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In der Nacht vom 17. zum 18. Mai 1799 erlag der siebenundsechzigjährige Beaumarchais in Paris einem Schlagfluß. Zwei Tage später kam Honoré Balzac in Tours, als engerer Landsmann des im nahegelegenen Chinon geborenen Rabelais, zur Welt. Der Lustspieldichter des 18. wurde in der Reihe der Lebendigen abgelöst von dem Sittenschilderer des 19. Jahrhunderts. Beaumarchais hielt im »Barbier von Sevilla« und in »Figaros Hochzeit« der Gesellschaft des Ancien régime ebenso kühn als heiter den Beichtspiegel vor. Balzac ließ die ungeheuren geschichtlichen Umwälzungen, die ihm in den kurzen, viel zu kurzen einundfünfzig Jahren seines Lebens vor Augen kamen, Menschen und Zustände des Zeitalters der Revolution, des ersten Kaiserreiches, der Restauration, des Julikönigtums auf der Riesenbühne seiner Comédie humaine in lebenstreuen Charaktertragödien, in Zerrbildern und Phantasiestücken aufsteigen. Familienähnlichkeiten fehlen nicht; noch weniger Gegensätze ihrer Art und Kunst. Die Zeiten haben sich von Grund aus geändert. Das Wesen und die Weltbilder Beaumarchais' und Balzacs unterscheiden sich vielfach wie Alt- und Neufrankreich.
Beide sind Plebejer, beide Kraftmenschen voll Wagemut und Zähigkeit. Widerwärtigkeiten steigern und stählen nur ihre Zuversicht auf den eigenen Erfindergeist, Anfechtungen wecken ihre verborgensten Fähigkeiten. Heißhunger nach Geld, Macht, Ruhm hat Beaumarchais und Balzac gleicherweise beherrscht, ungemessenes Selbstgefühl den einen wie den anderen noch ganz andere als künstlerische Aufgaben und Erfolge wünschen lassen. Beaumarchais betrachtet seine Chansons und Stücke bloß als Zeitvertreib, als Erholung von den Anstrengungen und Aufregungen einer Hetzjagd nach Millionen; seine Komödien sind nur Zwischenspiele in den verwegenen Spekulationen eines Gründers, der als Waffenlieferant im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, als Reeder und Forstwirt, Fabrikunternehmer, Druckereibesitzer und Verleger großen Stils zeitweilig über eine Jahreseinnahme von 150 000 Livres verfügt, einen prächtigen Palast in Paris aufführt, mit Kunstschätzen und Gartenanlagen ausschmückt. Auch Balzac läßt, unbelehrt durch heillose Verluste, nicht ab von phantastischen Finanz- und Bauplänen. Vom sechsundzwanzigsten bis zum achtundzwanzigsten Lebensjahre versucht er sich als Verleger, Druckerei- und Schriftgießereibesitzer; einmal wähnt er durch Ausbeutung altrömischer Silberbergwerke in Sardinien Schätze zu heben; kurz vor seinem Ende will er seinen Schwager, einen Pariser Ingenieur, bereden, durch Verflößung billiger Eichenstämme aus Rußland nach Frankreich jährlich 400 000 Franken zu gewinnen. Steter Geldklemme nicht achtend, baut er einmal (1838) seine legendäre Villa Les Jardies, richtet er, schon vom Tode gezeichnet, ein paar Jahre nachher für seinen langersehnten Hausstand den Rokokopavillon eines verschwenderischen Finanzmannes des 18. Jahrhunderts wie eine Raritätenkammer her. Angeborener nüchterner Geschäftssinn hält auch Beaumarchais nicht von abenteuerlichen Argonautenzügen nach dem goldenen Vließ zurück; außergewöhnliche Vertrautheit mit allen Listen und Kniffen in Handel und Wandel schützt ihn nicht vor schwerer wirtschaftlicher Bedrängnis. Und Balzac behütet seine teuer bezahlte Fachkenntnis aller Spielarten von Wucher- und Gaunergenies nicht vor scheinbar unabwendbarem Zusammenbruch. Aus diesen verzweifelten Lagen rettet beide ihr unzerstörbares Naturell, eine jeder Heimsuchung trotzende und spottende Unerschrockenheit – Strengere meinen: niemals verlegene Scharlatanerie. In nachträglichen mörderischen Anmerkungen zu seinen Meistertexten über die beiden sagt Sainte-Beuve: Beaumarchais' geheime Schutzgeister seien Plutus und der Gott der Gärten; Balzac nennt er gelegentlich den Alchimisten, wenn nicht gar den Paracelsus des Romans. In Wirklichkeit handelten beide nach der Lebensregel Napoleons: »Das Wort ›unmöglich‹ steht nicht in meinem Wörterbuch.« Gegner und Gefahren führten sie erst auf die rechte Fährte, menschlichem Ermessen nach unerreichbare Ziele reizten den Spürsinn dieser Pfadfinder. Bewußt und unbewußt wichen sie von den herkömmlichen Wegen ab, gaben sie, mit angeborener Witterung für die Zeitbedürfnisse, den Anstoß zu folgenreichen Neuerungen in Kunst und Leben.
Ihre dichterischen Erstlinge – Beaumarchais begann mit Rührstücken, Balzac mit klassizistischen Tragödien – trugen dem einen (im hochmütigen Orakel des Baron Grimm), dem zweiten (im wohlerwogenen Rat Andrieux') den gleichlautenden Spruch der Merker ein, sich fortan mit allem anderen, nur nicht mit Literatur zu beschäftigen. Ein Fehlschlag, der Beaumarchais so wenig wie Balzac entmutigte. Ihre Beharrlichkeit wurde wie so vieler anderen Hemmungen auch der verkehrten Anfänge Herr. Sie mußten fremde Muster verlassen, bevor sie selbst Muster schaffen sollten.
In den Schriftsätzen eines Skandalprozesses, als angeblicher Urkundenfälscher und Verleumder vor die Wahl gestellt, gehängt oder bezahlt (payé ou pendu) zu werden, siegt Beaumarchais wie Harlekin, der die Scharwache über den Haufen rennt, als genialer Improvisator. Sein Mutterwitz deckt alle Anschläge habgieriger Erben und bestechlicher Richter auf. In unablässig wechselnden Gerichtsszenen belustigt, reizt, rührt, erschüttert er Leser aller Stände; die Überlegenheit, mit der er alle Töne anschlägt, reißt Voltaire, Rousseau, Bernardin de St. Pierre zur Bewunderung hin; der junge Goethe holt aus einem wohlbedacht eingestreuten romanhaften Reiseabenteuer seinen »Clavigo«. Im kommenden Jahrhundert stellt Theodor Mommsen diese nur zur Selbstverteidigung veröffentlichten Mémoires Beaumarchais' über alle Gerichtsreden Ciceros. Ein Halsprozeß hat den Absichts- und Ahnungslosen in die Weltliteratur eingeführt, den Streitbaren zu den kecksten Waffengängen Figaros gegen Mißbräuche der Machthaber gerüstet.
