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Gesindel

Kollwitz

Cartouche

Dem ehrsamen Faßbinder Cartouche in Paris wurde im Jahre 1693 ein Sohn, Louis-Dominique, geboren. Der Mann war nicht reich, aber da der Junge früh von einer ungewöhnlichen Klugheit Zeugnis gab, ließ er ihn in das beste und vornehmste Kollegium, das der Jesuiten, aufnehmen. Die Mitschüler des kleinen Cartouche gehörten den reichsten Familien der Stadt und des Landes an; sie waren prächtig gekleidet und hatten ein ansehnliches Taschengeld. Cartouches Anzug war dagegen ziemlich schäbig, und Geld für Näschereien und dergleichen konnte ihm sein Vater nicht geben. Darum aber doch, und vielleicht gerade deswegen stachen ihm die Auslagen der Obsthändlerinnen vor dem Tore der Anstalt sehr in die Augen, und er gewann bald eine große Geschicklichkeit darin, die guten Frauen zu bestehlen, ohne daß sie es jemals merkten.

Von diesen Erfolgen begeistert, gedachte er, auch zu so schönen Kleidern kommen zu können, wie seine Mitschüler sie hatten. Einer seiner besten Freunde, ein junger Marquis, der Hofmeister und Kammerdiener bei sich im Kollegium hatte, bekam von seinen Eltern hundert Dukaten zugeschickt; Dominique wohnte der Überbringung des Geldes bei und sah, in welche Kassette es gelegt wurde. – Eines Morgens, als er Hofmeister und Diener abwesend wußte, bat er um die Erlaubnis, das Schulzimmer verlassen zu dürfen, und stahl sich durch die Kammer des Dieners, die den einzigen Zugang bildete, in das Zimmer des Freundes. Die Kassette stand auf einem hohen Schranke. Dominique hatte keine Leiter und stellte zwei Stühle übereinander. Schon will er mit gieriger Hand den Schatz ergreifen, als er im Nebenzimmer gehen hört. Eiligst klettert er auf den Schrank und legt sich ruhig oben hin. Der Hofmeister tritt ein, natürlich ganz ahnungslos. Daß die Stühle aufeinander standen, wundert ihn nicht; sein Zögling und dessen Freund hatten vielleicht an ihnen herumgeturnt. Er stellt die Stühle an ihren Platz und bleibt im Zimmer. Bald kommt auch der Kammerdiener zurück, der sich unwohl fühlt. Er klagt über Kopfschmerzen und legt sich zu Bett. Cartouche darf sich nicht rühren. Nun kommt auch der junge Marquis aus dem Schulzimmer; verwundert über das Verschwinden seines Freundes sucht er ihn überall; kein Mensch weiß, wo er geblieben ist. Dominique hört alle Vermutungen über seinen Verbleib mit an und muß so stundenlang ruhig ausharren. Die Glocke, die zum Essen ruft, ertönt. Der Marquis und der Hofmeister begeben sich zur Mahlzeit, der Diener im Nebenzimmer läßt sich das Essen ans Bett bringen, Cartouche muß hungern. Vom Schrank herabzuspringen darf er nicht wagen, weil das der Diener unfehlbar hören müßte. Tag und Nacht vergehen. Aber noch den ganzen folgenden Morgen muß er ausharren, denn der Kammerdiener steht erst am Nachmittag auf. Nun aber ist er frei. Er leert rasch die Kassette in seine Tasche, springt vom Schrank herab, eilt zur Tür – da tritt ihm der Marquis und der Hofmeister entgegen. Alle drei schauen sich in stummer Überraschung an. Dann bringt Cartouche eine Geschichte vor, die er sich während seiner Gefangenschaft auf dem Schranke ausgedacht hat, und die Glauben findet. Aber der Rektor, zornig über den Ausreißer, hat geschworen, ihn strengstens zu strafen; der Marquis teilt das dem Freunde mit und rät ihm, vorläufig das Kollegium zu verlassen, bis man den Schultyrannen erweicht habe. Etwas Besseres kann sich Dominique nicht wünschen. Er umarmt herzlich seinen Freund und macht sich auf den Weg zu seinem Vater, dem er mit irgendeinem Märchen seine Heimkehr erklärt.

Am nächsten Tage geht er mit der vollen Tasche auf den Jahrmarkt von St. Germain. Unterdessen hatte man aber seinen Diebstahl entdeckt und den Vater benachrichtigt. Einer seiner Brüder suchte darum Dominique auf und warnte ihn davor, nach Hause zu kommen.

Cartouche war schnell entschlossen, er verließ Paris und marschierte ohne Reiseziel bis um Mitternacht. Unter einen Baum legte er sich schlafen. Eben wollten sich seine Augen schließen, als er ein Geräusch hörte, das immer näher kam. Im Mondschein sah er einen Zug Menschen in seltsamer Kleidung; er hörte sie sprechen und konnte kaum etwas verstehen. Der Haufe lagerte sich in seiner Nähe: es waren Zigeuner, die den armen Dominique bald entdeckten, so sehr er sich auch zu verstecken suchte. Aber sie meinten es nicht böse und luden ihn zu ihrem Nachtessen ein.

Wie Cartouche am nächsten Morgen wieder aufwachte, bemerkte er, daß ihm sein Geld fehlte. Er war trostlos, er weinte, er drohte; man lachte ihn aus und bot ihm endlich die Aufnahme in die Bande an. Das Bild vom glücklichen Leben der Zigeuner, das man vor seinen Augen entrollte, verlockte ihn endlich, und man machte sich gemeinsam auf den Weg nach der Normandie. Die Reise nützte man dazu, dem jungen Cartouche mancherlei Kenntnisse beizubringen, die er später gut brauchen konnte.

