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VIII.
Phantasien und Phantastereien

Unerläßlich war nach Balzacs eigenster Empfindung eine Zeit der Brache für sein Schaffen geworden. Seltsame Krankheitssymptome suchten ihn heim. Er verlor den Sinn für Vertikalität; seine Arbeitskraft erlahmte durch die Überanstrengung, die er um die Wette mit unbarmherzigen Verlegern sich zugemutet hatte; er fürchtete, sein Lebenswerk nicht vollenden zu können. Dazu gefährdeten schwere Geldsorgen seine Ruhe. Der Zusammenbruch der Chronique de Paris und die Zahlungsnöte Werdets, für den Balzac Bürgschaft geleistet hatte, bedrohten ihn mit dem Schicksal, das nach der Katastrophe seiner Druckerei zehn Jahre zuvor nur die Opferwilligkeit seiner Familie verhütet hatte: abermals stand er so dicht vor dem Bankrott, daß er sich einen Paß nach Rußland versorgte, um nach Wierzchownia zu flüchten und dort durch neue Schöpfungen seinen Verpflichtungen allmählich gerecht zu werden. Eine Eingebung der Verzweiflung, die rasch verscheucht wurde durch die Rücksicht auf seinen Ruf und das Gebot der Ehre, eine mütterliche Freundin, Madame Delannoy, die ihm 26 000 Franken vorgestreckt hatte, nicht im Stich zu lassen. In zwölfter Stunde gelang es, seine schlimmsten Gläubiger zur Gewährung von Gnadenfristen zu vermögen, durch die Verschreibung der Erträge kommender Arbeiten.

Noch schmerzlicher als diese Anfechtungen wühlte in ihm das Weh um den Verlust seiner treuesten Trösterin, Helferin, Beraterin: nicht allein in den für Eva bestimmten Tagebuchblättern, auch in dem Briefwechsel mit einer geheimnisvollen »Louise« stimmt er immer neue Klagelieder an, um die Unersetzliche, deren Nachfolge als Kritikerin er vergeblich Madame Hanska zudachte. Inständig bittet er Eva, sie möge, wie seinerzeit Madame Berny, jedes Blatt seiner Bücher zensurieren, Mißfälliges mit schärfstem Tadel abweisen, ganze Kompositionen rundweg verwerfen. Ein Verlangen, dem Eva selten genügte und genügen konnte: die liebreiche Geduld und der durchgebildete Geschmack Madame de Bernys waren nicht ihre Sache. Manchen Stoßseufzer kostete ihn auch das Schwinden der Jugend: der Achtunddreißigjährige wird verdrießlich gewahr, wieviel graue und weiße Fäden sich in seinen schwarzen buschigen Haarwald mischen. Und je älter er wird, desto mehr vermißt er ein Haus mit einem Stückchen Land, das sein eigen wäre: gern hätte er die von ihm in der Frühzeit beschriebene »Grenadière« an der Loire gekauft, andere Male im Weichbild von Paris sich angesiedelt – eine Liebhaberei, die ihm noch verhängnisvoll werden sollte.

Einstweilen suchte er seine Verstimmung durch eine Reise zu bannen. Im Vorfrühling des Jahres 1837 verlebt er zwei Monate in Oberitalien. Der überlegene Kenner, Theophile Gautier, auf dessen Begleitung er gehofft hatte, wurde durch die Pflicht, über eine Kunstausstellung zu berichten, in Paris zurückgehalten. So fuhr Balzac allein nach Mailand, wo er als Vertrauensmann des gräflichen Ehepaares Guidoboni-Visconti eine in Turin durch Schikanen verschleppte Verlassenschaftsabhandlung zu gutem Abschluß brachte. Aus der Lombardei ging er nach Venedig, Genua, Florenz, anfangs wenig erfrischt: »überall verfolgt mich der Mangel an Glück und raubt mir den Genuß der schönsten Dinge. Bloß Venedig und die Schweiz sind zwei Schöpfungen, die eine menschlich, die andere göttlich, die mir bisher außer allem Vergleich scheinen und von allem Hergebrachten abweichen. Italien kam mir wie jedes andere Land vor.« Venedig, das er nachmals in der Novelle Massimilla Doni mit seinem Opernwesen und Liebesleben schildern sollte, entzückte ihn: zumal ein kleines Haus mit rein gotischer Fassade tat es ihm an; Tag um Tag ließ er seine Gondel davor halten und die Tränen kamen ihm bei dem Gedanken, in diesem Heim zu zweien, der ganzen Welt entrückt, zu wohnen.

Solcher Abgeschiedenheit hätte sich Balzac freilich an der Wasserstraße des Canal grande nicht lange erfreut, denn wo immer sich der Romancier zeigte, war es um sein Inkognito geschehen. Sainte-Beuve erzählt, daß während eines ganzen Winters Persönlichkeiten der Venezianer Gesellschaft die Namen seiner Hauptgestalten annahmen und auch im Verkehr sich als Herzoginnen von Maufrigneuse, de Langeais, Rastignac usw. aufspielten. Nicht weniger gesucht wurde Balzac in Florenz, wo Eingeborene und Freunde dem Dichter nachspürten, und in Mailand, wo der Bildhauer Puttinati nicht ruhte, bis er ihm eine Sitzung gewährte, San Tommaso ihn zu Menzoni führte und die Aristokratie den berühmten Gast mit Einladungen überschüttete. Beim Abschiedsessen, das ihm die Gräfin Bolognini gab, reichte ihm die Hausfrau ein kleines Album, in dem er seine Adresse einschreiben sollte; statt des Namenszuges improvisierte er eine winzige, absichtlich stümperhaft gehaltene Karikatur seines Bildnisses von Boulanger. »Lieber Balzac,« sagte die Gräfin angesichts dieser Pfuscherei, »begnügen Sie sich damit, Meisterwerke zu schreiben, die Malerei ist nicht Ihr Fall.« »Oh, verehrte Gräfin, ich kann weit Besseres leisten.« »Ich will Sie auf die Probe stellen. Sie haben immer einen großen Fehler gehabt. Sie nehmen Ihre Träume für Wirklichkeit.« »Frau Gräfin,« bemerkte Balzac nachdenklich, »mit diesen zwei Worten haben Sie unbewußt das schmerzenreiche Geheimnis meines ganzen Lebens erschöpft.« Damit nahm er den Bleistift und brachte in einer Viertelstunde eine Zeichnung fertig, die ihn selbst parodistisch darstellt, wie er, in der Mönchskutte aufrechtstehend, mit verschränkten Armen, sardonisch lachend, willens scheint, das Schicksal herauszufordern: zur Rechten ein Haufen aufgetürmter Geldbeutel; zur Linken das stark vergitterte Fenster eines Schuldgefängnisses – in der Tat die Sinnbilder des Gegensatzes von Traum und Wirklichkeit seiner Existenz.

Wie sein Facino Cane, der Abkömmling eines venezianischen Dogen, zeitlebens, zuletzt noch als blinder Pariser Bettelmusikant überall verborgene Goldadern wittert und von vergrabenen Schätzen in den Verließen des Dogenpalastes fabelt, überraschte Balzac Freund und Feind durch die abenteuerlichsten Pläne, sich im Nu maßloser Reichtümer zu bemeistern und die Leute seiner Wahl mit den auserlesensten Gaben zu bedenken. Eines Morgens kommt er zu Latouche, der ihm ein paar Liebesdienste erwiesen hatte: »Sie müssen mir die Freude machen, etwas von mir anzunehmen.« Latouche lehnte vergebens ab. »Sie müssen mein arabisches Pferd annehmen.« »Ein arabisches Pferd? Wo denken Sie hin? Unmöglich! Ich habe ja keinen Stall. Zudem ein Pferd von solchem Wert.« »Es muß sein: sonst würden wir uns entzweien. Wie? Sie wollen von einem Freund nicht dieses Liebeszeichen annehmen? Ich würde Sie nie wieder ansehen, wenn Sie nicht annehmen wollten.« Latouche gab nach, sah aber in der Folge niemals das von Balzac so hitzig angebotene Pferd. »Immerhin muß ich Balzac,« wie er Sainte-Beuve lachend beim Abschluß dieser Geschichte sagte, »dauernd verbunden bleiben: seine Absicht war so gut und ehrlich, sein Drängen so lebhaft, daß ich sehr undankbar wäre, wenn ich mich ihm nicht verpflichtet fühlen würde.«

Nicht minder Putziges erzählte der Humorist Laurent Jan. Um zwei Uhr morgens läutet Balzac Sturm in dessen Wohnung: »Steh auf, wir müssen abreisen.« »Sogleich? und warum? wohin?« »Freue dich! Wir machen uns auf der Stelle auf zum Großmogul.« »Bist du verrückt?« »Beeile dich, Gozlan muß auch mit, er soll seinen Teil an den Schätzen des Großmoguls haben.« Nach Laurent Jans begreiflichen Einreden sagt Balzac: »Besieh diesen Ring!« »Der ist zwei Sous wert.« »Erfahre denn, diesen Ring hat mir der berühmte Geschichtschreiber Herr v. Hammer geschenkt.« »Nun, und?« »Dann hat mir Herr v. Hammer gesagt, eines Tages werden Sie die Bedeutung dieses kleinen Geschenkes erkennen. Ich trug den Ring, ohne an seine Worte weiter zu denken, bis ich mich gestern auf einer Soirée des neapolitanischen Gesandten beim türkischen Botschafter nach den auf dem Ring eingravierten Schriftzeichen erkundigte. Kaum erblickt der Botschafter die Inschrift, als er einen Schrei ausstößt, der die ganze Versammlung in Aufruhr versetzte. »Sie besitzen einen Ring, den der Prophet getragen hat: hier steht der Name des Propheten; vor 100 Jahren wurde der Ring dem Großmogul von Engländern gestohlen und an einen deutschen Fürsten verkauft.« »Ich habe den Ring vom Baron Hammer in Wien erhalten.« »Gehen Sie sofort«, so sagte mir der Botschafter, »zum Großmogul, er hat demjenigen, der ihm den Ring wiederbringt, Tonnen mit Gold und Diamanten verheißen. Komm' also mit: die Goldtonnen erwarten uns.« »Und deshalb hast du mich mitten in der Nacht aufgestört?« »Ist dir mein Angebot nicht hoch genug?« »Ich bleibe bei meiner ersten Schätzung«, sagte Laurent Jan gelassen. »Willst du vier Sous für den Ring des Propheten?« Balzac tobte eine Weile, streckte sich dann aber auf eine Liegerstatt Laurent Jans und schlief bis zum hellen Morgen, Vom Ring des Propheten, den man nur sehr selten wieder auf dem Finger Balzacs sah, sprach er fortan mit vieler Vorsicht.«

Ebenso Verwunderliches meldet ein klassischer Zeuge, einer der zuverlässigsten Anhänger Balzacs, Theophile Gautier. Der Romancier stiftete den Geheimbund des »Cheval rouge«, sogenannt nach der Winkelherberge, in die er aus dem ersten Ort der Versammlung, dem botanischen Garten, ein paar von ihm zusammengeladene Literaten Granier de Cassagnac, Karr, Gautier, Gozlan usw. in ein Wirtshaus zum Roten Pferd führte. Diese von Balzac geworbene Brüderschaft sollte, wie die Dévorants seiner »Histoire des treize«, einander unbedingt beistehen; in der Öffentlichkeit, bei zufälligen Begegnungen mußten die Kameraden vom »Cheval rouge« tun, als ob sie sich nicht kennen würden; in der Presse, bei Wahlgängen, bei Bewerbungen um akademische Würden sollten sie dafür künftighin desto beflissener einer für alle, alle für einen sich einsetzen. Die gemeinsamen Mahlzeiten der Gesellschafter des »Cheval rouge« fanden nicht lange in einem und demselben Gasthof statt: Balzac wollte jedes Gerede, jeden Verrat durch Kellner und Hausleute vermieden wissen. Daß die harm- und zwecklose Spielerei bald ein Ende nahm, war im Getümmel des weltstädtischen Treibens selbstverständlich.

