Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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War es die zweite, die dritte, die vierte Nacht nach dem schweren Eingriff? Vielleicht war es schon die fünfte . . . Ich weiß es nicht mehr . . . Ich weiß nur Eines noch – und dieses so genau wie kaum ein Anderes in meinem Leben:

Ich fühlte plötzlich, daß ich aus einem langen, zeitlosen Dämmerzustand erwachte. Aus einem gleichgültig Grauen, leise Wogenden, noch leiser Raunenden in eine weiße, klingende Überlichtung hinein, die nicht blendete, nicht schmerzte, sondern ganz leicht machte, ganz glücklich – und in eine Klarheit des Denkens überleitete, wie ich sie niemals zuvor gekannt hatte. Ich konnte mich erinnern, ich konnte die rinnende Stunde abtrennen von dem gestaltlosen Wallen der Zeit, ich konnte in die Zukunft hinüberwittern . . . Ich konnte – vor allem – zum erstenmal in allen Einzelheiten den Ort wahrnehmen, an dem ich war . . .

Man hatte mich in einen abseitigen Anbau der Großen Klinik gelegt, in ein geräumiges, kahles Zimmer, dessen Fenster gegen die nordöstlichen Gleisanlagen des Bahnhofs gingen. Da der eine Vorhang nicht ganz geschlossen war, konnte ich die dicken, weißen Dampfwolken erkennen, die von hin und her fahrenden Rangiermaschinen ausgestoßen wurden . . . Zwischen diesen Wolken leuchteten zuweilen die bläulichen Kugeln der Bogenlampen auf. Und ganz weit, wo die Gleise in andere, von Süden kommende, einbogen, konnte ich ein paar rote und grüne Lichtpunkte 310 entdecken . . . Diese Punkte waren die Ferne, die Welt, das Grenzenlose. Dort hinaus fuhren die Expreßzüge, von dort kamen sie auf ein paar Augenblicke in den Bahnhof herein, um weiter zu rasen . . . Philippinenthal . . . Ein Punkt auf der Welt, ein Nichts von einem Punkt – und dennoch: schicksalhaltig, schicksalbestimmend wie diese große Welt selbst . . . Vielleicht lächelte ich ein wenig, als ich diesen Begriff Philippinenthal dachte . . . Aber dann kam sogleich ein großes Heimweh in mich, ein solches, wie es vielleicht einen Menschen überfällt, der viele Jahre in der Fremde lebt, den Menschen fern, an denen sein Herz hängt . . .

Viele Jahre? Ja, viele, viele Jahre . . . Ovid in Tomi, oder Alkibiades in Sparta . . . Wie oft schon – in meinem jungen Leben – hatte ich erfahren müssen, daß die Zeiten der Seele nicht die Zeiten des äußeren Lebens sind. Nie aber hatte ich es so deutlich, so zwingend empfunden wie in dieser Nacht, die eine Nacht der Entscheidung war. Ich wußte es: in diesen Stunden, in diesen Minuten vielleicht, wird über dein Leben entschieden . . . Es ist Einer aufgestanden in dir, der will aus dir heraustreten . . . Gelingt es ihm, so ist der große Traum, der Leben heißt, ausgeträumt . . . Du mußt dich wehren gegen ihn . . . Wehren? Nein. In mir war keine Kraft mehr, die sich wehrte. In mir war eine unbegreifliche, unwirkliche Gelassenheit . . . Mich wehren!? Ausspielen was gegen 311 was? Ein kleines persönliches Dasein gegen die Allmacht, welche Sterben heißt? Mich wehren gegen die letzte Reife, die mir vielleicht bestimmt war? Gegen das Wunder des Überganges, der enthebt? Klar und unwiderruflich stand die Entscheidung: Nein . . . Und ich ließ die Erinnerungen spielen, die nun sehnsuchtslos geworden waren, ich ließ die Bilder meines Lebens an mir vorüberziehen, eines nach dem andern, wie sie gerade kamen. Sie kamen nicht in der Reihe ihres zeitlichen Ablaufs. Sie kamen nach einer neuen, unergründlichen Ordnung, die ihnen der »Andere« befohlen hatte, der sich in mir regte . . . Mein Leben: war es gut, war es schlecht gewesen? Glücklich oder unglücklich? Sinnvoll oder sinnlos? Wieder lächelte die Seele . . . Stehen Werte gegen das Nirwana? Begriffe noch gegen das Begrifflose?

