Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Mitte August traf Manfred zu einem Besuch von mehreren Wochen in Port Erin ein. Gleichzeitig mit ihm kam jener eingeschriebene Brief, dessen Umschlag ich Kädda Mulch zurückgelassen hatte. Ich las, während Manfred sich ein wenig über meine Schulter beugte:

»Lieber Herr Benrath! Teile Ihnen hierdurg mit, das Selbiges gemacht, und könen Sie wohnen bleiben. Geht uns allen gut, meine Tochter hat vor acht Tage, einen Sohn bekomen, ging wieder glatt, hate sich im Monat verrechnet. Fahre nicht hin, da mit den Beinen, zu schwer. Frau Posttirektor bekomt auch etwas Kleines, vor lauter Dumheit. In Tepich von Frau Malgomessius, Moten gefunden, haben selbigen an die Luft gehenkt. Moten dürfen nicht ins Haus. Habe ihren Kleiderschrank gleich mit »Motentot« gesprizt. Ist Ihnen auch ein neuer Ofen gesezt worden, wo nicht so viel Brant frist. Eierkolen, sollen aufschlagen, Prigetz auch. Bei Sulzmann haben sie die ganz Saffeladwurscht gestolen. Geschieht ihr recht. Kan ja besser abschliesen. Ist auch nur noch Gesocks, in der Würtschaft. Bete allen Abend das Sie gut zurükkomen. Geben Sie nur acht, mit Kreuzotern und böse Fisch beim Baden.

Haben viel Gehanstrauwelschilee gekocht, gehn jetzt an Birnhonig, wann so weit. Äppel wenig vorhanden, weil Wurmkrankheit. Geht auch ohne Äppel. 285

Mit Grus von mir und mein Mann

Ihre liebe

Kädda Mulch.«

– Na? fragte ich . . .

– Ja, ja, lachte Manfred . . . Bericht aus dem Hauptquartier. Du hast sie dir gut gezogen . . .


Es waren – außer Manfred – noch zu Gaste auf Wallflower-House mein Vetter Lesley Benrath, eine junge Irin aus Dublin mit unwahrscheinlichen, pfauenblauen Augen, und der amerikanische Baumwollpflanzer James Seymour nebst seiner Frau, einer geborenen Engländerin . . .

Eines Abends, als wir nach Tisch auf der Gartenterrasse über dem Meere saßen, fragte mich Mr. Seymour:

– Sagen Sie mir doch einmal, Mr. Benrath, was arbeiten Sie da eigentlich den ganzen Tag? Sie spielen kaum einmal Tennis, von Golf gar nicht zu sprechen. Sie gehen höchstens abends zum Baden an den Strand – und manchmal verschwinden Sie nachmittags zu einem Ausflug ins Unbekannte . . . Was also arbeiten Sie?

– Ich beende meine Doktorarbeit.

– Was ist das? Jeder sechste Deutsche, den ich kenne, hat den Doktortitel . . . Wozu?

– Manche, weil es zur Ausübung ihres Berufes unerläßlich ist, wie zum Beispiel die Ärzte – manche, weil 286 es ihnen eine bessere gesellschaftliche oder auch wissenschaftliche Stellung gibt . . .

– Warum gibt ein solcher Titel eine bessere gesellschaftliche Stellung?

– Weil er unzweideutig einen akademischen Bildungsgang beweist . . .

– Was hat ein akademischer Bildungsgang mit gesellschaftlicher Stellung zu tun?

– Mit vollem Recht sehr viel.

– Sagen die Deutschen . . .

– In Deutschland. Stimmt.

– Ein akademischer Bildungsgang ist, wenn man Herr Professor zu jemand sagen kann?

– Mr. Seymour: vielleicht ist er das in den Augen von Fremden, die von Deutschland eben gerade nur soviel verstehen, als sie für ihre Geschäfte verstehen müssen . . . Nach europäischem und deutschem Urteil gilt der akademische Bildungsgang auf humanistischer Basis für die beste geistige Erziehung, die man einem jungen Menschen geben kann . . .