Noch toller war die Beharrlichkeit, mit der Balzac, beraten von Somnambulen, den Schätzen nachjagte, die Toussaint-Louverture angeblich von hintendrein sofort erschossenen Negern hatte vergraben lassen. Mit schwindelerregender Suada betörte Balzac Theophile Gautier und Sandeau, als seine Helfershelfer mit Schaufeln und Spitzhacken an der von ihm bezeichneten Fundstelle sich bereit zu halten; die Beute sollte zur Hälfte Balzac, zu je einem Viertel Gautier und Sandeau zufallen, der Schatz selbst auf eine zum Voraus gemietete Brigg gebracht werden: »kurzum, das Ganze war ein Roman, der bewunderungswürdig ausgefallen wäre, wenn ihn Balzac geschrieben hätte, statt ihn zu bereden. Es ist unnötig zu sagen, daß wir den Schatz Toussaint-Louvertures nicht entdeckten; es fehlte uns das Geld zur Überfahrt; wir hatten alle drei zusammen kaum genug, um die Hacken zu kaufen.«

Dutzende von ähnlichen Einfällen verblüfften gläubige und belustigten ironische Hörer Balzacs: als er einmal Henri Monnier eines seiner neuen Projekte vortrug, das ihm Millionen tragen würde – es war vielleicht die in seinem Garten geplante Ananaszucht, deren Früchte er in einer Bude des Boulevard Montmartre feilhalten wollte – streckte ihm Monnier die hohle Hand hin mit der Aufforderung: »Gib mir darauf einen Vorschuß von fünf Franken.« Der gesunde Mutterwitz dieser derben Lektion wirkte für den Augenblick: Balzac verstummte. Nach wie vor spielte er gleichwohl weiter mit Spekulationen und Neuerungen: Baugründe und Eisenbahnaktien will er in seine Berechnungen ziehen; eine Gesamtausgabe seiner Schriften möchte er, um Subskribenten zu locken, mit Leibrentenverträgen für die Abnehmer kombinieren; Staatsaufträge, die sein tüchtiger Schwager, der Ingenieur Surville, für Brückenbauten erhält, wünscht er im Bund mit Kapitalisten kaufmännisch auszubeuten; sein Freund Rossini könnte ihm vielleicht die Wege weisen zum Finanzgewaltigen Aguado; wie Parmentier mit dem Erdäpfelbrot hat er ein geistiges Nährmittel für alle Welt, ein Elementarbuch, im Sinn, das Millionen einbringen würde. Es steckt Methode in dieser Monomanie, deren letzte Ursachen am besten Balzac selbst aufdecken mag:

»1828 wurde ich in diese armselige Rue Cassini verschlagen, ohne daß mir meine Familie Brot geben wollte; man zwang mich zu einer Liquidation, infolge deren ich 100 000 Franken schuldete, ohne einen Sou zu haben. Ich brauche somit 6000 Franken zur Zinszahlung, 3000 Franken zum Lebensunterhalt; im ganzen 9000 Franken jährlich. Nun hab' ich 1828, 1829, 1830 nicht mehr als 3000 Franken verdient, weil Latouche die Chouans nur mit 1000 Franken bezahlt, der Verleger Mame falliert und nur 750 statt 1500 Franken für die ›Scènes de la vie privée‹ gegeben, die ›Physiologie du mariage‹ durch den bösen Willen des Verlegers nur 1000 Franken getragen und Girardin in der ›Mode‹ den Bogen nur mit 50 Franken bezahlt hat. So wurde meine Schuld in drei Jahren um 24 000 Franken vermehrt. 1830 bringt allgemeines Unheil im Buchhandel. Für die ›Peau de chagrin‹ bekomm' ich 700 Franken, später, nach Hinzufügung der ›Contes philosophiques‹, 3000 Franken. Dann nimmt mir die Revue de Paris jährlich zehn Bogen zu 160 Franken, im ganzen 1600 Franken. Somit bringen mir 1830 und 1831 zusammen nicht 10 000 Franken und ich hatte 18 000 Franken mit Inbegriff der Zinsen und meines Unterhaltes zu bezahlen. Meine Schuld steigt um 8000 Franken. Das Kapital der Schuld beläuft sich somit auf 132 000 Franken. 1833 schließe ich mit Madame Béchet einen Vertrag, demzufolge ich auf Gleich kommen konnte mit meiner Schuld und Lebensführung, da ich von 1833-1836 jährlich 10 000 Franken bezog: ich schuldete an Zinsen 6200 Franken und setzte voraus, daß ich mit 4ooo Franken leben konnte. Allein im Augenblick des Erfolges kamen neue Unfälle. Ein Mann, der nur seine Feder hat und für 10 000 Franken Jahreseinkommen sorgen soll, ist, wenn er sie nicht hat, zu vielen Opfern verpflichtet. Ich schuldete nicht 132 000, sondern 140 000 Franken. Denn wie hab' ich die mich drängende Not bekämpft? Mit einem Adjutanten (Werdet), der dem Geier des Prometheus zu vergleichen ist, mit Wucherern, die mir 9, 10, 12, 20 Prozent Interessen abnehmen und 50 Prozent meiner Laufereien und Verhandlungen kosteten. Zudem hatte ich Verträge mit Buchhändlern unterschrieben, die mir Geld auf kommende Werke vorgestreckt hatten und ich mußte, als ich den Vertrag Béchet abgeschlossen hatte, von 30 000 Franken, die mir die zwölf ersten Bände der ›Etudes des mœurs‹ eintragen sollten, 10 000 Franken hergeben, um Gosselin und zwei andere Verleger, Mame usw., zu entschädigen. Es waren also nicht 30 000, sondern nur mehr 20 000 Franken und diese 20 000 verminderten sich auf 10 000 durch den Verlust, den ich heute an den Exemplaren erleide, die mir diesen Geldbetrag repräsentierten: ein Brand in der Rue du Pot-de-Fer hat die Bände verzehrt, die mir Gosselin zurückverkauft hat. Demgemäß ist meine Lage 1837 die, daß ich 162 000 Franken Schulden habe, denn alles, was ich verdient habe, hat nie meine Ausgaben gedeckt und die Luxusausgaben, die Sie, Madame Hanska, mir manchmal vorwerfen, sind durch zwei Notwendigkeiten bedingt. 1. Wenn ein Mensch arbeitet, wie ich das tue und seine Zeit 20-30 Franken für die Stunde wert ist, braucht er einen Wagen, denn der Wagen ist ein Ersparnis. Dann braucht er Licht in der Nacht, Kaffee zu jeder Zeit, viel Heizung, und all das führt zu einer kostspieligen Lebenshaltung in Paris. 2. Diejenigen, die in Paris mit Literatur spekulieren, haben keinen anderen Gedanken, als sie zu brandschatzen; wenn ich in einer Dachkammer geblieben wäre, hätt' ich nichts verdient. Das richtet alle Schriftsteller in Paris, Karr, Gozlan usw., zugrunde. Sie sind bedürftig. Das weiß man. Man kauft ihnen um 500 Franken ab, was 3000 wert ist. Ich hab' es darum für ein ausgezeichnetes Geschäft gehalten, alle Äußerlichkeiten günstiger Vermögensverhältnisse zur Schau zu tragen, um meinen Preis stellen zu können. Wenn Sie einen Mann nicht bewundern, der die Last einer solchen Schuld trägt, mit der einen Hand schreibt, mit der andern sich schlägt, nie eine Gemeinheit begeht, sich weder dem Wucherer, noch dem Journalismus beugt, niemanden um Beistand angeht, weder seinen Gläubiger, noch seinen Freund, der niemals gewankt hat in dem argwöhnischsten, egoistischsten, geizigsten Land, in dem man nur den Reichen Darlehen gewährt, den die Verleumdung verfolgt hat und noch verfolgt, dem man nachgesagt hat, er sitze im Schuldgefängnis, während er bei Ihnen in Wien war, dann wissen Sie nichts von dieser Welt. Die ›Chronique de Paris‹ wurde unternommen, um mit einem kühnen Wurf diese Schuld zu bezahlen. Statt zu gewinnen, hab' ich verloren. Ein schrecklicher Schlag.«

Demselben triftigen Grund, durch einen Geniestreich aller Verlegenheiten ledig zu werden, entstammen die meisten Wagestücke Balzac, die nicht durchweg absurd waren: die Druckerei und Schriftgießerei, die unter seiner Leitung zugrunde ging, wurde ein blühendes Geschäft unter seinem Nachfolger; seine Klassikerausgaben in einem Bande warfen späterhin Gewinn ab; die von ihm gegründeten Zeitschriften schlugen nur fehl, weil er nicht die nötigen Betriebskapitalien hatte. Daß er richtige Gedanken falsch ausführte, als vielgerühmter Menschenkenner sich so oft täuschen ließ, rechtfertigt er seiner Beichtmutter gegenüber sehr sinnreich: als Napoleon in Eßlingen war, konnte er nicht in Spanien sein. Ein Whistspieler erster Güte, der nach der fünften Karte weiß, wo alle anderen sind, wird solche Wissenschaft willig beiseite lassen, um zu sehen, wie der Zufall die Partie ausgehen läßt. Gott wußte zum voraus, daß Eva der Versuchung unterliegen würde und ließ das doch geschehen. Wer in den Geschäften oder in der Gesellschaft nicht betrogen werden will, muß eins ganz sein, Finanzmann oder Weltmann. Gewiß, ich sehe genau, daß man mich betrügt oder betrügen will, daß der und jener mich verrät oder verraten wird, in dem Augenblick, wo ich das fühle oder ahne, muß ich mich anderwärts schlagen. Ich merke das just, wenn ich durch eine Arbeit in Anspruch genommen bin, die verloren wäre, wenn ich sie nicht vollenden würde. Ich bringe häufig eine Hütte unter Dach beim Feuerschein eines meiner Häuser, das in Flammen steht.«