Balzac wurde vor dem Bankerott seiner Buchdruckerei nur durch bedeutende Geldopfer seiner Mutter bewahrt. Einen ansehnlichen, durch wucherische Stundung unaufhörlich gemehrten Schuldenrest schleppte er zeitlebens nach. In dieser Bedrängnis nahm er einen nach seinem eigenen Wort sinnlosen Kampf auf: »je combattais la misère avec ma plume.« »Wie ein Wurm, der ein Loch in einen Balken bohren will«, kommt er sich bei diesem scheinbar unlösbaren Bemühen vor. Von Kind auf unheimlich belesen, hält sich der Anfänger an die schlimmsten und besten Vorbilder. Seine Jugendsünden, reichlich ein Dutzend unter falschem Namen gedruckter Romane, Schauer- und Räubergeschichten, hat er selbst als »ordures littéraires« stets verleugnet. Allein auch in den ersten, mit vollem Namen gezeichneten Büchern schwankt er unsicher zwischen alten und neuen Lieblingen. Als Humorist und Satiriker versucht er es Rabelais und Sterne gleichzutun; er will als gelehriger Schüler von Lewis' »Mönch«, von Anna Radcliffe und E. T. A. Hoffmann gruseln machen; er hofft mit den »Chouans« ein französischer Walter Scott zu werden; er nennt »Louis Lambert« seinen »Faust« und »Manfred«. Keine dieser Leistungen brachte Balzac die entscheidende Erleuchtung, die nach seinem Ausspruch ihr Vorbild in dem fallenden Apfel Newtons hat. Wie Kolumbus auf der Irrfahrt nach altem Märchenland nach San Salvador kam, entdeckte Balzac neue Welten, wo er sie nicht gesucht. Die Ausdehnung und die Zukunft dieses Herrschaftsgebietes ließ er sich nicht träumen, als er mit seinen ersten kleineren Skizzen den Heimatboden betrat. Erst allmählich dämmerte ihm der Gedanke des inneren Zusammenhanges seiner Gesellschaftsbilder auf. Er wurde der Einheit im Zerstreuten gewahr. Er faßt den Plan, wie Dante und Rabelais, Höhen und Tiefen der Mitwelt zu durchmessen. Vereinzelte zeitgenössische Gestalten sammelt er in ein alle Kreise Frankreichs umfassendes Rundgemälde. Mit der Größe der Aufgabe wachsen die schöpferischen Kräfte Balzacs. Er wird der Rhapsode der »Iliade der Korruption«, der Werkmeister der Comédie humaine, der Wegweiser des neueren französischen Sittenromans.
Le roman des mœurs sieht aber nicht nur Taine als »la grande œuvre des littératures modernes« an. Gustav Freytag hat in seinen »Erinnerungen« die gleiche Lehre verkündet: »Der Roman, viel gescholten und viel begehrt, ist die gebotene Kunstform für epische Behandlung menschlicher Schicksale in einer Zeit, in welcher tausendjährige Denkprozesse die Sprache für die Prosadarstellung gebildet haben. Er ist als Kunstform erst möglich, wenn die Dichtung und das Nationalleben durch zahllose geschichtliche Erfahrungen und durch die Geistes- und Kulturarbeit vieler Jahrhunderte mächtig entwickelt sind.« – »Zur Zeit Shakespeares galt das dramatische Schaffen durchaus nicht für vornehm, kaum für eine ernsthafte Dichterarbeit, ebenso wie in der Gegenwart das Romanschreiben. Und doch ist wohl möglich, daß man in irgendeiner Zukunft für den größten und eigentümlichsten Fortschritt in der Poesie des 19. Jahrhunderts gerade den Prosaroman betrachten wird, wie er sich seit Walter Scott bei den Kulturvölkern Europas entwickelt hat.«
Wie hoffärtig die französischen Literaturmandarinen bei Balzacs Lebzeiten und noch lange nachher sich dieser Einsicht verschlossen, hat einer seiner jüngsten und begeistertsten Lobredner, Brunetière, durch den Nachweis gezeigt, daß die Académie française seit ihrem Bestande (1635) mehr als zweihundert Jahre verstreichen ließ, bevor sie einen Romancier – als ersten Jules Sandeau, als zweiten Octave Feuillet – in ihren Kreis aufnahm. Die Berufensten unter den freien Künstlern seiner Zeit erkannten allerdings weit früher Balzacs überragende Bedeutung. Victor Hugo hat nicht erst in seiner lapidaren Leichenrede (1850) den Schöpfer der Comédie humaine in gleiche Reihe mit Tacitus und Sueton gestellt. Theophile Gautier und Madame de Girardin verschwiegen dem Lebendigen angesichts der Öffentlichkeit nicht, was sie von ihm hielten, und George Sand beugte sich, neidlos wie immer, schon in den vierziger Jahren seiner Überlegenheit mit dem Bekenntnis: »Die unvergänglichen Bücher dieses großen Menschenkritikers sind grundverschieden von dem, was man bisher unter Romanen verstanden hat.«
Solche Stimmführer der Mitwelt wären auf die Dauer bei der Nachwelt kaum verdrängt worden durch Ketzerrichter, die Mitte der fünfziger Jahre Balzacs Lebenswerk im Namen der Moral lästerten und verdammten. Ihre giftigen Angriffe weckten würdige Abwehr. Nur der Übereifer von Balzacs Widersachern bestimmte 1856 seine Schwester Laure de Surville, in schlichten biographischen Blättern Zeugnis zu legen für den kindlich guten, großen Mann. Die Absicht der Edlen, die mit beredtem Schweigen Balzacs Witwe schonte, war nur, den Bruder in der Familie und in seinem Freundeskreise, seine heldenhafte Ausdauer in unsäglichen Arbeitsmühen zu zeigen. Bescheiden hielt sie ihre Pflicht für erledigt, wenn es ihr gelingen sollte, dem bewunderten Schriftsteller auch als Privatmann Achtung und Anteil zu gewinnen. »Ihn als Autor zu richten, sind nur die Starken berufen«, so lautete ihr Schlußwort, das prophetisch wurde. Zu den dauernden Ruhmestiteln des jungen Taine gehört sein bald nach dem Büchlein der Schwester 1858 veröffentlichter Essay »Balzac«, der in dem Satze gipfelte: »Balzac ist mit Shakespeare und dem Herzog von Saint-Simon die größte Vorratskammer von Urkunden, die wir über die menschliche Natur besitzen.«
Taines Fürspruch bedeutete nicht nur eine Wende in der Würdigung Balzacs in Heimat und Fremde; sein Kennerurteil bleibt ein seltenes Beispiel fruchtbar fortwirkender, schöpferischer Kritik; es hat noch mehr Geschichte der Erzählungskunst gemacht als gelehrt; seine Studie wurde, ohne daß er das gewollt oder gebilligt hätte, das vielgeplünderte Zeughaus für den streitbaren Nachwuchs der Jünger Balzacs, obenan Zolas und dessen (Taine willkürlich nachgebildetes) Schlagwort vom »document humain«.
