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Wie er sie verlor

Frau Grete saß zu abend allein an den Betten ihrer Kinder, welche schliefen. Es war ihr Namenstag gewesen, und ihre nervöse Hand spielte mit einem Paar kleiner, etwas derber Schuhe, die nur als Touristenstiefelchen Verwendung finden konnten.

Christoph hatte das draußen im Spital während seiner langwierigen Genesung für sie gemacht. Getrennt von seiner hübschen Frau dachte er viel an ihre kleinen Füße und sehnte sich, sie zu küssen. Da er weit von ihr war, vernähte und verhämmerte er all seine Zärtlichkeit in das kleine gelblederne Paar. Er hatte es ihr erzählt und dann erst etwas verlegen das Geschenk vorgelegt.

Frau Grete hatte seine Kinderei mit einem Kusse vergolten, aber irgendetwas wie Peinlichkeit war zugleich in ihr entstanden. Diese sonderbare Spielerei mutete sie lächerlich an in einer Zeit, wie sie ja nun über das Land gekommen war.

Es war trostlos, schleppend, beinahe gespenstisch geworden, das Leben. Und ihr kamen diese Schuhe wie ein läppischer Spott auf den allgemeinen Bankrott vor.

Wirklich; es war jene Periode des Krieges, da das Leben der eingeschlossenen Staaten einen schauerlichen Zustand erreicht hatte. Dieses Leben war zu vergleichen mit dem unwirklichen Dasein eines Organismus, dessen Herz stockt, dessen Adern fieberhaft bis zum Verbrennen, dessen Lunge kaum mehr atmungsfähig ist, dessen Haut aber blutüberfüllt und von einer nervösen Scheingesundheit durchpeitscht, allein noch arbeitet. Aber nur ein Baum vermag, innen völlig zerstört, durch seine Rinde und den Splint noch weiterzuleben. Ein Mensch nicht.

An den Nervenenden des Staates, an dessen Front also, war helle Zuversicht und tätiges Heldentum, während schon in der Etappe das Gift der Trostlosigkeit, der Entmutigung, ja düster verhaltener Wut durch alle Gefäße schlich.

Auf den kleinen Torpedobooten, den Minensuchern und Unterseebooten, die immer etwas zu tun bekamen, oder sich selber etwas zu tun machten, war es geradeso wie auf dem Lande in den vordersten Linien. Und schon in den faul daliegenden, großen Kriegsschiffen gärte Pestluft.

»So ist der Mensch! Er soll nicht stilleliegen, und wäre er ein Heiliger. Gewirbelt muß er werden; – dann ist er gut. Aber hier? –«

Christoph, der in seiner gedankenvollen Art, die Menschen zu betrachten, immer wieder das Wort zum Herzen der Einfachen, sogar der schon Verbissenen wußte, sah, was keiner der Generalstabsoffiziere zu sehen vermochte. Nie hatte dieses wohlgeschulte Volk der Flaschengrünen den Menschen anders, denn als Material und Ziffer summieren und teilen gelernt. Beinahe nur dieser eine Mann, der offen einbekannte, man müßte als Herrscher den Mut haben, verhaßt zu sein (was immer nur bis zum großen Erfolg währe), gerade dieser nachdenkliche Offizier war im Einzelnen und im Praktischen der tätigste und mitleidigste Menschenfreund. Am allerwenigsten Gebrauch machte er vom jus gladii, das er einmal als selbständiger Kommandant auszuüben hatte. Niemals, außer in Fällen von Bestialität, unterschrieb er ein Bluturteil. – Damit wartete er stets bis zum Äußersten und sann immer solange darüber nach, bis er einsah, daß der Erfolg dabei des Menschenopfers unwert wäre. Spione ließ er schon gar nicht hängen: er betrachtete ihre Kleinarbeit als viel zu unwichtig. Er verwendete sie, wenn irgend möglich, gleich nach ausgestandener Todesangst zur Täuschung des Gegners.

So bebte er stets vor der tödlichen Gewalt zurück, die er nur im Falle größter Notwehr, dann aber mit zerschmetternder Wucht gebraucht hätte. Eben weil er das wußte (und vielleicht auch, weil er im Tiefsten von der ungerechten Sache wußte), sparte er die ihm verliehene Herrschaft über Leben und Tod, bis er, beinahe aufatmend, einsah, daß auch sie nicht mehr zu helfen vermochte.

Es waren damals die Führer der Tschechen begnadigt worden, während tausende kleine Däumlinge der Revolution, darunter manche reine, sich hinopfernde Schwärmer, gar still und zwecklos von ihren Galgen herunterhingen. Nachdenklich schüttelte Christoph das Haupt. Er hatte recht gehabt, zu mißtrauen und zu warten dort, wo ein oberster Eisenwille fehlte.

Und die Zeit des Druckes und der dumpfen Trostlosigkeit begann. Das Volk war so krank, daß alles eine fühlbare Erlösung zu finden meinte beim Aufflammen der furchtbarsten Mine, die jemals ein schlauer Gegner hinter die Front zu werfen verstand. Über die dumpfe Hoffnungslosigkeit der belagerten Staaten strich das sich entladende Lustgas der Wilsonschen Botschaft hin.

»Freie Selbstbestimmung der Völker!«

Um jene Zeit arbeitete Christoph im Kriegsministerium. Ohne Lust und mit selbstbetäubendem Fleiße. Als er nach Hause kam, fand er seine Frau wieder einmal in Begeisterung.

»Das ist der Erlöser! Das ist der Befreier von uns allen! Es wird fortab keine Sieger und keine Besiegten auf der Erde mehr geben!«

»Von wem redest du?«

»Wilson, Wilson,« rief die Frau, welche den Eindruck einer offenkundig Verliebten machte. »Du, vergrämter armer Kerl, hast's mit Gewalt machen wollen! Er macht's mit der Liebe und der Versöhnung! Die neue Welt schickt uns das Ei des Kolumbus; da: lies, lies!«

»Gute Grete, ich kenne das Ei schon. Uns wird es sich als Büchse der Pandora auftun.«

»Bist du denn so sehr verblendet von deinem Soldatenwahn, daß –«

»Ich weiß nur, daß es, seit die Erde steht, keine entsetzlichere Waffe gab, als das Programm der Liebe in Feindeshand. Und nun gar bei dem, der die Gewalt hat. Laß erst anwenden. Du wirst sehen, wer selber über sich bestimmen dürfen wird und wer nicht! Grete! Arme, gute Grete! Wir sicherlich nicht!«

»Kannst du das bloß denken, weil du im gleichen Falle so schurkisch handeln würdest?« Die kleine Frau war wütend. Christoph blieb ruhig und schonungsvoll, weil er bemerkte, daß sie in der Glut ihres Wollens und Hoffens nicht völlig zurechnungsfähig war.

Er sah sie bloß nachdenklich an. »Du,« sagte er dann: »Ich will dir, nach Jahren lieben Friedens, und trotzdem unsre Mädel so geworden sind, daß ich nicht an ihnen zu verzweifeln brauche, doch noch eine zweite Warnung sagen: – – Ich habe noch niemals Menschen beobachtet, die, fassungsloser und leidenschaftlicher, augenblicklich das glauben, was sie wünschen und wollen, als – ihr!«

»Als wer: ›wir‹? – – Ach, soooo – –«

»Ihr wolltet euren Gott, ausschließlich euren. Ihr habt ihn damit wirklich am Leben erhalten, aller Vernunft zum Trotz. Ebenso willst du jetzt, daß Wilsons Friede Ereignis werde. Ihr glaubt ihm, so gescheit ihr auch sonst seid, alles. Immer neue Spekulationen deiner Phantasie! – Wie oft hast du mir schon mit einer Sensation die Ehe gebrochen?«

»Aber du Schuster! Das ist ja gerade das Leben! Immer mehr sehe ich, wie unglaublich dumpf und untätig deine Natur ist! Wohin du kommst, ist Gebrüte und Nachgedenke mit! Immer mehr muß ich bei dir an das alte Witzwort denken, daß man die ganzen Männer einteilen könne in Schuster und in Schneider. Eberhard war ein Schneider. Du, der gefiel mir sehr! Und der Schuster bist du! Nicht ohne liefern Sinn hast du grade das Handwerk erlernt!«

Frau Grete lachte, daß es schallte. Sie klatschte in hysterischem Erkennen in ihre Hände: »Schuster! Du spintisierender, grämlicher Schuster!«

»Grämlich? Nein. Schuster? Vielleicht,« sagte Christoph heiterer, als sie sich bei dieser Szene erwartet hatte. »Es ist das Gewerbe Hans Sachsens und Jakob Böhmes gewesen.«

»Oh ja, von dem du die Schusterkugel so überzärtlich bewahrst!«

»Seit Jahrhunderten ist sie bei uns. Da mag schon etwas von dem zähen Pech in unser Blut gekommen sein.«

»Du: bist nicht du derjenige, welcher immer nur glaubt, was er glauben will? Warum ist es die echte Schusterkugel Jakob Böhmes? Nur weil du das so wünschest. Dabei hast du übrigens bloß einen Fetisch, während die Juden sich doch gleich einen ganzen Gott zurechtwünschen.«

Christoph lächelte sinnend und hörte nur halb.

