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XIII

Blanche hatte noch nie eine Seereise gemacht und freute sich darauf, London kennenzulernen. Das Wetter war sehr schön, und alles kündete eine angenehme Überfahrt an.

Wir nahmen auf der Brücke auf den Liegestühlen Platz, während Herr Galoin auf und ab ging und seine Pfeife rauchte.

»Seine Blicke gehen beobachtend nach rechts und links«, sagte Blanche zu mir.

»Nein,« erwiderte ich, »er sieht nichts Bestimmtes an. Er hält sich als Inspektor vom Sicherheitsdienst durchaus nicht für verpflichtet, den Winden zu lauschen und durch überflüssige Anstrengungen seine Kräfte zu vergeuden. Auf dem Schiff kann er keine Beweise sammeln. Er ruht sich eben ganz einfach aus.«

Ich sah, daß meine blonde Freundin auf ihrer romantischen Idee beharrte, daß der Detektiv immer auf der Lauer lag.

Herr Galoin ängstigte sie und amüsierte sie gleichzeitig.

Die Reise von Folkestone nach London verging ohne Zwischenfall. Nachdem Herr Galoin auf dem Bahnhof Charing Croß noch gesagt hatte, daß er sich zum Abendessen mit uns in dem von ihm angegebenen Hotel treffen würde, trennten wir uns von ihm.

Das erst kürzlich gebaute französische Hotel befand sich in einer kleinen Straße am Leicester-Square.

Blanche machte große Augen, als wir im Auto durch die Straßen Londons fuhren. Es machte mir Freude, wie sie so erstaunt und entzückt neben mir saß, und ich war auch glücklich, wieder allein mit ihr zu sein. Es schien mir, daß wir die zwischen uns bestehende Vertrautheit, die Herr Galoin durch seine Gegenwart gestört hatte, wiederfanden.

Wir gaben unser Gepäck im Hotel ab und machten bis zum Abendbrot einen Spaziergang in Coventrystreet und in Piccadilly.

Abends trafen wir uns mit Herrn Galoin. Er schien guter Laune, aber etwas aufgeregt. Er erklärte mir, daß er sich immer in einer solchen Stimmung befände, wenn er eine Spur verfolge.

Da Blanche von der Reise sehr müde war, zog sie sich fast gleich nach dem Abendbrot zurück, und Herr Galoin und ich gingen noch auf die Straße. Wir dehnten unseren Spaziergang bis Leicester-Square aus und gingen drei oder viermal um den Platz herum. Herr Galoin erzählte mir von London, das er sehr gern hatte.

»Leider habe ich es mir nie richtig ansehen können. Meine Tätigkeit nahm mich immer zu sehr in Anspruch, und dabei würde es mir so viel Spaß machen, in London umherzubummeln.«

Ich wagte ihn nicht über die Schritte, die er in unserer Angelegenheit unternommen hatte, zu fragen, aber er kam von selbst darauf zurück.

»Seit unserer Ankunft in London bis zum Abendbrot, also in drei Stunden, habe ich schon eine Menge Leute gesprochen.«

Er fuhr fort:

»Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob an der Tür des Gärtchens in dem Hause in Toul eine Klingel gewesen ist. Die Scharniere und die Angeln links sehe ich noch vor mir, aber ich weiß nicht, ob sich oberhalb der Tür eine kleine eiserne Schelle befand, die beim Öffnen läutete.«

Ich sah ihn verblüfft an.

»Kennen Sie denn den Garten in Toul?«

»Ja«, erwiderte er. »Ich bin vorgestern hingefahren. Deshalb konnten wir erst heute reisen. Ich wußte nicht, wie die Untersuchung dort geführt worden ist ... aber es ist alles oberflächlich geschehen, recht oberflächlich. Man ist überhaupt nicht bis auf den Boden gegangen, wo eine Kiste mit wichtigen alten Papieren stand. Ich habe daraus die Bekannten des alten Bonnel in London feststellen können und gesehen, daß er in Beziehung zu einem gewissen Hilbert steht, der Sachwalter in London ist.«

»Sie nehmen also an, daß Larcier auch unter den Papieren, die er mitgenommen hat, die Adresse dieses Hilbert entdeckt und sich an ihn gewandt hat?«

Herr Galoin antwortete nicht. Er machte nur eine ausweichende Geste, deren Bedeutung ich nicht begriff, und über die ich etwas erstaunt war. Denn es schien mir, daß er mit großer Sicherheit die geheimnisvolle Spur, die er hier gefunden hatte, verfolgte.