Die Balzac-Forschung ist seither nicht mehr zur Ruhe gekommen. Selbst kühle Köpfe, die vor dem Überschwang gefeit sind, um die Wette mit kraft- und kritiklosen Epigonen zu Ehren des »Napoleon der Literatur« Viktoria zu schießen, können und wollen schwerlich leugnen, daß Balzac in der Comédie humaine ein Kolosseum für Tausende von leibhaftigen Doppelgängern seiner Zeitgenossen aufgerichtet, mit Angehörigen aller Stände und Provinzen, mit Ringkämpfern und Märtyrern bevölkert und auch reißende Bestien mit den zugehörigen Zwingern, Tierbändigern und Schlangenbeschwörern nicht vergessen hat. Seine Hauptwerke sind aus dem Leben des französischen Volkes, aus der Entwicklung des europäischen Romans nicht wegzudenken. Seine Anregungen dauern bis auf die jüngste Gegenwart weiter. Sein Geist blüht in immer neuen Trieben seiner Schüler und Enkelschüler.
Balzac hat diesen Sieg in stolzen Stunden vorausgesehen. Dann und wann wandelte ihn wohl die Sorge an, ob sein Riesenbau mit der Zeit nicht in Verfall oder Vergessenheit geraten könnte wie die maßlosen indischen Epen Mahabharata und Ramayana. Häufiger trat ihm in trüben Tagen der bittere Trost auf die Lippen: »Wenn ich tot bin, werden sie wissen, was sie an mir gehabt haben.« Gezweifelt hat er niemals an sich. Kleinlicher Jammer über Undank und Verkennung lag nicht in seiner Art. Von Anfang hatte er die Ahnung seines Wertes. Als Einundzwanzigjähriger in einer Pariser Dachkammer mit der Vollendung einer Cromwelltragödie ringend, schreibt der hungernde Neuling seiner Schwester: »Mein Werk soll das Brevier von Völkern und Königen werden.« Ein Jahrzehnt hernach hofft er, eines Tages unter die großen Intelligenzen seiner Heimat gezählt zu werden. 1844 erklärt er in der Vertraulichkeit brieflicher Bekenntnisse seiner Geliebten, der Gräfin Eva Hanska-Rzewuska, die 1850 seine Frau werden sollte: »Vier Männer werden in dieser ersten Hälfte des Jahrhunderts ungeheuern Einfluß geübt haben, Napoleon, Cuvier, O'Connell. Ich möchte der vierte sein. Der erste hat vom Blut Europas gelebt, er hat sich ganze Heere eingeimpft; der zweite hat die Erdkugel zu seiner Lebensgefährtin gewählt; der dritte hat ein Volk verkörpert. Ich werde eine ganze Gesellschaft in meinem Haupte getragen haben.« Diese Selbstverherrlichung wurzelt nicht in Größenwahn, sie gründet sich auf die Überzeugung von der ins Ungemessene wachsenden Bedeutung seines Berufes: »Heutzutage hat der Schriftsteller den Priester abgelöst«, so schreibt er wenige Monate später (im Juni 1844) einer anderen Freundin. »Er hat die Chlamys des Märtyrers angelegt, er leidet tausend Leiden. Er nimmt die Opferflamme vom Altar und entzündet mit ihr die Herdfeuer des Volkes. Er ist Fürst, er ist Bettler. Er tröstet, flucht, prophezeit. Seine Stimme verhallt nicht im Schiff eines Münsters, sie dringt mit Donnerklang von einem Ende der Welt zum anderen. Die Menschheit, die seine Herde geworden, horcht auf seine Dichtungen und manches Wort, mancher Vers fällt schwerer ins Gewicht als mancher Sieg. Er hängt nicht mehr von Königen und Großen ab; er empfängt seine Sendung von Gott. Sein Hirn und Herz umspannen die Welt, die er zu einer Familie zusammenfaßt. Ein Kunstwerk darf darum auch nicht mehr das Abzeichen einer Partei tragen. Er sucht nicht mehr die Gönnerschaft eines Geldgewaltigen, er gibt sich keiner Preisgegebenen preis. Tränenbetaute Verse, die Schöpfungen angestrengter fruchtbarer Nachwachen erniedrigen sich nicht mehr zu den Füßen der Macht, sie sind die Macht selbst. Dem Schriftsteller gehören alle Formen schöpferischer Fähigkeit: sein sind die Pfeile der Ironie; sein eigen ist das milde, anmutvolle Wort, das sanft niedersinkt wie Schnee auf die Gipfel der Hügel. Sein eigen sind die Gestalten der Bühne, sein eigen die labyrinthisch verschlungenen Wege der Erzählung und des Phantasiestückes, sein sind die Blüten und Dornen. Er hüllt sich in alle Trachten, er durchschaut alle Herzen, er durchlebt alle Leidenschaften, er errät alle Interessen. Seine Seele will das Weltbild auffangen und widerspiegeln. Die Buchdruckerkunst beflügelt die Zukunft. Alles hat sich vergrößert: sein Wirkungskreis und sein Gesichtskreis, die Persönlichkeit und ihre Sprachgewalt.«
Balzac nimmt mit Recht für die französischen Wortführer der Literatur seiner Zeit andere Redeformen, andere Pflichtenkreise, andere Aufgaben in Anspruch als – Rousseau und Diderot ausgenommen – für die Meister des 18. Jahrhunderts. Töne von der Wucht seines Hymnus auf die Sendung des Schriftstellers finden sich bei Beaumarchais so wenig wie bei Voltaire. Ein solches Prophetenamt teilen, in den Hauptgedanken unbewußt eines Sinnes mit Balzac, erst im 19. Jahrhundert Carlyle und Emerson dem Mann der Feder zu.