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Daguerreotyp 1842

So bedacht das gesagt war, gehandelt hat Balzac früher und später weit weniger bedacht. Wie ihm die Fähigkeit angeboren war, jede Behausung, die er sah, Paläste, Werkstätten, Kirchen, Kneipen bis ins kleinste zu ergründen und zu schildern, hatte er auf seinen Lebensweg den Trieb mitbekommen, seine Quartiere nach eigenem Geschmack wohnlich auszustatten. Schon als zwanzigjähriger Musensohn verzichtete er auf ein paar Mahlzeiten, um sich einen Wandschirm für seine Mansarde zu verschaffen. Sein Kontor als Buchdrucker bespannte er mit blauem Perkal. Für seine Zimmer in der Rue Cassini kaufte er zum Ärger der Mutter für 1500 Franken Teppiche. Von der George Sand haben wir früher gehört, daß er eher Kaffee und Suppe entbehren mochte als chinesisches Porzellan und Silber. Seine Liebe für schöne Bilder, alte Bücher, gediegenen Hausrat wurde mit den Jahren eine wahre Sammlerleidenschaft, und da er nicht frei war von Großmannssucht, ging sein Aufwand stets über seine Mittel. Sein Wahn, Gläubigern und Verlegern durch Prunk zu imponieren, verflog bald. Seine Geldnot war nicht bloß im Leihhaus offenes Geheimnis. Wechselklagen und Wucherer setzten ihm so hart zu, daß er aus dem kokett ausstaffierten Pavillon in der Rue Cassini in das damals noch ziemlich ländliche Chaillot flüchten und unter einem Decknamen sich versteckt halten mußte. Trotz dieser Bedrängnis gab er für die streng nach seinen Angaben erfolgte aparte Einrichtung nach Werdets Schätzung 10 bis 12 000 Franken aus: im Mittelpunkt der Zimmerreihe war das Prachtgemach, das in der Novelle »Das Mädchen mit den Goldaugen« seitenlang genau beschrieben wird: ein Gold und Marmor strotzender Kamin; echt türkische Diwans; die Wände mit indischen Seidengeweben überzogen; Kaschmirdecken; »niemals hatte sich Reichtum gefälliger verborgen, um Wollust zu erregen«. Die Tapeten glichen orientalischen Schals, Blumen aller Spielarten, exotische Wohlgerüche, raffiniert ersonnene Farbenspiele der roten, weißen, goldenen Verzierungen, massige Kronleuchter – ein Märchenbild aus Tausendundeiner Nacht hat Balzac Wirklichkeit werden lassen.

Dauernder Aufenthalt war dem Dichter in dieser Herrlichkeit nicht beschieden. Er vertrug es nicht, daß er als Einwohner von Paris zum Dienst als Nationalgardist gepreßt wurde und wegen beharrlichen Fernbleibens mit mehrtägigem Arrest im schmutzigen »Hôtel des Haricots« bestraft wurde. Solchen Quälereien wollte er ein für allemal ein Ende machen. Er wanderte in einen Vorort aus, nach Ville d'Avray, wo er sich auf einem abschüssigen Lehmgrund eine Art Vogelhäuschen bauen ließ, das er selbst der spaßhaften Theaterdekoration einer Spieloper verglich. Anfangs hatte er seiner Villa Les Jardies mit dem baumlosen Gärtchen in die Millionen gehenden Wertzuwachs prophezeit. Jahrzehnte später haben sich auch wirklich viele Städter, u. a. Gambetta, ungefähr auf demselben Erdenfleck niedergelassen. Ende der dreißiger Jahre war die Gegend aber noch recht vereinsamt und Balzacs Papageienkäfig dermaßen eng und unpraktisch, daß im Innern kein Platz für die Stiege war, die in der Tat außerhalb wie eine Leiter, angebracht wurde.

Immerhin hätte der Dichter, wenn die Gelder gereicht hätten, auch hier Besonderes vorgehabt: durch Jahre und Jahre konnte man auf dem Stuck der Wände von Balzac mit Kohle hingekritzelte Anweisungen sehen wie die folgenden: Hier eine Verkleidung aus parischem Marmor. Hier Stylobate aus Zedernholz. Hier ein Deckengemälde von Delacroix. Hier Tapisserien von Aubusson. Hier ein Kamin aus Cipolinmarmor. Hier ein Fußboden aus überseeischem Holz. Ankündigungen, die Gozlan durch die von Balzac mit hellem Lachen aufgenommene Inschrift ergänzte – und hier ein unschätzbares Bild von Raffael, dessengleichen man nie gesehen. Sonst bescherte der Besitz Balzac wenig Anlaß zur Heiterkeit. Les Jardies wurden, wie Voltaire von Versailles gesagt hat, ein Abgrund von Auslagen. Das Haus stand auf einem Rutschterrain. Maurer und Architekten kosteten immer mehr und halfen immer weniger. Zum Schaden, den unaufhörliche Reparaturen erforderten, kam ausgiebiger Spott, als Balzac eine andere Wohnung in der Rue Basse von Passy mietete und Les Jardies mit argen Einbußen los werden wollte.

Nichts begreiflicher, als daß Witzbolde nach solchen Stücklein Balzac als Possenfigur, wo nicht gar als Halbnarren lächerlich machten. Ihr billiger Spott übersah den tiefen Ernst seines künstlerischen Schaffens, von dem ihn nur ausnahmsweise die Sucht zu verblüffen ablenkte. Als es hieß, Buloz zum Trotz, »Seraphita« rasch auf den Markt werfen, wies er Werdet an, ihm für das Schlußkapitel, das er mit fliegender Feder improvisieren wollte, sämtliche Setzer um 11 Uhr nachts bereitzuhalten und ihm selbst ein Feldbett in der Druckerei aufzustellen, damit er in einem Zuge Blatt um Blatt den Setzern reichen und die Korrekturen an Ort und Stelle sogleich erledigen könnte. Das Husarenstück glückte. Die zwei Druckbogen füllende »Himmelfahrt« wurde in einer Nacht geschrieben, gesetzt, revidiert und imprimiert. So hastig gab Balzac seine Druckproben sonst nicht frei. In der Handschriftenabteilung der Pariser Nationalbibliothek sah ich die Korrekturen der »Femme supérieure«, die Balzac dem genialen Schöpfer seiner Kolossalbüste auf dessen Wunsch gestiftet hatte; im dritten Band steht die eigenhändige Widmung: »Seinem Freunde David d'Angers de Balzac. Nicht nur die Bildhauer pflügen ihr Feld im Schweiß ihres Angesichtes (il n'y a pas que les statuaires qui piochent).« Die Bogen bewähren das Wort Napoleons »Genie ist eiserner Fleiß«. Nimmermüde ändert Balzac in der Handschrift und in den Korrekturen: er schreibt dem ersten Korrektor bis ins kleinste gehende Winke; nach der sechsten Korrektur verlangt er noch eine weitere Revision und legt den Setzern und Faktoren in förmlichen Ansprachen ihre gemeinsame Pflicht ans Herz.

In diesem Kreis, in seinem eigentlichen Beruf nötigt er jedem Unbefangenen gebührenden Respekt ab, So theatralisch er sich in der Öffentlichkeit mitunter zeigt, in der Stille seiner Mönchszelle, am Schreibtisch ist er die Anspruchslosigkeit selbst. Seine Gewandung ist freilich nicht alltäglich. War es alte Verehrung für Rabelais oder von irgendeinem unbekannten mönchischen Ahnen überkommene Gewohnheit – statt eines Hauskleides trug er eine weiße Dominikanerkutte; an einer goldenen Venezianerkette war ein goldenes Falzbein und eine Schere befestigt; die Füße staken in goldgestickten Pantoffeln aus rotem Maroquin. Seine Arbeitsstunden waren größtenteils in die Nachtzeit verlegt; doch ist in diesem Belang manches legendarisch; George Sand erzählt, daß Balzac wie jeder andere Autor fleißig auch unter Tags geschrieben und im Paletot mit wirr umschlungenem Halstuch morgens in die Druckerei geeilt sei. So hat »Balzac bifrons« ein doppeltes Gesicht: der »Figaro de génie«, wie Lamartine ihn genannt hat, der auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten die Menge beschäftigt und belustigt, und der gewaltige, sachlich und formell sich niemals genugtuende Künstler, der oft ein halbes Dutzend Entwürfe zugleich bewältigt, die Schmiede Vulkans ganz modern mit ein paar Dampfhämmern betreibt, immer nach neuen Plänen aussieht und keine alten aufgibt.

So griff er, von der italienischen Reise gestärkt heimgekehrt, außer auf die Romane und Erzählungen, die Zeitungen und Buchhändler dringend erwarteten, auf den Lieblingsgedanken zurück, als Dramatiker sich durchzusetzen, und er fand überdies Kraft und Muße, die » Contes drolatiques« um ein drittes Zehnt zu vermehren. Es genügte Balzac nicht, als Erzähler ein Neuerer zu sein, er beschritt als Erneuerer die Wege, auf denen romanischer Volkshumor um die Wette mit Beichtspiegeln und Bußpredigten witzig und spitzig Sitten und Unsitten von hoch und niedrig verfolgt hatte. Angeblich in Tourainer Abteien gesammelt, erwuchsen diese »Schwänkigen Geschichten« aus lebendiger Anschauung der Schlösser, Klöster und Märkte der heimatlichen Touraine und aus gründlichem Studium des über alles verehrten Rabelais; die Cent nouvelles nouvelles, Verville, Brantôme und viele andere gedruckte und mündlich umlaufende Schnurren waren ihm altvertraut. Wie Boccaccio und die Erzähler der Fabliaux nimmt er kein Blatt, am allerwenigsten ein Feigenblatt zur Deckung vor. Naturalia werden mit einem Zynismus behandelt, der Diderots »Bijoux indiscrets« überbietet. Allerdings beschränkt er den Leserkreis von vornherein nur auf »Pantagruelisten« und wird betreten als er hört, daß Eva Hanska die Geschichten liest. Doch rühmt er das Opus als sein dauerhaftestes, Taine vergleicht die »originelle bewundernswerte Prosa«, die den Ton der alten Meister und Muster anschlägt, mit dem Inkarnat der Gemälde von Jordaens. Barbey d'Aurevilly und Zola preisen die Contes drolatiques als Krone seiner Schöpfungen.