»Es ist dieselbe Kugel, hinter deren bläulichem Licht Jakob Böhme über jenen Gott nachsann, den man sich nicht wünscht; den man suchen und erzweifeln muß,« sagte er träumerisch. »Übrigens haben wir alte Briefe darüber.«

»Briefe, ja; die bezeugen, daß sie aus seiner Werkstatt entnommen wurde. Für mich war sie immer nur die Kugel seines unzufriedenen Lehrlings, der im Zorn Jakob Böhmes echte Glaskugel an die Wand schmiß, als der Meister im Sterben lag und er nicht sein Fressen bekam. Hinter dieser deiner Kugel murmelten gemeine Flüche im derbsten Volksjargon. Hinter ihr wurden vielleicht die ersten kommunistischen Ideen, vielleicht der erste Hohn gegen Gott im ganzen damaligen Schlesien gesponnen! Und das ist nun dein Heiligtum!«

Christoph Hebedich versank in Nachdenken. Möglich war, was sie da spottete. Die liebe Kugel war, in Wahrheit, nur bezeichnet als »aus Jakob Böhmes Werkstätte«. Die Hebedichs alle hatten geglaubt, was sie wünschten. Grete ging unterdessen leise trällernd im Zimmer auf und ab. Sie fühlte sich plötzlich erwacht und weggewachsen über diesen schwerfälligen Mann.

Leise sang sie. Dreimal oder viermal sang sie zu einer Operettenmelodie die Worte: »Der echte Ring vermutlich ging verloren!«

Hebedich war nicht erzürnt. Er war nachdenklich, traurig, bestürzt sogar.

»Ja, ja: es kann sein, daß du recht hast.«

»Siehst du's?« triumphierte die kluge Frau mit einem wahren Trompetenstoß.

»Ja: ich sehe es,« sagte er und ging still geworden hinaus.

Verdutzt sah sie ihm nach, und erst, als er schon eine ganze Weile draußen war, fiel ihr ein, daß er einmal gesagt hatte, bei einem Siege schäme er sich selber zu allermeist. Sie hatte dergleichen jetzt nicht gefühlt. Sie biß aber jäh die Lippen zusammen in dem Gedanken: »Ach was. Ich will nach deinen taktischen Regeln verfahren. Erst die Verfolgung des geschlagenen Gegners aufnehmen; bis ich dann die Freude des Sieges habe! Und ich werde mich nicht schämen darüber: – ich!«

Es war nicht schön; sie wußte es. Aber seit der Erfolg Christophs dahin war, seit sie Österreich geschlagen fühlte, hatte sie auch für ihren Mann, den sie jetzt wie den Vertreter einer falliten Firma ansah, beinahe etwas wie Verachtung. Jene Verachtung, in welche sich allzu große und getäuschte Zuversicht leicht verwandelt.

»Schuster! Schuster!«


Es gab im Ministerium nicht mehr viel zu tun. Dort ging alles bleiern und schleppend; man schien allgemein nur mehr auf den letzten, tödlichen Schlag zu warten. Der verzagte Kaiser selbst war es, der die Zündschnur anlegte, und hinter der Front begannen die Völker Österreichs ihr jauchzendes » chassez, croisez« zu rufen. Die lothringische Quadrille des Völkerdutzends war zu Ende.

Wieder begann nun Christoph seine einsamen Gänge in der vielen freien Zeit. Und wieder wurde die ihn aus forschenden Augen beobachtende Frau unruhig. Was er denn in den Höhen und Wäldern vorhatte?

Sie konnte, wenn sie so in Neugierde geriet, beinahe wieder zärtlich mit ihm werden.

»Mein Freund, die Zeit fällt in Stücke: wir sollten eigentlich doch zusammenhalten. Du bist zu viel allein und du lässest mich zu viel allein, das muß ich dir sagen! Ich hätte dir neulich nicht wehe getan, wenn du mich nicht von dir sondern würdest, wie etwas Abzustoßendes.«

»Absondern?« fragte er gedankenlos, »das tue ich nicht. Komm, – wir wollen zusammen ausgehen.«

Draußen warteten die Kinder auf Mama, ahnten, daß die Eltern sich entfremdeten und blickten scheu zu Boden. Sie sahen dem Vater wenig ähnlich. Vielleicht nur die mittlere, welche die schönste und dümmste von allen dreien war. Die hielt sich auch so kühl und straff und verhalten, wie er.

»Aber es ist nichts dahinter,« spotteten die beiden anderen.

Dem Vater, der manchmal, ruhig und doch mit zitternder Seele, die Kinder auszuforschen versuchte, was ihnen denn so etwa teuer wäre, und was sie werden wollten, und was ihnen gefiele, ihm wichen sie aus. Er fragte immer wie ein guter, verstehenwollender Schulmann. Hätte er nur öfters einen fröhlichen Witz über ihre Dummheiten gemacht. Vor dieser schauenden Besorgnis hatten sie Angst. Er nahm sie ernst. Onkel Wolfgang hatte eine Art Liebe, welche sie leichtfertig als gegeben annahmen. Papa ließ sie nicht gelten, wie sie waren.

Frau Grete also kam mit Christoph heraus, und während er gedankenvoll die verlegenen Kindergesichter prüfte, fuhr sie fort: »Wir beide, Wolfgang und ich, haben an derselben Krankheit gelitten. Wir hatten Sehnsucht, Heimweh oder Neugier nach dem arischen Blute.«

»Hatten?« sagte Christoph in seiner verhaltenen Weise, der man nicht anmerkte, ob sie trocken registrierte oder vor verbissenem Weh bebte.

»Du weißt ja, wie Wolfgang sich um Martha bewarb, und wie sie, in ihrem Gotendünkel, ihn abschüttelte.«

»Du ahnst nicht, daß sie eine andere große Liebe zu haben scheint.«

»Dann hat sie jedenfalls eine sehr graziöse Art, treu zu bleiben,« spottete Grete. »Sie weicht dem freundschaftlichen Umgang mit anderen Männern gar nicht aus.«

»Vielleicht im Gefühl ihrer Sicherheit,« sagte Christoph.

»Da war sie Wolfgang gegenüber gar am Ende unsicher,« klagte Grete spöttisch. »Und der Verblendete, er hat seinen nahen Sieg gar nicht bemerkt!«

»Scherze nicht; es sind auch Dinge, die zwischen uns nicht erquicklich auszusprechen sind.«

»Man soll aber aussprechen,« sagte Grete. »Wolfgang; weißt du, was er gesagt hat? ›Diese Abneigung gegen uns Juden gibt es nur bei Verbildeten und Verhetzten. In Wahrheit, und beim gesunden Volke, ist eher etwas von einer magischen Hingezogenheit zu unserer fremdartigen und gewandten Rasse zu merken. Die blonden Mädel aus dem Volk sausen wie betäubt auf uns 'rein,‹ hat er gesagt.«

»Schauerlich, wenn du recht hättest,« sann Christoph.

»Na, und hat er jetzt nicht ein schönes Mädel?« fragte Grete.

»Ja,« erwiderte Christoph gedämpft. »Aber das gehört nicht vor die Kinder.«

Die älteste von den dreien des Ehepaares kam aus ihrer Ecke und sagte, indem sie sich zu ihren Eltern stellte, mit ihren zwölf Jahren die kaum zu glaubenden Worte:

»Wenn zwischen Papa und Mama Rassefragen erörtert werden, so habe ich das Recht, zuzuhören. Denn gehöre ich nicht gewissermaßen zur Sache?«

Frau Grete horchte auf, leuchtete auf. Dann umfaßte sie, beinahe schluchzend vor Lust, den klugen, rötlichblonden und etwas mageren Balg und rief, während sie ihr Kind mit Küssen überschüttete, einmal über das andere:

»Judenmädel, Judenmädel! Du! Du!«

Wortlos ging Christoph hinaus.


Er ging einen einsamen Weg, wie oft. Er suchte den Wald und die Höhe, und er versuchte dort das Rauschen der alten, nie gestorbenen Götter mit der beseligenden Größe des Galiläers in seinem Herzen zur Einheit zusammen klingen zu lassen. Aber umsonst. Die guten Geister mieden ihn heute, denn etwas wie Schreck und Haß mißtönte in seiner Seele. Er dachte viel über den längst gefürchteten Ausbruch seiner Frau nach. Wohl hatte er das Gefühl, daß sie noch um ihn rang, aber der hohnvolle Leidenschaftsausbruch, in dem sie sich jetzt geoffenbart hatte, war ihm zuviel. Oh, diese ihre Gesellschaft, in welche sie jetzt völlig zurückgekehrt war! »Adel und Soldat, bedeuten denen ja nichts mehr. Keine Erfolgreichen!« Er lachte bitter. Dann wieder begann er sich selber anzuklagen. Was Anklage des Blutes, was jahrtausendalte Erziehung in sein Weib gelegt hatten, er hatte es ihr vorgeworfen wie etwas gewollt Böses. Er hatte es ihr, was noch schlimmer war, in unguten Augenblicken vorgeworfen, statt die guten Stunden in angeregtem Gespräche über diese Blutsfragen zu ebensoviel guten Freunden ihres Zusammenlebens zu machen. Abgeschlossen hatte er seine Welt vor ihr, und nun hatte er den Fluch. Sie hatte zu Martha, hatte zu ihm gewollt, beide empfanden das wie eine Eindrängelei. Nie aber hatte er zu ihr gewollt und so begann sie, verstockt zu werden.

»Sie hat in mir nie den Goj gesehen; immer nur den Menschen. Ich aber in ihr die Jüdin.«

Unedel war es freilich, ihm das jetzt heimzuzahlen. Im Augenblick, da seine ganze Welt Schiffbruch gelitten. Im Augenblick, da der Mann der Frau bedurfte!

Bedurfte er denn ihrer? Er ging ja durch seine Wälder. Aber mit welchem Herzen!