Selbst dieses grenzenlose Gebiet geistiger Arbeit und Herrschaft genügte Balzac nicht immer. Wiederholt fühlte er den Drang, als Mann der Tat einzugreifen, und nicht an ihm hat es gelegen, wenn er seine Kraft nicht als Abgeordneter, Pair, Minister einsetzen durfte. Menschlicher Voraussicht nach hätte ihm die politische Laufbahn nicht mehr Segen gebracht als Victor Hugo und Lamartine. Leichter noch als unzählige andere unruhige Köpfe ihrer Zeit verfielen die Feuergeister der Dichter der weitverbreiteten Zeitkrankheit Napoleonitis, und es half auch Balzac wenig, daß ihm ein wohlmeinender Warner frühzeitig (1836) den Ausbruch und Verlauf dieses Übels genau beschrieb: »Ein großes Beispiel hat das Jahrhundert zugrunde gerichtet. Seit ein kleiner Unterleutnant der Artillerie aus den Reihen getreten ist, um sich auf den Thron zu setzen, hat ein unglaublicher Rausch der Ehrsucht aller Seelen sich bemächtigt. Jede Intelligenz, die einige Kraft in sich verspürt, will ihr Austerlitz gewinnen und ihre Siegessäule bauen. Sulla sah mehr als einen Marius in Cäsar. Es gibt wenige Menschen, die in sich nicht mehr als einen Napoleon erblicken. Wir alle, wie wir auch sind, sehen aus der Ferne unserer Geschicke eine Zepterspitze und einen Purpurzipfel auftauchen. Enzyklopädische Köpfe rennen in allen Straßen umher. Man begegnet nur Leuten, die morgens die Schlacht von Rocroy gewinnen, zum ersten Frühstück Athalie vollenden, nachmittags die Entdeckungen Newtons machen, zur Hauptmahlzeit, wenn man sie schön bäte, die Politik des Kardinals Richelieu improvisieren würden. Ein besonderer Glücksfall wäre es, wenn sie nicht noch in ihren freien Augenblicken Haydn und Mozart entthronen wollten.« Derselbe Spötter, Nettement, sonst ein Anwalt der ersten gelungenen Leistungen Balzacs, erspart auch ihm nicht die Neckerei, daß er, ohne sich lange nötigen zu lassen, Bossuet über Theologie, Cuvier über Erdkunde, Napoleon über die Kriegskunst Privatissima halten würde.
Wie eine bedenkliche Bekräftigung dieser Parodie wirkt es, daß Balzac in seinem Zimmer eine Statuette Napoleons hatte, die auf der Degenscheide die Inschrift trug: »Was er mit dem Schwert nicht vollenden konnte, das will ich mit der Feder fertig bringen.« Ein vermessenes Wort, doppelt vermessen angesichts der Stellung, die Napoleon in Balzacs Denken und Schaffen einnimmt. Sichtbar oder unsichtbar scheint er allgegenwärtig in seinem Lebenswerk, hört er zu, wo man ihn nicht selbst reden hört.
Wie Voltaire jahrelang für sein »Siècle de Louis XIV« unauffällig alle ihm erreichbaren Gewährsmänner für die Geschichte jenes Zeitalters zu Rate zog, ließ Balzac im Verkehr keinen Zeugen der napoleonischen Tage unbemerkt oder unbefragt. Weniger wählerisch als Voltaire beschränkte er sich bei seinen Forschungen nicht auf Staatsmänner, Heerführer, Kirchenfürsten. Ebenso willkommen, wenn nicht willkommener als Herzoginnen und Marschälle, waren ihm Kundschafter und Troßknechte, Armeelieferanten und Feldgeistliche, Krankenpfleger und fahrendes Volk. Er sammelte Musterproben der Uniformen aller Grade und Truppen. Kleine bezeichnende Anekdoten nahm er ebenso willig auf wie wichtige diplomatische Enthüllungen; unter dem ersten Eindruck war nicht vorauszusehen, was die Folge aus solchem Rohstoff formen würde, »Dieu, table ou cuvette«.
Vor allem aber versenkte er sich in Napoleons Ideenwelt. Sieben Jahre lang lag auf seinem Arbeitstisch ein Einschreibebuch, in dem er jeden echten oder vermeintlichen Ausspruch Napoleons, den er las oder hörte, als Glücksfund verzeichnete. Als er eines Tages wieder einmal in Geldverlegenheit war, blätterte er dieses »Wirtschaftsbuch« auf, in dem er überdies die Stoffe und Urentwürfe seiner eigenen Arbeiten vormerkte. Er zählte seine Napoleonzitate: es waren über 500. Ihre Veröffentlichung konnte somit ein rundes Buch geben, nach Balzacs Urteil das belangreichste Buch der Zeit: »Maximes et Pensées de Napoléon«. Der Dichter, der für seine Publikation keine Anleihe bei fremden noch so großen Geistern zu machen pflegte, verkaufte seine Kollektaneen einem früheren Hutmacher, der in seinem Bezirk als Armenvater eine Rolle spielte und nach der Ehrenlegion lüstern war, um 4000 Franken. Der Ordensjäger hoffte das Ziel seiner Sehnsucht zu erreichen, wenn er die Gabe dem Bürgerkönig widmete: Dedikation und Vorrede des selten gewordenen – vom Napoleonforscher Frédéric Masson als halbe Mystifikation abgewiesenen – Buches rührt nach Balzacs fröhlicher Selbstverspottung (in einem Brief an Eva Hanska-Rzewuska) von ihm her. Bittet er in seinem drolligen Bericht über den kuriosen Handel an diese Vertraute auch den Schatten Napoleons um Gnade wegen der grotesk schmeichlerischen Zueignung an Louis Philippe – den Band selbst nennt er ihr gegenüber eines der schönsten Dinge der Welt; den Gedanken, die Seele des großen Mannes auf Grund seiner Selbstbekenntnisse erfaßt von Balzac. Die »Maximes et pensées de Napoléon recueillies par J. L. Gaudy jeune«, Paris 1838 behandeln in vier Abteilungen 1. Napoleons Grundsätze und Gedanken vor dem 18. Brumaire, d. h. die Zeiten, in denen er Republikaner oder Bürger, Untertan oder Untergebener einer vorgesetzten Staatsgewalt war. 2. Alle seine Gedanken über die Kriegskunst, die das Geheimnis seiner Erhebung und der Nerv seiner Herrschaft war. 3. Alle Ideen des Souveräns über die Ausübung der Macht und deren Organisation. 4. Alles, was ihm Erfahrung und Unglück eingegeben hat, der Schmerzensschrei des modernen Prometheus.