In Rouen wurden die Zigeuner von den Schergen verfolgt und zerstreut. Cartouche blieb mittellos allein. Da begegnete ihm ein Oheim, erkannte ihn, verzieh ihm, führte ihn in die Herberge und kleidete ihn neu. Er brachte Dominique nach Paris zurück, und am Ende nahm der gutmütige Vater den Jungen wieder bei sich auf.

 

Zuerst schien es, als wolle sich Dominique jetzt zu einem ehrsamen Lebenswandel entschließen. Aber bald verliebte er sich in eine junge, sehr umworbene und sehr kokette Näherin. Um sich ihre Zuneigung zu sichern, war viel Geld nötig. So begann er denn seinen Vater zu bestehlen, und als der ihm auf die Finger schaute, bewährte er seine Geschicklichkeit außerhalb des Hauses. Am Ende aber entdeckte der Vater ein Versteck, in dem Dominique eine große Anzahl geraubter Gegenstände verborgen hatte. Er schwieg, traf aber Vorbereitungen, um den Ungeratenen in die Fürsorgeanstalt St. Lazare zu bringen. Eines Tages bat er den Sohn, ihn auf einer kleinen Geschäftsreise zu begleiten: er wolle Fässer kaufen. Ohne Mißtrauen folgte Dominique dem Vater in den Wagen, aber als er in dessen Nähe Häscher erblickte, erriet er, was die Glocke geschlagen, schwieg aber hübsch still. Vor der Anstalt angekommen, sagte ihm der Vater, er möchte im Wagen warten, während er selbst um Erlaubnis bitten wolle, den schönen Garten da zu besichtigen. In der Kutsche allein geblieben, wirft Dominique in aller Hast Hut, Perücke und Jacke ab, nimmt ein weißes Taschentuch wie eine Mütze um den Kopf, nützt einen Augenblick, in dem die Gerichtsdiener sich abwenden, verläßt die Kutsche auf der Seite nach der Anstalt zu und geht dann dreist mitten durch die Häscher fort, die ihn für einen Pastetenbäckerjungen ansahen. Er verschwindet um die nächste Ecke, eilt rasch nach Hause, denn er vermutet richtig, daß man ihn dort zuletzt suchen werde. Schnell steckt er alles Wertvolle zu sich und geht, um nie mehr zurückzukehren.

 

Diesmal fiel es ihm nicht mehr ein, Paris zu verlassen. Er verkappte sich, so gut es ging, legte sich einen falschen Namen zu und vertraute sein Geschick Fortuna an.

 

Eines Tages machte er in der Jesuitenkirche einen überaus geschickten Griff in eine fremde Tasche. Da sah er sich von einem jungen Manne entdeckt, der aber keine Miene machte, ihn zu verraten. Im Gegenteil, er drückte ihm mit pfiffigem Lächeln freundlich die Hand und überhäufte ihn vor der Kirche mit Lobsprüchen über sein Talent. Dann nahm er ihn in seine Wohnung mit, wo eine wohlbesetzte Tafel und zwei hübsche junge Mädchen warteten. Als der neue Freund hörte, daß Cartouche sein Geschäft auf eigene Hand und ohne Verbindung mit einem Genossen betriebe, machte er ihm begreiflich, daß ein solches Verfahren sich auf die Dauer nicht ohne Schaden durchführen ließe. Er bot ihm sich als Teilhaber, und die eine der Schönen zur Freundin an. Cartouche schlug ein, und die Sache war in Richtigkeit.

Sechs Monate lang wurde das Kompagniegeschäft mit Erfolg fortgesetzt, obwohl Cartouche, nach seiner eigenen Angabe, damals erst siebzehn Jahre alt war. Da wurden sie eines Tages ertappt; der gute Freund kam auf die Galeeren, die Damen ins Hospital – Cartouche aber gelang es, zu entspringen.

 

Es schien ihm nicht ratsam, vorderhand sein Handwerk weiter zu betreiben. Er wollte es jetzt mit dem Spiel versuchen, ließ sich in vornehme Gesellschaften einführen, wo man den jungen Mann mit dem anmutigen Äußeren mit offenen Armen empfing. Er hatte Glück und konnte die Spieler bald in ein eigenes Haus einladen. Das Gold rollte in seine Kasse. Seine Wohnung ließ er jetzt aufs reichste ausstatten, zwei Lakaien in kostbarer Kleidung bedienten ihn. Nun traf es sich aber, daß einer dieser Diener ihn bestahl, und Cartouche war töricht genug, den Dieb bei den Gerichten anzuzeigen. Aus Rache denunzierte der Lakai seinen Herrn, und die von diesem Ausgeplünderten sagten, als Zeugen geladen, mit vieler Freude gegen ihn aus. Aber Cartouche zog sich noch gut genug aus der Schlinge. Man konnte ihm nichts beweisen, das genügt hätte, ihn ins Gefängnis zu bringen; freilich um seinen Ruf in den Spielerkreisen war es geschehen. Die Türen seiner vornehmen Freunde blieben fortan vor ihm verschlossen. Er sah sich genötigt, sein eigenes Haus aufzugeben und seine Juwelen und kostbaren Möbel zu verkaufen.

