der mich entführt hat!«
»Ja; aber Mädel? Ja Mädel!?«
»Bist du auch jetzt noch der Kunktator?« fragte Grete mit halber Stimme.
Nein, wahrhaftig; jetzt begriff er erst. Und er war es nicht!