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III.
Erstlinge

Balzac hatte das dreißigste Jahr erreicht, als er zum erstenmal unter vollem Namen mit einer Reihe von Büchern hervortrat, die ihn mit einem Schlage nicht bloß unter seinen Landsleuten bekanntmachten. Im März 1829 erschien der historische Roman »Le dernier Chouan ou la Bretagne en 1800«, im April 1830 veröffentlichte er zwei Bände »Scènes de la vie privée«, im August 1831 ein aus der lebendigen Gegenwart geholtes, realistisch gehaltenes Zaubermärchen, »La peau de chagrin«, im April 1832 das erste Zehnt der »Contes drolatiques«. Außerdem hatte er im Dezember 1829 zunächst anonym seine »Physiologie du mariage« in die Welt gehen lassen, als deren Verfasser er sich im Vorwort zur Urausgabe der Peau de chagrin bekannte. Mehrere dieser Werke weisen auf vorangehende Meister. Der »Letzte Chouan« stand unter dem Zeichen Walter Scotts; die scheinbar frivole, schnurrig und zynisch ernsthafte Fragen aufwerfende »Physiologie des Ehestandes« lehnte sich in ihrer humoristischen, gravitätisch mit Axiomen spielenden Einkleidung an Brillat-Savarins Gastronomie »Physiologie du goût«; »Das Chagrinleder« war unverkennbar mitangeregt durch die kürzlich in Frankreich eingeführten Phantasiestücke E. T. A. Hoffmanns; die »Schwänkigen Geschichten« schöpfen stofflich vielfach aus Boccaccio, Poggio, den »Cent nouvelles nouvelles«, aus Beroald de Verville und wetteifern sprachlich mit Rabelais. So deutlich diese Vorbilder aber auch Balzacs Gaben beeinflußt hatten, der Stempel einer ureigenen Natur war ihnen so stark aufgeprägt, daß die selbständige Persönlichkeit des Neulings weit über den Kreis unkritischer Leser hinaus bei Kennern, Philarète Chasles, beim Apostel André Cheniers H. de Latouche, Montalembert und vor allem bei Goethe, Beachtung fand. Gleichzeitig mit diesen Büchern schrieb Balzac Dutzende von Skizzen, Humoresken, Briefe über das Pariser politische, gesellschaftliche, künstlerische Leben; nach mündlichen anekdotischen Mitteilungen des Henkers Sanson richtete er novellistische »Denkwürdigkeiten eines Paria« zu. Woche um Woche stellte sich der Rastlose weiter pünktlich ein mit Artikeln für die sich neu emporkämpfenden Zeitschriften Emile de Girardins »La mode«, »Le voleur«. Dazu kamen gelegentlich Texte zu Scherz- und Zerrbildern der »Carricature« und »Silhouette«: Beiträge, die nicht immer gleichwertig, doch selten belanglos, in ihrer Massenhaftigkeit Zeugnis geben für die überlegene Begabung, die Leichtigkeit des Schaffens und den Riesenfleiß des Verfassers. Äußerlich veranlaßt waren diese, gewöhnliche Menschenkraft übersteigenden Arbeitsleistungen durch den Zwang der Not. Der gescheiterte Drucker und Verleger hatte sich verpflichtet, mehr als 100 000 Franken Schulden zu tilgen, deren Stundung ihm jährlich 6000 Franken Zinsen kostete; überdies mußte er, dem die Seinigen jeden weiteren Beistand versagten, ungefähr den gleichen Betrag für seinen Lebensunterhalt aufbringen und um all dieser Schwierigkeiten Herr zu werden, baute Balzac einzig und allein auf seine Feder. Ein bedenkliches Wagnis für einen blutarmen, namenlosen Anfänger. Kurz vorher, 1826, war ein in allen Landen gelesener Meister, der Schloßherr von Abbotsford, der schottische Baronet Walter Scott als stiller Gesellschafter der ihm befreundeten Buchhändler Ballantyne durch den Ruin ihres Hauses jählings zugrunde gerichtet worden und obwohl er opferbereit auf sein ganzes Vermögen verzichtete und arbeitswillig neue Werke, darunter die hochbezahlte Geschichte Napoleons schrieb, war er bis an das Ende seiner Tage mit seinen geduldigen Gläubigern nicht fertig geworden: seine Passiven hatten sich allerdings auf 117 000 Pfund Sterling belaufen, doch ihre Deckung stand auch nach Scotts Tod im Laufe der Zeit außer Zweifel. Im Vergleich mit Scotts Riesenhonoraren kamen Balzacs Einnahmen weder dazumal noch später in Betracht. Denn um berufsmäßige Schriftstellerei war es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich noch mißlicher bestellt als im 18., in dem manche kleinere Autoren von Pensionen, Privilegien, Gnaden- und Ehrengaben des Hofes oder einzelner Großen zehrten. Gleichwohl hatte Voltaire aus triftigen Gründen die Literatur die erste der Künste, das letzte der Gewerbe genannt und seine Reichtümer nicht als meistverbreiteter Literator seiner Zeit, vielmehr durch die Gunst umschmeichelter Finanzmänner und nicht immer saubere, nach dem Urteil Friedrichs des Großen geradezu Galeerenstrafe herausfordernde Spekulationen gesammelt. Rousseau verdiente sein Brod als Notenkopist. Beaumarchais gewann sein ansehnliches Vermögen als skrupelfreier Geschäftsmann, der nie daran dachte, seine Existenz auf den Ertrag seiner Stücke zu gründen und nicht um des eigenen Vorteils willen, nur gereizt durch die Übergriffe der habgierigen Societäre der Comédie française die Generalstaaten der Bühnendichter zusammenberief und den Dramatikern besser gesicherte Tantièmen erkämpfte; sein Feldzug kam auch in der Folge Theaterindustriellen zugute: die Bezüge der unbedeutendsten Vaudevillisten blieben gesetzlich geschützt. Sonst war während Balzacs Lebensdauer das literarische Eigentum arger Willkür preisgegeben. Der belgische Nachdruck schädigte die französischen Schriftsteller um ungezählte Millionen und in der Heimat konnten Bühnenhandwerker Fabeln und Gestalten jedes Erzählers ungescheut ohne jedes Entgelt auf die Bretter bringen. Nicht viel besser als diese Schädlinge benahmen sich die Verleger; ihr wenig erbauliches Treiben hat nicht leicht ein Zweiter genauer gekannt und bald launig, bald ingrimmig in Romanen, Satiren, Weckrufen an seine Berufsgenossen, Denkschriften für das Parlament vor Augen geführt als Balzac. Er hat die verschiedensten Spielarten von Spekulanten mit bedrucktem Papier kennengelernt und unter so vielen Zeitungsleitern, Winkelverlegern, Welthäusern nur wenige Gerechte, noch weniger von kleinlichem Krämergeist freie, seine Zukunft vorausahnende Helfer gefunden.