 

Jetzt bot er dem Polizeichef von Paris, D'Argenson, an, ihm alle Diebe der Hauptstadt bekannt zu geben. Dafür erhielt er täglich einen Kronentaler. Ob er seine Berufsgenossen wirklich verriet, wissen wir nicht. Jedenfalls aber genügte seinem Tätigkeitsdrang die Stellung als Polizeispitzel nicht; so verlegte er sich denn nebenbei auf Werbergeschäfte.

Einst hatte er sich einem Sergeanten gegenüber verpflichtet, ihm gegen ein bestimmtes Entgelt fünf Rekruten zu liefern. Jedoch trotz aller Anstrengungen konnte er bis zum Augenblick, in dem der Sergeant Paris verlassen mußte, nur vier auftreiben. Sein Auftraggeber schien auch damit zufrieden, er sagte kein Wort, nur bat er Cartouche, ihm die Rekruten bis nach La Billette führen zu helfen, wo er ihm die versprochene Summe auszahlen wolle. Cartouche ging darauf ein. In La Billette angekommen, frühstückte man reichlich; der Sergeant trennte sich ungern von seinem Trinkkumpan, er schlug ihm vor, um einer Flucht der Rekruten vorzubeugen, ihn auch noch bis nach Meaux zu begleiten. Cartouche hatte nichts dagegen. In Meaux wurden beim fröhlichsten Abendessen unterschiedliche Flaschen Likör geleert. Mit schwerem Kopfe legte sich Cartouche zu Bett. Als er aber am Morgen aufstehen wollte, um nach Paris zurückzukehren, fühlte und sah er, daß ihm die Hände gebunden waren. Um sein Bett standen die vier von ihm geworbenen Rekruten, Gewehr im Arm, um ihn zu bewachen. Der Sergeant erklärte ihm mit voller Gemütsruhe, daß er, in Ermangelung eines Besseren, sich mit ihm als fünftem Rekruten begnügen wolle. Cartouche habe auf die Gesundheit des Königs getrunken, und so könne ihm nichts mehr helfen. Alles Fluchen und Toben nützte dem überlisteten Gauner nicht das Geringste. Er mußte sich der Gewalt fügen und mit in den Krieg nach Flandern marschieren.

 

Im Regiment wurde Cartouche bald der Liebling seines Hauptmanns. Er täuschte die Erwartungen seiner Vorgesetzten nicht, als die Truppen ins Schlachtfeld rückten, und zeichnete sich bei mehreren Gelegenheiten durch Umsicht und Tapferkeit aus. Er wurde befördert, und wäre der Krieg von Dauer gewesen, so hätte er möglicherweise eine glänzende Karriere gemacht. Aber der Friede ward geschlossen. Cartouche, infolgedessen entlassen, sah sich gezwungen, wieder an sein früheres Geschäft zu gehen.

Er tat es mit größerer Hoffnung als je zuvor. Einmal wurden mit ihm eine Menge von Leuten entlassen, die, durch den Krieg verwildert, ein freies, gewalttätiges Leben ehrlicher und anstrengender Tätigkeit vorzogen. Dann aber hatten sich im Heere Cartouches organisatorische Fähigkeiten ausgebildet: Er schmeichelte sich mit dem Gedanken, Räuberhauptmann und Führer seiner Kriegskameraden zu werden. Denn sein Plan war, nicht als ein kleiner Taschendieb sondern als Unternehmer größten Stiles nach Paris zurückzukehren. Herrschte in seinem Schwarm Ordnung und Disziplin, so – glaubte er – könne Außerordentliches geleistet werden.

Er berief an einen einsamen Ort in der Nähe von Paris alle die, welche ihm für seine Zwecke in Betracht zu kommen schienen. Gegen zweihundert fanden sich ein. Cartouche wurde von ihnen einstimmig zum Oberhauptmann erwählt. Eine von ihm entworfene Verfassung wurde verlesen und angenommen. Ihre Hauptpunkte waren: Der Hauptmann hat das Recht über Leben und Tod gegen jeden aus der Bande; er braucht niemandem Rechenschaft abzulegen; jeder der Genossen wird eidlich verpflichtet, sein Leben zu wagen, wenn irgendeiner aus der Bande in Not ist; den Offizieren, welche der Hauptmann erwählt, ist unbedingter Gehorsam zu leisten.

Zum Schrecken von Paris sollte sich dieser Kodex in außerordentlicher Weise bewähren. Man hörte in der Hauptstadt bald von nichts anderem mehr, als von Diebstählen, Einbrüchen und Mordtaten. Die häufigsten und frechsten Überfälle fanden an den Staden und auf den Brücken der Seine statt. Die Beraubten wurden in den Fluß geworfen.

Kein noch so kunstreiches Schloß konnte den Einbrechern widerstehen; mit Strickleitern stiegen sie bis in die obersten Stockwerke der Häuser. Die am anständigsten von Cartouches Leuten aussahen, hatten das Amt von Taschen- und Juwelendieben in den Kirchen. Während die reichen Damen neben einem überfrommen Andächtigen zu knien vermeinten, der seine gefalteten Hände viertelstundenlang nicht bewegte – sie waren nämlich von Holz oder von Wachs, mit Handschuhen bedeckt – griffen die wirklichen Hände in die Taschen der Nachbarn, oder stahlen Geschmeide und Uhren. Kein Ort, an dem eine größere Menge zusammenkam, war mehr sicher.