Den Reigen des ersten Zehnt führt die schöne Imperia, die berühmteste Buhlerin des boshaft verspotteten Konstanzer Konzils: Imperia redet nicht allzu respektvoll vom Papst und trumpft Bischöfe und Kardinäle trotz ihrer verschwenderischen Liebesgaben ab, um einem hübschen jungen Kleriker in heißer Aufwallung zu Willen zu sein. »Mutter Natur« wird »weiblich in allen Sprachen« als Ausbund aller Schamlosigkeit und List hingestellt. Die Mönche, Pfarrer, Beichtväter sind, wie in den Schwänken des Mittelalters und der Rebellenliteratur der Reformationszeit, fast durchweg Ehebrecher, Schürzenjäger, Prasser, Säufer. Der Seelsorger von Azay-le-Rideau lebt offen mit seiner Wirtschafterin als mit seinem Weibe und ist daneben buchstäblich der Vater seiner Gemeinde. Eine schlaue, auf ihrem Lotterbett mit ihrem geistlichen Galan erwischte Ehebrecherin fällt dem mit vergifteten Dolch anstürmenden Gatten in den Rächerarm mit der schlagfertigen, den Tropf entwaffnenden Mahnung: »Schone den Vater deiner Kinder!« Ihresgleichen brüstet sich damit, daß die Sprößlinge des »Cocuage« die schönsten, begabtesten, wohlgebildetsten sind.

Übrigens sind keineswegs alle Geschichten »drolatiques«: Komik wird mehr als einmal von Tragik abgelöst. Betrogene Gatten üben blutige Vergeltung. Süße Liebessünden werden durch Klostergelübde oder auf Kreuzzügen gebüßt. Der aus dem gelobten Land nach fünfzehn Jahren heimkehrende Pilger weint heiße Tränen, als er der Frucht seines »péché véniel«, eines holden Knaben, ansichtig wird, die Mutter aber stößt, als sie von diesem Ausbruch der Zärtlichkeit eines fremden Wallfahrers hört, den letzten Seufzer aus mit dem Bekenntnis: Es ist der Vater!

Im zweiten (1832 veröffentlichten) Zehnt gibt Balzac Nörglern an seiner Sprache zu bedenken, daß er sich diese »langue babelifique« erst selbst im Stil der Zeit Katharinas von Medici zurecht machen mußte, und die Tadler seiner Ausgelassenheiten fertigt er mit dem Hinweis auf seine erlauchtesten Vorläufer und Vorbilder, als die er Rabelais und Ariost nennt, ab. Er hätte sich getrost auf noch größere Führer der Weltdichtung, Aristophanes, Shakespeare und Goethe (dessen Entwürfe zur Walpurgisnacht heut in Volksausgaben Gymnasiasten und höheren Töchtern in die Hand kommen), berufen können. Das Maß und die Manier, in der ein Künstler die menschlichsten Dinge – das stereotype »ce que vous savez« gallischer Schwänke – behandelt, wird freilich nach den Naturen und wohl auch nach dem Volkscharakter verschieden sein, und man ist darum kein Philister oder Pharisäer, wenn man ihm keinen Freibrief für jedes Wagnis ausstellt. Mancher Unbefangene wird das grunzende Behagen nicht begreifen, mit dem Balzac allerhand übelriechende Verdauungsspäße zum besten gibt und sich angewidert abwenden von den zotigen Eindeutigkeiten, mit denen die Flohhatz geiler Nonnen begleitet wird. Er kann ebensowenig die Selbstverständlichkeit billigen, mit der Balzac das Los von Glücksrittern preist, die durch schmählichen Minnedienst – ein Abenteurer gibt sich zum Bettschatz einer ältlichen Tochter Ludwig XI. her; ein spanischer Großer überläßt dem in Madrid gefangenen Franz I. zur Probe seine eigene Frau – Lehen und Schlösser gewinnen und dadurch Stammväter begüterter Geschlechter werden. Grotesken, die zusehends Historien, Fresken, Zeit- und Sittenbildern großen Stils Platz machen, die über den Geist der Jahrhunderte von den Kreuzzügen bis zu den Tagen der Valois und der Guisen besseren Aufschluß geben als manche Geschichtschreiber und stofflich wie künstlerisch dem Bedeutendsten in Balzacs Lebenswerk ebenbürtig sind.

»Succubus«, ein Hexenprozeß, ist in die Form von Zeugenprotokollen vor einem geistlichen Gericht des Jahres 1271 gekleidet. Ein afrikanisches Naturkind, bildschön, heißblütig, unschuldig, gewinnt die Herzen aller Ritter, die sie mit Gold und Kostbarkeiten überhäufen; neidische Weiber, habgierige Kleriker verdächtigen sie der Zauberei; sie wird gefoltert; zur Kirchenbuße und zum Scheiterhaufen verdammt, reißt sich das arme Geschöpf trotz seiner halbzerbrochenen Glieder vom Pfahl los und schwingt sich mit von Kind auf geübter Gelenkigkeit die Galerien und dem Gesims des Kirchenschiffes entlang, bis ein Bogenschütze die Fliehende in das Fußgelenk trifft. Mit ihr selbst wurde von einem Ränkeschmied der greise Pönitentiar verleumdet, als ob auch er ihrer dämonischen Verführung erlegen wäre. Die Zeugenaussagen führen mit höchster Lebenstreue Bürger, Mägde, Handlanger, Äbtissinnen und den Kreis der durch den Naturzauber Zulmas beseligten Anbeter vor Augen: ein figurenreiches Kulturgemälde, das durch das Phantasiestück der dem uralten Priester unterschobenen Visionen umwittert wird, von sinnbetörenden Trugbildern des Aberglaubens. Auf dem Hexenritt durch die Lüfte soll er geschaut haben, wie Erde und Sonne sich paaren, Pflanzen, Tiere, Welten, Planeten durcheinander wirbeln und, überwältigt durch das Gefühl der eigenen Nichtigkeit, angesichts dieses ungeheuren Universums, auf Anstiften des Succubus sein Christentum abgeschworen haben.

Einzig wie dieses Nachtbild ist die Idylle »Perséverance d'amour«. Ein Bürger von Paris, seines Zeichens ein Goldschmied, verliebt sich in die Hörige des Klosters, die er zufällig auf der Wiese sieht, wie sie ihre Kuh grasen läßt; seine Liebe zu dem unschuldigen Kind, das die Kirche um keinen Preis frei gibt, ist so übermächtig, daß er auf all seine Habe zugunsten der Klosters verzichtet und selbst Leibeigener wird; erst nachdem ein paar Monate die Rechte der Kirche derart streng gewahrt blieben, gibt der Abt dem Paar die Freiheit: die Kanoniker murren wegen dieser Großmut des dreiundneunzigjährigen Priesters, der Goldschmied rechtfertigt indessen sich und seinen Wohltäter, indem er der Kirche von St-Germain in herrlicher Fassung seine Gold- und Silberschätze als Reliquienschrein stiftet.

Ein Triumph des Historikers und Moralisten ist »die Predigt des Pfarrers von Meudon«: Rabelais wird kurz vor seinem Ende bei Hof geneckt, weil er nicht auf der Kanzel seines Kirchspiels zu sehen und zu hören sei. Vor dem König, der mit seiner Gattin und Mätresse, mit den Guisen und Montmorencys, Kardinälen und Würdenträgern zugegen ist, improvisiert nun Rabelais eine Gleichnisrede, die mit gefährlichem Freimut die Räubereien und Mißbräuche der Eingeborenen und der Italiener, die Habgier der Favoritin und ihres Anhangs, die Frevel des Klerus und der Justiz offenkundig macht und warnend, wenn nicht Einhalt geschähe, durch Gargantuas Mund dem königlichen Geschlecht ein Ende durch Kopfabschneiden ankündigt. Eine Huldigung für den »philosophischen Homerus«, in dessen Antlitz Balzac die Züge von Sokrates und Aristophanes vereinigt sehen wollte.

Tieftraurigen Ausgang nehmen zwei Frauenschicksale: »Die reuige Bertha« wird schuldlos Ehebrecherin. Lange Jahre lebte die junge hochgeborene Dame als Gemahlin eines alten rauhen Kriegsmannes tadellos: ein schwärmerisch für sie erglühter Jüngling wird durch eine tückische Freundin in Frauenkleidern ihr Haus- und Bettgenosse; zur Buße wird der Sünder Mönch, der nur einmal im Jahr seinen Knaben sehen darf; der Gatte Berthas, der nach geraumer Zeit von dem Verrat erfährt, läßt seinen Nebenbuhler vergiften. Bertha verläßt das Schloß des Mörders, dem sie alles, was sie von ihm besaß, zurückläßt: der Sohn, den sie mit ihrem Liebsten hatte, fällt als Retter von Berthas Gatten, der in verzweifeltem Kampfgewühl sonst verloren wäre. Die schuldlos schuldig gewordene Bertha hört sein Abschiedswort: »Wir sind quitt mit ihm« und folgt dem Kind ihrer Liebe in den Tod.

Die letzte Geschichte führt zur ersten zurück: die schöne Imperia verliebt sich in reifen Jahren sterblich in einen jungen, französischen Edelmann, der ihretwillen seine Verlobte, eine Montmorency, verläßt. Imperia wird seine Gemahlin und durch ihren Reichtum Herrschaftsbesitzerin in Frankreich. Alles Glück der Ehe und gesellschaftlichen Größe wird aber dadurch zunichte, daß sie nicht mehr fähig ist, nochmals zu gebären und seinem Stamm Nachkommen zu schenken. In ihrer Verzweiflung will sie darum den über alles Geliebten seiner früheren Braut zurückgeben: sie vergiftet sich, damit sein Geschlecht nicht aussterben soll. Jede dieser grundverschiedenen Geschichten ist auf ureigene Art vorgetragen, und wenn Balzac in einem seiner Prologe bemerkt, die Natur karge dermaßen mit Erzählern, daß in dem uferlosen Meer menschlicher Schriften ihre Zahl sich auf nicht mehr als sieben belaufe, eine Ziffer, die sicherlich zu niedrig gegriffen ist, ihn selbst kann man aus der Reihe der geborenen Meister dieser Kunst nicht wegdenken.

