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Der Boyne-Fluß

Wenn man von Dublin nach Belfast will, vom irischen Irland in jenes schottisch-puritanische Irland des Nordens, muß man über einen unbedeutenden kleinen Fluß. Er heißt Boyne und wenn man sehr gelehrt sein will, kann man ihn den irischen Rubikon nennen. Denn hier fiel einmal die Entscheidung über Irlands Schicksal.

Will ich eigentlich sehr gelehrt sein? Keine Ahnung; ich will nach Belfast fahren. Aber die Fahrt nach Belfast ist nicht sehr lang; es wird gut sein, den Tag irgendwie unterwegs zu vertrödeln. Es ist fürchterlich, in einer ganz fremden Stadt anzukommen und noch einen Teil des Tages vor sich zu haben. Es ist auch fürchterlich, in einer noch nicht sehr vertrauten Stadt herumzugehen und fortwährend auf die Uhr zu schauen, ob der Zug noch nicht bald geht. Früh wegfahren und abends ankommen, das ist das einzig Richtige. Aber dazu fahren im kleinen Irland die Eisenbahnzüge zu schnell, obwohl sie auch gottsjämmerlich langsam fahren können.

Kurz, es gilt einen Tag unterwegs zu verbummeln. Und da gibt es nichts so Geeignetes, wie eine historische Stätte, wie ein Schlachtfeld. Es ist direkt übermenschlich gebildet, aus einem Schnellzug auszusteigen und ein Schlachtfeld zu besuchen. Es ist löblich. Und vielleicht ist das Schlachtfeld gar schön grün bewachsen und man kann, zwischen einer irischen Großstadt und einer anderen, zwischen Homerule und dem Ulsterproblem, ein bißchen auf einer Wiese am Ufer eines Flusses im besonnten Grase liegen, weil es doch Sommer ist. Nur die nötige Courage muß man dazu haben, mitten in einer sehr gebildeten Reise.

Also ich steige in Drogheda aus und lasse mein Gepäck auf dem Bahnhof. Ich sehe schon, die übliche irische Kleinstadt an der Flußmündung, mit einer Hauptstraße versehen und sehr viel Geschichte. Ich könnte durch die Stadt gehen, ich kann aber auch hinten herum gehen, und so gehe ich hinten herum. Ein Stück Landstraße zwischen grünen Hecken, dann ein Fußweg im hohen Uferschilf. Neben mir der Fluß, vor mir ein Tal, das lächelt. Ganz im Hintergrund eine helle Spitze: der Obelisk. Es muß unbedingt ein Obelisk hier zwischen den Feldern und Wiesen stehen, sonst wäre es keine richtige historische Stätte.

Das ist wunderbar, im Sonnenlicht neben einem kleinen Fluß dahingehen. Eine Landschaft schlürfen, die keinen besonders schönen Punkt hat, sondern schöne Flächen und Linien. Das gibt es in Irland: das restlos Grüne. Jetzt gehört noch etwas dazu, nämlich ein freundliches Gespräch oder, wenn man allein spazieren geht, ein recht gutes Buch langsam im Gehen zu lesen. Dies, damit man nicht in die Gefahr kommt, die Landschaft fortwährend anzusehen und sich zuzurufen: Der schöne Ausblick! Sieh, dort hinten der Rauch über den Fabrikschloten von Droghedal Oder: Ha, die gelben Lupinen!

Sondern man muß all diese Punkte zu Linien und Flächen verbinden, indem man nicht zu sehr auf sie achtet. Das touristische Bewußtsein abstellen, sich in der Landschaft so benehmen, als würde man sie schon bis zum Überdruß kennen. Nicht fremd tun dem Fremden gegenüber. Also ein Buch aus der Tasche ziehen.

In meiner Tasche habe ich den zweiten Band von Lord Macaulays »History of England«. Gott, so ganz zufällig fische ich ihn ja jetzt nicht aus der Büchertasche; ich weiß schon, daß etwas über die Schlacht am Boynefluß darin stehen wird. Ich habe sogar absichtlich nicht weitergelesen, als es so weit war, daß in dem Buche die Schlacht am Boyne losgehen konnte. Und es war schmerzhaft, nicht weiterzulesen, denn dieses historische Werk ist ein ganz aufregendes Buch, das man nur so frißt. Ich habe fast eine ganze Nacht lang das elektrische Licht nicht abgeknipst, um rasch zu erfahren, wie die Umwandlung der alten Währung in die neue damals vor sich ging. Ein ungeheuer spannendes Thema, nicht? Nun, eines der größten Menschheitsgenies, Sir Isaac Newton, hat es der Mühe wert gefunden, diesem Thema einen wichtigen Teil seines Lebens zu widmen; wenn dann noch ein Dichter wie Macaulay das erzählt, ist es schon einigermaßen der Mühe wert, zuzuhören.