Als Neuling begann er 1822-1826 mit Romanen für die von ihm geringschätzig sogenannte »littérature marchande«; des Brotes wegen stieg er in Niederungen, die andere künstlerisch aufstrebende Zeitgenossen Victor Hugo, Vigny, Mérimée, Musset niemals betreten hätten; sein Wegweiser war denn auch ein windiger Geselle Le Poittevin, der in einem kleinen Theater den Leihnamen Sainte-Alme und bei seinen literarischen Gängen das Pseudonym Viellerglé gewählt hatte. Dieser ziemlich träge, wenig begabte Bohémien vermittelte dem nach einem zahlungswilligen Drucker ausschauenden jungen Balzac einen Verleger, Hubert, unter der Bedingung, daß er und Balzac ihre Romane zusammen schreiben und das Honorar teilen sollten. 1822 erschienen denn auch zwei, je vierbändige Romane »L'héritière de Birague« und »Jean Louis ou la fille trouvée« par A. de Viellerglé et lord R'hoone. Dem Pseudonym Poittevins gesellte Balzac, der schlechterdings nicht seinen Namen auf das Buch setzen ließ, das Anagramm seines Vornamens Honoré, dem, mehr putzig als mystifizierend, der Lordtitel beigefügt war. Über dieser Tagesfron vergaß »Lord R'hoone« nicht seiner Zukunftspläne. 1821 lud er Poittevin, mit dem er Romanentwürfe besprechen sollte, zum Dejeuner; das Essen war so armselig, daß Poittevin beim Zusammenfalten der Serviette sagte »Fortsetzung folgt«; Balzac kehrte sich nicht an diesen Spott; statt des Nachtisches wartete er vielmehr mit einer Standrede auf, in der er erklärte, er habe Beaumarchais' dramatische Schöpfungen studiert: seine Sache werde es sein, Beaumarchais' Werk zu ergänzen und zu vollenden. Poittevin war nicht wenig entrüstet über solche Zukunftsverheißungen seines vermeintlichen »Romanschreiberlehrlings«: statt bei Poittevin in die Schule zu gehen, das hieß, an seiner Statt die ganze Arbeit allein zu besorgen und dafür das halbe Honorar diesem angeblichen Lehrmeister zuzuwenden, halte sich der Rekrut für einen Voltaire, Jean Jacques, Diderot. Und Poittevins Unwille wuchs, als ihm Balzac die weitere Mitarbeit kündigte; gereizt verbot er ihm, für seine neuen Romane das für die Kompagniefirma gebrauchte Pseudonym Lord R'hoone zu wiederholen; rasch resolviert, taufte sich Balzac sofort um: als Horace de Sainte-Aubin lieferte er acht weitere, durchschnittlich vierbändige Romane: Clotilde de Lusignan ou le beau juif; Le centenaire, Le Vicaire des Ardennes (1822); La dernière fée (1823); Annette et le criminel, Fortsetzung des Vicars (1824); Wann-Chlore (später Jane la Pâle) 1825. Balzac hat schon als Anfänger diese Bücher nicht gezeichnet und erst recht 1836, als er in Geldklemme den Neudruck dieser Romane der Frühzeit zuließ, streng verboten, als Autor dieser Oeuvres de jeunesse genannt zu werden. Übergehen kann sie der Erforscher seines Lebenswerkes gleichwohl nicht: sein Vater, der Romane sonst als Opium der Europäer schmähte und verschmähte, hieß 1822 Honorés erste Versuche in einem Brief mit der Prophezeiung willkommen: »mein ältester Sohn zeigt seit einem Jahr die größten literarischen Anlagen. Er hat Werke für mehr als 10 000 Franken drucken und verkaufen lassen. Wenn seine Gesundheit seinen Fähigkeiten gleichkommen sollte, wird er vorteilhaft von sich sprechen machen.« Die treue Hausmagd, die vormals Honorés Mansarde als »Iris« besucht hatte, vergoß Tränen beim Lesen seiner Romane. Und wunderlich genug erklärte der Bibliophile Jacob (Paul Lacroix) noch 1882: er fände diese Jugendwerke Balzacs seinen späteren Schöpfungen ebenbürtig – eine Meinung, die kein anderer Kenner von Sainte-Beuve bis auf André Le Breton und Bellessort teilt. Anzeichen seiner späteren Art und Unart, Spuren kommender Lieblingsmotive lassen sich wohl in manchem dieser Jugendromane verfolgen. Argow le Pirate, den der Erzähler mit Cromwell vergleicht, wie er in einem Meisterwerk seiner Reifezeit Vautrin den Cromwell des Bagno nennt, ist ein geistiger Nachfahr von Byrons Corsar, leider auch ein Vorbote der in »Ferragus, chef des dévorants« und der »Histoire des treize« wiederkehrenden Häuptlinge von Geheimbünden, deren Genossen der Losung ihres Befehlshabers blindlings gehorchen, zu jeder Gewalttat hilfreiche Hand leisten müssen. Im »Israélite« hören wir von einer Brigandinopolis, der Vorahnung seiner Iliade der Korruption. Der »Vicaire des Ardennes«, der Bastard eines Bischofs und einer Marquise, erregte unter der klerikalen Herrschaft 1822 wegen seiner Flucht aus dem Zölibat gerichtliche Bedenken. Jane la Pâle, die romantische Geschichte der Doppelehe eines Herzogs, wirkt stofflich an- und aufregend. Meisterzüge der Charakteristik fehlen nicht, zumal in Geschichten, die unter der Restauration spielen: Genrebilder aus der unmittelbaren Umgebung des Erzählers, Familienporträte [in Jane la Pâle glauben wir ein lebenstreues Bild von Balzacs Mutter zu erkennen], gut geschaute napoleonische Veteranen aller Grade, Amtsleute, Schul- und Bürgermeister der Kleinstadt überraschen durch scharfe Wiedergabe, doppelt erfreulich dicht neben unwillkürlichen oder bewußten Zugeständnissen an den Massen- und Modegeschmack in unglaublichen, ungeheuerlichen Grusel- und Gespenstergeschichten.