In der von J.-L. G…y Jeune unterschriebenen, gedruckten Vorrede macht sich anfangs der wirkliche Verfasser Balzac über den angeblichen Herausgeber lustig. Mit prahlerischem Selbstlob drückt sich J.-L. G…y für sein Sammlerverdienst einen Strahlenkranz auf das Haupt: sein Werk sei für Napoleon, was das Evangelium für Jesus Christus. In den folgenden Gedankengängen kommt desto unverkennbarer Balzacs ernste Überzeugung zum Vorschein: Napoleon sei eine der gewalttätigsten unter allen in der Geschichte menschlicher Reiche bekannten Willenskräfte. Deshalb konnte nichts für ihn bemerkenswerter sein als die Gesetze, nach denen er seine Macht aufgerichtet und aufrechterhalten hat. Von seinem Ausgangspunkt bis zu seinem Gipfelpunkt, vom Thron bis zum Grab habe er zweimal in grundverschiedener Art die ganze Stufenleiter der Gesellschaft durchlaufen und verstanden, alles zu sehen und zu beobachten. Deshalb wird jeder Leser in Napoleons Maximen und Ideen irgend etwas zu seinem Vorteil finden, denn Napoleons Gedanke, scharf wie ein Schwert, sei in alle Tiefen gedrungen. Der Schreckensmann von 1793 und der kommandierende General sind hinter dem Kaiser verschwunden, der Herrscher hat den ehedem Beherrschten Lügen gestraft. Gerade diese Widersprüche zeigen am deutlichsten den Kampf, zu dem er verurteilt war. Vor allem wird die Sammlung seiner Grundsätze die Richtschnur bedrohter Regierungen sein. Niemand hat besseren Instinkt für Gefährdung von Staatslenkern gehabt als Napoleon. Man wird ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er offen gewesen und vor keiner Konsequenz zurückgeschreckt ist. Er hat die Tat verherrlicht und die Idee verdammt. Es steht niemandem zu, Napoleon zu verteidigen oder anzuklagen. Es heißt, ihn vor allem auftreten zu lassen. Der Inbegriff seiner Gedanken ist eine Gesetzgebung für sich, die verworfen oder angenommen werden mag, die aber in ihrer bündigsten Form ans Licht gezogen werden mußte, denn niemand soll vergessen, daß sie die Geheimnisse des größten Organisators der modernen Gesellschaft enthielt.
Keine Fähigkeit Napoleons hat Balzac größeren Eindruck gemacht als diese Gabe, noch so spröde, einander widerstrebende Elemente mit ehernem Griff zu packen, zu gliedern, zu willenlos fügsamen Werkzeugen seiner allmächtigen, das Ganze formenden und beherrschenden Bildnerkraft zu machen. »Organiser est un mot de l'Empire et qui contient Napoléon entier« heißt es, mit der pseudonymen Vorrede zu Napoleons Maximes et pensées übereinstimmend, in einer Pariser Geschichte Balzacs. Dasselbe Wort »Organisieren« erschöpft auch die Endabsicht der Comédie humaine: die Bändigung der Stoffmassen eines ganzen Volkslebens durch einen überlegenen Schöpfergeist nach einem für alle Stände und Stufen mit gleichem Scharfblick vorbauenden Grundriß.
Unaustilgbar, wie im Staatswesen Neufrankreichs, ist die Spur Napoleons in Balzacs enzyklopädischer Sittenschilderung dieser Epoche. Wie wenige kennt Balzac die Wunder und die Frevel des ersten Kaiserreiches. »Der Titan, der, umgeben von Halbgöttern, Europa aufwühlt«, war ihm so vertraut, wie Fouché mit seinen Polizeihunden. Napoleon und seine Leute gehen durch die ganze Comédie humaine: Bonaparte begegnet uns als Feldherr, Regent, Gesetzgeber, als Weltenbezwinger, der Throne stürzt und Königreiche verschenkt, als Abgott und Verderber seiner Soldaten. In »Vendetta« gibt er korsischen Landsleuten als Konsul Gehör; in der »Femme de trente ans« hält er seine letzte Pariser Heerschau. Die Fahnen und Adler seiner Legionen ziehen vorüber. Um die Wette mit den Malern und Bildhauern des Julikönigtums sorgt die Comédie humaine für Schlachtenbilder, Statuen, Büsten, Denkmünzen des Gewaltigen; wie die Vendômessäule und die Gruftkuppel im Invalidendom über zwerghafte Fußgänger ragt Napoleons literarisches Monument in Balzacs Lebenswerk hoch hinaus über die Stellen- und Geld- und Weiberjäger der Gesellschaft Louis Philippes. Und wie märchenhaft vergrößert Napoleons Taten unter den Bauern weiter getragen wurden, zeigt der »Napoléon du peuple« im »Medécin de campagne«: die fabelhaft ausgeschmückte Geschichte seines Lebenslaufes, wie sie ein Landbriefträger, ehedem ein Soldat Napoleons, in einer Scheune hochaufhorchenden Dörflern im Volkston erzählt. Götzendienst oder bewußte bonapartistische Propaganda hat Balzac mit diesen Erinnerungsmalen nicht getrieben. Mit derselben Unbefangenheit enthüllt er in der »Ténébreuse affaire« die teuflischen Anschläge der napoleonischen Geheimpolizei zur Vernichtung politischer Gegner, zeigt er im »Ménage de garçon« verabschiedete napoleonische Offiziere, Raubtiernaturen, die im faulen Frieden ungestraft Ungeheuerlichkeiten ausführen, deren Vorschule die Kriegs- und Beutezüge ihres Heerführers waren. Und angesichts der Verheerungen, die das Beispiel Napoleons in dem nachwachsenden Geschlechte, in den Gesinnungen junger Ehrgeiziger vom Schlage Rastignacs verschuldet, fragt Balzac: »Wer wird jemals Napoleon malen oder begreifen können? Ein Mensch, den man mit verschränkten Armen darstellt, und der doch alles gemacht hat; der alles machen konnte, weil er alles gewollt hat; ein wunderbares Phänomen des Willens, der eine Krankheit durch eine Schlacht heilte und dennoch an einer Krankheit im Bett sterben sollte, nachdem er inmitten von Kugeln und Bomben gelebt hatte. Ein Mann, der ein Gesetzbuch