Ich ziehe den roten Everyman-Band aus der Tasche. Es ist sehr abgeschmackt, auf einem Schlachtfeld die Geschichte einer Schlacht anders zu lesen, als im Reisehandbuch. Ich weiß es: ich beschließe, Macaulay nicht zu einem Reisehandbuch zu degradieren. Also nein, ich gehe jetzt an einem beliebigen Flußufer spazieren und lese, weil es mir zufällig so paßt, den zweiten Band von Macaulays Geschichte. Gut, die Armee Wilhelms von Oranien marschiert von Norden her gegen den Stuart James, der sich nach der Revolution nach Irland geflüchtet hat und jetzt mit den irischen Katholiken am Boyne steht. (Ich stehe nicht am Boyne; dieser Fluß neben mir hat keinen Namen, sondern ist anmutig.)

Trara, Fanfaren, die evangelische Armee marschiert in drei Kolonnen: Wilhelms Holländer neben englischen Whigs, Brandenburgern, Schweden, Hugenotten, alles, was der dreißigjährige Krieg in Europa noch protestantisch gelassen hat. In einer besonderen Gruppe die Freiwilligen von Ulster, die Leute von Londonderry, Enniskillen, Belfast, die puritanischen Kolonisten, die geborenen Todfeinde des Irentums. Da stehen sie jetzt am 30. Juni 1691 am Boyne. – Ich lese: »Vor ihnen lag ein Tal, jetzt so reich und heiter, daß der Engländer, der es anblickt, sich in einem der am meisten begünstigten Teile seiner eigenen so sehr begünstigten Heimat wähnen kann. Weizenfelder, Waldzüge, Wiesen, bunt von Gretchenblumen und Klee, fallen sanft zum Rand des Boyne hinab. Dieser klare und ruhige Strom, die Grenze der Grafschaften Louth und Meath, ist schon viele Meilen zwischen grünenden Ufern dahingeflossen, auf denen sich moderne Schlösser erheben und die verfallenen Burgen alter Normannenbarone, und wird sich nun gleich mit der See vermengen. Fünf Meilen westlich von der Stelle, von wo Wilhelm auf den Fluß niedersah, steht nun, auf einer grünen Uferbank inmitten edler Wälder Schloß Slane, der Sitz des Markgrafen von Conyngham. Zwei Meilen gegen Ost hängt eine Rauchwolke von Fabriken und Dampfschiffen über der geschäftigen Stadt und dem Hafen von Drogheda. Auf der Meath-Seite des Boyne steigt das Gelände, auch hier ganz voll Korn, Gras, Blumen und Laub, in sanftem Anstieg zu einer Höhe empor, auf der eine stattliche Gruppe von Eschen die zerstörte Kirche und den verlassenen Friedhof von Donore beschattet.«

Also dort drüben auf der Höhe wehte die Flagge der Stuarts und der Bourbonen. Dort standen die Zelte der Iren und der französischen Hilfstruppen. Dort rechts – –

Ach so, ich gehe ja an einem ixbeliebigen Fluß spazieren. Ich halte es ja für abgeschmackt zu »Stätten« zu pilgern; ich genieße einfach einen Sommertag.

Und ein heiliges Donnerwetter noch einmal! Hübsch weit bringt man es in einem literarischen Beruf: man schämt sich nachgerade jeder geistigen Regung, wie man sich aus Angst vor Sentimentalität jedes gesunden Gefühles schämt. Also nein, ich gebe das blödsinnige Versteckspiel auf. Ich erkläre feierlich: das ist nicht ein Fluß, sondern der Boynefluß, der irische Rubikon. Und ich interessiere mich für eine große historische Begebenheit und wer sich nicht mit mir interessiert, dem kann ich nicht helfen.

Ich klappe das Buch zu und gehe justament direkt zu der Brücke, zu dem steinernen Obelisken. Der Obelisk steht an der Stelle, wo Wilhelm frühstückte und fast erschossen worden wäre. Woraus sich ergibt, daß die Stelle zum Frühstücken geeignet sein muß. Ich setze mich in das Gras der Böschung und tue es. Neben mir liegt das rote Buch. Manchmal lese ich schnell eine Seite, dann blicke ich wieder um mich und suche die Seite möglichst zu erleben.