Jedoch trotz der großen Beute wollte das Geschäft nicht recht rentieren. Von dem Gewinne ging zu viel ab für die Spione, besonders für die Gerichtsdiener, welche man gewonnen hatte – für die Künstler und Handwerker, die den gestohlenen Sachen rasch eine andere Gestalt geben mußten – für die Hehler, von denen die Bande fast in jeder Straße einen hatte – für die gefälligen Frauen, welche die Fremden anlockten und verrieten. Die Unterhaltung der Truppe selbst kostete ein beträchtliches; denn es war ausgemacht worden, daß ein jeder außer seinem Beuteanteil ein bestimmtes Tagegeld erhielte.

 

Da war es der berühmte Erfinder des Papiergeldes, Law, welcher der Bande in ihren Nöten zu Hilfe kam. In der Rue Quincampoix hatte er sein Bankbureau errichtet und wußte alle Wohlhabenden von Paris, ja, von ganz Frankreich, so für sich einzunehmen, daß sie seine Geschäftsräume fast stürmten, um ihr Gold gegen Papier zu vertauschen. Wenn auch Stimmen laut wurden, die vor dem Papiergelde warnten, – Cartouche jedenfalls hegte nicht den mindesten Zweifel an dem Werte der Banknoten. Er bestrebte sich vielmehr, so viele derselben an sich zu bringen, als er nur vermochte. Zu diesem Zwecke umstellte er zuweilen die Zugänge zur Rue Quincampoix mit seinen Leuten und ließ alle aus der Bank Kommenden verfolgen. Wenn es sich irgend tun ließ, wurden sie in einsamen Gassen überfallen, mit bleiernen Stöcken betäubt oder mit Pechpflastern geblendet, und dann beraubt.

 

Auch die Landstraßen um Paris waren nicht mehr sicher. Es mehrten sich die Einbrüche in die Schlösser der Adligen, die Anfälle auf die Postkutschen, wobei gewöhnlich die Postillone durch einen Pistolenschuß getötet wurden, häufig auch die Reisenden, die sich zu verteidigen wagten.

Einmal wurde bei einem solchen Überfalle eine edelmütige Regung im Herzen Cartouches wach. Er schoß den Postillon nicht nieder und tat auch keinem von den Reisenden ein Leid an. Seine Aufforderung allein genügte, die Insassen der Kutsche zu bewegen, ihm ihre ganze beträchtliche Habe auszuliefern. Er war von einem seiner Offiziere begleitet gewesen, mit dem er nun also die Beute zu teilen hatte. Als er das bedachte, verflog plötzlich sein Edelmut und er jagte seinem Kumpan eine Kugel durch den Kopf. –

 

Der Schrecken in Paris mehrte sich so, daß die Behörde die größten Anstrengungen machte, die Bande zu vernichten. Aber wenn es auch einmal gelang, einzelne von ihren Gliedern zu ertappen, so schwiegen sie doch beharrlich über ihre Genossen. Man verdoppelte die geheime Polizei; man bezahlte den Gerichtsdienern dreißig Sous im Tag; man versprach ihnen Belohnungen; man verordnete, daß alle Vagabunden, welche keine bestimmte Beschäftigung nachweisen konnten, Paris zu verlassen hätten; man verbot den Waffenschmieden und -händlern, an Leute, die keinen Erlaubnisschein hätten, ihre Waren zu verkaufen; man legte auf alle Mordinstrumente bei den Trödlern Beschlag. Alles war vergeblich.

 

Bei Cartouches Schar befand sich auch ein Jude, Joseph Lami, der einen anderen Juden erstochen und dessen Frau zum Weibe genommen hatte – sie war eine Person, die als Geschäft das Abschwören ihres Glaubens betrieb. Lami war der Stolz der Bande. Mit mehreren anderen wurde er auf frischer Tat ergriffen, aber weder die Qualen der Folter, noch – nach seiner Verurteilung – der Anblick des Rades konnte ihm ein Geständnis erpressen. Er starb mit seinen Genossen schweigend, weil sie geschworen hatten, den Hauptmann nie zu verraten.

Nach längerer Zeit endlich fand sich einer der Räuber, der sich durch die Folter Cartouches Namen entreißen ließ. Zu gleicher Zeit erhielt die Behörde – durch wen, wissen wir nicht – ein Bild des Hauptmanns, das sie an die Gerichtsämter von ganz Frankreich schickte; sie setzte auf Cartouches Verhaftung einen Preis von zweitausend Livres aus – aber was half ihr Name und Bildnis? Der Mann selbst wußte sich allen Nachstellungen zu entziehen.

Die verwegensten Spekulationen glückten ihm. Als er einmal gerade hunderttausend Livres in Gold zusammen hatte, ging er damit zu einem der angesehensten Bankiers, übergab ihm dieselben und erbot sich einen Wechsel auf die gleiche Summe nach Lyon: einer seiner Freunde – er hatte ihn mitgebracht – reise dahin und bedürfe dort dieser Summe. Er ersuchte, den Avisbrief auf der Stelle abzusenden, damit der Freund, der noch am selben Tage abreise, ohne Schwierigkeiten das Geld erheben könne. Noch im Zimmer des Bankiers nahm er von dem Fortreisenden Abschied, dem er den Wechsel aushändigen ließ. Der Freund, natürlich ein Mitglied seiner Bande, überbrachte, statt abzureisen, gleich darauf dem Hauptmann den Wechsel. Dieser kopierte ihn so geschickt, daß niemand die Täuschung merken konnte und ließ einen der Genossen mit dem gefälschten Scheine abreisen. Am gleichen Abend noch brachte er aber dem Bankier den echten Wechsel zurück, weil sein Freund im letzten Augenblick die Reise habe aufgeben müssen. Ohne weiteres erhielt er sein Geld zurück, und dann später dieselbe Summe noch einmal aus Lyon.

