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Als ich noch nicht bestimmt wußte, wo Irland eigentlich liegt, wußte ich dieses schon: alle Iren heißen Pat und behaupten, von alten irischen Königen abzustammen. Als ich später die Romane von William Makepeace Thackeray las, fand ich diese Ansicht durchaus bestätigt: in jedem Roman des Humoristen kommt doch mindestens ein Ire vor, der von seinen königlichen Ahnen erzählt, im übrigen einen breiten Jargon spricht, ein bißchen säuft und im ganzen ein etwas schäbiger Gentleman ist. Wichtig für diesen Teil der irischen Frage ist auch das Studium der englischen Witzblätter: es gibt mehr Irenwitze als Mikoschwitze und fast so viele wie Judenwitze.
Tatsächlich sieht der Witzblattire dem wirklichen Iren so ähnlich, wie der Witzblattjude dem wirklichen Juden, also nur ein wenig. Auch Thackeray, dem Irland sonst nicht unsympathisch war, hat seine irischen Figuren nur mit den Augen des Humoristen gesehen, also flächenhaft und ohne Tiefe. Einmal hat er einen Iren in den Mittelpunkt des ganzen Buches gerückt, nämlich den kuriosen Glücksritter Redmond Barry-Lyndon, eine Art männliches Gegenstück zu der herrlichen Intrigantin Becky Sharp in »Vanity Fair«. Diesen sympathischen Barry Lyndon Esqu. läßt Thackeray sein bösartiges Abenteurerleben in fingierten Memoiren schildern, die mit einer großartigen Genealogie des edlen Hauses Barry beginnen. »Ich setze voraus, es gibt keinen Edelmann in Europa, der nicht von dem Hause der Barry of Barryogue, im Königreich Irland, gehört hat, denn einen berühmteren Namen kann man in den genealogischen Büchern nicht finden; und obwohl ich als ein Mann von Welt gelernt habe, von Herzen alle vorgeblich Hochwohlgeborenen zu verachten, die nicht mehr Genealogie haben als der Lakai, der meine Schuhe putzt, und obwohl ich mich auf das heftigste über die Prahlereien vieler von meinen Landsleuten lustig mache, die alle von irischen Königen abstammen wollen, und von Domänen, die eben noch ein Schwein fett machen könnten, so sprechen, als wären es Fürstentümer, zwingt mich dennoch die Wahrheit, zu versichern, daß meine Familie die edelste der Insel und, vielleicht, des Universums war, während ihre Besitzungen, jetzt unbedeutend und uns geraubt durch Krieg, durch Verrat, durch den Verlauf der Zeit, durch Verschwendung der Ahnen, durch Treue gegen den alten Glauben und Monarchen, einstmals fabelhaft waren und zu einer Zeit, da Irland sehr viel reicher war als jetzt, viele Grafschaften bedeckten. Ich würde die irische Krone in mein Wappen aufnehmen, aber es gibt zu viele dumme Menschen, die diese Auszeichnung beanspruchen, sie tragen und gemein machen.«
Worauf der Ehrenmann darlegt, wie die Familienpapiere der erlauchten Barrys auf Barryogue leider, leider nicht mehr existieren, wie er selbst in bettelhaften Verhältnissen aufwuchs, seine Laufbahn als Kreditschwindler begann, dann gemeiner Soldat, Offiziersbursche und Polizeispitzel in Berlin wurde.
Ich habe die leise Vermutung: der Fall ist nicht typisch für die irische Nation. Aber wenn wirklich alle Iren von Irland meinen, daß sie von alten irischen Königen abstammen, dann haben sie einfach alle recht, und das ist zu beweisen.