und ein Schwert, Wort und Tat im Kopfe trug. Ein Mann, dem durch ein seltenes Privilegium die Natur ein Herz in seinem Leib von Erz gelassen, ein Mann, der um Mitternacht mit seiner Frau lachen und guter Dinge sein konnte und am Morgen mit Europa spielte, wie ein Mädchen mit dem Wasser im Bade plätschert. Cäsar mit fünfundzwanzig, Cromwell mit dreißig Jahren, dann, wie es in den Grabschriften der Gewürzkrämer auf dem Père La Chaise heißt, braver Vater und Ehemann. Ein Mann, der, gegen alle Gesetze der Schwerkraft, Frankreich als Übergewicht auf der Erde lasten ließ und uns am Ende ärmer zurückgelassen hat als am Tag, da er seine Hand auf uns gelegt. Und er, der ein Reich nur mit seinem Namen in Besitz genommen, verlor am Ende seines Reiches seinen Namen in einem Meer von Blut und Armeen.«
Das Heil des Vaterlandes erwartet Balzac von anderen Mächten:
»Die vierhundert Gesetzgeber, deren Frankreich sich erfreut, müssen wissen, daß die Literatur über ihnen steht«, so heißt es im Vorwort zu den »Souffrances de l'inventeur«. »Die Schreckensherrschaft, Napoleon, Ludwig XIV. und Tiberius, die gewaltigsten Machthaber wie die stärksten Einrichtungen verschwinden vor dem Schriftsteller, der sich zum Stimmführer seines Jahrhunderts macht. Diese Tatsache heißt Tacitus, Calvin, Voltaire, Jean Jacques Rousseau, Chateaubriand, Benjamin Constant, Staël; heute nennt sie sich Zeitung. Voltaire und die Enzyklopädisten haben die Jesuiten gestürzt, die die größte parasitäre Macht der modernen Zeiten waren. Wenn fünfzehn Männer von Talent sich in Frankreich vereinigen und einen Führer von der Bedeutung Voltaires besitzen würden, müßte der Spaß, den man als die konstitutionelle Regierung bezeichnet und zur Grundlage die dauernde Thronerhöhung der Mittelmäßigkeit hat, bald aufhören.«
Balzac mußte sich nicht, wie Lamartine, während der Wirren von Achtundvierzig, als Retter der Republik versuchen. Er wäre sonst bald seiner Selbsttäuschung über die Eignung eines Schriftstellerkollegiums zur Führung der Staatsgeschäfte inne geworden. Der handgreifliche Irrtum ändert nichts an Balzacs Berechtigung und Befähigung, von seiner Kanzel aus dem Frankreich seiner Tage die Wahrheit zu predigen. Er kannte sein Land genau, er erkannte tiefsitzende Schäden der Zeit, schwer oder gar nicht heilbare Volkskrankheiten vielfach besser, als – von Victor Hugo oder George Sand zu schweigen – Louis Philippe, Guizot und Thiers. Er nannte sich nicht mit Unrecht einen »Docteur-ès-sciences sociales et des maux incurables«. Er hatte seltene Naturgaben durch ausgiebige Studien und selbständig geübte Forschermethoden weiter gebildet. Der Umfang seiner Belesenheit war außerordentlich. Sein enzyklopädisches Wissen nahm einen Sachverständigen vom Range Taines wunder. Seine Vertrautheit mit früheren Literaturdenkmalen befähigte ihn, zum Entzücken aller Kenner in den ersten dreißig »Contes drolatiques« den Ton und Stil Rabelais' nicht als altertümelnder Nachahmer, sondern wie ein ebenbürtiger Zeitgenosse zu treffen und nur sein früher Tod hat, wie soviel andere Entwürfe, die Fortführung des Planes zunichte gemacht, in weiteren siebzig Contes drolatiques den Wettkampf mit Perrault, Voltaire und anderen Meistern der französischen Erzählungskunst vom 16. bis 18. Jahrhundert in ihrer Sprache und Schreibart aufzunehmen. Er besaß, wie Diderot, die Findigkeit, in Heimlichkeiten verschiedenartiger Gewerbe, Hantierungen und Kunstfertigkeiten einzudringen. Er hatte sich nicht nur in Geistes- und Naturwissenschaften umgesehen, er kannte Lehren und Irrlehren des Okkultismus, Mesmerismus, Swedenborgianismus. Er überraschte Ärzte und Irrenärzte durch die Zuverlässigkeit der Krankengeschichten in seinen Romanen. Seine Schilderungen der Schikanen im Prozeßverfahren, seine Charakteristiken der Handelsrichter und Anwälte, der Notare alten und neuen Schlages, seine Musterkarten von Maklern und Wucherern sind Dickens ebenbürtig. Seine Bauern und Geistlichen, Groß- und Kleinstädter, die Kreise des absterbenden Hochadels und neu sich andeutende Modetypen, die Helden und die Opfer des napoleonischen Heeres, evangelische Unschuld und Pariser Raubgesindel, die Weltgrößen der Kunst und Forschung und das Ungeziefer der Spione, erhabene Verbrecher und schnurrige Spitzbuben, sie alle hat er, trotz ihres kaum übersehbaren Durcheinanderwimmelns, in hundert und aber hundert Gestalten der Comédie humaine durchweg persönlich so bestimmt geschieden, daß er ohne Überhebung sagen durfte, er habe um die Wette mit dem Standesamt in der Comédie humaine leibhaftige Wesen verbucht. Zu seinem Ergötzen machte, unter dem Eindruck der Bekanntschaft mit seinen Bildern aus dem Pariser und aus dem Provinzleben, überwältigt durch die Fülle seiner Charaktere, ein kluger Kopf allen Ernstes den Vorschlag, die Regierung solle Balzacs Beobachtungen ihren Zwecken nutzbar machen. Wirksamer als in Kammerausschüssen, diplomatischen Kränzchen und Ministerberatungen, ungebundener als von irgendeinem Katheder der Kulturgeschichte oder Soziologie vermochte Balzac seinem Vaterland und der Weltliteratur, der Kunst und Wissenschaft an seinem Schreibtisch zu dienen. Jedenfalls ist er mit den heikelsten Rätselfragen, die die Gesellschaft seiner Tage ihm stellte, gründlicher fertig geworden, als bisher Mit- und Nachwelt mit den Geheimnissen seines Werdens und Wesens.