 

Die Polizei ließ kein Mittel unversucht, dem Schelm auf den Leib zu rücken. Sie brachte in Erfahrung, daß Cartouche sich großenteils in einem Hause der Rue de la Seine aufhalte, und daß er an einem gewissen Tage bestimmt dort sei. Augenblicklich wurden Gerichtsdiener und Soldaten dorthin beordert. Eine neue hohe Belohnung wurde ihnen zugesagt, falls sie sich der Person des Räubers bemächtigten. Mit solcher Stille wurde an die Ausführung des Befehls gegangen, daß keiner von des Hauptmanns Spürhunden etwas ahnen konnte. Cartouche wurde erst durch das Geräusch anmarschierender Soldaten aus seiner Ruhe geschreckt. Er sah das Haus umstellt und merkte, daß Bewaffnete eindrangen. Entfliehen konnte er nicht mehr, so wollte er wenigstens sein Leben teuer verkaufen. Er verschloß seine Kammer und wälzte alle möglichen Gegenstände vor die Tür, um mit Hilfe dieser Barrikade eine Belagerung aushalten zu können. Bewaffnet war er, wie gewöhnlich, mit drei Paar Pistolen. Die Tür wird gesprengt, aber die Barrikade widersteht, und über diese hinweg feuert er. Mehrere der Soldaten werden verwundet, aber vergeblich zielt er auf ihren Führer, der ihm der gefährlichste von seinen Feinden zu sein scheint. Er hat fast keine Munition mehr, und das Volk auf der Straße spornt die noch untenstehenden Polizeidiener an, ihren Kameraden beizuspringen, und schmäht sie, daß sie sich von einem Einzigen in Schach halten ließen. Cartouche sieht sich verloren. Da kommt ihm ein letzter Rettungsplan. Im Augenblick hat er sich alle Kleidungsstücke, die ihn kenntlich machen könnten, vom Leibe gerissen und klimmt durch den Schlot des Kamines aufwärts. Er kommt auf das Dach, klettert von einem Haus zum andern und läßt sich endlich nach längerer Wanderung durch das Mansardenfenster in ein Zimmer hinab. Solche Ankunft in solchem Zustande erschreckt natürlich die Bewohner des Hauses, die aber glücklicherweise für ihn von der Hetzjagd in der nächsten Gasse nichts wissen. Cartouche ist ein Held im Lügen: er wird von einem unerbittlichen Gläubiger verfolgt, der einen Verhaftsbefehl gegen ihn erwirkt hat und in seiner Grausamkeit ihn zeitlebens im Gefängnis schmachten lassen würde; dieser Gefahr habe er sich auf solch ungewöhnlichem Wege entzogen. Er fleht das Mitleid der Leute an, die seine Fabel gläubig anhören. Man gibt ihm einen alten Rock, und im Vertrauen auf die Lumpen, die ihn unkenntlich machen, geht er ruhig durch das Volk und die Soldaten.

Diese, die bei der Belagerung mehrere ihrer Leute haben fallen sehen, schwören voller Wut, alles daran zu setzen, um den Feind, der ihnen diesmal noch entkommen ist, in kurzem einzufangen. Bald darauf scheint sich ihnen eine günstige Gelegenheit zu bieten. Sie erfahren, daß Cartouche sich bei einer seiner Mätressen befinde. Man kannte das Haus, die Zimmer der Schönen, die Türen, so daß die Überrumpelung glücken mußte. Cartouche war wiederum ahnungslos, da hörte er Geräusch, ein Trupp Soldaten zieht heran, zwei Häscher besetzen die Haustüre, die andern steigen die Treppen hinauf. Im Augenblick ist Cartouche auf den Beinen, er steigt aus dem zweiten Stock, in dem seine Mätresse wohnte, zu einer anderen Dame desselben Gelichters, welche im fünften ihr bescheidenes Kämmerchen hat, und die er ebenfalls gelegentlich besucht. Als er erlauscht, daß die Soldaten bei seiner Mätresse eingedrungen sind, schlägt er lachend die Tür bei der Schönen, die dem Himmel näher wohnt, zu, steigt die Treppen sorglos herab, wie wenn er oben einen Besuch gemacht hätte, und will singend an den beiden Wächtern vorbei das Haus verlassen, als diese ihn fragen: »Haben sie Cartouche gekriegt?« – »Noch nicht, wie Ihr seht,« antwortet er, »denn er ist hier,« und im selben Augenblick streckt er sie durch zwei Pistolenschüsse nieder.

 

Von jetzt an war man dermaßen hinter ihm her, daß er es für nötig hielt, auf einige Zeit aus Paris zu verschwinden. Aber er fürchtete, diese Fahnenflucht könne seinem Ansehen bei der Bande schaden. Er trug seinen vertrautesten Offizieren auf, sie sollten die Genossen bereden, an den Hauptmann folgende Bitte zu richten: er möge sich auf einige Zeit zu seiner und der Bande Sicherheit in eine entfernte Provinz begeben; so würde der Sturm der Verfolgung am ehesten an den Genossen vorbeibrausen, und man könne wieder etwas Atem schöpfen. Der Vorschlag fand zuerst wenig Anklang. Den beherzten Männern gab nicht die Kutte des Mönches oder der Mantel des Abbé, die sie trugen, ihre Zuversicht, sondern das Gefühl, unter der Leitung eines Feldherrn wie Cartouche sich zu betätigen. Es schien ihnen, wenn Cartouche fort sei, wäre ihnen der Grèveplatz, der Ort, an dem die Hinrichtungen stattfanden, um vieles näher gerückt. Am Ende gaben sie aber den vernünftigen Vorstellungen von Cartouches Vertrauten nach. Dieser ernannte die Oberoffiziere, welche in seiner Abwesenheit den Befehl führen sollten und zog sich nach Orléans, später nach Bar-sur-Seine zurück.