Auch sonst wiegt sein literarisches Gepäck in den zwanziger Jahren nicht schwer. Seinen einbändigen Ausgaben von Molière und La Fontaine schickte er knappe Würdigungen ihrer Schicksale und Schriften voraus, die nicht voraussehen ließen, daß er mit den beiden, von denen der eine im Rahmen der Bühne, der andere im Kreis der Tierfabel Franzosen aller Klassen des Zeitalters Ludwigs XIV. verfestigte, bald nachher als Sittenschilderer des 19. Jahrhunderts wetteifern würde. In zwei, wahrscheinlich durch Buchhändlerbestellung entstandenen Flugschriften gibt er sich als Parteigänger der äußersten Rechten: im »Droit d'aînesse« tritt er für die unumschränkte väterliche Gewalt, das Recht der Primogenitur, die Unteilbarkeit großer Güter als Grundlage gesunder Gesellschaftsordnung ein. In einer »Histoire impartiale des Jésuites« ist er päpstlicher als der Papst: er verherrlicht den Orden als die größte aller auf Erden bisher erschienenen Gesellschaften und preist den Zaren als Fürsprecher der Wiederherstellung des Ordens: das Sündenregister der Jesuiten überläßt Balzac absichtslos oder unbedacht der ihrem vollen Wortlaut nach mitgeteilten Aufhebungsbulle Clemens XIV. Satirische Begabung regt sich in einem (gemeinsam mit Raisson verfaßten) »Code des gens honnêtes« oder die Kunst, sich vor Gaunern aller Art in acht zu nehmen; das muntere Pamphlet steigt von kleinen und großen Taschendieben zu den privilegierten Ausbeutern in Staat, Kirche, Justiz, zu Notaren, Wechslern, Spielhäusern auf. Dem Tagesbedarf dient ein Heft »Petit dictionnaire des enseignes de Paris par un batteur de pavé«: dieses Wörterbuch von Pariser Ladenschildern zeigt, daß Balzac nicht nur als Pflastertreter gewerbereiche Pariser Stadtviertel durchwandert, vielmehr für manche seiner berühmt gewordenen Schilderungen entlegener Straßenzüge und altväterischer Bauwerke der Weltstadt nachwirkenden Anschauungsunterricht gesucht hat: vielleicht empfing er auf einem dieser Gänge die Anregung zu seiner Geschichte des »Hauses mit der Ball spielenden Katze«. Aus den Jahren 1827/8 stammen auch spärliche lyrische Anwandlungen: die nachmals in den »Illusions perdues« eingeflochtene Ode an ein junges Mädchen (die Tochter von Madame Berny, die man ihm als Braut nachsagte); Fragmente einer Nachdichtung des Buches Hiob; und ein die Julirevolution verhöhnendes Epitaph: »Hier liegt die Muse Bérangers«. Unbeschadet einzelner hübscher Verse beweisen diese Proben, daß Balzac, wenn er in seinen Romanen Gedichte einstreute, in der Folge gut daran tat, Gautier und Musset um ihren Beistand zu bitten.

Nichts von den Romanen und dem anderen Kleinkram der zwanziger Jahre hat Balzac als reifer Künstler erwähnt: ihn bekümmerten diese Versuche seiner Frühzeit nicht einmal als Stufen seiner Entwicklung; sie gehören, wie Anzengruber von den Gedichten und Komödien seiner Schmierenzeit sagte, in seine »prähistorische Zeit«, so daß der Erforscher seines Lebenswerkes nur zu fragen hat, ob sein gewaltiger, seit seiner Knabenzeit gehegter Schöpferdrang von 1820-1829 feierte, oder in der Stille Stimmungen und Stoffe zu kommenden Werken sammelte. Der Überlegenheit seiner Naturgaben war er sich von früh an bewußt. Großsprecherisch bis zum Übermaß sagte er nicht bloß Madame Berny und seiner Schwester Dinge voraus, die Honoré de Balzac den Besten gleichstellen würden. So groß sein Selbstgefühl aber auch war, nicht minder groß war seine Selbstkritik. Zehn Jahre, so bemerkte Balzac als fertiger Meister, bedarf ein angehender Maler, Musiker, Bildhauer, Schriftsteller, bis er Herr seiner Mittel, der Besonderheiten der Technik seines Faches inne wird. Dieses Gebot hat er augenscheinlich selbst beherzigt. Seine Pariser Briefe und Kritiken aus dem Jahre 1830 zeigen, wie scharf und tief dieser selbständige Kopf die Wandlungen des Kunst- und Staatslebens im letzten Jahrzehnt der Restauration verfolgt, wie genau vertraut er sich gemacht hat mit den Größen der Zeit in Heimat und Fremde wie die Staël, Chateaubriand, Benjamin Constant, Hugo, Mérimée, Barbier, Musset, wie bestimmt er diese Ganzen von Halben und Schwachen, La Touche, Bibliophile Jacob usw. zu scheiden verstand; wie wenig er in den Zeitkämpfen der Klassiker und Romantiker durch ihre beiderseitigen Übertreibungen sein Urteil verdunkeln ließ; wie mächtig Goethes Faust, Schillers Franz Moor, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Tieck, selbst August La Fontaine von Deutschen, Goldsmith, Byron, Scott, Lewes, Anna Radcliffe, Maturin, Cooper auf ihn wirkten. Noch hatte er nicht entdeckt, daß er als Neuerer ein eigenstes Gebiet erschließen würde, doch schon in seinen Erstlingen bleibt er nicht im Bann seiner Muster, entfaltet er sich, je weiter seine Arbeit fortschreitet, als schöpferischer Geist, der unbetretene Bahnen sucht und unterwegs der Größe und Grenze seines Wesens bewußt wird.