Ich nehme eine Karte Irlands zur Zeit des englischen Königs Heinrich VII. – also knapp vor der Reformation und der gewaltsamen Unterdrückung alles Irischen. Um Dublin herum ist ein weißer Fleck; hier saßen damals im Schutz der Palissaden (the Pale) die Engländer und ließen keinen Iren in ihre enge Reservation hinein. Der Rest der Insel ist in irische Stammesbezirke eingeteilt; in jedem regierte, wie im schottischen Hochland, ein keltischer Häuptling sehr patriarchalisch die Clangenossen. Der Häuptling führte weiter keinen Titel als den Namen des Stammes: er war ›der‹ O'Neil oder ›der‹ Mac Carthy More. Wer sonst noch zum Clan Mac Carthy oder O'Neil gehörte, Barde, Bauer oder Schweinehirt, mochte in der Taufe Patrick genannt worden sein oder Hugh – nach außen hin war er natürlich ein Mac Carthy oder O'Neil. Jetzt sehe ich mir die Stammesnamen an: O'Brien, O'Flaherty, O'Kane, Mac Mahon, O'Connor, O'Moore, O'Rorke – genau so heißt heute der irische Schutzmann in New York, der irische Schuster in Dublin, der irische Abgeordnete in London. Und es sind lauter Königsnamen, denn bei der ewigen allgemeinen Rauferei hat jeder der Stämme der Reihe herum einmal eine größere Rolle gespielt und der Häuptling durfte sich zeitweilig König nennen.
Nun, Hand aufs Herz, Sie, Herr Müller, der Sie leider Müller heißen, wenn Sie zufällig Staufen, Zollern oder Capet hießen, würden Sie nicht auch hoffen, daß Sie irgendwie von den Hohenstaufen, Hohenzollern oder Capetingern gezeugt sind? Gott, vielleicht sind Sie ein reicher und beschäftigter Mann und haben solche Hypothesen nicht nötig – in Irland hat man viel Zeit und wenig Geld und spielt eben das Gesellschaftsspiel ›irische Könige‹. Auch ist Deutschland ein genaues und gründliches Land; wenn Herr Staufen behaupten würde, er sei der Erbe Barbarossas, gleich käme ein sehr gelehrter Privatdozent und wiese haarklein nach, daß das natürlich Mumpitz ist. Aber wenn in Irland irgendein O'Brien, Bryan, Brian von dem bereits zur Genüge bemeldeten König Brian Boroimhe abstammen will, kann er es zwar nicht positiv beweisen, aber ebensowenig kann irgendein Sterblicher, und wäre er noch so bebrillt, den negativen Gegenbeweis führen. Unter hunderttausend O'Briens werden sich aller Wahrscheinlichkeit wirklich zwei, drei finden, die König Brians Enkel sind – die anderen stammen von seinen Schweinehirten ab. Aber ob der Junge namens O'Brien, der jetzt in der Grafschaft Clare die Säue hütet, nicht zufällig der eine echte Prinz ist, wer will es sagen? Solange das nicht aufgeklärt ist, haben alle Brians, Bryans, O'Briens ein gewisses Recht, sich in verschwiegenen Selbstgesprächen Königliche Hoheit zu titulieren. Alle Iren sind heimliche Prinzen – und so ein Land soll vernünftig regiert werden! Aber die Engländer sind selbst daran schuld.
Nämlich, als sie seinerzeit anfingen, Irland systematisch und blutig zu anglisieren, waren ihnen natürlich zunächst die alten irischen Könige Dornen im Auge. Um nun die kleinen Stammesdynastien gründlich auszurotten, kamen die Herren Engländer auf eine Patentidee: sie suchten überall nach irischen Stammbäumen und verbrannten sie sorgfältig. Auf die Hofbarden der Häuptlinge, zugleich ihre Heraldiker und Genealogen, wurde mit edlem Eifer Jagd gemacht, all dies in dem offen zugestandenen Bestreben, es solle von nun ab kein Ire mehr seinen Großvater kennen.
Die Folgen dieses wundervollen Systems sind geschildert worden; da man absolut nicht mehr weiß, welcher Ire von den alten Königen abstammt, stammen jetzt alle Iren von den alten Königen ab. Und die Engländer waren über jeden neuen irischen Aufstand von neuem maßlos erstaunt! Ein Land, in dem alle Schweinehirten möglicherweise Prinzen sind, kann kein ruhiges, und wie Prinzen nun einmal sind, kein demütig ergebenes Land sein. Wie nun allerdings die irischen Schweine dabei fahren, das ist eine andere Frage.