Über siebzig Jahre sind seit seinem Tode verflossen. Damals war nach Sainte-Beuves Wort die Möglichkeit einer auch von diesem Meister geforderten »moralischen Autopsie« Balzacs noch nicht gegeben. Mittlerweile sind Bibliotheken über ihn geschrieben und gedruckt worden. Allein auch die jüngsten Erforscher der Jugendzeit Balzacs, Gabriel Hanotaux und Georges Vicaire, müssen ihren wichtigen, 1903 veröffentlichten, 1921 in neuem Abdruck ergänzten Aufschlüssen (La jeunesse de Balzac. Balzac imprimeur 1825-1828), das Bekenntnis vorausschicken, daß eine abschließende Arbeit über ihn fehlt: »un travail complet sur Balzac n'a pas encore été publié«. Ein Sammlergenie, der Vicomte Spoelberch de Lovenjoul, Balzacs Schliemann, hat nicht umsonst ein Stück seines Lebens an die Erforschung von Balzacs innerer und äußerer Biographie gesetzt. Er hat uns mit einer seit der ersten Auflage (1879) wiederholt neugedruckten ergänzten »Histoire des œuvres de Balzac«, einer Bibliographie, beschenkt, die ihresgleichen sucht. Ihm war überdies das Finderglück beschieden – wie Edmond de Goncourt in seinem Tagebuch verrät, großenteils bei einem Flickschuster –, die von der Witwe verzettelten Briefe an die Gräfin Hanska-Rzewuska, nachmals Balzacs Frau, zu entdecken, die »Lettres à l'Etrangère«, von denen vorläufig nur zwei, 1920 in der Revue des deux mondes durch sparsame Nachträge ergänzte, Bände vorliegen. Leider ist Graf Lovenjoul geschieden, bevor er auch nur den Schlußband dieser für Balzacs Biographie unersetzlichen, tagebuchartigen Briefe herausgeben konnte. Seine Balzac-Papiere hat er letztwillig der Académie française zugewiesen; sie hat dieses Erbe aus Brüssel nach dem ihr vom Herzog von Aumale testierten Schloß Chantilly verbracht und mit den gebotenen Rücksichten der Forschung freigegeben. Das Dunkel, in dem Balzac selbst seine Schicksale vielfach absichtlich gehalten hat, wird sich auch dann kaum völlig lüften lassen. Immerhin ist einstweilen – wie das tüchtige Buch von André Le Breton (Balzac. L'homme et l'œuvre. 1905) und die kritische Studie »Honoré de Balzac (1799-1850)« von Ferdinand Brunetière (Paris o. J., 1906) zeigt – die Kenntnis seines Lebens, die Würdigung seines Schaffens, zumal dank den Vorarbeiten von Lovenjoul, Biré, Hanotaux und Vicaire, auf breitere, festere Grundlagen gestellt. Mit der Möglichkeit wächst die Pflicht, seiner Entwicklung genauer nachzugehen, besonders in Deutschland, wo seiner Persönlichkeit noch lange nicht genügende Beachtung zuteil wurde.
Goethe hat kurz vor seinem Tod, 1831, Balzacs erstes bedeutendes Buch »La peau de chagrin« gelesen. »Es ist ein vortreffliches Werk neuester Art,« heißt es in seinem Tagebuch, »welches sich jedoch dadurch auszeichnet, daß es zwischen dem Unmöglichen und Unerträglichen mit Energie und Geschmack hin und her bewegt und das Wunderbare als Mittel, die merkwürdigsten Gesinnungen und Verkommenheiten sehr konsequent zu brauchen weiß, worüber sich im einzelnen viel Gutes würde sagen lassen.« Fünf Monate später beschäftigt sich Goethe nochmals mit demselben Werk. »Für die Peau de chagrin ist das blasé zu mäßig. Das Produkt eines ganz vorzüglichen Geistes deutet auf ein nicht zu heilendes Grundverderbnis der Nation, welches immer tiefer um sich greifen wird, wenn nicht die Departements, die jetzt nicht lesen und schreiben können, sie dereinst wieder herstellen, insofern es möglich wäre.«
Schiller hat Balzacs Auftreten nicht erlebt, und Balzac ist Schillers dramatischer Entwurf » Die Polizei« niemals vor Augen gekommen. Dieser Plan einer in Frankreich spielenden Polizeitragödie und -komödie nimmt wesentliche Motive, zumal der Kriminalromane der Comédie humaine voraus. »Ein ungeheures, höchst verwickeltes, durch viele Familien verschlungenes Verbrechen, welches bei fortgehender Nachforschung immer zusammengesetzter wird, immer andere Entdeckungen mit sich bringt, ist der Hauptgegenstand. Es gleicht einem ungeheuren Baum, der seine Äste weit herum mit anderen verschlungen hat und welchen auszugraben man eine ganze Gegend durchwühlen muß. So wird ganz Paris durchwühlt, und alle Arten von Verderbnis werden bei dieser Gelegenheit nach und nach an das Licht gezogen. Die äußersten Extreme von Zuständen und sittlichen Fällen kommen zur Darstellung und in ihren höchsten Spitzen und charakteristischen Punkten. Die einfachste Unschuld wie die naturwidrigste Verderbnis, die idyllische Ruhe und die düstre Verzweiflung.« Die Handlung sollte im Audienzsaal des Polizeileutnants eröffnet werden: eine Eingangsszene, die möglicherweise auf Merciers (1776 in deutscher Übersetzung gedruckten) »Neuen Versuch über die Schauspielkunst« zurückgeht. Mercier wüßte »kein Buch zu schreiben, das jedem Verstand neuer, lehrreicher, interessanter, sonderbarer sein würde, als ein Buch über Paris. Dem Polizeileutnant »Wieviel Tatsachen muß das Gehirn eines solchen Mannes nicht beherbergen! Wieviel Lehren empfängt nicht seine Seele jeden Augenblick! Ihm sind die verborgensten Geheimnisse anvertraut, er kennt vielleicht die ersten und unsichtbarsten Triebfedern, bei ihm sollten der Philosoph, der Gesetzgeber sich Rats erholen.« Fußnote Merciers. – Meines Wissens ist auf diese Stelle von Merciers »Neuem Versuch über die Schauspielkunst« als eine der möglichen Anregungen zu Schillers »Polizei« noch nicht hingedeutet worden. Auch nicht in Kettners Einleitung zu Schillers »Dramatischem Nachlaß«. Schillers Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe. (Cotta.) Bd. VIII, S. IX und S. 207 ff. käme es zu, die Materialien herzugeben, und einem Mann von Genie, sie in Ordnung zu bringen. Wie viele Welten gibt's doch in der Welt«. Die genialen Andeutungen in Schillers Nachlaß, die Charaktere des Personenverzeichnisses wirken wie Vorahnungen, Romantitel und Kapitelüberschriften der Comédie humaine. »Poetische Schilderung der Nacht zu Paris, als des eigentlichen Gegenstands und Spielraums der Polizei.« »In der Suite der Handlung treten auf: 1. der Sohn der Familie, debauchiert, 2. die fromme Tochter, 3. der Vater aus der Provinz, 4. der biedere, aber arme Noble, 5. der übermütige, schlechtdenkende Roturier, 6. der mutwillige Mousquetaire, 7. der Fat als Mousquetaire, 8. der Schmarotzer Ubique, 9. die Courtisane, 10. der Escroc und Filou in allen Gestalten, 11. der Broschürenschreiber, 12. der Philosoph, 13. die Savoyarden, 14. die Dévoten, 15. der Abbé oder Ludwigsritter, 16. der Polizeiminister, 17. der Mörder, 18. der Exempt, 19. der Höfling, 20. der wohldenkende Bürger von Paris, 21. der Porte-Faix, Fiacre, Suisse, 22. der Schreiber oder Clerc, 23. die Ehefrau und der Ehemann, 24. der Ausländer, 25. die Scharwache, Guet., 26. Marchande de Modes, 27. Poissarden, 28. der Illuminat und geheime Gesellschafter, 29. der Mönch, 30. der Duc und die Duchesse, 31. der Bettler und 32. der kleine Dieb und seine Gehilfen.« Schiller begnügte sich nicht mit dieser Heerschau: sein Entwurf sieht Gespräche zwischen dem Polizeileutnant und Philosophen vor, die Schlüsse ziehen sollten aus den bunten Erfahrungen einer solchen, alle Schichten der Weltstadt, alle Schäden der zeitgenössischen Gesellschaft durchdringenden Prüfung. Vorschnelles Urteil lag dem Forscher, Denker, Künstler so fern, daß er sich in Vorarbeiten zu seinem Drama nicht genug tun konnte. Wir wissen, mit welchem Anteil Schiller über alle Einzelheiten des Pariser Lebens sich bei Wilhelm von Humboldt und anderen Freunden erkundigte, mit welcher Aufmerksamkeit er Merciers »Tableau de Paris« und die zu seinen Lebzeiten erschienenen französischen Romane las und selbst Rétif de la Bretonne für seine stofflichen Anregungen dankbar war. Es bleibt unentschieden, ob er Balzac glimpflicher oder härter beurteilt hätte, als das Goethe getan. Gelesen hätte der Dramatiker, der sich mit dem Entwurf der »Polizei« getragen, die Comédie humaine gewiß.