Diesen mächtigen pathetischen Kompositionen der »Drolatiques« kommen die Humoresken des zweiten und dritten Zehnts m. E. an Bedeutung nicht gleich. Eine vielerfahrene Wäscherin klagt einer Magistratsperson, sie sei vergewaltigt worden. Da der Missetäter ein hoher Herr ist, bürdet ihr der Magistrat die Beweislast auf; sie soll durch das Öhr einer vom Magistrat hin und her gefuchtelten Aktenahle einen Faden bringen. Das gewitzte Weibsbild löst durch Ermüdung des Magistrates die Aufgabe. Wie viel klüger entscheidet als Statthalter von Barataria Sancho Pansa! Der spricht einer Klägerin im gleichen Falle sofort einen Beutel mit Geld zu; dann befiehlt er dem verblüfften Burschen, der Dirne nachzusetzen und den Beutel abzujagen; das Luderchen setzt sich so beharrlich zur Wehr, daß sie den Beutel behält. Daraufhin gebietet ihr Sancho, den Beutel auf der Stelle zurückzugeben; hätte sie ihren Leib so zäh verteidigt wie ihr Geld, so wär' ihr nichts geschehen; er verbannt bei Strafe der Auspeitschung die Lügnerin für immer von seiner Insel. Besser ergeht es in den »Drolatiques« einem dreiundachtzigjährigen Landstreicher, der, zeitlebens hart gewöhnt, nur Einen Trieb nicht bezwingen kann, und da er ein in der Sommerglut auf freiem Feld schlafendes Bauernmädchen genotzüchtigt hat, am Galgen büßen soll, sofern er vor dem Hochgericht nicht gleiche Proben vor einem willigen Weibe bestehen könnte. Der Alte erfüllt die Forderung, heiratet das Bauernmädel und setzt noch ein paar Kinder in die Welt. Auch sonst drehen sich die »Drolatiques« vielfach um den Punkt, aus dem weibliches Weh und Ach so tausendfach zu kurieren ist. Ein französischer Habenichts kommt abgerissen nach Sizilien: durch einen Kameraden ausstaffiert und bei Hof eingeführt, ist er vermessen genug, der von ihrem Gemahl vernachlässigten heißblütigen, aus Spanien stammenden Königin seine Wundergaben anzupreisen; er wird der Geliebte der Herrscherin und damit Herr des Landes. Mit den gleichen Mitteln wird der schmutzige, ziegenfüßige »Mönch Amador« Friedensstifter zwischen seinem Kloster und einem bösartigen, gottlosen Gewalthaber; der Mönch geht unverzagt in das Schloß des Wüterichs, wo er mit Hieben vom Herrn, mit allem erdenklichen Tort vom Gesinde mißhandelt wird. Seiner Sache sicher, macht er in einer Nacht von der Schloßfrau und der dem Herrn als Kebsin dienenden Zofe sämtliche Weiber des Hauses seinen Willen gefügig. Der Wüterich muß froh sein, von seiner Gemahlin pardonniert zu werden: Amador verläßt das Schloß als Hätschelhans aller Inwohner und wird zum Dank für seine Taten zum Abt des Klosters gewählt. Die zahllosen Abwandlungen des einen Themas, daß Fortuna weiblichen Geschlechtes, werden dem Geduldigsten zuletzt so ermüdend, daß Kindereinfalt doppelt tröstlich wirkt. Katharina von Medici berichtet in einem Brief nach Florenz die von Balzac wiederholte Anekdote, daß sie dem hinsiechenden König Franz ein Bild von Tizian geschenkt habe: Adam und Eva im Paradies; da seine Enkel vor dem Gemälde stehen, fragt der drei Käse hohe Prinz, wer von den beiden der Adam sei? Die altkluge Prinzeß Margot erwidert: um das zu unterscheiden, müßten Adam und Eva erst Kleider anhaben. Den ersten 30 sollten noch weitere 70 »drôlatiques« folgen, in denen Balzac mit den Erzählern des 17. und 18. Jahrhunderts wetteifern wollte. In dieser Absicht hat er im Stil Perraults das Märchen »Die Spinnerin« geschrieben, das er dem Sohn der Castries, dem Enkel Metternichs, Roger, nachmals Baron Aldenburg, schenkte: Lust und Kraft, Geschichten im Geist von Voltaires Zadig, Babouc, die Prinzessin von Babylon, Candide, von Diderots Goethe ans Herz gewachsenen Erzählungen, von Abbé Prévost, Dorat und Crébillon fils selbständig nach- und umzuformen, ein Hundert geplanter »Contes drolatiques« fertigzubringen, hätte er bis an das Ende seiner Tage aufgebracht – der Tod hat, wie so viel andere seiner Entwürfe, auch dieses Vorhaben vereitelt.

Unrast trieb Balzac zu Beginn des Jahres 1838 wiederum auf die Wanderschaft. Er kehrte zunächst in Frapesle bei Carrauds ein und besuchte von dort aus George Sand auf ihrem Anwesen in Nohant: der Brief, in dem er Eva ein Bild der äußeren Erscheinung, der Lebensweise und der Gedankenwelt der Dichterin, ihrer Enttäuschungen mit Musset und Sandeau gibt, gipfelt in dem Endurteil: »Sie ist ein Junge, ein Künstler, sie ist groß, hochherzig, treuergeben, keusch, sie hat die großen Züge des Mannes, ergo ist sie keine Frau.«

Das Ziel seines Ausflugs war indessen weder Frapesle noch Nohant. In Genua hatte ihm das Jahr zuvor jemand gesagt, daß in Sardinien Schlacken der von den Römern betriebenen Bergwerke in Massen umherlägen, aus denen vielleicht Silber zu erbeuten sei. Diese Möglichkeit läßt Balzac nicht ruhen. Er berät sich mit Fachmännern, wie dem Gatten Zulma Carrauds und macht sich auf den Weg. Er hält ein paar Tage in Korsika, wo er napoleonischen Familienerinnerungen nachgeht und Land und Leute unbefangen kritisiert; von dort fährt er nach Sardinien, das er zu Roß in seiner halbbarbarischen Wildnis kennenlernt. Seine Eindrücke sind uns in voller Frische und Wahrhaftigkeit aufbehalten in Prachtbriefen an Eva. Sachlich war das Ergebnis seiner Entdeckungsreise null: findige italienische Kaufleute waren ihm zuvorgekommen, wie er glaubte, weil er vorzeitig von seinen Projekten geplaudert hatte, wahrscheinlich, weil sie lang vor ihm das Wenige, was dort zu holen war, sich bei der maßgebenden Amtsstelle gesichert hatten.

Einen anderen Fehlschlag brachte das Jahr 1839, in dem ein Notar in Belley, Peytel, von den Geschworenen wegen Ermordung seiner Frau und seines Lakaien schuldig gesprochen und vom Gericht zur Enthauptung verurteilt worden war. Balzac kannte Peytel, der einen Anteil am »Voleur« gehabt und dort Theaterkritiken geschrieben hatte, seit Beginn der dreißiger Jahre. Von hitziger Gemütsart, hatte Peytel als Journalist manche Händel: so war der Käufer seines Anteils am Voleur auf dem Boulevard von ihm insultiert worden. Er war später aus Paris in seine Heimat zurückgekehrt und in Notariatskanzleien eingetreten. Als er Notar in Macon werden wollte, versagte ihm die Kammer die Aufnahme, da er ihr in Geldsachen nicht zuverlässig erschien, so daß er erst in einem anderen Sprengel sein Ziel erreichen konnte. In Belley, seinem neuen Amtssitz, bewarb er sich um eine schielende Kreolin Felicie aus einer nicht unbemittelten Familie. Das Mädchen, das eine Liebschaft mit dem Bedienten Rey gehabt zu haben scheint, sträubte sich, Peytel zu heiraten, der seinen Wunsch doch durchsetzte. Im Ehekontrakt war Gütergemeinschaft ausgesprochen. Peytel hatte durch seine Eltern, begüterte Grundbesitzer, selbst Erbhoffnungen. Die Ehe war nicht glücklich. Felicie hielt Peytel fern und erreichte es, daß Rey in den Dienst des Hauses Peytel trat. Sie wurde guter Hoffnung. Eines Nachts wurden auf der Heimfahrt des Ehepaares aus einer benachbarten Ortschaft Rey und Felicie getötet. Peytel bekannte sich offen zur Ermordung Reys, bestritt jedoch, daß er Felicie habe töten wollen. Die Anklage lautete trotzdem auf vorbedachten Mord unter der Bezichtigung, Peytel habe sich durch sein Verbrechen der Erbschaft Felicies bemächtigen wollen. Die Geschworenen schlossen sich in ihrem Wahrspruch dieser Ansicht an. Unter Peytels Pariser Bekannten erregte seine Verurteilung außerordentliches Aufsehen. Der von ihm ehedem beschimpfte Käufer seines Anteils am »Voleur« gab Balzac und Gavarni die Mittel, um nach Belley zu reisen, den Sachverhalt zu klären und wenn möglich Beweismittel zur erfolgreichen Begründung der Nichtigkeitsbeschwerde zu sammeln.

Gavarni war fest von Peytels Unschuld überzeugt. Auch Balzac teilte diese Meinung. Zum Ärger des Zeichners ließ es der Romancier auf der Fahrt nicht an Lächerlichkeiten fehlen: er trieb den Fuhrmann zur Eile an mit Anrufen wie: Vorwärts! Jede Stunde dieses Herrn ist 50, jede meiner Arbeitsstunden ist 100 Franken wert. Im Gefängnis durften Balzac und Gavarni (der dieses Besuches in einer tragikomischen Karikatur gedacht hat) Peytel sprechen: eine Gunst, die der Schwester des Verurteilten versagt blieb. Peytel schlang den Arm um Gavarnis Nacken und flüsterte ihm eine Beichte ins Ohr, die seiner Tat ganz andere Beweggründe unterlegte als eigennützige. Balzac reichte beim Kassationshof eine Denkschrift ein, die scharfsinnig und beredsam die Unzuverlässigkeit der Verdächtigungen von Peytels Vorleben als Notar darzutun und mit Leumundszeugnissen Lamartines den Anwurf zu widerlegen suchte, daß Peytel die Tat aus Habgier begangen habe. Deutlich ließ Balzac durchblicken, daß berechtigte Erbitterung des Gatten gegen den ehebrecherischen Bedienten den Steinhammer des Geologen geführt, und daß Peytel erst, nachdem der Lakei fliehen wollte, Schüsse abgegeben habe, von denen einer ohne Peytels Wissen und Willen seine Frau Felicia getroffen habe. Sein Verlangen, das Urteil aufzuheben und eine neue Verhandlung anzusetzen, weil der Lokalaugenschein nicht mit der vom Gesetz verlangten Genauigkeit vorgenommen worden sei, war begreiflich. Der Kassationshof verwarf jedoch die Nichtigkeitsbeschwerde und achtete nicht auf Balzacs Eingabe. Gavarni hatte Louis Philipp an den Zeichner gelangte Zeilen Peytels übermitteln lassen, in denen der Verurteilte bat, ihm Opium zu verschaffen, damit er sich, wenn der König nicht Gnade üben wolle, vergiften könne. Louis Philipp, den der Fall sehr beschäftigte, ließ, wiederum durch den Justizminister, Gavarni den Brief Peytels zurückstellen mit dem eigenhändigen Vermerk: »Selbst zugesiegelt L. P.« Der König scheint auch absichtlich den Vollzug des Urteils eine Woche hinausgeschoben zu haben, um den Freunden Peytels die Gewährung seines Verlangens zu ermöglichen. Da Gavarni diesen Ausweg nicht betreten konnte oder mochte, wurde Peytel hingerichtet. Balzac, den es mit seiner Denkschrift nicht nach dem Ruhm Voltaires im Prozeß für Calas gelüstete, glaubte nach wie vor, daß Peytel unrecht geschehen sei: sein » Mémoire« ist mit gutem Grund in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen worden.