Also ein reizender kleiner Fluß; am rechten Ufer das grüne Irland, am linken Ufer das grüne Irland. Am rechten Ufer wohnen lauter Leute, die sich zu bekreuzigen pflegen und von guten alten irischen Königen abstammen. Die alten englischen Könige hingegen waren nicht gut zu ihnen, besonders, seit sie sich ihrerseits nicht mehr zu bekreuzigen pflegten, sondern das Prayer-Book statt des lateinischen Meßbuches favorisierten. Auf einmal kommt ein englischer König, der sich wieder bekreuzigt und er ist, was er auch sonst sein mag, gut zu den Iren von Irland. Nicht zuletzt aus dem Grunde (aber hauptsächlich, weil er ein Schwachkopf und arroganter Gottes-Gnaden-Tyrann ist) jagen ihn die Engländer davon und holen sich einen neuen König aus Holland. Der alte König fährt nach Irland und bringt eine katholische Armee aus Frankreich mit. Die Iren haben ganz auf einmal, was sie brauchen: einen katholischen König für sich allein. Seit Brian Boroimhe ist es dem Land nicht mehr so gut gegangen. Das Parlament von Dublin wird toll vor Entzücken. Es schafft die Gesetze der englischen Unterdrücker ab, es baut ein Irland.

Aber der Boynefluß hat zwei Ufer. Am linken, eigentlich nicht direkt am Ufer, sondern weiter im Norden, wohnen Leute, die kein Kreuz schlagen und überhaupt keine Iren sind, sondern Fremdlinge. Sie sind gegen den alten König und für die alten Gesetze. Um sie wogt ein empörtes Land; die gewaltige Majorität stürzt sich auf die isolierte Minorität. Aber die Minorität besteht aus Engländern; aus wundervollen Räubern, die eben begonnen haben, die Welt zu erobern. Die Majorität besteht aus Iren, die nichts können als leiden und schwermütig sein. Da halten sich in Enniskillen und Londonderry winzige Scharen gegen ein ganzes Land und eine Armee Ludwig des Vierzehnten; da wird Irland mit den verstreuten englischen Menscheninseln nicht fertig. Es kommt ein Schiff und zerbricht die Barrikade, die den Hafen von Londonderry absperren sollte: es kommt plötzlich eine ganze Armee und der neue König an der Spitze. Dieser zähe Oranier, der neue König, hat sein Leben lang das protestantische Europa gegen Rom und die Franzosen organisiert. Jetzt wird er an der Spitze von protestantischen Europäern aller Nationen die Entscheidung erzwingen, ob Irland ein Land protestantischer Herren, eine englische Beute sein wird, oder ein katholischer Vasallenstaat Ludwigs, eine ewige Drohung für England und das Werk der Reformation. Die beiden Armeen marschieren auf.

Und Irlands Träumer, haben sie da ihrer alten Sagen gedacht? Hier am Boyne, wo Bruga ragte, des Zauberers Angus Palast? Haben sie der Heldenschar Fins gedacht, und wie sie einst die Furt verteidigten, fremde Landfeinde abzuwehren? Festgebannt saß Fin Mac Coul im Palaste Midacs, des Verräters; böser Zauber hielt ihn und die treuen Gefährten wehrlos fest; schon setzte das fremde Heer über den Fluß, um die hilflosen Helden zu schlachten. Aber die Feni, Fins Reckengefolgschaft, sandte Späher aus, den Verbleib des Führers zu erkunden. Und einer der Späher nach dem anderen hört die Stimme des Festgebannten aus dem Zauberpalast hervorklingen und stürzt zu der Furt und sperrt sie mit Schwert und Schild, bis der nächste Gefährte naht. Dermat O'Dyna aber vom hellen Gesicht (schlecht hat es ihm Fin später bezahlt, als er ihn durch Erin dahinhetzte, der Königstochter Grania wegen, mit der er entflohen), Dermat schlug die drei fremden Könige vom Eiland der Ströme und träufelte ihr Blut in den verzauberten Saal. Da waren Fin und die Gefährten vom Bann erlöst, wenn auch die alte Kraft nicht gleich in ihren Gliedern war. Bis zum Morgen verteidigte Dermat O'Dyna die Furt; dann wich die Schwäche von Fin und den Feni und keiner vom fremden Heere entrann. Frei war Irland.