Der Welterfolg Scotts, dessen sämtliche Romane der junge Balzac mit Begeisterung las, studierte, zeitlebens vor Augen hatte und bis an sein Lebensende höher stellte als Byrons Dichtungen, lockte ihn zur Nacheiferung, zu einer französischen Geschichte (walterscottée). »Bevor ich es unternahm, die Sittengeschichte meiner Zeit zu schreiben, habe ich gründlich bis ins einzelnste die wichtigsten Herrschaftsepochen der französischen Geschichte, die Kämpfe der Burgunder und Armagnaken, die Zeiten der Guisen und Valois durchforscht; meine Absicht war, eine pittoreske Geschichte Frankreichs zu geben: Isabella von Baiern, Katharina und Maria von Medici nahmen einen außerordentlichen Platz ein: unter diesen drei Frauen ist Katharina von Medici die interessanteste.« Balzac hat sie 1836 auch wirklich in den Mittelpunkt eines Zeitgemäldes gestellt, das ihre Politik, die Bartholomäusnacht, und die Bekämpfung der Hugenotten als geniale, geschichtlich gebotene Großtaten rechtfertigen will. Wohlberaten sparte Balzac diese fragwürdige Glorifikation für spätere Zeit auf. Instinktiv griff er, nicht wie Scott das mit Vorliebe tat, in ältere Epochen der Geschichte, in die Tage von Richard Löwenherz, Ludwig XI., Königin Elisabeth, Cromwell und der letzten Stuarts, sondern in die Zeit der französischen Revolution zurück, deren lebendige Zeugen er noch zu Rate ziehen konnte, in den von Napoleon als Riesenkampf bezeichneten Aufstand der königstreuen Bauern, Priester, Hochadeligen des Westens gegen die Republikaner, und es fügte sich besonders glücklich, daß der Schauplatz seines Romans, die Bretagne, der Wohnsitz eines alten Freundes von Balzacs Vater war: General Pommereul.

Dieser Schloßherr von Fougères war 1787 als französischer Artillerieoffizier nach Neapel zur Reorganisation des dortigen Heerwesens geschickt und dort Generalinspektor der Armee geworden; nach Ausbruch der Revolution verwehrten ihm die Italiener, als einem in ihre militärischen Verhältnisse zu sehr Eingeweihten, die Heimkehr; infolgedessen ächtete ihn die Republik als Emigrierten; seine Güter wurden verkauft, Frau und Kinder in Rennes gefangen gehalten. Erst 1796 konnte er wieder französischen Boden betreten. Verarmt und stellenlos fand er unvermutet Beistand durch einen früheren Bekannten: Vater Balzac brachte Pommereul ein paar Geldbeutel, die er mit den Worten auf den Tisch stellte: »Diese zehntausend Taler werden Ihnen nützlicher sein als mir. Sie werden sie mir zurückgeben, wenn man Ihnen wiedererstattet haben wird, was man Ihnen gestohlen hat.« Damit floh er wie ein Missetäter. Pommereul vergaß diesen Liebesdienst nie, so daß Honoré sich getrost an den General wenden durfte mit dem folgenden Anliegen: »Paris, 1. Sept. 1828. Mein Herr und Freund! Was viele Leute vorhersehen konnten und was ich selbst gefürchtet habe, als ich mutig ein Unternehmen begann und aufrecht hielt, dessen Anlage etwas Kolossales an sich hatte, ist endlich eingetroffen. Ich bin, nicht ohne Voraussicht meines mahnenden Gewissens, von der Höhe meines kleinen Vermögens herabgestürzt; die finanziellen Ereignisse, die den Pariser Platz beunruhigen, und man weiß nicht wohin führen werden, haben mich gezwungen, Einhalt zu tun. Dank der Hingebung meiner Mutter und der Güte meines Vaters haben wir Ehre und Namen auf Kosten ihres und meines Vermögens gerettet. Meine Liquidation deckt meine Schuld vollständig; ich bleibe mit dreißig Jahren im Besitz meines vollen Mutes und meines makellosen Namens. Ich teile Ihnen dieses traurige Ereignis nur infolge eines Umstandes mit, dem mein neuer Entschluß entstammt. Ich will wieder zur Feder greifen, damit ein beweglicher Raben- oder Gänsekiel mir zum Lebensunterhalt und zur Schadloshaltung meiner Mutter verhilft. Seit einem Monat arbeite ich an hochinteressanten geschichtlichen Werken und ich hoffe, daß mir in Ermangelung eines sehr problematischen Talentes vielleicht die nationalen Sitten Glück bringen werden. Ich sehe, daß mir meine Versuche bei noch so großem Eifer vor dem kommenden 1. Jänner keine genügende Jahreseinnahme bringen werde. Nun wurde mein Augenmerk durch den reinsten Zufall auf eine historische Begebenheit aus dem Jahre 1798 gelenkt, die sich auf den Krieg der Chouans und Vendéer bezieht und Stoff zu einem leicht ausführbaren Werk bietet. Es fordert keine besonderen weiteren Nachforschungen, nur aus unmittelbarer Anschauung geschöpfte Kenntnis von Land und Leuten.