Da droben auf der Höhe war eine Stelle, wo unter dem Triangelzeichen ein uralter Grenzstein tief in den Grund gebettet aus der Erde ragte. Er bezeichnete drei zusammenstoßende Marken, von denen zwei noch die unveränderten Herren und Grenzen aus der Babenbergerzeit aufwiesen. Hier stießen zusammen der landesfürstliche Privatbesitz und der andere aus grauer Stifterzeit, da das erste große Kloster des Landes noch mit der Heidenbekehrung zu tun hatte. Des Klosters war damals dieses zweite Stück Erde geworden. Die dritte Mark aber, herrlicher Wald und Jagdboden, hatte oft ihre Besitzer gewechselt, und seit beinahe einem halben Jahrhundert gehörte sie der reichsten Judenfamilie Österreichs, deren Freiherrnkrone ziemlich neu in eine der drei Flächen des uralten und sonst niemals berührten Steines eingemeißelt war.

Dieser Stein war ihm stets Symbol gewesen.

Auf der Seite des neuen Wappens war er stets sauber erhalten. An den anderen beiden Seiten seines Dreieckes war er urig verwittert und vermoost.

Dieser Stein hatte ihm, so oft er zu ihm gekommen war, irgendetwas Geheimes gesagt. Einmal im ärgsten Winter, an einem Tage, der zu Selbstmord stimmte, so elend und öde schien er, war er dorthin zum ersten Male gekommen. Alles lag unter Schnee und Eis und Graunis. Die Wolken selbst waren wie tot vor Unentschlossenheit und Langeweile. Bloß der Stein ragte aus dem schmutzigen Schnee und war rot, brennend rot.

Irgend ein Moos hatte gerade Hochzeit, mitten im Winter; irgendeine unverbesserliche Wetterflechte! Oder war es bloß der Kontrast? Oder war dieses zornige Rot bloß eine Schutzfarbe gegen den krachenden Frost? Kurz, der Stein redete, lebte hochauf, tröstete. Er malte eine lustige Farbe. Christoph lächelte, begriff und sagte zu seinem Herrgott: »Du lieber, du guter Geheimschreiber!«

Er kam damals viel willensstärker und lebensmutiger zu Tale, als er hinangestiegen war.

Ein andermal waren ihm Hindernisse über Hindernisse im Dienste begegnet, über die er nahezu verzweifelte. Er wußte nicht, wie sich das so häufen konnte, wie er soviel Unglück bei den Vorgesetzten haben konnte, die ihm all seine Pläne absprachen und verurteilten? In seiner Verwirrtheit wollte er sich Kraft und frische Luft auf einem Gange in den Wald schaffen, und wie zufällig kam er wieder zur alten Grenzmark.

Da hatte der humorvolle Stein auf seiner Spitze ein Denkmal. Eine Bretzel aus frischem Fuchskot war es, kenntlich an den Vogelfedern und Mäusehaaren darin. Christoph lachte hell auf.

»Natürlich ist es das! So schlau der Fuchs auch ist, er muß seinen Mist immer oben auf den höchsten Stein legen! Also: warum frage ich denn nicht einfach nach, wer sich in letzter Zeit von meinen verehrten Kameraden bei meinem Exzellenzherrn besonders mausig macht?«

Und in gespornter Munterkeit kehrte er um, kam ins Ministerium und stieß in der Tür seines Vorstandes mit einem so verlegenen und so überfreundlichen, ja herzlich werdenden Herrn zusammen, daß er sogleich wußte, von wem ihm der Stein erzählt hatte.

Heute ging er beinahe in abergläubischer Scheu zur Höhe der Erlösung empor, die ihm solcher Befreiungen schon viele gebracht hatte. Diesmal grübelte er dort lange nach, sah seinen, von fünf und sechs Flechtenarten gemeinsam bewohnten Stein lange und nachdenklich an und erriet nichts.

Endlich fielen ihm die Wappen auf. Er zuckte zusammen.

»Beide Herren der Welt von ehedem, Fürst und Geistlichkeit, haben sich mit dem Juden zu stellen gewußt. Ich nicht,« sagte er langsam. »Wenn die nachgeben und ihr Dreieck machen … was bin dann ich für ein Romantiker?«

Er kämpfte mit sich. »Ich werde aber Romantiker bleiben,« entschied er dann. »Ich habe ja bald kein anderes Metier mehr.«

Das lebhafte Atmen eines Menschenkindes, rasche, leise Schritte weckten ihn aus seiner schwermütigen Selbstironie. Seine Frau war bei ihm.

»Ich bin dir einfach nachgegangen,« sagte sie, und ihre roten und erquickten Wangen, ihre belebt blauen Augen leuchteten herausfordernd hübsch und angeregt. »Du opferst auf diesem alten Steine hier wohl dem Wotan?« fragte sie mit einem flüchtigen Blick.

»Du weißt, daß ich Christ bin,« sagte ihr Mann; aber er sagte es gutmütig; denn die Warnung des Steines hatte ihn nun doch erfaßt. »Aber dieser Stein ist mir wirklich wertvoll. Denn siehst du –«

Und nun setzte er sich neben sie und begann ihr, ganz wie der Mann seinem Weibe tun soll, alle die kleinen Dinge zu erzählen, die er hier oben erlebt.

Aber es war zu spät. Frau Grete war nicht versöhnlich gekommen.

»Ihr seid doch alle Nigger und müßt unbedingt einen Fetisch haben!« lachte sie.

»Was weißt du davon, welche wunderbar feinen Vorstellungen so ein Naturkind mit seinem Fetisch verknüpft,« erwiderte Christoph, ebenso lachend, wie seine Frau.

»Und was ihr aus eurem Joisel macht und aus – –«

»Was ist Joisel?«

»Na, Jesus!«

»Und aus? –«

»Aus seiner Mama,« sagte Grete. »Ihr wollt sie bloß von eurer Seite her kennen. Wir haben andere, uralte Wege von andersher zu ihnen; ebenso geschichtliche, mindestens ebenso richtige oder anzweifelnswerte, als eure Evangelien.«

»Was! Traditionen über Christus? Mündliche?«

»Nein, geschriebene! Die ältesten Handschriften, noch in römischer Kursive.«

»Es ist wahr, ich habe von zwei Wormser Pamphleten gehört, welche schon Luther gekannt hat, und welche man mit den Apokryphen zusammen abdruckt.«

»Ja, und von denen schon Voltaire sagt: › C'est une histoire de la vie de Jésus Christ, tout contraire à nos évangiles; elle paraît être de premier siècle et même écrite avant les évangiles.‹ Älter als die Evangelien also! Celsus, der Heide und Justinus Martyr kannten sie schon!«

»Du hast sie gelesen?«

»Natürlich hab' ich sie gelesen! Sie waren doch in Österreich verboten!«

»Und?«

»Sie sind, wie alles menschliche Dokument, stellenweise blitzdumm, aber hochinteressant. Jedenfalls werden dir die Augen sehr weit werden davon, mein Freund!«

»Kannst du sie mir beschaffen, diese Schriften? Ich hätte jetzt eben Zeit.«

»Ach so, du hast nun schon Zeit?« sagte Grete mitleidig. »Na, dann komm nur mit herunter und genieße sie in aller Muße. Ich hab' sie längst zu Hause. Seit du mich daran gemahnt hast, daß ich Jüdin bin.«

»Es war unklug und es war schlecht von mir. Wir sind alle verhetzt, Grete.«

»Es geht auch so. Ich meinerseits bin zu meinen Leuten gegangen und habe mich ebenfalls verhetzen lassen. Aber, das muß ich dir schon sagen: was man bei uns über euch sagt, das ist sehr viel unterhaltlicher und witziger, als eure völkischen Kapuzinaden, die langweilig, dumpf und trocken sind, – so wie du unsere Ehe gestaltet hast: Langweilig, dumpf und trocken. – Oder nicht? Nicht einmal die kleinste Perversität hast du begangen oder von mir verlangt, wie sie eine Leidenschaft so reizvoll verzieren könnte! Ich kenne dergleichen nur aus den Witzen meiner Kaste, in die du mich zurückgetrieben hast, in der es aber sehr viel amüsanter zugeht, als bei dir. Schuhe hast du mir geschustert: Dieser Fetischismus mit meinen Füßen war deine einzige Perversität.«

»Du hast recht; ich bin schwerfällig und weder lustig noch sehr lebensfroh, noch witzig; – sondern beladen. Und doch komme ich mir oft so reich vor, daß ich mein Allgefühl in alle armen und betrogenen Seelen verteilen möchte! Entsinnst du dich nicht mehr? Wie oft habe ich es dir gesagt: Verteil' dich, Grete; versink in diese Ährenfelder, in diese Weite, in dieses Seeblau, in den Frieden dieser Rehe, – und du bist erlöst. Du hast mich ausgelacht, da schwieg ich. Sieh nur jetzt, wo wir in die Schrebergärten herunterkommen, wie sich alles herbstlich vollendet! Wie diese Purpurwicken duften und träumen; – das alles sind wir selber; wir können ihre Geschwister werden. Die Sonnenblumen, die stillen Menschen in ihren entzückenden, kleinen, mittagsschattigen Veranden! Und dort das herzbewegende Ernten! Und hier der Geruch der neu aufgebrochenen und gestürzten Erde! Ah, ich fühle, daß alles gut werden muß, und mir ist leicht, leicht!«

»Ich fühle gar nichts,« sagte Grete müde lächelnd. »Ich sehe nur, daß all das eine Spielerei großer Buben ist, die ja doch an den Lebensmittelpreisen nichts ändern kann! Und wie ebenfalls dumpf und stumpf und beladen sie all das tun. Hast du je in den Schrebergärten singen gehört? Ich nicht. Und da kommen sie am Sonntag heraus und hauen stupid und geistesabwesend in den trostlosen Erdboden hinein, immer darauflos, mit gebogenen Rücken! Heißt Vergnügen!«

»In den trostlosen Erdboden?« staunte Christoph. »Ich habe oft bemerkt, daß du die Natur nie anders als aus der Ischler Esplanadenperspektive lieben und verstehen konntest: Aber dieser dein Haß gegen die herrliche, offene, empfangende Erde und gegen diese verehrungswürdigen Menschen, die den harten aber innigen Weg zu ihr zurückgefunden haben, – der ist wirklich – –«

»– jüdisch?« vollendete sie lachend.