»Es ist zu dumm,« fuhr er fort, »daß Hilbert nicht mehr unter der Adresse zu finden ist, die auf den alten Briefen in der Kiste stand. Sie sind sehr alt. Sie liegen zehn oder zwölf Jahre zurück. Seitdem ist Hilbert wahrscheinlich zweimal umgezogen. Ich weiß nicht genau, wo er sich aufhält, aber ich weiß, daß er lebt und in London wohnt. Die Adresse auf den Papieren in Toul war eine kleine Straße bei Ludgate-Hill. Ich war heute nachmittag da. Hilbert ist schon seit langer Zeit von dort verzogen, und zuerst habe ich niemand gefunden, der sich seiner überhaupt noch erinnerte. Erst nach einer Weile, nachdem ich ganz zufällig an eine Tür im zweiten Stockwerk geklopft hatte, entdeckte ich einen alten Versicherungsbeamten, der sich Hilberts erinnerte, jedoch mir seine Adresse nicht angeben konnte, sondern nur einen Tabakshändler der Fleetstreet nannte, dessen Kunde und Freund Hilbert einst gewesen war. Ich begab mich nach der Fleetstreet ... Dieser Tabakshändler hatte sein Geschäft verkauft. Sein Nachfolger hatte keine Ahnung, wo er wohnte, aber gab mir die Adresse einer anderen Person an, welche weiß, wo der Tabakshändler augenblicklich weilt. Sie sehen, zu unserem Beruf gehört Geduld. Diesen anderen Mann kann ich heute abend nicht mehr treffen, aber morgen früh, und so hoffe ich denn, den Tabakshändler im Laufe des morgigen Tages auszukundschaften. Ich denke, dieser Tabakshändler wird mir die Adresse Hilberts verschaffen können, und habe ich erst einmal Hilbert, so werde ich sicherlich auch ... na, dann werden wir nicht weit von der Lösung sein.«

»Aber glauben Sie,« unterbrach ich ihn, »daß Larcier noch in London ist?«

Herr Galoin machte wieder seine ausweichende Geste. Das tat er jedesmal, wenn ich von Larcier sprach, und er schien ganz vergessen zu haben, daß wir eigentlich Larcier suchten.

Ich sagte mir: Das ist ein Mann, der keine überflüssigen Schwierigkeiten macht. Zuerst will er Marteau fassen, und hat er diesen, so findet er auch Larcier.

»Morgen werde ich eine Menge zu tun haben«, fuhr Herr Galoin fort. »Sie können die Zeit benutzen, um sich mit Frau Chéron London genauer anzusehen ... Sie ist eine reizende Dame!«

Wusste Herr Galoin wohl, welche Beziehungen zwischen Blanche Chéron und mir bestanden? Wusste er Bescheid über Blanches und Larciers Verhältnis?

Schweigend schritten wir einige Augenblicke nebeneinander her, und ich fragte mich unterdessen, ob ich meinen Gefährten über diesen Punkt aufklären sollte.

So erzählte ich ihm denn, wie Blanche und ich durch unseren gemeinsamen Wunsch, Larcier wiederzufinden, uns einander genähert hatten, und welche innige Liebe Blanche mit meinem armen Freund verband.

Schweigend hörte mir Herr Galoin zu, dann sagte er:

»Diese Dame liebte also Ihren Freund sehr?«

»Ich glaube, ja«, erwiderte ich.

»Ach«, sagte er nachdenklich.

Dann fügte er hinzu:

»Aber sie müßte sich schon immer an den Gedanken gewöhnen, daß es zweifellos mit den früheren Beziehungen zwischen ihr und Larcier vorbei ist.«

»Ich weiß nicht, ob Blanche nicht trotz Larciers Verbrechen sehr nachsichtig über ihn urteilen wird ...«

»Ja«, erwiderte Herr Galoin noch immer geheimnisvoll. »Aber wenn wir die Hypothese aufstellen, daß sie gezwungen sein würde, Larcier nicht mehr wiederzusehen, so ist es besser, sie vielleicht jetzt schon an diesen Gedanken zu gewöhnen und ihr klarzumachen, daß ein anderer sie trösten wird. Man muß ihr das auf sehr nette Weise beibringen, und ohne daß sie es merkt, muß man sie an den Gedanken einer Trennung gewöhnen ...«

Ich begriff nicht recht, was der Beamte meinte, und ich fragte mich, ob in seinen Worten nicht eine gewisse Ironie läge, nachdem er die fast zärtliche Vertrautheit, die zwischen Blanche und mir herrschte, bemerkt hatte, und ob er damit nicht sagen wollte, daß sie bereits den Trost, von dem er sprach, gefunden hatte.

Wir schwiegen beide. Ich war etwas müde, und wir gingen ins Hotel zurück.


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