« Der General möge mit soldatischer Offenheit sagen, ob er zur Erfüllung dieser Absicht dem armen Romancier ein Zimmerchen in seinem Schloß einräumen könne: seine Muse, ein Tintenfaß, ein Stoß Papier würde wenig Ungelegenheiten machen, im übrigen genüge ihm ein Feldbett, ein Strohsack, ein Stuhl und ein Tisch, sofern er vierfüßig und nicht wackelig sei. Pommereul willfahrte brieflich diesem Wunsch und Honoré folgte dem freundlichen Ruf übereilig. Der kleine dicke, in seinem plumpen Anzug noch dicker scheinende Mann kam in einem so schäbigen Hut, daß ihm seine Wirte den Kauf eines neuen empfahlen: bei keinem Hutmacher des Ortes war aber eine Kopfbedeckung aufzutreiben, die für diesen Schädel groß genug gewesen wäre. So wenig gewinnenden Eindruck Balzac bei der Ankunft machte, sobald er den Hut abnahm, konnte man den Blick nicht von ihm wenden: wer diese Stirn, diese Augenlichter nicht sah, so berichtete die Hausfrau Jahrzehnte später, kann sie sich nicht vorstellen. Gut gelaunt hatte er eine Viertelstunde nach seinem Einzug alle Welt zum Lachen gebracht. Man quartierte ihn in einem Zimmer ein, das eine schöne Aussicht auf den in den Chouans geschilderten Hügelzug der Pélerine gewährte, der die Bretagne von der alten Provinz Maine scheidet. Die Stille tat ihm doppelt wohl nach dem Pariser Getöse. Seine Zeit war streng eingeteilt: so viel Stunden am Schreibtisch, so viel zu Wanderungen über Berg und Tal. Allein oder mit dem General durchstreifte er Wälder und Schluchten, sah sich in Weilern und Märkten um, plauderte mit den Bäuerinnen, zechte mit den Landleuten und kehrte dann spät, kotig, erschöpft, immer hungrig, den Sack voll Entdeckungen heim: urvergnügt, wenn er unbekannte Bräuche, mündliche Überlieferungen erkundet hatte. An dem Tag, an dem er erfuhr, was ein »piché«, ein »oribus«, ein »échalier« ist (mundartliche in die Chouans aufgenommene Ausdrücke für Apfelweinkrug, Pechfackel, Grenzpfahl) tanzte er vor Freude. Sorgsam durchforschte er die Trümmer des alten Schlosses Fougères, alle Baumgänge, Wallgräben, Promenaden, die verborgensten Winkel und Gewölbe, in denen sich Hauptszenen der Chouans abspielen, die Vorstädte St. Leonhard und St. Sulpice. Nachdem er seine Vorräte eingesammelt, setzte er sich an den kleinen Tisch, dem Fenster gegenüber, und hörte nicht auf zu schanzen bis zu den Mahlzeiten. Nur die Abende verbrachte er im Salon, übersprudelnd von Schnurren und Kalauern. Anfangs wollte er für seinen Aufenthalt zahlen: da er aber kein Geld hatte, tischte er zum Ersatz Geschichten auf. Die ganze Welt, von der er berichtete, lebe, liebe, leide, rühre sich in seinem Kopf (sagte er zur Hausfrau). »Das alles wird, wenn mir Gott das Leben gibt, sich rund zusammenschließen in meinen Büchern und das in berühmten Büchern, das sollen Sie noch sehen, Madame.« In den »Scènes de la vie privée« erkannten seine Wirte nachmals viele von ihm während seines Besuches erzählte Begebenheiten wieder, die er stets als Erlebnisse zum besten gab. Fragte man ihn: »Ist das wahr, Balzac?« dann antwortete er mit dröhnendem Gelächter: »Nicht ein einziges Wort ist wahr. All das ist purer Balzac.« Und während er Hausleute und Gäste des Schlosses und anderer bürgerlicher und adeliger Häuser als unerschöpflicher Erzähler unterhielt, drang er absichtslos und bewußt in alle Heimlichkeiten ihres Wesens und ihrer provinzialen Lebensgewohnheiten ein. Weit über den Kreis seiner Urbilder für die Chouans gewann er in der leibhaftigen Gegenwart in der Comédie humaine nicht vergessene Originale: so den tragikomischen Erzroyalisten, den übergalanten Chevalier von Valois, den grotesken, vom Schicksal genarrten Freier der Meisternovelle »La vieille Fille« und andere halbversteinerte Überbleibsel des ancien régime, Krautjunker, Stammgesellschaften von Bostonspielern usw. Als er nach zweimonatlichem Aufenthalt, von Pariser Gläubigern und Verlegern gedrängt, Fougères verlassen mußte, brachten Freunde und Bekannte den allen Liebgewordenen zur Diligence, wo sie sich unter Umarmungen verabschiedeten. Am 11. März 1829 kündigte Balzac die Vollendung seines Werkes, die vier Bände des »Dernier Chouan« an: »Was rede ich da von meinem Werk? Es ist ein bißchen das Ihrige, denn es besteht in Wahrheit nur aus den kostbaren Anekdoten, die Sie mir so gut und großmütig zwischen ein paar Schluck Ihres allerliebsten Weinchens und ein paar Bissen Ihrer Küchlein erzählt haben; sogar das Lied »Allons, partons belle«, das Herr Alexander sang, und der Melusinenturm ist in dem Buch zu finden. Alles darin gehört Ihnen bis zum Herzen des Autors, seiner Feder und seiner Erinnerungen.« So wohlverdient Balzacs Dank für seine freundlichen Wirte war, in Wirklichkeit greifen »die Chouans« weit hinaus über die »Anekdoten« des Generals Pommereul.