Woher Balzac inmitten der Riesenarbeit an der »Comédie humaine« die Zeit zu solchen Zwischenspielen nahm, bleibt für Leute von durchschnittlicher Arbeitskraft ein unlösbares Geheimnis; und es lag nicht an ihm, daß er außer seinen Romanen und Stücken nicht auch als Publizist größten Zuschnittes sich unausgesetzt betätigte: Zeuge dessen die » Revue parisienne«, deren erstes Heft am 25. Juli 1840, und deren letzte Nummer leider schon ein Vierteljahr hernach erschien; sie ist nicht bloß unter den von Balzac geleiteten Zeitschriften die bedeutendste, sie verdient, ihrer politischen und kritischen Kundgebungen willen dauernde Beachtung. Balzac wollte selbständig und unabhängig über staatliche und literarische Zustände seinen Richterspruch abgeben. Und da er mit derselben Deutlichkeit und Schärfe, mit der er in seinen künstlerischen Schöpfungen seine Urbilder sah, sammelte, verleiblichte, auch in die Charaktere, Vorzüge, Fehler der von ihm ins Auge gefaßten Führer in Kunst und Leben eindrang, behaupten seine Aufsätze weit über den unmittelbaren Anlaß hinausgreifende Geltung.

Mit den Heimlichkeiten des Handwerks ebenso vertraut wie mit der Größe und Grenze der Wegweiser der älteren, der Neuerer der jüngeren Generation hebt er sich in der rühmenden und rügenden Beurteilung dichterischer Persönlichkeiten hoch über die hergebrachten Maße und Methoden empor. Coopers gerade veröffentlichter Roman »Der Ontariosee« gibt ihm Anlaß seine Bewunderung für Coopers Genialität als Landschafter und Ethnolog auszusprechen, und sein Schaffen mit dem Riesenwerk des »Homers der Kunstform des Romans« Walter Scott zu vergleichen. Dabei muß Cooper stark hinter Scott zurücktreten. Wer nicht aus Balzacs eigenen Schöpfungen wüßte, wie sehr er sich jede Gestalt, jede Situation des Schotten zu eigen gemacht, würde aus dieser Studie sehen, wie leibhaftig seinem Gedächtnis alle geschichtlichen und frei erfundenen Persönlichkeiten der Scottschen Dichtung gegenwärtig waren. Oft und oft beeifert sich Balzac in seinen Romanen, auf Kenilworth, Canongate, Woodstock, den Kerker von Edinburg hinzuweisen; wenn er, übermüdet, nicht weiterarbeiten kann, erholt er sich durch die Lektüre von Scott und hymnisch schreibt er Eva noch 1838: »Neben ihm ist Byron nichts oder fast nichts. Sie irren sich über den Aufbau von Kenilworth: nach der Ansicht aller Leute vom Fach und nach meiner eigenen ist der Plan dieses Werkes der größte, vollständigste, außerordentlichste von allen. In dieser Hinsicht ist Kenilworth das Meisterstück, wie die ›Brunnen von Saint-Ronan‹ das Meisterstück der vollendeten Ausführung der Einzelheiten, wie die Chronik von Canongate das Meisterstück von Gemüt, Ivanhoe (wohlverstanden der erste Band) als historisches Meisterstück, der Altertümler als Poesie, der Kerker von Edinburg als Spannung. Alle haben ihr besonderes Verdienst, doch das Genie ist allerorten. Sie haben recht. Scott wird wachsen, Byron wird sinken. Der eine war immer nur sein Ich, der andere hat geschaffen.« In seiner Kritik Coopers huldigt er in der »Revue parisienne« in gleichem Geist Scott als Bahnbrecher und Künstler ohnegleichen.

In einer sich anschließenden tadelnden Besprechung von Sues Jean Cavalier zeigt er weiter, daß jede Abweichung von den Gesetzen des geschichtlichen Romans, wie Scott sie durch sein Beispiel gegeben, zum Unheil ausschlägt. In dieser abweisenden Zergliederung von Sues Darstellung des Cevennenaufruhrs entwickelt Balzac nicht nur seine gründliche Kenntnis der historischen Vorgänge, der Politik, der Hof- und Kriegsleute Ludwigs XIV.: er gibt das Muster gewissenhaftester, bis in die kleinsten Einzelheiten der Anlage und der Sprache eingehender Lektüre eines Buches. In der schonungslosen Abfertigung eines modernen Sittenromans ist möglicherweise die Regung alter Abneigung gegen Latouche zu merken, der anderen Autoren, nach Balzacs Wort, Suppen von Galle auftischte: die Begründung seines verdammenden Urteils ist so überzeugend, sie erweist die Unmöglichkeit der gesellschaftlichen Voraussetzungen so zwingend, wie die Sprachsünden des Erzählers – ein Mädchen aus bestem Haus läßt sich, nachts ausschwärmend, vom erstbesten schwängern und begeht, nachher mit einem impotenten Pair vermählt, für ihren Zufallsliebhaber und ihren Bastard die tollsten Streiche. Die Fülle und Strenge von Balzacs grammatikalischen und syntaktischen Ausstellungen läßt ahnen, mit welcher Selbstquälerei er von der ersten Niederschrift bis zu den letzten Revisionen der Neudrucke seiner Arbeiten mit Bedenken sich mühte.

Seine begeisterte Anerkennung von Victor Hugos neuen Versen »Ombres et rayons« hindert ihn nicht, auch diesem von ihm als Poet und Prosaiker gleich gerühmtem Künstler manche Eigenmächtigkeiten der Prosodie vorzuhalten.

Balzacs Polemik gegen Band I von Sainte-Beuves Port-Royal geht sachlich vielfach fehl: lang aufgesparte Rachegefühle spielen gewiß mit. Ebenso gehässig hat dann der so hitzig Angegriffene Balzac in einem besonderen, zehn enggedruckte Seiten starken Nachtrag zu Port-Royal als Scharlatan, Farceur, Parvenü hart angelassen als in diesen Zeiten und Fragen zum Urteil völlig Unberufenen: nur an Sainte-Beuve habe es nach dem stürmischen Enthusiasmus, den Balzac bei zwei flüchtigen Begegnungen seinen Versen und seinem Roman bezeugte, gelegen, wenn er Gleiches mit Gleichem vergolten hätte, von ihm als Bundesgenosse und »Marschall der Literatur« behandelt zu werden. Allein trotz der unleugbaren, vorgefaßten Feindseligkeit von Balzacs Aufsatz behält seine von erstaunlicher Kenntnis der Anfänge des Jansenismus erfüllte Studie sachlichen Wert; den Schnitzer, daß Sainte-Beuve einmal P. R. nicht richtig als Palais Royal, sondern als Port Royal ausschrieb, kreidet Balzac mit demselben Recht an, wie dessen unablässige Vermengung modernster Strömungen und Persönlichkeiten (George Sand, Lamennais usw.) mit grundverschiedenen Zeiten und Figuren der Vergangenheit. Mit dem Scharfblick des Hasses hat er fundamentale Schwächen von Sainte-Beuves Wesen und Schreibart, den Zwiespalt zwischen seinem tief religiösen Thema und seiner skeptischen Natur erkannt und nicht mit Unrecht dem anfangs seinen Stil suchenden Prosaiker nachgesagt: er schreibt nicht französisch, sondern Sainte-Beuvisch.

Die Krone seiner Würdigungen bleibt aber Balzacs Willkomm für Stendhals »Chartreuse de Parme«: eine jauchzende Begrüßung eines von den meisten Zeitgenossen verkannten oder, genauer gesagt, unbeachteten Werkes, das zwanzig Jahre später Taine und seinem Kreise ein Evangelium wurde. Das hohe Verdienst Balzacs war nicht bloß lautes Lob: bei jeder neuen Lektüre dieser Meisterkritik eines Meisterwerkes genießt man die Kunst, mit der ein dem Autor ebenbürtiger Erzähler die verwickelten Vorgänge des Romans nacherzählt; erkennt man aufs neue die Überlegenheit, mit der ein Schöpfergeist die Charaktere Stendhals, den Minister, die Mätresse, den Fürsten, den Republikaner nachschafft; bewundert man den geschichtlichen Weitblick, mit dem er in dieser Historie die Zustände des geknechteten Italien im Vormärz wiederfand; erfährt man, wie hellseherisch er den Nationalcharakter der Italiener, die Falschheit der Gewalthaber der Zwergstaaten, die Ränke der Priester, die Praktiken der Polizisten, Giftmischer, Banditen, Wegelagerer beobachtet und ergründet hatte. Und so wohl er wußte, was ihn zu Stendhal zog, dessen italienische Gänge, dessen Gespräch, dessen Geist er lange vorher geliebt hatte, ebensowohl wußte er auch, was ihn von ihm schied. Ein Jahr zuvor hatte er ihm gleich nach der ersten Lektüre der »Chartreuse« geschrieben: ich wär' unfähig, das zu machen; man kann beherzt loben was nicht unseres Zeichens ist; ich schaffe Fresken, Sie formen italienische Statuen. Wenn Machiavelli einen Roman in unseren Tagen hätte schreiben können: es wäre die Chartreuse. Balzac würde manches noch anders wünschen, Längen tilgen, einzelne individueller gehaltene Personenbeschreibungen, stilistische Änderungen. All das sind Nebendinge: die Hauptsache bleibt: »vous avez expliqué l'âme de l'Italie«.

So vorbehaltloses Lob kehrt nicht wieder. Seine Kritiken der Novellen von Ourliac und zumal von Musset sind darum nicht minder denkwürdig: sie gehören in eine Poetik von Poeten für Poeten. Juwelen, wie »Frédéric et Bernerette« (diese Keimzelle der Dumas'schen Kameliendame) und »Der Sohn des Tizian« gefallen ihm unendlich. »Mussets Muse ist eine edle, heitere, zärtliche, schalkhafte, bisweilen epische Muse.« Was seinen Erzählungen fehlt, ist ihre Erhöhung zum Typischen; mit etwas mehr Überlegung oder Arbeit könnte er eines der schönen Bücher vollenden, das den Stolz und Ruhm der Literaturen ausmacht. Rabelais, Sterne, Cervantes, Lesage haben ihre großen Schöpfungen mit solchen Gedanken ausgestattet. »Werther hat keinen größeren Umfang als Frédéric und Bernerette, und Werther wird dauern. Mignon nimmt in Wilhelm Meister keine hundert Seiten ein und doch ist ihr Dasein im Gedächtnis der Menschen gesicherter, als das aller seither geschiedenen leibhaftigen Bewohner des Landes Baden.«

Eigene Wege geht Balzac auch als Politiker. Die Ränke von Thiers, die Sippe seiner Leibjournalisten schildert er mit erstaunlicher Personen- und Ziffernkenntnis: er scheint Einblick in die Rechnungen der geheimen Fonds gehabt zu haben. Scharf nimmt er die Familie Dosne, besonders die Schwiegermutter, das »Kindermädchen« von Adolphe Thiers aufs Korn: Madame Dosne war die Tochter eines Tuchhändlers, die im Laden ihres Vaters am Kontortisch saß; dann heiratete sie einen unbedeutenden Mann, zog Talente und namhafte Journalisten in ihre Kreise, machte Thiers zum Schwiegersohn und Handelsminister, den sie beriet, tyrannisierte und zur Verleihung einträglicher Posten im Steuerwesen an ihren Gatten, d. h. Thiers Schwiegervater, veranlaßte. Die hinterhältige, Guizot als Botschafter in London verdächtigende Diplomatie Thiers' hätte selbst Rothschild und viele andere begüterte Kreise geschädigt, dagegen desto ausgiebiger Thiers und seine Leute bereichert. Alle Minen, alle Widersprüche der parlamentarischen Intrigenkomödie werden aufgedeckt, der Zwiespalt der Heimbringung von Napoleons Leiche aus Saint-Helena und des gleichzeitigen Prozesses gegen Louis Napoleon ins Licht gerückt. Die konstitutionelle Regierungsform haßt er. Entweder Absolutismus oder Republikanismus ist seine Losung. Die »Janitscharen des Papsttums«, seine alten Lieblinge, bewundert er, und das Wort des Jesuitengenerals Ricci, »Sint ut sunt aut non sint«, stellt er den höchsten des Altertums gleich. Katharina von Medici, Richelieu, Ludwig XIV. sind die Riesen der französischen Staatskunst, und er versteht vollkommen, daß Peter der Große das Standbild des großen Kardinals umarmte. Mit der Kleinlichkeit und Falschheit von Thiers kontrastiert er Charaktere wie Lamartine, Guizot, Villemain.