»Das wollte ich nicht sagen,« beteuerte er. »Aber nun erinnerst du mich selber daran, was für Antisemiten diese Menschen sind, und wie instinktiv dein Haß ist! Denn zwischen Mensch und Mensch könnt Ihr euch geschäftemachend schieben: zwischen ihn und die Erde nicht!«


Dann las er die Geschichte Jeschu des Vaterlosen, wie sie in den beiden Wormser Handschriften überliefert ist. »Ach, wo ist hier die holdseligste aller Legenden vom Stall und den Hirten und der reinen, erschauernden Heiligkeit Mariens!«

Dieses Buch, das dem Zweifler zuerst alle Süßigkeit der Legende nimmt, als wäre es dazu bestimmt, zuletzt nur die reinsten Herzen bei ihm zu lassen! Dem guten Christoph war zuerst wirklich, als entstürzte das Herz seinem Leibe.

Alles, was ihm bisher trauter gewesen war, wie das deutsche Kindermärchen, ja lieber, als der Wald mit seinen Schauern und die Sonne und der lustige Wind, es war hier entstellt, haßgefärbt und geleugnet.

Die süßeste Reinheit, dieses schönste Gedicht einer kindesseligen Menschheit, Maria! Sie war bemakelt und geschmäht, daß er hätte verzweifeln mögen, wie ein Mensch zwischen die Zeilen solch eines Liedes so kreischende Worte des Unflats zu schreiben vermochte! Gab es denn fortab kein Heiligtum mehr, in welches sich das geängstigte Herz verkriechen durfte, wenn dieses hier besudelt werden konnte?

Alles, alles: die rührende Gestalt des hilflosen Greises Joseph, die Legende vom Stall der Armut zu Bethlehem, die Flucht nach Ägypten, alles häßlich, ja gehässig geworden! Vieles war wohl auch unabweislich verwechselt, mißverstanden und erlogen; – manches aber doch, bedenklich starr wie Wahrheit im Besitz des Lügners, stets wiederholt, behauptet und festgehalten. Unverstanden bloß der stete Hauch von Liebe bei all den Wundern, die auch die Feindesschrift zugibt. Nichts als krasser Aberglaube und erlernbare Kunststücke sind sie hier: von anderen ebenfalls gekonnt und nachgeahmt. Kein leisestes Wehen der Erkenntnis seiner Selbstverschenktheit. Nur dumpfe Wut gegen den unerklärlich Halsstarrigen, der die Buchstabensatzung des hohen Rates verhöhnte und das Gesetz umstieß. Nicht die durch alle Herzen dringende Rede des Liebenden war hier gehört: verflucht, mit allem Geifer namenlosen Hasses und Entsetzens, war lediglich der Ableugner der alten Gebräuche.

»Jeschu: – das heißt, sein Name werde ausgetilgt!« So stand er in diesen Schriften. Das Wort Evangelium klang in Avonkelajon um: und das heißt »Vollendung der Ungerechtigkeit«. Das Wort Gerechtigkeit aber nicht etwa im Sinne des Ideals arischer Gerichte, sondern in jenem der Buchstabengerechtigkeit der Schriftgelehrten gemeint. Für Christoph wurde das Buch zu einer grauenhaften Enthüllung der Judenseele. Trotzdem zwang es da und dort zu skeptischem Nachdenken; zu einer historischen Revision der Evangelien.

Mit trocknen, brennenden Augen saß Christoph und las und grübelte. Er war in seinem Zimmer allein; aber er wagte schon nicht mehr, sein Kruzifix zu holen und ans Herz zu pressen: Semper aliquid haeret. Denn wirklich, für heute war das Bild des himmlisch heitern und gütigen Jesus dahin; er fühlte es. Irgendein Gefühl rief seinen Rechtlichkeitssinn auch gegen die schönste Gottessage der Erde auf. Dort, wo er fühlte, es käme eine uralte Tradition zutage, die nicht den Haß, sondern das wirkliche Geschehen zum Grunde hatte, dort entschied er erbarmungslos gegen sich und für das Pamphlet.

Er dachte dabei an seltsame Stellen in jenen Evangelien selber, wo Christus etwa seine Mutter anfährt: »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen!«

Warum sprach der Sohn so zur reinsten Königin aller Himmel?

Oder, wenn er alle Blutsverwandtschaft ableugnete, nur um des Geistes willen, in dessen Reich er sich gänzlich gerettet hatte: »Wer sind meine Mutter und meine Brüder und Schwestern? Diese da, die im Geiste mit mir sind, sind mir Mutter und Bruder und Schwester!«

Dieses schroffe Abtun aller Familienbande bei dem sonst so Gütigen und Sanften konnte nur aus dem Schmerz einer fürchterlichen Erkenntnis und Scham erstanden sein. Hier war sie aufgedeckt. Der vom Gesetz verfluchte Sohn eines fremden Soldaten, wohl gar ein Kind des Ehebruches, wollte die Schuld seiner Erzeugung zusammen mit seinen Erzeugern von sich werfen und rettete sich, als wäre er aus der eigenen Sehnsucht rein und neu geboren, vereinsamt in Gottes Hände.

Und das war es, was beide zusammenband, Evangelium und Pamphlet.

Christi Flucht und Absage vor der Mutter, die ihm schmerzzerrissen nachkroch, wie ein vom eigenen Herrn auf den Tod verwundetes treues Tier, das ist ihre rührendste Heiligkeit. Für sie hat er niemals ein Liebeswort; für sie allein nicht!

Er liebt, ja er achtet seine Mutter nicht. Wie mit einer Art Verzweiflung sucht er, von Anbeginn und aus sich selber, aus Gott zu erstehen und wiedergeboren zu werden, ohne Mutters und Vaters Geschichten!

»Der Vaterlose!«

»Das Wort enthielt den ärgsten Fluch bei einem Volke, das völlig auf gezüchtetem Samen beruht. Er wandelte es zu einem unerhörten Werte der Größe und des Segens, indem er sich selber erschuf.

»Nein, nein; diese alte Sage von der Entstehung Christi aus der ungezügelten Leidenschaft eines Gewaltmenschen heraus tritt schon von Anbeginn viel zu hartnäckig und gleichförmig in die erste Christengeschichte mit ein, als daß man sie zugleich mit anderen, vom Haß erdichteten und allzu deutlich gestempelten Vorwürfen des Pasquills abschütteln darf! In diesem Buch ist nicht alles Lüge.«

Christoph senkte den Kopf in die Hand und las wieder und grübelte:

»Nun gut. Selbst angenommen, wie hier steht, daß die Siegerin der Reinheit, die Jungfrau aller Himmel, nichts als eine arme Haarkräuslerin gewesen; – eine Coiffeuse! Aber hat sie nicht ehrlich gearbeitet? Und selbst hier in diesen Blättern bleibt sie immer schüchtern und rein; – das kann ihr sogar die Schmähschrift nicht nehmen!

»Die Legende von der Vaterschaft des Pantheras kommt sogar in einem der innigsten und gläubigsten Evangelien, dem des Nikodemus vor. Ist Maria dadurch befleckt? Auch hier, bei den Feinden, kann der schöne und große Soldat, wie ihn die Pamphlete schildern, voll Tapferkeit, voll Begierde und Wildheit, kann auch er die süße Verkrochenheit Mirjams nur erobern, indem er sich für ihren Bräutigam ausgibt und sie als solcher, gegen den sie sich noch wehrt, bei Nacht überrascht. Endlich, und nur demütig unter das Gesetz geschmiegt, das dem Bräutigam Gattenrechte zumißt, empfängt die Jungfrau von dem wilden Griechen ihren Erstgeborenen. Und, was geschieht dann, – selbst in dieser Schmähschrift!? Nie mehr können die beiden sich trennen, und aus dem bisherigen Verführer von vielen Mädchen wird ein treuer Gatte, der Mirjam fortab gegen das Judengesetz verteidigt, der sie hält und stützt, der mit ihr flüchtet, darbt und leidet, der seinen Namen wechselt und im Exil mit ihr zusammenhält, treu durchs ganze Leben!

»So groß ist die Gewalt Mariens selbst in der Schmähschrift! – –

»Und was wirft das Pasquill dem Knaben vor, der aus der Liebe des Pantheras entstand? Daß er schon in den Tagen ungeahnter Mannbarkeit aufrichtig, unbeugsam und mutig war. Daß er offenkundig Verachtung zeigte, – wenn er verachtete. Der Schüler des Weisen Elchanan ging an den Ältesten der Buchstabengelehrsamkeit unbedeckten Hauptes vorüber, mit freier Stirn. An jenen Mächtigsten im Lande, vor deren Blick sich selbst Männer ehrfürchtig verhüllten, als glühte die Wüstensonne auf sie.

»Und mußte nicht gerade der, welcher geschaffen war außer allem Gesetz, ein neues und besseres Gesetz erfinden für sein eigenes Herz, damit er sich nicht zu schämen hatte? Was für eine neue, zwingende Erklärung des Verkünders geht von dieser Entstehung aus unsinniger, fluchbeladener Liebe hervor!

»Nur er konnte sich selber das eigene Leben schaffen, als wäre er der erste aller Entstandenen. Nichts Übles weiß ihm die Schrift nachzusagen als jene Schande, welche von außen her und von anderen angetan wird. Seine Leiche wird am Schwanz eines Pferdes durch den Kot geschleppt, seine Seele ist auch hier unverwundbar groß.