 

Die Kunde von seiner Flucht wurde in Paris ruchbar. Man atmete auf; einige sagten, er sei nach England, andere, er sei nach Lothringen gegangen. Noch Klügere glaubten, er habe sich nur in Paris versteckt und seine Flucht vorgetäuscht, um die Polizei zu narren.

 

In Bar-sur-Seine fand unterdessen Cartouche, der niemals rasten konnte, eine ihm neue Art der Betätigung. Eine alte Bürgersfrau der Stadt betrauerte die langjährige Abwesenheit ihres Sohnes, den sie noch immer nicht für tot halten wollte, obgleich keinerlei Nachricht mehr von ihm kam. Die Alte, fast kindisch geworden, konnte die Hoffnung, das geliebte Kind wiederzusehen, nicht lassen. Cartouche, der davon gehört, hielt es für zweckmäßig, die Rolle des verlorenen Sohnes zu spielen. Er zog vorsichtig Erkundigungen über dessen Jugendleben und den Charakter der schwachen alten Frau ein. Bei seinen Geistesgaben wußte er seine Gastrolle mit solcher Treue zu geben, daß die Alte keinen Augenblick zweifelte, in ihm den heißgeliebten Sohn vor sich zu sehen. Er war ein vortrefflicher Erzähler und wußte wahrscheinlich mehr und genauer von der längst entschwundenen Jugendzeit zu berichten, als es der wirkliche Sohn, falls er noch gelebt, vermocht hätte. Als Charles Bourguignon, Sohn und Erbe der Krämerin Bourguignon zu Bar-sur-Seine, war er vor der Polizei sicher.

Aber auf die Dauer ward ihm das Spiel langweilig. In den engen Mauern einer kleinen Stadt, in den Klatschgesellschaften seiner sogenannten Verwandten und der Nachbarn konnte er sich nicht allzulange behagen. Sechs Monate hatte er in diesem kleinbürgerlichen Einerlei vegetiert, dann hielt er es nicht mehr aus, er mußte fort, und wenn es geradenwegs zum Galgen gewesen wäre. Eines schönen Tages war er verschwunden, ohne Abschied zu nehmen, ohne eine Zeile zu hinterlassen; und die alte Bourguignon konnte zum zweiten Male ihren Sohn beweinen.

 

Als er in Paris eintraf, wurde er von den Seinen mit rauschendem Jubel begrüßt, das heißt, von denen, welche bis dahin Gefängnis, Galgen und Rad entgangen waren. Die Justiz hatte stark aufgeräumt. Cartouche forderte strenge Rechenschaft von seinen Mannen, er belohnte, er strafte die guten und schlimmen Taten, die seine Leute, während er abwesend war, vollbracht hatten.

 

Bald wieder mußte er merken, daß die Polizei ihm auf den Fersen war. Er fing seiner eigenen Schar zu mißtrauen an, und allmählich hielt er sich nirgends mehr für sicher. Die alte Verwegenheit schwand ihm. Seine Getreuen sahen ihn mit besorgten Blicken an. Er war ihnen die alte Stütze nicht mehr. – Niemals schlief er zwei Nächte im selben Bette, oft fuhr er vom Lager auf und warf unstete Blicke um sich.

 

Er hielt es für geraten, von nun an eine Schreckensherrschaft über seine Leute zu führen, um die wirklich, oder nur in seinem Argwohn erschütterte Autorität wieder herzustellen. Ein junger Soldat der Garde, der zur Bande gehörte, hatte sich in einer zärtlichen Stunde verleiten lassen, bei seiner Geliebten, einer Schneidermamsell, seinen Eid zu brechen und ihr anzuvertrauen, daß er mit Cartouche in Verbindung stehe; er hatte ihr versprochen, von ihm zu lassen. Das kam dem Hauptmann zu Ohren, er berief die ganze Bande, schmetterte den Verräter mit donnernder Rede nieder, ließ ihn erwürgen und nach dem Tode verstümmeln.

 

Unter seinen Offizieren stieg die Angst vor ihm mit jedem Tage, und einer von ihnen, ein Edelmann aus Poitou, der bei den Garden diente, Du Châtel, ward sein Verräter. Er versprach, falls man ihn begnadige, Cartouche lebendig der Polizei zu überliefern. Er war zu Cartouche geladen. Um neun Uhr des Morgens begab er sich, gefolgt von dreißig Häschern, nach dessen augenblicklichem Quartier, der Schenke »Le Pistole«. Ein vorausgeschickter Soldat fragte den Wirt, ob jemand bei ihm wohne? – Nein, war die Antwort. Darauf trat Du Châtel selbst ein und erkundigte sich, ob nicht vier Damen hier wären? Das war das Losungswort, der Wirt bezeichnete ein Zimmer im oberen Stock, und Du Châtel, dem die Soldaten schnell folgten, drang ein. Sie fanden Cartouche, der erst um zwei Uhr sich niedergelegt hatte, mit drei seiner Spießgesellen noch zu Bett. Er selbst lag in festem Schlaf. Die drei andern aber sprangen auf und wurden sofort überwältigt. Der Führer der Soldaten hatte Cartouche wohl im Bette bemerkt, aber aus Furcht, daß er sich selbst, oder in verzweifelter Gegenwehr einen der Häscher töten könne, rief er laut: »Verdammt! Da ist uns der Hauptspitzbube entwischt! Cartouche ist fort!« Der schlaue Schelm, der während des Kampfes erwacht war, ließ sich täuschen, er glaubte sich unbemerkt und kroch tiefer unter die Decke. Nun, da er sich nicht verteidigen konnte, stürzten die Soldaten über ihn her, sie ergriffen ihn, banden ihn, und ohne ihm nur Zeit zu geben, sich anzukleiden, schleppten sie ihn nach dem Gefängnis.