Aus einer vernichtenden Anzeige von Reybaud sehen wir, daß er Fourier hoch über Owen stellt, Saint-Simon und seinen Kreis ehrt. In seinen Erörterungen über die Arbeiteraufstände streift er die soziale Bewegung, deren Tragweite er zu ahnen scheint. Nach einem Vierteljahr verließ Balzac diese Zeitungskanzel: im dritten, dem Abschiedsheft der »Revue parisienne«, dankt er den 600 Abnehmern, unter denen kaum ein persönlicher Bekannter steht, als unbekannten Freunden.

Es war nicht die einzige Krise, die er 1840 durchmachte: am 14. März 1840 war das erste Stück, das er auf die Bühne brachte, Vautrin, im Theater de la Porte Saint-Martin aufgeführt und am nächsten Tag vom König verboten worden.

Alle Raserei des Schaffens konnte den Erzähler nicht von seinen Schulden befreien: Hilfe schien ihm nur die Bühne zu verheißen, deren Eroberung er sich angelegen lassen sein wollte. Die Alexandriner-Tragödie, der der Anfänger mit einem Cromwell nachstrebte, war nach dem von Balzac selbst gebilligten Urteil Andrieux' nicht seine Sache; die Theaterrevolution, die Victor Hugo mit den Dramen von Hernani bis zu den Burgraves ins Werk setzen wollte, befremdete seinen kritischen Sinn; die Zukunft des Schauspiels war, wie sein Apostel Davin im Sinn und mit Willen Balzacs in der Introduktion zu den Sittenstudien verkündete, ebendort zu suchen, wo sie seine Romane gefunden hatten, in der leibhaftigen Wirklichkeit. Die Geringschätzung, mit der die Romantiker, nicht zuletzt Gautier, Scribe ablehnten, teilte Balzac nicht; er fühlte, daß seine Stoffkreise sich vielfach mit Scribes Gesellschaftsstücken berührten. Scribes von Gustav Planche unbarmherzig verrissene satirische Komödie »La camaraderie« ließ Balzac in einem Brief an Eva gelten mit der Einschränkung, daß dem gut gegriffenen, geschickt behandelten Thema die Vertiefung der Charaktere fehle. Und je näher der Erzähler der Aufgabe trat, für die Bühne zu schreiben, desto deutlicher wurde ihm, daß der Theaterdichter einer ausgiebigen Vorschule der Erfahrung bedürfe, desto mehr wuchs sein Respekt vor den Meistern der dramatischen Kunst, Molière und Beaumarchais, die Optik und Akustik des Schauspiels, die Empfänglichkeit der Kenner und Massen sorgsam geprüft hatten. Die Geheimnisse des Handwerks wollten gelernt sein, bevor er an einen sicher beherrschten eigenen Stil denken konnte, und an Bereitwilligkeit hätte es Balzac nicht gefehlt, sich im Kreise von Scribe und dessen Mitarbeitern umzusehen. Dreihundertfünfundsechzig historische Intrigenkomödien, Possen, Vaudevilles, Opernbücher, Konversationsstücke hatte diese Werkstatt in solcher Menge hervorgebracht, daß einzig und allein deren Titel drei Alphabete füllten: Scribe machte sich den Spaß, um in diesem Verzeichnis X, Y, Z vertreten zu sehen, drei seiner Stücke Xacarilla, Yelva, Zanetta zu benennen.

Erstaunlich genug ist es, daß der unerschöpfliche, selbstsichere Erzähler bei seinen dramatischen Anläufen vielfach Ratgeber suchte und bisweilen wahllos Helfer warb, die selbst Beistand bedurft hätten. Unausgesetzt phantasiert er Eva von dramatischen Entwürfen. Henri Monniers Prudhomme sieht er bald als Helden eines Schwankes, dann wieder als Träger eines bis ins letzte ausgedachten fünfaktigen Schauspiels. Im Februar 1837 arbeitet er mit »Balzacscher Furia« an einem Drama: »Die Geschäftsführerin«. »Denken Sie sich ein Haus in der Rue Saint-Denis, wie mein ›Haus zur ballspielenden Katze‹, in das ich ein tragisches Interesse von größter Gewalt verlegen werde. Noch niemand hat daran gedacht, den Ehebruch des Mannes auf die Bühne zu bringen, und mein Stück gründet sich auf diese ernste Angelegenheit unserer modernen Zivilisation. Seine Geliebte ist im Hause. Niemand hat noch an einen weiblichen Tartuffe gedacht, und seine Geliebte wird Tartuffe im Unterrock sein, doch wird man die Herrschaft der Geschäftsführerin über den Herrn noch weit besser verstehen, als die Macht Tartuffes über Orgon, denn die Mittel der Beherrschung sind natürlicher und begreiflicher. Diesen beiden leidenschafterfüllten Gestalten werden gegenüberstehen eine unterdrückte Mutter und zwei Töchter, die gleichfalls Opfer der heimtückischen Tyrannei der Geschäftsführerin sein werden. Die ältere Tochter glaubt, daß man der Geschäftsführerin schmeicheln muß, die auch sonst Anhang im Hause hat, denn der Kassierer liebt sie. Die Tyrannei ist der Mutter und den Mädchen so verhaßt, daß die jüngere Tochter, in heldenhafter Aufwallung, ihre Familie von dieser Pest befreien will, indem sie selbst sich opfert. Sie will sie vergiften und nichts hemmt sie. Der Streich mißlingt, der Vater aber, der sah, zu welchem Äußersten seine Kinder gebracht sind, erriet, daß die Geschäftsführerin nicht mehr unter seinem Dach leben kann, und daß nach diesem Versuch jedes Band mit den Seinigen zerrissen ist. Er entläßt die Geschäftsführerin: im fünften Akt sieht er aber, daß es ihm unmöglich ist, ohne diese Frau zu leben; er nimmt sein ihm gehöriges Vermögen, läßt das übrige seiner Frau und flieht mit der Geschäftsführerin nach Amerika. Ich spreche nicht von den Einzelheiten, die ebenso originell sind, wie die Charaktere, die noch in keinem Stück vorkamen. Da wäre die Szene, wo der Vater Gericht hält über die Tochter; dann die Szene der Trennung.«

Eva mißfiel der Plan gründlich. Ihre Ablehnung bestimmte ihn, den Plan ruhen zu lassen. Als aber seine Schwester und George Sand, denen er von dem Stoff sprach, ihn ermunterten, dachte er nach dem Fehlschlag seines Abenteuers in Sardinien an die Wiederaufnahme der Komödie, und 1838 erbot sich ein Freund, Zulma Carrauds, ein Lokalhistoriker, dessen Forschungen über die Altertümer von Issoudun Balzac in seinem daselbst spielenden Meisterroman »Un ménage des garçons« mit Lobpreisungen erwähnt, Herr Péremé, das erst skizzierte Stück im Théâtre de la Renaissance durchzusetzen. Balzacs erstes und letztes Wort lautete: Ja, wenn man mir 16 000 Franken Vorschuß gibt. Die Theaterleiter gingen zum Schein darauf ein. Balzac arbeitete sechzehn Tage und Nächte ununterbrochen an dem neubenannten Stück » L'école des ménages« (Die Schule des Haushaltes). Die Direktoren hatten inzwischen jedoch von Dumas ein ihnen besser zusagendes Drama, »Der Alchimist«, bekommen. Der große Frédérick Lemaître lehnte die Hauptrolle ab. Zudem erschien Balzacs erste Lösung den Theatermenschen zu dünn, so daß Balzac (wie schon S. 188 berichtet wurde) das ihm von Metternich erzählte Erlebnis für die Schlußszenen des Schauspiels benützte: zweifellos eine Verschlechterung seines ursprünglichen Planes. Er las die fertige Komödie in einigen hocharistokratischen Zirkeln vor; ein paar wohlgesinnte Feuilletonisten, Gautier usw., schrieben freundliche Berichte; der strenge Kritiker Gustav Planche, dem Balzac sein Manuskript zur Prüfung gab, riet von der Aufführung ab, und so versank »L'école des ménages« bei Lebzeiten Balzacs in vollkommene Vergessenheit. Aus dem Nachlaß Jahrzehnte nach seinem Tod herausgegeben, war es, zumal durch den unglückseligen Ausgang, für die Bühne fragwürdig geworden. Von einem tüchtigen Dramaturgen eingerichtet, hätte es 1838 durch die scharfe, starke Gestaltung von Haupt- und Nebenfiguren wirken können, und auch in der Gegenwart würde »L'école des ménages«, geschickt bearbeitet, nicht verächtlich erscheinen.