– Und was kann man damit anfangen?

– Sehr viel.

– Kann man damit Geschäfte machen?

– Auch das. Es kommt darauf an, wie man seine Kenntnisse umsetzt . . . Ein Arzt, ein Physiker, ein Chemiker, ein Jurist wird unter Umständen damit sogar sehr gute Geschäfte machen . . .

– Und die anderen? 287

– Glauben Sie denn, daß alle Leute nur Geschäfte machen müssen? Vielleicht genügt es einer großen Anzahl, soviel zu verdienen, als sie zum Leben brauchen, und den Rest ihrer freien Zeit auf die Dinge zu verwenden, die ihnen Spaß machen . . .

– Aber der Sport in Deutschland ist doch gar nicht auf der Höhe . . .

– Wer spricht denn von Sport? Haben Sie noch nie gehört, daß es Leute gibt, die Bücher lesen?

– Ich sage nichts gegen Bücher – aber man kann doch nicht den ganzen Tag Bücher lesen . . .

– Man kann genau so viel Zeit auf Bücher verwenden als auf diesen Sport, der sich in sich selbst aufhebt, wenn er übertrieben wird.

– Sie verachten den Sport?

– Im Gegenteil. Ich halte ihn für unentbehrlich, aber er darf den Menschen nicht überwuchern, er muß ihm dienen.

– Die Masse braucht den Sport. Sonst kommt sie auf schlechte Gedanken . . .

– Wir sprachen doch nicht von den Massen! Wir sprechen von gebildeten Menschen und ihren Bedürfnissen!

– Sie scheinen zu glauben, die gebildeten Menschen in Deutschland haben andere Bedürfnisse als die in den Staaten?

– Allerdings! Wenn sich auch ganz bestimmt bei uns eine sehr materialistische Entwicklung fühlbar 288 macht, so muß ich doch sagen, daß die besten Deutschen von ihr nicht ergriffen worden sind.

– Ja, mein Gott, was haben Sie denn aber von Ihrer großen Bildung?

– Das soll man niemals einem Manne erklären, der eine solche Frage stellt . . .

– Ich achte Ihre Ehrlichkeit, auch wenn sie grob ist . . .

– Henry ist manchmal grob, sagte Tante Maud, grob und hochfahrend . . .

– Liebste Tante Maud, du weißt ganz genau, daß du eben etwas ausgesprochen hast, das du nicht glaubst.

My dear boy, erwiderte sie, du merkst selbst manchmal nicht, wie ausfallend du werden kannst, wenn du gereizt bist. Du nimmst die Dinge zu wichtig . . .

– Das ist das gute Recht seiner Jugend, sagte Onkel Henry. Er ist vierundzwanzig Jahre alt . . .

– Ouh – machte Mrs. Seymour, die an einer Pointlace-Spitze klöppelte . . . vierundzwanzig . . . Ich dachte, Sie sind zwanzig . . .

Mr. Seymour nahm seine Pfeife aus dem Mund und klopfte sie an der Sohle seines Pumps ab . . .

– Hallouh . . . Vierundzwanzig . . . Ich gab Ihnen auch nur zwanzig, weil Sie noch so jung aussehen . . . Nun sagen Sie mir, mein kleiner Freund – damit wir wieder auf unser Thema zurückkommen – was ist das für eine Doktorarbeit, die Sie da machen? 289

– Eine literarhistorische. Der Titel heißt: ›Die dichterische Technik Victor Hugos‹ . . .

– Wer ist das, Victor Hugo?

– Der größte Dichter der französischen Romantik . . .

– Wann hat er gelebt?

– Von 1802–1885.

– Oh – ist er ein so alter Mann geworden? . . . Und über diesen Dichter schreiben Sie?

– Ja.

– Wie lange sind Sie schon an der Arbeit?

– Genau drei Jahre . . .

Mr. Seymour, der sich gerade die neugefüllte Pfeife anstecken wollte, ließ das Streichholz wieder sinken . . .

– Drei Jahre?

– Ja . . .