Von den Eisenbahnschienen wölkte und wölkte der weiße Dampf gegen die bläulichen Lampen . . . trug mich . . . umwallte mich . . .

Lange, schien es mir, lag ich so, mit offnen Augen, nicht mehr sehend, nicht mehr denkend . . .

Dann aber bogen die Gedanken noch einmal in das Nächste . . . Ich begann, mich im Zimmer umzusehen. Ich konnte gerade nur den Kopf bewegen . . . Auf dem Sessel neben mir saß die Krankenschwester Marianne in ihrem blauweißgestreiften Kleid und ihrer schneeweißen Schürze, die tapfere, gute Schwester Marianne. Sie war eingeschlafen . . . Und dort vorne, am Fuß des 312 Bettes, in einem zweiten Sessel, saß eine andere Gestalt, die eine Plüschdecke über ihre Knie gebreitet hatte . . . Der Kopf war nach hinten geneigt, die Lippen waren kaum geöffnet, die Augen geschlossen . . . Ich schärfte den Blick – erschrak plötzlich heftig: es war meine Mutter, die da über ihrer traurigen Wacht eingeschlafen war. Ich entsann mich nicht, sie in den wenigen wachen Augenblicken der letzten Tage gesehen zu haben . . . Wann mochte sie gekommen sein? Und wie? Wußte sie, wie es stand? Wußte sie um den »Anderen«, der sich in mir regte? In mir dehnte? Wuchs – wuchs – die Riesenflügel spannen wollte?

Es schien mir, ich hatte gesprochen, gerufen . . .

Dann aber war alles vorüber . . . in einem lauen, langsamen, auflösenden Sinken und Versinken, von dem ich glaubte, daß es das Sterben sei.

Aber es war nur der Sieg des Lebens über die schon gehobenen Flügel gewesen . . .


– Und Sie haben damals, in jener schlimmen Nacht, nicht einmal mehr den Stich der Kampferspritze gespürt? fragte Geheimrat Leippert etwa zwei Wochen später, als er morgens gegen elf an mein Bett kam . . .

– Nein. Ich habe nur gespürt, daß ich auslösche. Ich hatte ein unaussprechliches Glücksgefühl . . .

Leippert sah den Assistenzarzt, Dr. Stumpf, von der Seite an. 313

– Haben noch nie gehört, sagte dieser, daß die bei schweren Ohnmachten entstehenden Empfindungen den euphorischen Todesgefühlen ähneln . . . Dürfte wohl dichterische Phantasie sein.

– Bei Ihnen offenbar, sagte ich zu Stumpf, einem Parvenu, der sich gerne die Geste eines Potentaten gab.

– Pst! machte der gütige, feine Leippert . . . Seien Sie nicht so aufgeregt, Herr Benrath . . .

– Ich bin noch sehr erregbar! Das versteht sich von selbst nach einer Sache, wie ich sie durchgemacht habe!

– Lassen Sie uns allein, sagte Leippert zu Stumpf.

– Ich bitte Sie, wandte ich mich an Leippert, mir diesen Mann nicht mehr zu schicken. Ich sehe Funken stieben, wenn er nur ins Zimmer kommt. Ich mag diesen großkotzigen Typ nicht. Geben Sie mir Dr. Follenius, mit dem ich mich vorzüglich verstehe . . .

– Der Wunsch soll Ihnen erfüllt werden, lächelte Leippert. Ein Glück übrigens, daß Ihr körperlicher Zustand nicht mehr dem Ihrer Nerven entspricht . . . Wir haben Sie über dem Berg, mein Lieber. Das darf ich heute ohne Übertreibung aussprechen. Und ich bin gekommen, es Ihnen persönlich auf meine Verantwortung hin zu sagen. Aber die Genesung wird lange sein. Darauf müssen Sie sich gefaßt machen . . .

– Wie lange muß ich noch in der Klinik bleiben?

– Etwa drei Wochen. Dann können Sie mit einer Pflegerin in Ihre Wohnung übersiedeln . . . 314

– Glauben Sie, daß ich Anfang Dezember promovieren kann?