Keine Siegesbotschaft hätte in Paris solche Freude hervorrufen können, als die Nachricht von Cartouches Verhaftung. Die Stadt war wie in einem Rausche. Das italienische und französische Theater spielte Stücke, die auf den Räuberhauptmann Bezug hatten und vom Publikum lebhaft beklatscht wurden. Auch an ihn verherrlichenden Epen im Stile der alten Heldengedichte fehlte es nicht.

 

Nachdem ihr Führer gefangen, zerstreute sich die Bande. Viele ihrer Mitglieder sollen wieder ins Heer eingetreten sein. Cartouche selbst wurde mit äußerster Strenge bewacht. Ein Arm war ihm vorn geschlossen, der andere hinten. Sechs Schützen, die alle zwei Stunden abgelöst wurden, durften ihn nicht aus den Augen lassen. Dennoch gab Cartouche den Gedanken nicht auf, wieder die Freiheit zu erringen.

Auf die Dauer wurde den Schützen ihr Dienst langweilig, sie gaben nicht sonderlich auf den Gefangenen acht, der, schwer gefesselt wie er war, ja doch nicht entrinnen konnte. Mit den Eisen, die er trug, prüfte Cartouche unterdessen die Stärke der Mauer seines Gefängnisses. Aus dem hohlen Tone schloß er, daß ein Keller daranstoßen müsse. Wenn er dahin gelangen könnte, hoffte er gerettet zu sein. Er verständigte sich mit einem Maurer, der in einem Nebengemach gefangen saß. Es gelang ihm nach unendlichen Mühen, sich seiner Fesseln zu entledigen und mit seinem Kumpan ein so großes Loch zu graben, daß sie hindurchkriechen konnten. Von dem Gewölbe, in das sie kamen, kletterten sie durch einen Schacht nach oben, gelangten an eine Tür, deren verrostetes Schloß sich öffnen ließ, und konnten so in das Haus eines neben dem Gefängnis wohnenden Kistenmachers dringen. Aber ein Hund erwachte und bellte. Sie suchten ihn durch Liebkosungen zu beschwichtigen. Die Tochter des Kistenmachers hörte den Lärm und schrie nach der Wache. Ihr Vater stieg die Treppe hinab, in der einen Hand einen alten Spieß, in der andern ein Licht, aber schon Cartouches Anblick genügte, ihn aus der Fassung zu bringen. Licht und Hellebarde fallen lassend floh er eiligst in den oberen Stock zurück. Aber das ununterbrochene Geschrei der Tochter hatte indessen die Wache wirklich aufmerksam gemacht, sie drang ein, ehe die Flüchtlinge sich retten konnten, und diese wurden aufs neue in Eisen gelegt.

Cartouche brachte man bald darauf in ein sichereres Gefängnis, in die Conciergerie, und zwar in einem Wagen, den eine Menge Gerichtsdiener umgaben. So groß war die Angst, daß seine Bande einen Versuch zu seiner Befreiung wagen könnte. In dem neuen Kerker schloß man ihn an eine große Kette, die von der Decke herabhing und ihm kaum erlaubte sich zu bewegen. Dasselbe Gefängnis sah bald gegen fünfzig seiner Spießgesellen in seinen Mauern, die allmählich in Paris und in der Umgegend eingefangen worden waren.

Als man sie ihm gegenüberstellte, erklärte er, er sehe sie zum ersten Male. Weder sei er, noch kenne er den Louis-Dominique Cartouche, mit dem man ihn verwechsle. Er sei kein anderer als Charles Bourguignon aus Bar-sur-Seine. Dabei blieb er. Als seine eigene Mutter und sein jüngerer Bruder ihm vorgeführt wurden und ihn wieder erkannten, ließ er sich dadurch nicht im geringsten beirren, leugnete ihnen frech ins Gesicht und sagte, die Leute wären Betrüger.

Im übrigen zeigte er sich seiner furchtbaren Lage zum Trotz heiter, ja ausgelassen, er scherzte mit den Beamten, trank so viel Wein er nur bekommen konnte, und sang den ganzen Tag. Es wurde zur Mode in Paris, besonders bei den Damen, ihn zu besuchen und ihm durch allerlei Spenden die Leiden des Kerkers zu versüßen.

 

Aber sein Frohsinn verlor sich allmählich, als die Aussagen gegen ihn sich häuften. Sein kühnes Leugnen half ihm bald nichts mehr, es fanden sich Zeugen, die ihn sieben vollbrachter Mordtaten überführen konnten. Er verzweifelte und suchte sich den Kopf an den Eisengittern einzustoßen. Die Wachen hinderten ihn daran und hingen ihm einen großen Klotz um den Kopf, der ihm etwaige weitere Versuche, sich auf solche Weise den Tod zu geben, unmöglich machte. Aber unter den vielen Besuchern des Gefangenen waren auch heimliche Freunde und ehemalige Verbündete, denen alles daran lag, daß Cartouche schweigend aus der Welt ginge. Sie ließen ihm unvermerkt Gift zukommen. Es begann in der Nacht zu wirken. Der herbeigerufene Arzt erkannte aber an dem heftigen Erbrechen und der Stärke des Fiebers, was hier vorgegangen, und gab ihm sofort ein Gegengift ein, das Cartouche für das Schafott rettete.