»Im anderen der Manuskripte steht die außerordentliche Schönheit der Mutter des Erlesenen wie auf abendsonnigem Goldgrunde gemalt. In beiden lieben sich diese beiden schönen Menschen, der wilde und gierige, fremde Kriegsmann und die scheue Maria, ihr Leben lang. Er ist durch ihre Magdhaftigkeit entsühnt und verwandelt. In beiden klingt aber Eines verstärkt wieder, was schon die Evangelien ahnen lassen: der Groll Jesu gegen das schwache Menschentum der liebenden Mutter. Er erpreßt ihr das Geheimnis seiner Abkunft und geht dann, – frei von ihr und seinem Erzeuger – daran, sich aus sich selber neu zu erzeugen. Wahrhaftig, ein Unterfangen, eines Gottes würdig!

»Und nun: Sein Gegenpol! Jehuda, der Judas Ischarioth der Evangelien.

»Er schleicht sich durch Verrat und Lüge in das Herz des durch sich selber Geheiligten ein und wird darum gelobt von denen, die beide Schriften abfaßten. Wohl auch von denen, die sie frohlockend weitergaben, von Hand zu Hand, durch die Jahrtausende?

»Einem faulen Hirten gibt Jesus dort, in lächelnder Weisheit, ein munteres und fleißiges Mädchen zur Frau; das ähnelt dem Weitschauenden, auch wenn es nicht in den Evangelien steht! Und da steht noch eine andere Anekdote: – wohl das älteste aller überlieferten jüdischen Lozelech! Das Geschichtchen ist lehrreich, denn es soll, neben Christi Torheit, die kluge Lebensweisheit des Jehuda beleuchten.

»Jesus, dann Simon, der Sohn des Jonas, und Jehuda. Sie kommen nach ermüdender Wanderung durch Bergwüsten in eine kleine Wirtschaft, und für ihren Hunger ist nichts zu finden als ein Stückchen Gänsebraten.

Sagt Christus: ›Für einen ist es genug, für dreie nichts. Wir wollen uns hungrig schlafen legen, und der Vater soll es morgen dem gönnen, dem er den besten Traum zugesendet hat.‹

Jehuda traut nicht, daß er den besten Traum erleben könnte; er hält sich an die Wirklichkeit, erhebt sich zu Nacht, stiehlt das ersehnte Stück Gansel und verzehrt es.

Am anderen Tage sagt Petrus: ›Herr, der Braten ist mein! Ich bin im Traume zur rechten Hand Gottes gesessen!‹

Erwidert Christus: ›Zu meiner Rechten also? Dann hatte ich die bessere Stelle. Und du, Jehuda?«

›Was soll ich bescheidener Mensch neben Euch gelten? Nichts hab' ich, als geträumt, ich selber hab' die Gans gegessen.‹ Und wirklich, als sie suchten, da hatte ihm das Richtige geträumt.«

»Das also ist das Ideal und das Anteil Jehudas an dieser Erde in der ältesten Anekdote über das Christentum,« sagte Christoph nachdenklich.

Die grauenhafte Verschiedenheit der Seelen, aus denen beide Weltanschauungen erflossen, die, welche er in sich trug – und jene des Rabbi Juchanan bar Sarkas erschreckte ihn tief.

Während er noch las oder grübelte, kam wie zufällig einmal die eine und dann wieder die andere seiner Töchter herein. Er sah in ihre Gesichter und erschrak wie vor einem Gespenst. Nicht weil ihr gespanntes und belustigtes Lauern ihm verriet, daß Mama sie gesandt hätte, um auf dem Antlitz des Vaters zu lesen. Nein. Aber dasselbe Zeichen des Reiches von dieser, gänzlich von dieser Welt, welches sich in beiden Aufzeichnungen so grauenvoll deutlich und willensmächtig auftut, es sah ihn auch aus den Augen der sich schlau und demütig gebärdenden Mädchen an.

Das war es, was ihm die Fassung mehr nahm, als jene alten Schriften, in denen ihn am Ende nichts anderes nachdenklich machte, als die Kunde, daß der Reinste sich mit einem Weibe, der Tochter des Stadtrichters von Ai, verlobt haben sollte.

Aber diese alten Bücher warfen, in ihrem tollen Anachronismus, ja auch den König Jannäus und den Täufer Johannes vor und hinter den leidenden Christus, wie es ihnen beliebte. Sie waren, ebensowenig wie die Evangelien, zur frischen Zeit der Begebnisse aufgeschrieben. Befreit und eher erquickt und bestätigt, als entgöttert brachte er den »Dolem Jeschu« seiner Frau zurück.

»Charakteristisch: dein Bedürfnis, mir das zu geben.«

Frau Grete forschte in seinem Antlitz, als er so zu ihr hinaustrat. »Hat es dich angegriffen?«

Da flammte der ganze Haß, den jenes Buch enthielt, in ihm selber auf und wendete sich gegen sie als Jüdin.

»Es hat mich nur angegriffen, weil ich mitten im Nachdenken über euren grauenvoll materialistischen Lebenswillen plötzlich die Gesichter meiner Kinder erblickte und erkannte,« sagte er in einer Art wilden Ekels.

»Grauenvoll materialistischer Lebenswille?« lachte Frau Grete. »Was willst du! Alle Zwanzigjährigen sind Idealisten; die Vierzigjährigen sind Materialisten geworden. Wir sind mehr als doppelt so alt wie ihr, das ist alles! Euer Getu' ist geradeso, wie wenn Studenten einen Minister verachten und ihm womöglich seine Erfolge vorwerfen. Er hat eben Zeit und Plage genug gehabt, gescheit zu werden. Und erlebst du es nicht, daß ›unsere Leute‹ oft schon mit achtzehn Jahren fertige Menschen sind? Und daß ihr erst mit Vierzig reif werdet? Geh doch! Aller Antisemitismus ist die Wut des Zwanzigjährigen gegen den erfolgreichen Vierziger.«

»Möglich,« sagte Christoph. »Doch könnte auch der Vergleich von Frühobst und Spätobst stimmen.«

»Und wenn wir auch schon im Frühsommer geerntet werden?« frug die Frau. »Bedenke, wir sind mißtrauisch. Wie wenig hat unser Volk an Begeisterungen mitgemacht, und wieviel an Verzweiflungen! Wenn wir eilig sind, uns an das einzige zu klammern, was eben für uns noch zu haben ist, der äußere Erfolg, – vielleicht tun es viele aus Verzweiflung – dann sind wir die Elenden? Sind es nicht viel mehr jene von euch, die ohne Not dem Geld nachgehen?«

»Ich weiß nicht, ob du recht hast. Ich sehe nur, daß du mich an meiner Seele treffen wolltest und mich in meiner Nachdenklichkeit aufhältst und ablenkst. Ich muß zu mir selber gelangen. Ich habe jetzt dich angesehen, ich habe meine Kinder gesehen. Weder sie bleiben bei mir, noch du bleibst bei mir, das fühle ich. So laß mich zu mir gelangen.«

»Ja, ja! Und auf den Weg gebe ich dir hier das Abendblatt mit. Der Gedanke Wilsons hat gesiegt, Freiheit und Menschentum haben gesiegt; gegen eure Welt. – Jetzt ist abgeblasen und ausgeblasen!«

»Für den Staat meinethalben. Aber glaubst du, jetzt werde der Sieg der Gerechten kommen und der Unterdrückten? Nein. – Es gibt nur zwei kriegführende Völker auf Erden; die Bescheidenen und Friedfertigen hier – und die Gewaltsamen dort. Immer werden die ersten überfallen und ausgeraubt und müssen sich ihr Reich anderswo suchen. Du denkst sicherlich, ich sei ein Feind deines Blutes. Ich bin nur ein Feind des leidenschaftlichen und gehässigen Menschen aller Rassen. Denn entweder ist er überhaupt kein Mensch, oder wir anderen sind enterbte Götter, denen aufgelegt ist, sich ihren Himmel selber wieder zu bauen.«

»Fahr hin in deiner Pracht,« sagte Frau Grete.

Sie sah ihm mit verächtlich zuckenden Lippen nach.

Nein; der nachdenkliche und schwerblütige Offizier ging nicht wie ein Gott von ihr! Schwer hing sein Haupt hernieder, von der Last vieler Sorgen und Beängstigungen gebeugt.

Er wußte jetzt, sein Weib war ihm verloren. Sein schönes Weib! Denn sie war schöner als je. In ihrer Schlankheit und ihrer Lebenneugier war sie reizend, ihre Seele aber war ihm immer fremd und fern gewesen.

Und nun er diese Seele von sich gestoßen hatte mußte er diesen wonnevollen Körper zur Strafe mit verlieren. An einen anderen gar? …

Der Mann in ihm schrak zusammen.

Das war das unerträglichste, was seinem Blute, seinem Innersten widerfahren hätte können und empörte jede Faser in ihm! Solange dieser Gedanke in ihm noch neu war, wollte er sich wenigstens das Weib bewahren und es verteidigen –, und wenn er seinen Herrgott und seinen Glauben dafür hinfahren lassen mußte! Nur das nicht, sie einem anderen lassen. Denn Sinnentaumel war seine Liebe gewesen, sonst nichts; so wie die ihre Neugier und Sensation war, sonst nichts. Versäumt hatten beide das Köstlichste der Ehe, das mitteilende Ineinanderwachsen.

Freilich; nur im Gefühl des ersten Entsetzens wollte er seine Seele um ihren Leib hingeben. Aber Schwäche blieb es dennoch. An welch einer Wende seines Lebens war auch Christoph soeben, als der Zusammenbruch des alten Zentraleuropa ihn aus einem hochgebietenden Herrn zu einem verhöhnten Wegwerfsel, zu einem Abfall aus der alten Auskocherei machte.