Auch Balzacs nächste, 1839 geschriebene Komödie, » Mercadet le faiseur«, fand durch Frédérick Lemaîtres Weigerung, die Hauptrolle zu geben, nicht Eingang bei den Theatergewaltigen jener Tage. Zeither ist Mercadet ein sprichwörtlicher Typus, eine von den ersten Charakterspielern in und außerhalb Frankreich willig übernommene Aufgabe geworden. Mercadet ist ein schwindlerisch angelegter Schulden- und Projektenmacher, der seine Gläubiger virtuos mit Gründerprospekten, die er niemals einlöst, und mit Vertröstungen auf die Rückkehr eines früheren, flüchtig gewordenen Kompagnons hinhält. Die Charakterköpfe der Gläubiger, die nicht mehr taugen als Mercadet, scheinen nach Balzacs eigenen überreichen Erfahrungen lebenstreu gezeichnet: bei einer Vorlesung in seinen Les Jardies soll Balzac auch diese Blutsauger und Heuchler, die ihren Schuldner ebenso betrügen wollen wie sich selbst untereinander, als genialer Stimmporträtist und Mimiker so belustigend und glaubhaft vergegenwärtigt haben, daß nach Gautiers Zeugnis kein Schauspieler mit dem Dichter als Darsteller hätte wetteifern können. Und Böswillige bezeichneten Mercadet selbst geradezu als Doppelgänger seines Schöpfers. Im Lauf der Handlung wird Mercadet von einem vermeintlichen reichen Freier seiner Tochter ebenso zum besten gehalten, wie sein Hausherr und seine Wucherer von ihm. Die Mercadet selbst am meisten verblüffende Lösung ist, daß seine Lüge Wahrheit wird: sein ehemaliger Kompagnon kommt wirklich in die Heimat zurück aus Kalkutta, wo er Millionen erworben hat; alle Gläubiger werden befriedigt; seine Tochter heiratet den Mann ihrer Wahl, und Mercadet zieht sich in das Idyll eines ländlichen Lebens zurück. Diese Wendung im Wesen Mercadets ist nicht der rechte Ausgang eines Schwindelgeistes, der entweder vor dem Zuchtpolizeigericht oder – als die Massen durch freche Börsenstreiche ausplündernder – Schicksalsbruder eines Baron Nucingen enden sollte. Fehlt es Mercadet zur Dauerhaftigkeit eines Charakters vom Schlage des Lesageschen Turcaret aber auch an der rechten Wucht, so steckt doch in diesem Gaukler so viel Witz und Wirklichkeit, daß die Komödie seit ihrer Uraufführung nach Balzacs Tod sich auf der französischen Bühne mit Recht eingebürgert hat. Lemaître, der »die Schule des Haushaltes« und »Mercadet« zu Fall gebracht hatte, erwies Balzac den schlechtesten Dienst, als er an Stelle dieser spielbaren Komödien in Erwartung eines Skandalerfolges 1840 die Mißgeburt seines »Vautrin« auf die Bretter brachte.

Der Namensträger dieser Sensationskomödie hat nichts gemein mit dem rebellisch satanischen Vautrin des Père Goriot: unter der Falschmeldung Vautrin erscheint in einer Verkleidungsrolle der Maschinist einer plumpen Familienintrige. Über den Antrieb zu dem gründlich verfehlten Werk kann kein Zweifel bestehen: künstlerisch Null, war es kaufmännisch eine verfehlte Spekulation, für Lemaître statt der geträumten Galarolle ein legendarischer Mißerfolg.

Vorgeschichte und Bühnenschicksal von Vautrin sind eine der tollsten Literaturkomödien. Der damalige Direktor des Theaters der Porte Saint-Martin, Harel, war ein Geselle, der höchst phantasievolle Einfälle und wennmöglich noch phantastischere Schulden hatte; er hatte es mit allen klassischen und romantischen Stil- und Spielarten, mit Feerien und dressierten Affen, gelegentlich sogar mit einer Anleihe bei Louis Philipp versucht, der ihm auf die Bitte, ihm Geld vorzustrecken, erwiderte: »Harel, ich wollte Sie just um dasselbe bitten.« Er stand vor oder mitten im Bankrott, als ihm Balzac von einem Zukunftsdrama sprach, dessen Held Vautrin sein sollte. Gierig griff er nach diesem noch gar nicht geschriebenen Stück, für das Balzac, überhetzt und bestürmt vom Direktor und den Schauspielern, Nothelfer suchte. Als ersten Mitarbeiter warb er einen halbverhungerten Lyriker, Lassailly, dem er in Les Jardies beste Unterkunft und reichliche Verpflegung gab; anfangs überselig, hielt es der arme Teufel unter Balzacs Schreckensherrschaft nicht lange aus: ein paar Wochen hindurch wurde er zu nachtschlafender Zeit zwei-, dreimal aus seinem Schlummer aufgeschreckt mit dem gebieterischen Kommando: was haben Sie für den und den Akt vorzuschlagen? Da es mit Lassailly schlechterdings nicht vorwärts ging, und stetes Beisammensein mit den Theaterleuten unerläßlich schien, nahm Balzac mitten in Paris im fünften Stock der Behausung seines Schneiders Buisson ein Absteigquartier und lud ein paar Kameraden zu einem Kriegsrat, über den Gautier als wohlwollender Gewährsmann berichten mag: »Endlich sind Sie da, Theo, Sie Faultier; seit einer Stunde wart' ich auf Sie. Ich soll morgen Harel ein fünfaktiges Drama vorlesen.« Gautier setzte sich darauf bequem zurecht, um das Stück zu hören. Balzac schreckte ihn aus dieser behaglichen Pose auf mit der schlichten Erklärung: »Das Drama ist noch nicht geschrieben.« »Dann muß die Vorlesung sechs Wochen aufgeschoben werden.« »Keine Rede; ich habe eine dringende Zahlung; wir müssen das ›Dramorama‹ sofort auftakeln.« »Aber bis morgen ist das doch unmöglich; da reicht die Zeit nicht einmal zum Abschreiben.« »Ich habe das schon geordnet: Sie werden einen Akt machen, Ourliac einen zweiten, Laurent-Jan den dritten, Belloy den vierten, ich den fünften, und so werd' ich morgen mittag das Stück vorlesen: ein Akt hat vier- bis fünfhundert Zeilen; die kann man in einem Tag und einer Nacht schreiben.« »Erzählen Sie mir also kurz die Handlung.« »Ah, wenn ich Ihnen erst das Sujet erzählen muß, werden wir nie fertig werden.« Selbstverständlich wurde die Komödie am folgenden Tag nicht vorgelesen; es kamen Leidenswochen, in denen Balzac, beständig unterwegs von seiner Wohnung in das Theater, mit seinem Mitarbeiter Laurent-Jan »Vautrin« nach den Wünschen Harels, Lemaîtres und der meisten großen und kleinen in dem Stück beschäftigten Schauspieler auf den Effekt herausstaffierte. Was so viele Köche zusammenbrauten, war begreiflicherweise ein vor lauter Überwürzung ungenießbares Gericht.

Der edelmütige Galeerensträfling Vautrin hebt auf der Heerstraße einen zwölfjährigen, hilflosen Knaben auf und erzieht ihn zu einem Prachtmenschen. Diebereien, Gaunereien Vautrins und seiner ihm unbedingt gehorchenden Helfershelfer ermöglichen den Aufwand für die Lebensführung des Jünglings, der nichts von dem Treiben dieser Halunken ahnt. In Wirklichkeit ist diese Blume der Ritterschaft, Raoul, tapfer, hochsinnig, das eheliche Kind eines Herzogs, der ihn, der als Siebenmonatskind zur Welt kam, für einen Bastard hielt; der Herzog zwang seine Frau, da er den Jungen sonst töten würde, preiszugeben und statt seiner einen unterschobenen Knaben, den Sohn des Herzogs und einer spanischen Tänzerin als echtbürtigen Sprößling gelten zu lassen. Raoul, der Schützling Vautrins, kommt in die höchste Adelsgesellschaft und gewinnt den Anteil einer unendlich reichen spanischen Grandentochter, um die zugleich der unterschobene Sohn des Herzogs wirbt. Den Zwiespalt des herzoglichen Paares und der Nebenbuhler beherrscht der in zahlreichen Verkleidungen auftretende Vautrin mit seinen Spießgesellen. Motive aus Balzacs Geschichten (»Das verfluchte Kind.« Die Erlebnisse Lucien de Rubemprés in der Iliade der Korruption. Vautrins Anschläge in Splendeurs et misères des courtisanes) tauchen in diesem Boulevardstück verzerrt auf. Vautrin muß Spionen mit Gegenspionen begegnen: seine Komplotte sind häufig überflüssig; er legt Minen und Gegenminen, und stößt sich nicht an Duellen und Anstiftungen zu Morden. Gaunersprache und elsässische Dialektscherze, Bagnophilosophie und Sträflingsunterhaltungen fehlen nicht in diesem angeblich in den Tagen Ludwig XVIII. spielenden kriminellen Kriminaldrama, in dem man mit einer seiner Gestalten ausrufen möchte: »Ich ersticke in dieser Luft der Lüge.«

Harel posaunte in seinen Ankündigungen die Komödie als Wunderwerk aus, Balzac machte die verfehlte Spekulation, alle Sitze für die Uraufführung selbst zum Vorverkauf zu bringen: ein Mißgriff, der zur Agiotage und der Besetzung des Hauses mit den anspruchsvollsten, blasiertesten Premierentigern führte. Die ersten drei Akte wurden kalt aufgenommen; Übelwollen und Langeweile machten sich fühlbar. Als aber im vierten Akt Lemaître in der Vermummung eines mexikanischen Generals erschien, den Hut mit einem Paradiesvogel geschmückt, und ein fremdländisches Kauderwelsch sprach, brach ein Skandal los, der verhängnisvoll wurde, als mit Recht oder Unrecht bemerkt wurde: Lemaîtres Haarschopf gleiche dem Toupet Louis Philippes, der Schauspieler verhöhne in Ton und Maske den Bürgerkönig. Der älteste Prinz von Orleans verließ unwillig seine Loge, der König ließ am nächsten Tag Vautrin verbieten. Vergebens erhoben Victor Hugo und Dumas im Ministerium Einsprache gegen diesen Gewaltakt. Umsonst bot der Direktor der Schönen Künste, Cavé, Balzac eine Entschädigung von 5000 Franken. Der Dichter wies das »Almosen« stolz zurück: er habe, um ein Dutzend Meisterwerke zu vollenden, 200 000 Franken Schulden gemacht; er habe drei Monate nur an die Proben von »Vautrin« gewendet, drei Monate, in denen er sonst mindestens 25 000 Franken eingenommen hätte. Eine Meute von Gläubigern hetzte ihn, doch von dem Augenblick, in dem er nicht alle befriedigen könne, sei es ihm gleichgültig, ob ihn fünfzig oder hundert drangsalieren, sein Mut, Widerstand zu leisten, sei derselbe für alle Fälle. Der Sendbote des Ministeriums versicherte Balzac nach dieser Entgegnung seiner Achtung und Bewunderung: »Es geschieht mir zum erstenmal, daß ein solches Anerbieten abgelehnt wird.« »Desto schlimmer«, erwiderte der Dichter.

Von dem Wahn, sich durch die Bühne aus allen Wirren zu retten, heilte ihn die Katastrophe des »Vautrin« so wenig, wie Heines Warnung, der ihm scherzend den ernstgemeinten Rat gab: bleiben Sie beim Roman. Wer an das Bagno von Toulon gewöhnt ist, lebt sich nicht im Bagno von Brest ein. Balzac schrieb noch eine Reihe teilweise sogar gelungener Stücke. Sein eigentliches Weltdrama wurde aber die » Comédie humaine«, in der er, allerdings nicht im Rahmen des Schauspielhauses, nach seiner Schätzung zweitausend Männlein und Weiblein in Tragödien und Komödien aller Spielarten auftreten ließ.


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