Nach seiner Wiederherstellung führte man die Untersuchung rasch zu Ende. Am 26. November 1721 wurde er für schuldig befunden und zur Räderung verurteilt. Bevor man den Spruch an ihm vollzog, wurde Cartouche auf die Folter gebracht, weil man hoffte, daß die Qualen ihm die Namen seiner Mitschuldigen erpressen würden. Kein einziges Wort aber konnte man ihm entreißen. Auch seinem Beichtvater gelang es nicht, ihn zu einem Geständnis zu veranlassen. Als einer seiner Mitangeklagten zu bekennen anfing, nachdem man ihm acht Flaschen Wasser gewaltsam eingeschüttet hatte, wurde Cartouche wütend und schalt ihn einen schmählichen Feigling, von dem er besseres erwartet habe.

 

Die Stunde der Hinrichtung kam heran. Gegen fünf Uhr abends führte man ihn nach dem Grèveplatz, wo er und seine Gesellen den Tod erleiden sollten. Der ganze Platz war mit Schafotten und Galgen angefüllt. Eine unzählbare Menschenmenge hatte sich versammelt.

Beim Anblick der zur Hinrichtung erforderlichen Werkzeuge verlor Cartouche völlig seinen Gleichmut. Als er den Henker wie zur Probe das Rad schwenken sah, rief er halb laut mit zitternder Stimme: »Das ist ein häßlicher Anblick!« Diesen Moment innerer Erschütterung suchte sein Beichtvater zu benutzen, um ihn zum Geständnis zu bewegen. Aber Cartouche hatte sich rasch erholt. Er nahm die ruhige Miene von früher wieder an und erklärte, er wisse nichts und könne nichts sagen. So bestieg er unerschrocken das Schafott.

Aber dieser letzte Mut hatte nur darin seine Quelle, daß Cartouche zuversichtlich hoffte, seine Bande, durch heilige Eide an ihn gefesselt, werde einen Aufstand zu seiner Befreiung ins Werk setzen. Aber soweit sein Auge reichte, sah er nur die festgeschlossenen Reihen der Soldaten ringsumher. Sein scharfer Blick erkannte unter den Tausenden, die sich hinter den Truppen drängten, keinen Einzigen, von dem er noch etwas zu hoffen hatte. Da wich sein Mut, seine Gesichtszüge wurden schlaff, er biß sich auf die Lippen und wurde blaß. Sich zu seinem Beichtvater wendend, erklärte er, jetzt wolle er seinen Richtern wichtige Geständnisse machen, denn ihm sei es, als wäre der Tod leibhaftig vor ihn hingetreten und hätte ihn zur Buße ermahnt.

Er wurde nach dem Stadthaus geführt und gab hier einen vollständigen Bericht über sein ganzes Leben zu Protokoll, er nannte seine Mitschuldigen, gab die Verbrechen derer an, welche schon gefangen waren und bezeichnete die Orte, an welchen diejenigen wahrscheinlich versteckt wären, die bis jetzt den Schergen entgangen. Es gelang denn auch sofort, eine ganze Reihe seiner Genossen zu verhaften, die man ihm dann gegenüberstellte. Er erklärte ihnen, daß er die Folter überstanden, ohne sie zu verraten, daß ihn aber sein Beichtvater im Namen Gottes vermocht habe, ein vollständiges Bekenntnis abzulegen. – Unter den von ihm Angezeigten befanden sich angesehene Diener vom Gefolge des Fräulein von Monpensier, die eben nach Spanien abreiste. Zwei waren in Stellung bei der Herzogin von Ventadour, der Erzieherin der Königin.

Cartouche nannte auch die Wohnungen seiner Mätressen, von denen sogleich drei herbeigeholt wurden. Die eine – er nannte sie seine graue Schwester – beschuldigte er, eines ihrer Kinder getötet zu haben. Er konnte dafür Beweise angeben, und sie wurde verurteilt. Die zweite, die er seine regierende Sultanin nannte, ein üppiges Weib, trat keck und in prächtigen Kleidern auf. Ihr konnte oder wollte er kein Verbrechen vorwerfen. Man begnügte sich damit, sie zu scheren und auf zehn Jahre einzusperren. Von der dritten, einem berühmten Fischweib der Halle, sagte er, er habe sie am meisten geliebt; was ihn aber nicht hinderte, sie jetzt als eine seiner Haupthehlerinnen anzugeben. Sie wurde dementsprechend bestraft.

Zugleich bezeichnete er aufs gewissenhafteste die Winkel, an denen er seine Schätze verborgen hatte. Man fand alles so, wie er es angegeben. Über der Aufzeichnung seiner Aussagen ging die ganze Nacht und ein Teil des folgenden Morgens hin. Dann führte man ihn wieder zum Schafott, und er erhielt bei lebendigem Leibe elf Schläge mit dem Rad. Er wurde hierauf aufs Rad geflochten, und eine halbe Stunde später zog, auf des Beichtvaters Bitte, der Henker den Strick um den Hals des Halbtoten zu.


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