Er, der beinahe niemals daran gedacht hatte, Zivilkleider zu beschaffen, mußte sich jetzt von seinen letzten Ersparnissen einen rauhen Lodenkittel kaufen. Denn sich von dem Gelde seiner Frau für die neue Lebensführung auszustatten, das hätte sein Stolz nicht zugegeben. So sah er denn recht kümmerlich aus.

Grete blickte ihn mit entsetztem Mitleid an, als er einmal so heimkam.

Was war aus der blauen und hochroten, goldgeränderten Herrlichkeit für ein armes Mannesding ausgekrochen! Er sah aus, wie etwa ein treuherziger, alternder Forstadjunkt, der nie Förster werden kann, weil alle Stellen längst überfüllt sind!

»Was willst du jetzt tun,« fragte Grete. Und wider Willen kamen ihr die Tränen.

»Nachholen, was ich versäumt und zu Unrecht geringgehalten habe. Wesentlich werden. Mein eigenes, stilles Menschentum ausflicken,« sagte er traurig lächelnd.

»Reizt es dich denn nicht, von vorne anzufangen und neu zu erobern, was du verloren hast? Die Macht!«

»Mir hat die Macht niemals wohlgetan; sie war immer eine Bürde,« sagte er müde.

»Christoph, ich will dir helfen!«

»Wozu; zu mir selber?«

»Was geht mich dein Selber an! Ich will dem Vater meiner Mädel helfen und meinem Manne. Du mußt wieder obenan stehen, wenn dich eine Frau achten können soll; hörst du?«

»Ist es dir gar nichts, wenn ich – innerlich obenan stehe?« fragte er.

»Nein,« sagte sie. »Das verstehe ich nicht, oder besser gesagt, ich will es nicht verstehen. Aber hör' mir zu und überleg' dir's. Heute Abend ist Empfang auf der italienischen Botschaft; dort werden jetzt große Geschäfte gemacht. Du kannst jede Lieferung erhalten und übernehmen. Die italienischen Herrn sind nobel! Sie werden es sich zur Ehre anrechnen, einem ritterlichen und unglücklichen Kameraden alle Vorteile, die sie als Sieger in Händen haben, zuzuwenden.«

»Als Sieger! Seit wann sind denn die Herrn Erdroßler und Aushungerer Sieger? Sind denn das Sieger, die nicht einmal stark genug waren, dieses zu Unrecht zusammengepreßte Völkergemisch zu lösen? Die von ihm geschlagen oder wenigstens zurückgehalten worden sind, jahrelang, und erleben mußten, daß ein Schlagwort aus Amerika genügte, um zu zerstäuben, was sie mit all ihrer Kraft nicht vermochten? Daß du so was Sieger nennst. Dir scheinen die Begriffe Sieg und Erfolg dasselbe zu sein?«

»Ja; was denn sonst?« fragte sie diesmal wirklich ahnungslos.

Er wandte sich ab, ohne weiter ein Wort von ihr hören zu wollen.

Frau Grete sagte auch nichts weiter als: »Gut.«


Und dann kam das Schwerste. Christophs Kameraden, die, überallhin zerstreut, verbittert und rachebrütend, ihre karge Nahrung suchten, trugen es ihm (rücksichtslos, wie sie im Daseinskampfe geworden waren) drei- und fünfmal zu: »Deine Frau treibt es mit einem italienischen Offizier! Mit einem nobeln Conte! Sporen hat der Kerl über den Fersen wie ein Gockel, und er geht auch so! Der begleitet dein Weib auf Schritt und Tritt. Sie lacht holdselig dazu.«

Das war furchtbar zu hören.

Zuerst klammerte er sich an den Glauben von der Treue seines Weibes. Wie ein Kind tröstete er sich selber: »Sei gescheit! Das ist ja ganz unmöglich! Schon eine Mutter kann so was nicht tun; schon wegen ihrer Kinder nicht! Und mein ältestes Mädel weiß sich ja doch zu halten; auch geht sie immer mit der Mutter. Nein, nein; das gibt es nicht. Der Haß verblendet meine guten Kameraden. Der Haß gegen den sogenannten Sieger – und gegen die Jüdin!«

Dann hatte er dennoch Gelegenheit, sich an der Wahrheit das Herz abzustoßen. Seine Frau, viel zu stolz, um sich in Plänkeleien eines gelangweilten Geschlechtstriebes zu verlieren, für die man es im Deutschen nicht der Mühe wert gefunden, statt des Wortes Liaison einen Ausdruck zu erfinden, und viel zu aufrichtig, um eine wirkliche Leidenschaft nicht mutig einzubekennen, sagte ihm eines Tages offen: »Du. – Ich bin verliebt.«

»Wer ist es,« fragte er wie wesenlos; aber in sein Eingeweide griffen die Krallen eines namenlosen Grauens.

»Eben einer von jenen, denen du den Sieg nicht zubilligen willst.«

Er starrte sie wesenlos, ja tot aus seinen ehedem hellen und jetzt so fernen und abgeschiedenen Augen an, daß ein Gefühl des Grauens in ihr entstand, wie man es vor einer Leiche hat.

»Wie, – wie hat das kommen können?« fragte er stotternd, und seine Mundwinkel zuckten nervös. Er fühlte sich selber gar nicht mehr; er war in irgendetwas Sonderbares eingehüllt, das ihn seine eigene Stimme weit weg und fremd anhören ließ.

»Ich weiß nicht, wie es gekommen ist,« sagte sie zögernd. »Vielleicht wirst du es so begreifen, wenn ich dir sage, daß in jeder Frau, auch dem Manne gegenüber, ein Stück Mutter steckt. Und er ist im Grunde naiv, ergeben und oft so hilflos wie ein Kind; in seiner Liebe. Du hast mich viel über die Achsel angesehen, und so tat es mir wohl, mich monatelang von bittenden und anbetenden Augen verfolgt zu wissen. Dann das andere: Du gingst stets deiner Wege und wolltest nie leitend meine Hand fassen. Ich habe beinahe nie das an dir gefühlt, was man die Beschützernatur des Mannes nennt.«

»Ich hätte doch an dir nichts zu beschützen gehabt? Weil du viel zu selbstsicher und zu klug warst?« fragte er kopfschüttelnd.

»Es hätte mir aber wohlgetan, so wie es mir wohl tat bei ihm! Von den Kleinigkeiten an, wie er mir abends den Schal um die Schultern legt bis zu den hundert Laufereien, die es ihn kostet, mein Vermögen umzusetzen und zu vermehren; seiner Sorge um meine Gesundheit bis zu der väterlichen Anteilnahme an jeder Seelenregung unserer drei Mädchen, bis zu dem tiefen und ergriffenen Respekt, mit dem er von dir redet und von deinem Unglück, – überall begegnete mir dieses ritterliche Kind als der Stärkere und doch meiner Bedürfende … Und dazu ist er heiter; so heiter! Wie ein italienischer Abend. Er singt gern: – hast du je gesungen? Er lacht so gern wie ein Neger: Hast du je gelacht? Er betet mich an: Hast du mich je angebetet? Er weiß nichts von Rasse, und Jude und Christ; er hat nichts als Menschentum, wo du dich in deiner wunderlichen Gotik mystisch eingesponnen hast. Und so ist es gekommen.« Frau Grete tat einen tiefen Atemzug.

»Seid ihr – – einig?«

»Er ahnt, daß er mir etwas ist, aber gesagt habe ich ihm nichts, ehe ich es dir nicht sagte. Und ich halte dich für so stark, die Wahrheit zu hören.«

»Geh,« sagte er mit Anstrengung. Aber er glaubte, zusammenbrechen zu müssen. Grete sah, wie sich über seinem völlig unbewegt gebliebenem Antlitz, über dessen Kälte und Gleichgültigkeit sie sich schon im Stillen beinahe zu kränken begonnen hatte (so ist ja der Mensch), ein feiner, feuchter Belag von Dunstperlen bildete.

»Christoph; tut es weh?«

»Es ist nur zu plötzlich gekommen,« sagte er beherrscht.

»Du kämpfst gar nicht um mich?« fragte sie leise.

»Nein; du bist frei. Aber laß mir die Kinder.«

»Solange ich es vermag,« sagte sie erschreckend. »Du würdest doch nicht mit der Schärfe des Gesetzes gegen mich vorgehen?«

»Nicht gegen die Frau, welche die Ehe – zerrissen hat; wohl aber gegen die Mutter, die den Vater verließ,« erwiderte er langsam.

»Meinst du denn, du könntest die Kinder halten? Erkennst du nicht, daß es die meinen mehr als die deinen sind?«

»Das wird sich erweisen, wenn ich um ihre Liebe ringe.«

»Wie du um die meine gerungen hast,« sagte sie bitter. »Christoph, – es wäre vielleicht nicht so gekommen … –«

»Da es so gekommen ist, bin ich froh, mich nicht bemüht zu haben, – – um dann vielleicht doch die Schmach zu erleben. Es ist mir lieber, daß Kälte dich vertrieb, als Liebesglut.«

Frau Grete wurde ein wenig blaß. »Ist das nun Bosheit oder Ernst?« sagte sie. »Auch du hast mich nicht mehr geliebt?«

Sie sah, daß er kämpfte und am liebsten Nein gesagt hätte. Aber er war ehrlich und erwiderte: »Ich habe dich manchmal beinahe gehaßt und öfter etwas wie Verachtung gegen gewisse Augenblicke deines Wesens empfunden. Aber ich habe dich im Grunde immer geliebt.«

»Auch jetzt noch?«

»Da du so mutig und offen zu mir gekommen bist, vielleicht erst recht.«

»Christoph, es ist schade um dich!«

»Schade, zu was?«

»Du bist ja gar nichts mehr; – und könntest soviel sein! Sogar das Verbleiben in deinem eigenen Beruf hast du dir versperrt durch ein Wort des Hasses.«

»Ich wüßte nicht wie?«

»Als man dich fragte: Würden Sie als Kommandant einen Menschen zum Tode verurteilen? da hast du geantwortet: Ja. Und du weißt, daß die Sozialdemokratie die Todesstrafe nicht kennt.«

»So, so? Wohl aber Terror, Mißhandlung, Mord und Plünderung! Auch habe ich nicht gesagt, daß ich einen Menschen zum Tode verurteilen würde. Ich habe geantwortet: Einen Menschen? Nie. Eine Bestie? Unbedenklich.«

»Jetzt bist du mit einfacher Oberstenpension abgedankt.«

»Ich habe nur für mich zu sorgen; sie genügt mir.«

»Und die Kinder?«

»Für sie werde ich arbeiten.«

»Was denn, was?« rief sie verwundert.