Das allerdings erst in den achtziger Jahren bekannt gewordene Wort des alten Goethe über den »ganz vorzüglichen Geist« des jungen Balzac hat in Deutschland nicht allzuviel Widerhall geweckt. Heine, dem er als ebenbürtigem Kenner deutscher und französischer Zustände eines seiner Bücher – »Le prince de la Bohème« – gewidmet hat, war mit ihm befreundet. Alexander v. Humboldt machte ihm während seines kurzen Aufenthaltes in Berlin die Honneurs und führte ihn bei Tieck ein. Metternich lud Balzac in Wien gastlich zu Tisch und erzählte ihm eine für die »Mémoires des deux jeunes mariées« bestimmte, von Balzac in einem erst aus dem Nachlaß veröffentlichten Drama »L'ecole des Ménages« benutzte Anekdote. Laube rühmte nach einer Pariser Begegnung Balzacs durchdringenden Blick, Gutzkow stand mit seinen Zeitromanen unverkennbar unter seinem Zeichen. Julian Schmidt fühlte, bei seinen Neigungen für den Realismus begreiflich genug, eine gewisse Vorliebe für Balzac, die sein Redaktionskollege in den »Grenzboten«, Gustav Freytag, nicht unbedingt teilte. Hebbel, Gottfried Keller, Richard Wagner, Karl Hillebrand, Karl Marx, Treitschke, Dilthey, Nietzsche würdigten seine Gaben, indessen die neudeutschen Naturalisten über Zola, Tolstoi, Dostojewski die Comédie humaine vergaßen, soweit oder sofern sie Balzac überhaupt kannten. Ungelesen blieb Balzac trotz alledem nicht. Erbärmliche Verdeutschungen der alten Übersetzerfabriken wurden, auch in unseren Pfennigheften, immer wieder neu aufgelegt, und in jüngster Zeit veranlaßte der Insel-Verlag eine von Hugo v. Hoffmannsthal bevorwortete Gesamtausgabe, der Wilhelm Weigand einen Essay Balzac und Stendhal folgen ließ und Stephan Zweig ein Bändchen »Balzac. Sein Weltbild aus den Werken« nachschickte. Der Berliner Verlag Rowohlt folgte mit neuen Ausgaben. Dem kühlen Urteil von Georg Brandes hat Arthur Eloesser in seinen »Literarischen Porträts aus dem modernen Frankreich« eine weit wärmer klingende Würdigung Balzacs folgen lassen. Ein Zeichen des Umschwungs in der Auffassung von Balzacs dauernder Bedeutung ist endlich der Ton, in dem Erich Schmidts Rektoratsrede seiner gedachte. Neuerdings wandten ihm auch Romanisten vom Fach, Heiß und Ernst Curtius, in monographischen Studien ihr Augenmerk zu. Eine quellenmäßige, vollständige Lebensgeschichte Balzacs, die nach wie vor aus triftigen Gründen in Frankreich fehlt, war noch weniger in Deutschland zu verlangen, wo bis zur Stunde selbst eine unvollständige fehlt. Lohnt es der Mühe, eine solche Biographie zu versuchen?
Einer der besten, strengsten und unabhängigsten französischen Kritiker mag antworten: »Man kann Balzac alles vorwerfen, Mangel an Geist und Zartgefühl, die Abwesenheit von Seele und Leidenschaft, den Mißbrauch von Beschreibungen, einen mühseligen und zugleich farblosen Stil, man kann ihm alle Eigenschaften des Geschmackes und der Feinheit bestreiten, aber man kann sich nicht weigern, in ihm eine wahrhaftige Kraft der Beschwörung zu grüßen. Seine Personen haften im Gedächtnis, als ob sie gelebt hätten. Man hat sie gesehen, man hat mit ihnen gesprochen, man ruft sie bei ihren Namen. Und diese Phantasiegeschöpfe sind unglaublich zahlreich: das Werk des Romanciers ist weitläufig wie eine Welt; Balzac hatte nicht nur die Kraft, er besaß auch die Fruchtbarkeit des Genies. Seltsam! Balzac ist kein Künstler, und er ist Schöpfer; er ist kein Schriftsteller, und er hat eine Gattung begründet; er hat kein abgeschlossenes Werk zurückgelassen, und eine ganze Literatur geht von ihm aus.«
Der wohlüberlegte Spruch ist – mag das Endurteil auch dasselbe bleiben – einer Überprüfung bedürftig und würdig; jede neue, kritische Beschäftigung mit Balzac führt auf Hauptfragen in Dichtung und Leben, zur Grenzbestimmung zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Gesellschaftskunde, und sie läßt uns unterwegs ein Menschenkind kennenlernen, das mit allen kleinen Narrheiten und seltenen großen Gemütsgaben nicht seinesgleichen hat.