Marquis de Montauran ist unter dem Spitznamen »Le Gars« (der Bursch) der Führer der von altgläubigen Geistlichen fanatisierten, durch jahrhundertelange Abschließung weltfremden, halbbarbarischen Bauernschaft, die von dem revolutionären Regiment mit seiner neuen Wehrpflicht nichts wissen will. In ihren Verstecken führt sie einen erbarmungslosen Kleinkrieg gegen die »Blauen«, die gegen solche heimtückische Widersacher wehrlos sind. Die Chouans, so genannt nach dem Käuzchen, dessen täuschend nachgeahmter Schrei ihr Erkennungszeichen ist, halten den »Blauen« gegenüber jede Missetat für erlaubt. Die Klerisei gewährt Ablaß für jeden meuchlings erschlagenen Blauen. Die Chouans überfallen Postkutschen, rauben Reisende und Ortskassen aus, erpressen durch Folterungen von Geizhälsen, deren Sohlen die »Chauffeurs« dem Feuer aussetzen, ihre verborgenen Sparpfennige, strafen als eigenmächtige Femrichter echte und vermeintliche Verräter in der eigenen Landsmannschaft unmenschlich und leisten auf die Weisung ihrer Priester jedem Befehl ihrer hochadeligen Häupter Kadavergehorsam. Zum Niederringen der Chouans reichen, selbst als Bonaparte Konsul geworden, reguläre Truppen nicht aus: deshalb gesellt Fouché, zum Verdruß ehrenhafter, echt republikanischer Berufsoffiziere, den Soldaten zu jeder Niedertracht bereite Spione, und die stärkste Hoffnung setzt er auf eine Kurtisane, die den Gars in ihr Netz locken soll. Phantastisch angelegt, gibt sich Marie de Verneuil um den Judaslohn von dreihunderttausend Frank zu dem schändlichen Anschlag her. Angeblich fürstlichem Blut entstammt, gegen alle geschichtliche Überlieferung von Balzac als Witwe Dantons eingeführt, verliebt sich die Abenteurerin – wie die Spionin in Mérimées Drama »Les Français en Danemark« – in den zum Opfer ausersehenen Rebellen. Durch eine royalistische, eifersüchtige Beschützerin des Gars entlarvt, von dem bis dahin für sie entflammten Marquis scheinbar preisgegeben, von dem Spion Corentin durch gefälschte Briefe hintergangen, beschließt sie rachedurstig das Verderben des Gars. Ihre Ränke führen den noch immer für sie Erglühten zu einem Stelldichein nach Fougères, dem Hinterhalt, in dem er den Blauen ausgeliefert werden soll. In dieser letzten Zusammenkunft erfährt Marie de Verneuil zu spät, wie arglistig auch sie getäuscht wurde. Der Edelmut des Gars, der sich heimlich mit ihr trauen läßt, wandelt sie im Tiefsten. Sie will ihn retten und sucht als seine Doppelgängerin den Heldentod durch republikanische Kugeln. Die Läuterung von Hetären durch die Wechselfälle einer überromantischen Herzensgeschichte ist in dem seither verflossenen Jahrhundert in Romanen und Schauspielen bis zu solchem Überdruß abgewandelt worden, daß der moderne Leser wenig übrig hat für diesen Liebeshandel. Der Reiz und Wert der »Chouans« liegt anderwärts: in der visionären Kraft, mit der Balzac die Ankündigung des Untertitels verwirklicht, »La Bretagne en 1799« aufsteigen läßt. Landschaft und Menschenschlag der Bretagne, aufgewühlt durch die Wildheit und Roheit eines Volkskrieges, hat vor und nach Balzac kein Dichter und kein Geschichtschreiber überlegener geschaut und geschildert als der Schöpfer der Chouans. Er weiß um des Meistergeheimnis Walter Scotts, verdämmernde Vergangenheit sinnfällige Gegenwart werden zu lassen und ist wohlvertraut mit allen Heimlichkeiten seiner Hochlandromane, in denen ebenso verwegene als verschlagene aufständische Bergschotten bald auf eigene Faust, bald in Rotten Soldaten und Heerführer des englischen Königs zum besten halten und mehr als einmal auf das äußerste gefährden. Vom ersten Blatt an werden wir Zeugen der Listen und Handstreiche der Freischärler: Chouans überfallen einen von republikanischen Soldaten geführten Zug widerwillig zur Militärpflicht gepreßter bretonischer Rekruten; als scheinbar harmloser Aufpasser gibt Marche-à-Terre seinen im Gestrüpp verborgenen, hinter Granitblöcken lauernden Mordgesellen das Signal: diesen vielgewandten, erbarmungslosen Chouan, der Hunderte von Menschen hinschlachtete, hat Balzac noch von Angesicht kennengelernt, als der frühere Marche-à-Terre friedlich auf dem Markt von Fougères Viehhandel trieb; der Dichter hatte auf seinen Wanderungen in der Bretagne auch Schmuggler und Wilddiebe ausgeholt, die ehedem in den Reihen der Chouans Greuel auf Greuel häuften, im Wahn, einen heiligen Krieg zu führen: wir werden Zeugen der Gottesdienste, die eidverweigernde Priester in weltentrückten Wäldern halten, wir vernehmen die Brandreden, in denen jesuitische Emissäre zur Rache für die Hinrichtung des Königs, zur Rettung der von der Republik geschändeten Religion aufreizen. Und über dem Landvolk und Klerus wird auch der Adel nicht vergessen: in einer heimlichen Zusammenkunft treffen sich Verschworene der Vendée und Bretagne, darunter wenige selbstlos der großen Sache dienende Edelleute: die meisten in allen