– Ich hoffe es. Wenn Sie noch nicht gehn können, brauchen Sie sich ja nur in die Universität fahren zu lassen . . . Aber ich denke, Sie können bis dahin ohne Schmerzen gehn . . . Und was gedenken Sie nach Ihrem Examen zu tun?

– So rasch wie möglich meine Dissertation zu einem Buch auszubauen . . .

– Nein, Herr Benrath. Das lassen Sie mal lieber bleiben. Gehen Sie, wenn dazu eine Möglichkeit besteht, in den Süden, und ruhen Sie sich mindestens zwei Monate aus. Man muß einen solchen Choc gründlich verwinden. Sonst bleiben unangenehme Spuren zurück. Sie haben diese bösen Verwachsungen lange genug in sich herumgetragen! Ein Wunder, daß die Sache so lange standgehalten hat und so gnädig abgelaufen ist. Beweist im übrigen, wie gesund Sie sind . . . Was ist denn da los? rief er nach der Tür, an die mehrere Male geklopft wurde . . .

Die Tür öffnete sich, und Kädda Mulch trat ein.

– Was wollen Sie denn? fragte Leippert unfreundlich, wer hat Sie denn hier herein gelassen?

– Ich bin Frau Mulch, sagte sie. Ich will zum Herr Benrath, der bei mir wohnt . . .

– Herr Benrath darf noch keine Besuche empfangen . . .

– Ich geh nicht fort! Ich will mein Bursch 315 sehn . . . Ich laß mich net abweise . . . Wer mich herausschaffe will, muß mich uff die Dreckschipp lade . . .

– Also meinetwegen! Zehn Minuten. Keine Sekunde mehr. Ich schicke in zehn Minuten den Wärter, der Sie abholt.

– Sin Sie der Professor, der geschnitten hat? Sin Sie der Bauchfellkönig (so nannte das Volk den berühmten Chirurgen)?

– Jawohl, der bin ich.

– Dann solle Sie sich schäme! Die ganz Schneiderei is kein Batze wert! Nur die Hamupathie hilft! Es wächst ja doch alles wieder nach! Der Frau Kommerzienrat Dickerhoff is die Geschwulst dreimal nachgewachse! Wer weiß, was Sie mit dem Herr Benrath angestellt hawwe! Vielleicht bleibt er sein Lewe lang 'n Krüppel!

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Noch hatte sie mich nicht gesehen, aber ich konnte sie in der Fensterscheibe beobachten.

Leippert klopfte ihr auf die Schulter:

– Sie sind eine brave Frau, Frau Mulch. Aber zu Herrn Benrath kann ich Sie nicht lassen, wenn Sie solchen Unsinn reden. Der muß noch sehr geschont werden. Sie können ihm die Hand geben und ihm guten Tag sagen, aber Sie müssen mit mir wieder das Zimmer verlassen.

– Guten Morgen, Frau Mulch! rief ich . . . 316

Nun gab es kein Halten mehr. Sie hätte Leippert fast umgerannt.

– Wo? wo? wo? rief sie, die Hand vor die kurzsichtigen Augen haltend . . .

– Hier, hinter den Wandschirmen . . .

Da stand sie vor mir, in ihrem schwarzen Mantel, über den sie einen Spitzenumhang gezogen hatte, in ihrem schwarzen Kapotthut, den ein Büschel gebackener Veilchen zierte, mit ihrem riesigen Regenschirm und der ebenso riesigen Ledertasche . . . Sie neigte sich zu mir, betrachtete mich, wie wenn sie mich unter der Lupe hätte, und tastete nach meinen Händen . . .

– Weiß wie Schnee, hauchte sie, weiß wie Schnee . . .

– Das macht nichts, Frau Mulch, sagte ich . . . Ich danke Ihnen für Ihren Besuch . . . Es wird mir bald wieder gut gehn . . . Ich lasse Sie rufen, wenn ich kräftiger bin . . . Haben Sie die Post mitgebracht? Ja? Das ist lieb von Ihnen . . . Sagen Sie Herrn Kallenbach, er könne noch drei Wochen in meiner Wohnung bleiben, und für den Rest seiner Zeit richten Sie ihm Ihre gute Stube ein, nicht?