Er begann zu rauchen . . . Nach einer Weile sagte er:

– Wollen Sie mit mir ein Stück am Riff entlang gehen? Ich möchte mir noch Bewegung machen . . .

– Wir gehen doch alle noch ins Grosvenor, rief mein Vetter. Wir wollen tanzen . . .

– Gut, sagte Seymour. Das Beste, das wir tun können . . . Sie tanzen gerne, Herr Benrath?

– Sehr gerne!

– Fein –

Als wir die Fuchsiaallee des Gartens hinabschritten, verzögerte Seymour absichtlich seinen Schritt . . . Er nahm meinen Arm und sagte, als die anderen außer Hörweite waren: 290

– Sind Sie mir böse?

– Mr. Seymour, ich muß Sie um Verzeihung bitten für die heftige Antwort, die ich Ihnen gegeben habe. Ich kann es nicht vertragen, daß über deutsche Dinge von Ausländern gesprochen wird, die mein Land nur ganz oberflächlich kennen und – eben wegen ihrer anderen Erziehung – auch niemals kennen werden. Ich weiß, daß der Deutsche seine Schwächen hat, genau so wie der Amerikaner, der Engländer, der Franzose. Kritik aber muß von der gleichen Basis aus geübt werden. Sonst ist sie sinnlos. Ein amerikanischer Großkaufmann mag über einen deutschen Großkaufmann ein Urteil fällen – aber nicht über deutsche Bildungsfragen, die ihm wesensfremd sind. Die deutsche Bildung ist höchstes Weltgut. Das erhebt sie über jedes Geplauder bei Kaffee und Zigarre in dem Landhaus eines englischen Kaufmanns. Ich kann es auch nicht ertragen, daß minderwertiger Journalismus Meinungen über Dinge prägen hilft, von denen er genau so wenig Ahnung hat, wie ich von seinem Handwerk. Und ganz und gar rotes Tuch sind für mich alle billigen Verallgemeinerungen! »Die Deutschen«, »die Franzosen«, »die Amerikaner«! Was soll der Mumpitz!

Mr. Seymour blieb stehen.

– Ich liebe Ihr Vaterland. Ich halte es für ein sehr großes Land. Aber ich kann natürlich vieles nicht verstehen! 291

– Das wird Ihnen niemand verargen . . .

– Sehn Sie: ich erschrecke geradezu, wenn ich mir denke, daß ein junger Mensch wie Sie drei Jahre seines Lebens an eine solche Arbeit hängt, ohne nur einen Cent an ihr zu verdienen . . . Stellen Sie sich doch einmal vor, ich sollte drei Jahre lang dasselbe tun . . . Über einen toten Dichter, den wahrscheinlich kein Mensch mehr liest, viele Seiten schreiben, die doch auch keinen goodseller abgeben werden! Wissen Sie, was mich das kosten würde? Rund hunderttausend Dollar – zwanzigtausend Pfund – vierhunderttausend Mark in drei Jahren! Dreimal mein Jahreseinkommen!

– Aber der Vergleich ist ja ganz falsch, Mr. Seymour! Sie haben doch als zwei- bis vierundzwanzigjähriger Mensch keine dreiunddreißigtausend Dollar im Jahr verdient!

Wait a minute . . . Mit vierundzwanzig, also 1892, habe ich gemacht neuntausend Dollar . . . 1891 zwölftausend . . . 1890 achttausend . . . gibt zusammen neunundzwanzigtausend Dollar, das sind rund hundertundzwanzigtausend Mark . . . Soviel hätte mich diese Arbeit also gekostet . . . Das ist allerhand, ja?

– Mr. Seymour: ich wiederhole Ihnen, daß sich Geisteswissenschaft so nicht ausmünzen läßt. Geben wir also diese unfruchtbarste aller Unterhaltungen auf!