»Schustern,« sagte er ruhig.

»Christoph, das kannst du mir nicht antun!«

»Doch; einen fleißigen Schuster verlassen zu haben, ist eine geringere Schande, als einen Gestürzten und Unglücklichen,« sagte er nicht ohne Bitterkeit.

»Ich weiß, du wirst jetzt sagen: Die Jüdin geht doch immer nur dem Erfolge nach.«

»Ich hätte bloß gesagt: das Weib.«

»Lebwohl, Christoph.«

»Lebwohl und werde glücklich.«

So endete diese Ehe.

Grete ging langsam und mit sorgenvoll geneigtem Haupt ihrer Wege. Seine Aufrechtheit, seine Fassung oder sein Trotz brannten in ihr. Beinahe hätte sie sich abermals in ihn verliebt; – wenn nicht der italienische Conte gewesen wäre. Der erinnerte in seinem Besten an das Beste ihres Mannes. Auch der Italiener hatte die Seelengröße, sich des Sieges seiner Nation zu schämen.

Er wußte, daß dieses sein Volk, dem er angehörte, die Lombardei dem Glück des dritten Napoleon und Rom dessen Unglück verdankte; daß es Venetien von Bismarck erhalten hatte und Südtirol von Clemenceau, Triest und die halbe Adria von England, das keinen starken Balkan wünscht, und all dieses zusammen seiner Geschicklichkeit, den Vorteil stets über die Ehre zu stellen. Er wußte, daß in seinem Lande eben jetzt aus der Volkstiefe das schmutzige Grundwasser einer unedlen und feigen Rasse unaufhaltsam nach aufwärts drang. Die italienischen Offiziere waren ritterlich und todesmutig gewesen, das wußte er. Jeder ein Held. Das Volk nicht oft. Auch er fühlte im vornehm denkenden und nur darum zum Herrschen geschaffenen Feinde eher den Kameraden, als im vorteilhaschenden Haifisch ( pescican' sagte er vom Schieber) seiner eigenen Nation; und solcher gab es zu Ende Neunzehn in Wien tausende.

Christoph sah ihr nach und ahnte: Sie denkt an ihn. Er war wie gebrochen. Ein Grauen schüttelte ihn und Todesangst kam über sein Herz. Bald rang er, wie gegen einen Wahnsinn. Denn daß die einzige Frau, nach deren Besitz er jemals gierig gewesen, nun, nachdem sie ihm ihre Seele entzogen, auch den Körper an einen anderen schmiegte, das trat ihm vor die Sinne, wie mit Feuer gemalt.

»Wenn Liebe von uns fort in fremdes, anderes Fleisch einkehrt, – ist das nicht so grauenvoll, daß der Verlust einer Seele klein empfunden wird gegen den Verlust des ersehnten Leibes? Unwirklich und unmöglich erscheint es. Gespenstisch: – Und dennoch ist es wahr!«

Er hatte jetzt entsetzlich zu leiden. Namentlich in den Nächten stand der starke und eben wegen seiner Verhaltenheit noch lange nicht unsinnlich gewordene Mann Unsägliches unter der sadistischen Folterlust seiner Phantasie aus. Am Morgen sahen ihn dann seine drei Mädchen, bleigrau im Gesichte wie einen Vergifteten, beim Frühstück sitzen und es unberührt lassen. Er zwang sich, mit ihnen zu reden, liebevoll zu sein. Aber eben jenes Grauenhafte, das er selber als etwas Gespenstisches fühlte – den Tod der Liebe –, es strömte von ihm selber aus, der ihnen wie ein lebendig Toter geworden war. Die Liebe, das Unsterbliche hatte sich von ihm gewendet; – die Mädchen fühlten das und hatten Angst vor ihm.

Dann kam das Allerletzte.

Eines Tages blieb seine Älteste dem Essen fern. Vergebens fragte er die beiden anderen. Er sah, wie sie zitterten und wie ihre Lippen zuckten; aber sie verrieten nichts.

»Wenn ihr meint, daß sie bei mir nicht satt genug wurde und nun zu ihrer Mutter gegangen ist, sich eine gute Stunde anzutun, so kränkt mich das ja nicht,« sagte er.

Die Mädchen sahen sich an und erwiderten nichts. Was wollten sie auch sagen, auf dies Wort: »Eine gute Stunde!« Nein; mit einer Stunde war es da nicht getan.

Nachmittags suchte Christoph seine Frau im Hotel auf, in das sie gezogen war. Eben wurde ein zweites Bett in ihr Zimmer getragen. – Peinlich berührt blickte Christoph darauf hin. Er wußte noch nicht, für wen es dasein sollte.

Da trat, ihm von der Treppe her nacheilend, seine Tochter entschlossen in den Weg: »Es ist für mich, Papa,« sagte sie.

»Du willst nicht bei mir bleiben?«

»Nein, Papa.«

»Weißt du, daß ich dich zwingen kann?«

»Ich weiß, Papa, daß ein anderer mich vielleicht zwingen könnte. Du vermagst es nicht,« sagte sie.

»Frierst du bei mir, hungert dich bei mir?«

»Innerlich, ja, Papa,« sagte sie leise.

»Das antwortest du mir mit demselben Atem, mit dem du mir gestehst, daß du mich einer Härte für unfähig hältst?«

»Papa, wir verehren und bewundern dich und sind stolz auf dich. Stolz sogar, weil du Schuster werden willst, – aber uns ist bange. Es ist so schön, wo viel getollt und gelacht wird. Verstehst du, Papa?«

»Dann habe ich dir nichts mehr zu sagen,« schloß er mit einem erstickten Seufzer das Gespräch und wandte sich zum Gehen.

Sein ältestes Mädchen flog ihm von hintenher um den Hals und küßte ihn stürmisch: »Papa, lieber, armer Papa! Ich will ja oft zu dir kommen! Ich liebe dich! Ich bin in dich verliebt, du! Ich will einmal nur einen Mann, der so ist, wie du!«

Er liebkoste sie; zerstreut und mechanisch. »Ich bedarf jetzt der Einsamkeit,« sagte er.

Noch einmal sah ihm sein Mädel in die Augen. Dann sprach sie sehr ernst: »Aber vergiß nicht, Papa, daß die beiden Kleineren der Zerstreuung bedürfen.«

Er nickte.

Abends führte er die beiden verwunderten Kinder ins Kino. Bei den ergreifenden Stellen sahen ihn ihre vier Augen angstvoll an; er blieb ungerührt. Bei den Drolligkeiten suchten sie ein erfreuliches Fältchen um seinen strengen Mund; suchten sein Auflachen, wie ein bißchen Lebensnahrung. Der Mund blieb herb.

Christoph bemerkte gar nicht, daß bald auch die Kinder nicht mehr lachten; mochte es auf der erhellten Leinwand noch so lustig zugehen.

Am anderen Tage kam die Zweite nicht mehr aus der Schule. Wie sie war, im ärmlichen Schürzchen, ohne sich um Wäsche zu kümmern oder sonst etwas mitzunehmen, was ihr lieb und kostbar gewesen wäre, so war sie zum hellen Leben gelaufen. Zur Neugierde, zur Sensation, zum erregenden Geheimnis, und meinethalben auch zur Sünde, – was alles ihr die Mutter bedeutete.

Abends zur Schlafenszeit fehlte dann auch die Dritte.

Die aufschluchzende Frau Grete mußte im Hotel all ihr Bettzeug verteilen, damit die Kinder nur nicht auf der nackten Diele ruhten, wie heute sie selber. Denn im überfüllten Hause war weder ein Zimmer noch Bettzeug überflüssig. Aber selig schliefen die Kinder ein und träumten einer goldenen und bunten Welt entgegen.

Christoph war nun völlig allein.


Dann und wann kam einer von den haßerfüllten und grämlichen Kameraden und saß wie glühendes Eisen vor ihm, das überall Löcher brennen möchte.

»Was?! – Du wirst noch grau und kahl werden, wenn du dich da grämen willst! Es sind eben Judenkinder. Sowas geht immer an die Oberfläche, wie Kork,« tröstete der Kamerad.

»Nein, so ist das nicht,« sagte Christoph gedankenvoll. »Mit so einem bloßen Wort und mit dem verurteilenden Hasse ist es nicht getan. Meine Frau wußte das besser. Diese Menschen, die wir, seit zwei oder vier Jahrtausenden, täglich mit Worten töten, wohnen unter uns, und wir sind, sagte sie, mit unserem einen Jahrtausend Volkstum gegen sie, wie der Sommer gegen den Herbst. Wir ärgern uns, weil sie schon ernten und sammeln und Ameisensorgen haben, während wir noch leben, wie die Grille in der Fabel. Mit dem Haß ist es nicht getan; nur mit dem Verständnis.«

»Vielleicht gar mit der Liebe?« lachte der Kamerad heraus.