Abstufungen des Ranges und ihrer Vergangenheit gekennzeichneten Standesherren denken und kämpfen nur für das eigene Wohl, für die alten Privilegien, die ihren Geschlechtern Bischofssitze, Staatswürden, Titel und Pfründen sicherten. Der Zusammenstoß zwischen solchen unbelehrbaren Verteidigern aller Mißbräuche der absoluten Monarchie und den Freiheitsaposteln der Republik war unvermeidlich und naturnotwendig. Das predigen die Chouans nicht in dürren Worten: das verkünden Balzacs mächtige Zeitbilder in zwingender Anschaulichkeit. Recht und Unrecht wird in beiden Gruppen mit gleicher Wahrhaftigkeit aufgezeigt. Unter den Blauen gewinnen tüchtige Offiziere durch ihre Rechtschaffenheit jedes Herz; ihr Bekenntnis zur Republik wurzelt und gipfelt in ihrer Vaterlandsliebe, die den Chouans ihren Bund mit den ausländischen Feinden Frankreichs nicht verzeiht: doch auch diese Gerechten müssen im eigenen Lager die Ränke Fouchés, die Gemeinschaft mit seinen Spionen erdulden. So menschelt es da und dort, und Balzac, der sich später in der Öffentlichkeit als unbedingter Anhänger der Bourbons und des Katholizismus bekannte, entscheidet sich in den Chouans noch nicht zwischen den Losungen des ancien régime und des für eine größere Zukunft sorgenden Freistaates. In der Geschichte des historischen Romans in Frankreich gebührt den »Chouans«, die Vignys »Cinq-Mars« folgten und Victor Hugos »Notre-Dame de Paris« vorangingen, nicht nur wegen dieses Zeitpunktes ihrer ersten Veröffentlichung besondere Beachtung. Sie verleugnen die Schule Walter Scotts nicht und behaupten sich doch als selbständige künstlerische Schöpfung bis zur Stunde. Jahrzehnte hernach hat Victor Hugo, der sich stolz den Sohn eines napoleonischen Generals und einer Vendéerin nannte, gleichfalls den bretonischen Aufstand zum Vorwurf eines Romans gewählt: sein »1793« steht trotz mancher bedeutenden Einzelheiten nach meinem Gefühl weit zurück hinter Balzacs »Chouans«, denen eher Souvestres, in den gleichen Zeiten und Örtlichkeiten spielende, gleichfalls auf persönlichen Eindrücken beruhende stoffreiche, schlichte, versöhnlich abschließende »Mémoires d'un Sansculotte« zur Seite gestellt werden könnten.

In Frankreich fanden die »Chouans« beim Erscheinen bei der Kritik größeres Wohlwollen als beim Lesepublikum. Desto lebhafteren Anteil fand, zumal in der Frauenwelt, die »Physiologie du mariage«. Das Buch, mitangeregt vom Verleger Levavasseur, sollte sich anderen Modeartikeln anpassen. Balzac hatte selbst als Verleger, vermutlich auch als gelegentlicher Mitarbeiter, Büchlein in die Welt gehen lassen, die »die Kunst, Krawatten zu binden«, und die von ihm zeitlebens nicht ausgelernte Kunst lehren sollte, »mit seinen Gläubigern fertig zu werden, ohne seine Schulden zu bezahlen«. Die »Physiologie du mariage« spielt in ähnlicher Manier mit den Modeehen, in denen die meisten Gatten »minotaurisiert« werden. Man verstand und versteht Balzacs Absichten dabei falsch, wenn man in seinen Gedankengängen eine energische, vorbehaltlose Warnung vor dem Ehestand erblickt; man darf die scherzhafte Statistik nicht außer acht lassen, in der Balzac von vornherein die überwältigende Mehrheit von Millionen und Millionen arbeitswilliger Frauen, Bäuerinnen, alte Jungfern, Kleinbürgerinnen, Provinzlerinnen ausschaltet und letzten Endes höchstens vierhunderttausend Müßiggängerinnen der vornehmen Welt in den Kreis dieser »Physiologie der Ehe« zieht. So ist er im Grunde eines Sinnes mit dem philiströser Ansicht unverdächtigen Alfred de Musset, der 1836 in den witzigen »Briefen von Dupuis und Cotonnet« den Gegnern der Ehe ernsthaft einwendet: sie hätten vielleicht in den vornehmen Quartieren von Paris mitunter Risse im Eheband bemerkt; haben sie sich aber auch auf dem Land umgesehen? haben sie die Bäuerin betrachtet, die ihren Säugling stillt? haben sie sich gefragt, welche Wirkung ihre Modedoktrin auf robuste Karrenschieberinnen, auf gesunde und arbeitsame Ammen hervorbringen würde? Die Chaussée d'Antin sei nicht die ganze Welt. »Wissen sie, die von Ehebruch sprechen und zweifellos ihre Mätresse haben, was die Ehe ist – nicht die parfümierte, unter Seidenkleidern im wohltapezierten Boudoir, sondern auf grüner Wiese, im vollen Sonnenschein, auf dem Marktplatz, beim Ortsbrunnen, im alten Eichenbett?