Wenn im Jahre 1691 die Iren von ihren alten Sagen geträumt haben, dann war es ein leerer Traum. Schlecht wahrten die Enkel Dermats die Furt, schlecht schützten sie den hilflosen König, den wirklich ein lähmender Zauber um alle Kraft gebracht zu haben schien. Am Ufer des Boyne stand James Stuart; drüben umringten Fremde den fremden König. Tot war Dermat O'Dyna vom hellen Gesicht; faseln konnten die Iren von ihm, aber nicht seine Taten tun.

König gegen König. Dazwischen träge und friedlich der Fluß. Ein König muß durch den Boyne, um mit dem anderen König zu kämpfen. Da springt Wilhelm in den Fluß; da sieht es James und läuft schändlich davon. Die irische Armee ist ein unorganisierter Haufen von freigelassenen Sklaven. Und steht gegen den größten Kriegsorganisator der Zeit. Die irische Armee läuft auch. Alle zusammen benehmen sich wie üble Feiglinge; der militärische Ruf der Nation ist vernichtet. Dabei treten dieselben Feiglinge vom Boyne Mann für Mann später im Exil in. fremde Kriegsdienste und schlagen sich nach einem guten, strengen Drill in der ganzen Welt bewundernswert.

Das französische Detachement kann die Katastrophe nicht verhindern. Ein irischer Soldat ruft seinem englischen Verfolger zu: »Tauschen wir unsere beiden Könige und fechten wir es noch einmal aus.« Als James nach Dublin zurückkam, sagte er der Lady Tyrconnel: »Ihre Landsleute, Madame, die Iren, können sehr schnell laufen, das muß ich gestehen.« »In dieser wie in jeder anderen Beziehung«, sagte Lady Tyrconnel, »übertrifft Euere Majestät Ihre Untertanen, denn Sie haben ja das Wettrennen gewonnen.«

Das war die Schlacht am Boyne, die letzte Entscheidungsschlacht zwischen einer eminent tüchtigen und einer eminent untüchtigen Nation. Nie war eine Entscheidungsschlacht schneller aus; selten war eine so entscheidend.

Ich klappe das Buch zu und sehe um mich. Rechts das irische Irland, das Land, das damals und seither nicht irisch werden konnte, so daß das Wort irisch heute nur etwas bedeutet, was die Iren zu ihrer Wehmut gar nicht sind. Links (aber weiter hinten) das englische Irland; die Leute, die damals gesiegt haben und noch heute von nichts anderem reden. Dazwischen der Fluß, harmlos, nett, seicht. Wilhelm konnte durchwaten, kein Dermat O'Dyna sperrte wehrhaft die Furt, der Fluß schützte sein Land nicht. Freilich trank er das Blut des deutschen Generals Schömberg, aber welcher Fluß auf Erden hätte nicht das Blut eines Deutschen geschluckt, der für das englische Weltreich gefallen ist? Jetzt tut der Fluß so, als wäre nichts vorgefallen; er ist wirklich ixbeliebig. Ich kann, wie ich ihn da so fließen sehe, ohne weitere Rührung aufstehen und nach Drogheda zurückgehen, weil der Mensch doch auch zu Mittag essen muß. (Was in einer irischen Provinzstadt eher eine lästige Pflicht ist.)

Und ich weiß doch: wenn der Boyne tiefer gewesen wäre und wäre König Wilhelm in seinem Bett ausgerutscht und wäre König James kein Schwachkopf gewesen und wären die Iren tüchtig wie die Engländer – dann würde ich jetzt im Gasthof zu Drogheda einen anderen Fraß bekommen, vielleicht nicht besser, aber anders, nämlich irisch. So ist Irland ein Land ohne Nationalspeisen, ein Land mit fremder Küche und mit fremden Köchen darin, ein Land, durch dessen Grenzflüsse Fremde waten konnten. Deswegen ist Irland das, was es ist, genau dasselbige.

Zwei Flüsse bedeuten Irland. Der Shannon und der Boyne. Die irischen Iren blicken gerührt auf den Shannon und erzählen sich was Schönes von Brian Boroimhe. Die anderen, die nichtirischen Iren, die Ulsterleute, zu denen ich jetzt fahre, spucken auf den Shannon und lieben den Boyne. Diesem phlegmatischen Fluß ist es eigentlich egal; er fließt friedlich zwischen Gerechten und Ungerechten. An seinen Ufern liegt eine Stätte; es wächst aber gewöhnliches Gras darauf. Das Gras und das Flußwasser haben keinen historischen Sinn. Aber es gibt andere reale Dinge, die historischen Sinn haben. Tausend praktische Wirklichkeiten in Irland wird der Tourist nicht verstehen, wenn er den Boynefluß nicht begriffen hat.

Auch war die Sonne lau und es lag sich wunderbar im Grase.


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