»Nein, wir können ihrem Wesen geradeheraus absagen. Aber milde absagen. Sie verstehen lassen, warum wir absagen. Sie lernen auch lieber, als wir. Ein offenes Wort findet bei ihnen von je mehr Boden, als bei uns Dickköpfen.«

»Na; geh' und werde Judenapostel,« sagte der andere ärgerlich lachend und empfahl sich mit einer abtuenden Handbewegung.

Christoph also blieb völlig allein. Er fühlte, daß nunmehr nur er sich helfen könne.

Noch zuckte und flammte sein Herz unter den Qualen, die ihm der Verlust des Weibes angetan hatte; unter der vernichtenden Absage, die das Leben gegen ihn ausgesprochen hatte durch die Flucht seiner Kinder. Durch die Flucht der noch Reinen vor seiner Reinheit.

Er litt und stritt um seine Selbstbejahung, und er verzweifelte beinahe an sich, und damit an aller Rechtlichkeit und Anständigkeit auf Erden. Es wurde späte Nacht. Immer noch saß er und grübelte.

Kein Laut drang in seine Stube. Er warf einen Blick auf das im Winkel aufgehäufte Leder, auf das Handwerkszeug, auf einen Dreifuß, was alles er sich kürzlich gekauft hatte. Er zog den kleinen Sitz mit einem Ruck heran und setzte sich drauf.

»Das weiß ich: einen sogenannten Gesellen und Genossen zur Arbeit nehme ich mir niemals.«

Er langte nach Jakob Böhmes Schusterkugel. Hängte sie vor sein spärliches Lämpchen; denn es gab weder Gaslicht noch elektrischen Strom.

Milder geworden, sah er durch sie hindurch. »Genossen keinen. Nein. – Vielleicht aber einen Jünger,« sagte er dann.

»Na ja, du alte, gläserne Kugel. Notbehelf einer verschollenen, frommen, nachdenklichen Zeit. Hilf mir jetzt du!«

Er begann das Leder über den Leisten zu ziehen und fuhr dabei fort:

»Wie du deine Strahlen aufs Nahe sammelst und auf nichts zu weisen scheinst, als auf die enge Beschränkung zur Arbeit. Ja, ja. Du Symbol. In dich gegründet, bist du ein Weltall, angefüllt mit dem veränderlichsten der Elemente. Zugleich mit dem belebendsten, dem Lichte vermählt, ziehst du mein Tun ins Engste. Aber du lässest meinen Geist frei, damit er in unendlicher Kurve sich hinausschwinge. Ein Forschergeist für jene Regionen, wo für alle anderen Menschen die ewige Nacht und der ewige Tod zu herrschen scheint.

»Ein Schuster; und ein Polarforscher der Unendlichkeit.

»Unendlichkeit; kennt ihr denn sie? Und wer glaubt daran, daß dort draußen in der Eisnacht auch nur etwas bestehen könne, wie Tod?

»Mich graut nicht mehr vor dem, was andere Tod nennen!

»Es zieht mich eher an, jenes Reich … Ach, – es ist das Schicksal der arischen Seelenkurve, daß sie, wie eine Parabel, sich mit ihren Enden im Grenzenlosen, im nie auszurechnenden Jenseits verliert.

»Es ist das Schicksal der jüdischen Lebenslinie, daß ihre Ellipse immer, in sich zurückkehrend, ein gieriger Hierseinswille von genau abzumessender Brennpunktweite, sich völlig im hiesigen, im klar überschaubaren Lichte des uns gegebenen Tages bewegt. Nur in dieser Welt und in keiner anderen liegt die jüdische Umlaufszeit. Das ist ihre Macht, – das ist ihr Elend. Denn wann wird ihr Erlösung gegeben sein? Wann wird ein Jude die Erlösung verstehen? Kaum ihr Spinoza war ein Einziger. Ihm fehlte die Erde. Auch er verzweifelte.

»Der Jude, – er allein – hat die ungeheuerlichste, die belebende und doch mörderische Lüge in die Welt gesetzt, ›der Mensch wäre es!‹ Der Mensch wäre das wichtige, ja er wäre alles!

»Kein Marx und kein Lassalle hätten die ewig seelenlosen Massen hinter sich zu gängeln vermocht ohne diese entsetzlich freche Lüge.

»›Der Mensch wäre es!‹

»Wer das weiß, was der Indier und der Schlesier weiß, daß das Tier, die Pflanze, die Wolke, der Stern – ebenso wie der Kristall und der dumpfe Stein unsere innigsten Brüder sind, uns völlig gleich und eines mit uns, ja oft besser und wertvoller als ein Mensch, der rottet sich nicht zur Organisation!

»Fürchterliches Schicksal jener Rasse, der da glauben gemacht wurde, sie, ja sie wäre es allein! Herrgott, ich schlage vor Grimm die Stifte schief ein!

»Um so fürchterlicher, als der Einzige, der den Judentalisman zu öffnen gewußt hätte, wie er seinen Grabstein von sich wälzte, getötet werden mußte, noch ehe ihm die schauenden Augen völlig aufgegangen waren für die franziszeische Ahnung.

»Jesus Christus! Nur aus dem unglücklichen Zufall, daß er bloß dreißig werden durfte, mußte auch er zum fortdauernden Anwalt der alten Judenlüge werden, der Mensch wäre alles!

»Und er hatte schon soviel Ahnungen! Er wies auf die Lilien, auf die von Gott behüteten Vögel des Himmels hin! Er war schon näher am Geheimnis, als er selber noch ahnte. Ach, wie genau übersehe ich die Seelenkurve dieses merkwürdigen Geistes! Wie rührend tastet er sich an die ewige Wahrheit, Schritt um Schritt, heran! Zuerst sagt er noch: ›Ich bin nicht anders gesendet, denn zu den verirrten Schäflein vom Stamme Juda!‹ Wahrhaftig, er ist in dieser Anfangszeit hierin kaum viel besser, als ein alldeutscher Chauvin. Ebenso klein und eigensüchtig für einen Klüngel, einen Clan eingeschworen!

»Dann aber gehen ihm die Augen groß auf, wie er, an der Samariterin, jene himmlische Sehnsucht erschaut, die er in Judäa nie gefunden! Zu dieser aufreißenden Erkenntnis kommt hilfreich der demütige Kinderglaube des römischen Hauptmannes von Kapharnaum, des kompletten Gojs! So geht er, Schritt für Schritt, am Gängelbande liebender Erkenntnis weiter; vom kleinen Judenzirkel zum palästinensischen, von da zum römischen Kreise. Da aber ist er dreißig Jahre geworden und wird ans Kreuz geschlagen, ehe seine staunenden Augen noch weiter aufgingen! Ach, es ist ein entsetzliches Unglück, daß dieses bloß dreißigjährige, abgerissene Leben nun schon beinahe zwei Jahrtausende lang als in sich geschlossen, als vollkommen, als ein harmonisch geendetes Ding angesehen wird, wie ein Sternensystem! Während doch der einfachste Mathematiker, an der bisherigen Richtung dieser Parabel, errechnen könnte, wohinaus sie führen sollte!

»Welch größtes Weltenelend, daß man dem dreißigjährigen Christus alles glaubt, und nichts dem fünfzigjährigen.

»Ach, kein Staubgeborener wird jemals erlösen im dreißigsten Jahre! – Er hätte denn den Tod im Körper! Wer nicht das gefühlt hat, wie die Zellen des eigenen Staates müde und verdrossen ob ihres Zusammenhaltens werden, wer dies Welken, dies Herbstgefühl nicht erschaudernd in sich gespürt hat, der weiß nicht, was Kreislauf ist. Der weiß nicht, wohin Erlösung sich wendet. – In sich selber zurück und damit zum All.

»Ein Dreißigjähriger fühlt alle seine Zellen wie zu einem fröhlichen Bankett versammelt. Es braust in ihm, er jubelt; dankbar und ahnungslos. Erst wer jenen Bankettisch am anderen Morgen betrachten gemußt, der weiß, was es um dies Gastmahl für eine Bewandtnis hat.

»O du mein grausamer, du mein gütiger Gott! Mir hast du bestimmt, daß ich das Altern fühlen darf! Die Junggestorbenen, ob Christus oder Raffael, Mozart oder Schubert, erquicken wohl die ewig Lebensdurstigen. Erlösen können nur jene, welche ahnungsvoll ihre Kurve zu errechnen verstehen. Ich habe mich weiter in den Becher hineingetrunken, als die Jungen.

»Ich kenne verratende Liebe. Ich kenne die lügenhafte Grausamkeit und ewige Tierheit des Menschen, dessen einziges Geheimnis in dem Worte besteht: ›Ich, ich, ich!‹ Ich habe eine Zeit zusammenstürzen gesehen und meine Ehre, mein Leben mit ihr. Und ich sehe, wie beinahe niemand anderer das sieht, als ich!

»Während das übergierige Europa, diese wimmelnde Ruine, weiterzuleben glaubt, sehe ich, wie Ostasien und Amerika schon das unselige Erbe seiner Irrtümer und seines Fluches in fröhlichem Glauben antreten! Ah, was mir gegeben wird, da zu sehen! Wie wehe tut es. Wie vernichtet es, und wie erhebt es.

»Da ist mein einer Stiefel fertig geworden. Siehe.« Er lächelte.

»Und was für einen Stiefel mag ich unterdes zusammengeredet haben? Du; alte Schusterkugel? Auf. Beginnen wir mit dem zweiten Schuh. Erst einmal muß der Mensch gehen. Dann darf er philosophieren.«

 

Ende.

 


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