– Jo, jo, jo . . . Komme Sie noch net nach Haus?

– Am zwanzigsten November etwa.

– Ich glaub, Sie komme net mehr, weinte sie auf . . .

Leippert drängte zum Aufbruch . . .

– Doch, ich komme, lächelte ich, ihre Hand drückend . . .

– Der Handdruck ist kräftig, sagte sie . . . 317

– Na, sehn Sie, ermunterte Leippert, während er sie gegen die Tür zog . . .

Sie ging ohne Widerstreben. Als sie eben schon zwischen Tür und Angel war, rief sie noch einmal zurück:

– Die Frau Posttirektor hat ihr Kleines. Eine hochprächtige Tochter. Soll vom Baumeister Knoll sein . . . War aber eine hochnotsschwere . . .

Das Wort ›Geburt‹ hörte ich nur noch gedämpft vom Korridor her . . . Und dann die schlappenden Schritte, die sich entfernten . . .


Briefe, Depeschen, Visitenkarten, Blumen: das waren die nächsten Tage.

Als erster Besucher wurde Professor Hinrichsen zugelassen. Er war von einer Liebenswürdigkeit, die ich ihm niemals zugetraut hätte . . . Meine Arbeit sei durchaus zufriedenstellend und formal einwandfrei . . . Jetzt schon von einem Datum der Prüfung zu reden, verbiete sich durch die Umstände. Allem voran gehe die Gesundheit. Daran – und nur daran habe ich jetzt zu denken. Alles andere sei durchaus Nebensache . . . Ich solle die Erregbarkeit meiner Nerven erst ganz ausschwingen lassen – und dann promovieren . . .

– Im Dezember, sagte ich. Vor meiner Abreise jedenfalls . . . Bis dahin werde ich durchaus dazu imstande sein . . . 318

– Wollen Sie das nicht lieber Geheimrat Leippert entscheiden lassen?

– Das kann ich wohl besser entscheiden als der Arzt.

– Sie möchten sich am liebsten schon hier in der Klinik prüfen lassen? lächelte Hinrichsen . . . Um die Sache los zu sein?

– O nein, Herr Professor. So weit bin ich noch nicht! Und diese Parforcetour würde mir wohl noch schlecht bekommen . . . Aber in vier Wochen erholt man sich rasch, wenn erst der tote Punkt einmal überwunden ist.

– Möglich. Warten wir ab, und hoffen wir das Beste . . . Ich möchte Ihnen noch sagen, daß mir Ihre Notizen über die Aussprache der Aspiraten auf der Insel Man große Dienste leisten . . . Mein Traum wäre, noch eine grundlegende keltische Grammatik zu schreiben . . . Aber wo soll unsereiner die Zeit dazu hernehmen? Man erstickt im Kleinkram . . . Stellen Sie sich vor, daß ich jetzt wieder dreiundvierzig erste Semester habe, die von der Oberrealschule kommen! Keinen blassen Dunst von Lateinisch und Griechisch! Wie soll man da wissenschaftlich arbeiten!

– Glauben Sie nicht, Herr Professor, daß sich alle Anhänger des humanistischen Gymnasiums zusammentun und eine geschlossene Abwehrfront bilden sollten?

– Welchen praktischen Wert soll das haben – und wie sollte man das bewerkstelligen, wenn der Staat 319 selbst diese Gleichmacherei nicht nur unterstützt, sondern sogar in die Wege leitet?

– Praktischen Wert? Zunächst gar keinen. Aber es müssen ja nicht alle Werte praktisch sein! Die innere Einheit, das fraglose Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen gleicher Bildungsstufen und -ziele, würden eine ungeheure Bedeutung für das gesamte geistige Deutschland gewinnen . . .

Hinrichsen sah durch das Fenster in die schieferblaue Abenddämmerung, in der sich die dunkelgrauen Rauchstreifen der Lokomotiven verzogen . . .

– Ich glaube, Herr Benrath, sagte er nach langem Schweigen, die Welt wird bald andere Sorgen haben . . . Ich bin während meines Pariser Aufenthaltes auf weniger Freundlichkeit gestoßen als früher . . . Und die Wissenschaft hat doch weiß Gott nichts mit Politik zu tun . . . 320

 


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