Die Engländer haben Irland zu einem Land der historischen Träumereien gemacht und haben die Folgen zu tragen. Jeder faule Prätendent auf den englischen Königsthron hat in Irland begeisterte Anhänger gefunden, weil alle Iren Prätendenten auf den irischen Königsthron sind. Rührend ist die Geschichte jenes jungen Lambert Simnel, der im Jahre 1487 nach Irland kam und erzählte, er sei der Sohn des Herzogs von Clarence, der letzte Erbe des Hauses York.
Die Herzogin von Burgund hatte die Intrigue angezettelt und zweitausend deutsche Landsknechte mitgeschickt, um den Prätendenten zu stützen. Ganz Irland war sofort überzeugt, daß der hübsche junge Mann ein York sei und der rechtmäßige Erbe von England. Erzbischöfe und Grafen waren dabei, als der Pseudo-Clarence in Dublin feierlichst geklönt wurde, und zwar mit einer Krone, die man einer Statue der Jungfrau Maria vom Kopf genommen hatte.
Die Sache nahm rasch ein unerwartetes Ende. König Heinrich VII., der erste Tudor, war mit anderen Leuten fertig geworden, als mit dem jungen Lambert Simnel. Der Aufstand wurde unterdrückt und Lambert gefangen genommen. König Heinrich war nicht blutgierig und besaß einen grimmigen angelsächsischen Humor. Er ließ den jungen Kronprätendenten nicht nur leben, sondern gab ihm noch dazu ein ehrenvolles Amt im königlichen Haushalt – das eines Küchenjungen. Einige Zeit darauf machten auch jene irischen Grafen und Erzbischöfe mit dem König ihren Frieden und ließen sich in London zum Hofdiner einladen. Als die Herren nun am Tisch des Königs saßen, kam ein verlegener junger Diener in den Saal und brachte Wein. Es war derselbe Junge, den die irischen Magnaten kurz zuvor mit viel loyaler Rührung zu ihrem König gekrönt hatten. Man kann sich denken, daß an der Tafel nun eine immerhin etwas peinliche Pause entstand und keiner der Gäste wagte es, einen Tropfen von dem Wein zu trinken. Bis endlich der Ex-Prätendent auf seinem beschämenden Weg zu dem braven ollen lustigen Earl von Howth kam, dem einzigen irischen Peer, der Lambert nie als König anerkannt hatte. Der klopfte ihm jetzt jovial auf die Schulter: »Na, kannst mir einen Becher geben, wenn der Wein nur gut ist! Ich trinke ihn um seiner selbst willen leer und um meiner selbst willen; und auch für dich, denn du bist, so meine ich, ein armer unschuldiger Tor.« Für diesen zeitgemäßen Speech bekam der Earl vom König ein Geldgeschenk. Lambert Simnel machte noch Karriere und starb als wohlbestallter königlicher Falkner.
Die Geschichte ist ungeheuer irisch. Jeder irische Kellner, der ein Glas Ale bringt, könnte am Ende vielleicht doch ein Königssohn sein und man merkt es ihm auch an. Das ganze Land lebt unter einer historischen Suggestion. Wer vernünftig ist und sich nicht für einen heimlichen Prinzen hält, hält mindestens sein Volk für ein auserwähltes Volk von heimlichen Königen. Eine ganz unglaubliche romantische Sentimentalität liegt in der irischen Luft und sucht alle politisch-sozialen Realitäten zu ersticken. Solange Irland von Fremden regiert wird, kann sich dieser unhaltbare Zustand kaum ändern. Wenn Irland erst einmal von Iren regiert wird, dann wird es ja haben, wovon es jetzt im Wachen träumt: die Erben der alten irischen Könige werden wieder in ihre Rechte eingesetzt sein. Jeder irische Gemeindepolizist, von irischen Nationalbehörden in seine Würde eingesetzt, wird ein kleines Stückchen von seiner verlorenen Krone wiedergefunden haben. Es gibt nur ein Mittel gegen Träume: sie realisieren. Dann kommt das große Augenreiben. Es ist zu wetten, daß in einem befreiten und autonomen Irland kein Mensch mehr von lächerlichen alten Königen abstammen wird.