– Einverstanden! Aber nun sagen Sie mir, wozu Ihnen Ihre Arbeit dient . . . 292

– Ehrlichkeit gegen Ehrlichkeit, Mr. Seymour: Mir persönlich dient sie nur mittelbar. Warum: das will ich Ihnen gelegentlich erklären . . . Ich möchte von diesen Dingen jetzt nicht sprechen. Wenn man den ganzen Tag Tabellen aufgestellt und nachgeprüft hat, steht einem am Abend der Kopf nicht nach solchen Gesprächen . . . Das werden Sie begreifen. Ich will jetzt tanzen – und später noch mit meinem Freunde einen Nachtspaziergang machen . . .

I understand you perfectly well . . . You like nature?

Yes.

So do I! No more wunderful emotion than a beautiful sunset or moonrising . . . I think, we must have moon . . . Oh yes . . . look there . . . there . . .

Und er wies mit seiner etwas zu starken Hand, an der er einen bohnengroßen, in Platin gefaßten Smaragd trug, gegen einen Hügelsaum, hinter dem eben aus bräunlichem Wolkengeflock die kupferne Scheibe aufstieg . . .


Ich hatte mich mit Manfred gegen zehn Uhr aus dem Tanzsaal des Grosvenor-Hotels fortgestohlen . . . Die Luft war so lau, daß wir ohne Mantel, ohne Hut, am Strandweg dahinschlenderten, den Blick bald über die silbern ansteigende Flut, bald in das Spiel der Wolken lenkend, die das wachsende Mondlicht mit breiten Bändern säumte. 293

– Was ist mit dir? fragte Manfred. Ich finde dich seit vorgestern auffallend verändert . . . Du bist so gereizt . . .

– Ich merke selbst die Veränderung . . . Diese Arbeit wächst mir zum Hals heraus . . . Diese Tabellen! . . . Marotte eines Besessenen! Ich habe manchmal Lust, ihm zu schreiben, daß ich sie nicht anfertige . . . Eine Tierquälerei . . . und eine völlig sinnlose . . .

– Henry! Nun hast du solange erfolgreichen Krieg geführt, daß du wohl nicht kurz vor dem Sieg die Flinte ins Korn werfen wirst . . . Du wirst dir doch selbst nicht in den Rücken fallen!

– Nein, bei Gott nicht . . . In vierzehn Tagen wird dieser ganze Tabellenspuk zu Ende sein . . . Dann hat er seinen »Anhang« und kann damit selig werden . . .

Wir waren an einem Felsenvorsprung angekommen, der den Blick auf die offene See freigab –

– Das Meer der Kelten, sagte Manfred . . . Sie müssen ein seltsames Volk gewesen sein . . .

– Sie saßen auch in unserer Heimat . . . Ihr Blut ist vielleicht in den Gründen des unseren . . .

Wir wendeten . . .

– Laß uns über Wallflower Rock nach Hause gehn, Henry. Willst du? Oder ist dir die Steigung zu stark? Du bist so blaß . . . Fühlst du dich elend?

– Nicht einmal. Nur schwer im Kreuz, dumpf im Denken . . .

– Hast du Schmerzen? 294

– Nein . . .

– Komm, bleiben wir lieber auf dem Strandweg.

Aber ich hatte schon die Richtung des Buschpfades genommen, der durch Heidekraut, Farren und wilde Reseden zur Höhe der Villa führte.

– Kennst du das seltsame Gefühl, daß etwas in dir zu Ende geht, ohne daß du sagen könntest, was? fragte ich Manfred, als wir im Steigen ein wenig rasteten . . .

Manfred sah mich fast erschrocken an:

– Nein, sagte er. Ich weiß nicht, was du meinst.

– Ich weiß es selbst nicht. Aber ich kann seit einigen Tagen immer nur das Wort »Ende« denken . . .

– Du bist übermüdet, Henry. Das ist alles. Arbeite weniger. Gönne dir mehr Ausspannung. Kannst du es schöner haben als hier?

Ein Woge von wildem Kleeduft zog vorüber . . .

– Ich glaube, ich werde krank, sagte ich.

– Ach was!

Der Kleeduft kam wieder . . .

Wir gingen langsam weiter aufwärts . . . sehr langsam, in einer Luft, welche anfing, drückend zu werden. 295

 


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