« Mussets Abwehr der von ihm geneckten »Neo-Sophisten« trifft Balzac nicht, der Goethes Klärchen als Muster preist, deutschen treuen Ehefrauen ein Loblied singt und nach den kecksten Bocksprüngen gequälten, bisweilen pedantischen und geschmacklosen Humors als einsichtiger Menschenkenner die Berechtigung der Ehescheidung trotz kanonischem Recht verficht und – wie Vater Balzac – die Bekämpfung der Prostitution fordert. Die lebemännische Leichtfertigkeit, mit der Metternich im Briefwechsel mit der Fürstin Lieven die Schalen seines Hohnes über strenge Ehemoral ausgießt, wäre nicht Sache Balzacs gewesen. Vieles, was die »Physiologie« beiläufig zur Sprache bringt, die Krankengeschichten heilbarer und heilloser Ehen hat er in der Comédie humaine tragisch und komisch in auf den Grund gehenden Romanen und Novellen mit der Gewissenhaftigkeit eines Naturforschers beschrieben. Und unbeirrt durch die Programme der Saint Simonisten, der Emanzipation des Fleisches, der freien Liebe, der Aufhebung der Monogamie prüft er die Ehemoral seiner Tage, die Wandlungen der gesellschaftlichen Zustände nicht nach vorgefaßten oder modischen Meinungen. Die Schlüsse aus solchen Beobachtungen und Erfahrungen zog er bei seinem in das nächste Jahrzehnt fallenden Besuch, den er George Sand in Nohant machte, in einem an drei aufeinanderfolgenden Tagen von 5 Uhr nachmittags bis 5 Uhr morgens fortgeführten Gespräch. Die Dichterin sagte, sie beide hätten als Hirten der Menschheit die Aufgabe, eine Reform der Sitten heraufführen zu helfen. Nach allem Für und Gegen war das Ergebnis ihrer widerstreitenden Ansichten das Zugeständnis der Sand: die Institution der Ehe biete überwiegende Vorteile. Das erste und letzte Wort der »Physiologie« überließ Balzac übrigens Napoleon: bei den Beratungen des Code sei der Kaiser von der Tatsache ausgegangen, daß im Orient und Okzident grundverschiedene Voraussetzungen grundverschiedenes Eherecht geschaffen haben. Und am Ende seines Buches wiederholt Balzac eine (schwerlich verbürgte) Äußerung Napoleons: es würde überhaupt keine Ehe geben, wenn die Männer nicht alt würden. Den sittlichen und praktischen Anregungen der »Physiologie« ging kaum jemand nach. Wohlmeinende wie Madame Berny verwarfen sie ganz. Skandalsucht und Lüsternheit hielten sich an die Frechheiten der eingestreuten Kasuistenfragen und mit Diderotscher Knappheit erzählte Anekdoten oder guterfundene »beispielmäßige« Geschichtchen. Gelesen wurde die Physiologie von Weltkindern so fleißig wie von Betschwestern, und Balzac hatte bald seine liebe Not mit Damen aller Alters- und Gesellschaftsstufen, die ihn als weltlichen Beichtvater mit Skrupeln, Einreden, Ehestands- und Ehebruchsbekenntnissen brieflich und mündlich bestürmten.

Noch ganz anders als mit dieser Physiologie der Ehe bewegte Balzac die Geister und Gemüter mit der »Peau de chagrin«, einem Buch, dessen Titel, wenn ich mit meiner Vermutung nicht irre, auf einen Satz des von Balzac jederzeit als Großmeister seines Denkens und Schaffens gepriesenen Rabelais zurückgeht. In der »Moralité« der Urausgabe der »Peau de chagrin« berief er sich auf die Worte: »Les Thélemites estre grands mesnagiers de leur peau et sobres de chagrin« – die Thelemiten wahren ihre Haut (peau) frei von Kummer (chagrin). Im Gegensatz zu dieser weltfrohen Weisheit Rabelais' schließt Balzacs »Peau de chagrin« mit verzweifelten Wehrufen über den Zwiespalt von Welt und Zeit. Schon in seinen Pariser Briefen wies er auf »die Schule der Enttäuschung« hin, wie sie sich 1830 in Mussets »Confession d'un enfant de siècle«, Nodiers »Histoire des sept châteaus du roi de Bohême«, seiner Physiologie du mariage, Stendhal-Beyles »Le rouge et le noir« bemerkbar gemacht. Der anonyme Verfasser der »Physiologie« schicke sich an, die Illusion ehelichen Glücks, dieses ersten Gutes der Gesellschaft, zu zerstören. Mussets »Confession« verkünde, daß Religion und Absolutismus tot seien. Nodier werfe sein Auge auf Staat, Gesetz, Wissenschaft und schließe: Wissenschaft sei Einfalt; wozu? was ist sie mir? Dann entreiße uns Stendhal den letzten Fetzen Menschlichkeit und Glaube; er sucht zu beweisen, daß Dankbarkeit ein leeres Wort sei wie Liebe, Gott, Monarch. Vielleicht – so endet dieser Rückblick mit einem vermutlich der just dem Abschluß zudrängenden Peau de chagrin geltenden Ausblick – wird ein Mann kommen, der in einem einzigen Werk diese vier Ideen zusammenfassen wird. Dann wird das 19. Jahrhundert einen Rabelais des Schreckens haben, der die Freiheit erdrücken wird, wie Stendhal das menschliche Herz erfrieren macht.

Enttäuschung ist in der Tat das erste und letzte Wort der »Peau de chagrin«. Unverkennbar an den eigenen Lebenslauf des in seinen ersten 30 Jahren hart heimgesuchten Balzac anknüpfend, erzählt das Buch den Leidensweg eines genial angelegten Jünglings. Raphael de Valentin hungert und friert in einer elenden Dachkammer, als Dichter und Forscher zu fernen hohen Zielen strebend, bis er sein Herz an eine Dame der großen Welt, Foedora, verliert. Gefallsüchtig spielt diese Salonheldin mit dem Schwärmer, der sie für einen Ausbund von Geist und Gemüt hält. Sehnsüchtig will er wissen, was das Innerste der vergötterten Schönheit bewegt. Er schleicht sich in ihr Schlafgemach und belauscht, nachdem sie sich entkleidet und zu Bett begeben hat, ihre geheimsten Selbstgespräche: sie gelten dem Kursblatt und ihrem Bankier. Angeekelt durch die Leere und Herzlosigkeit der Heißgeliebten, nicht geschaffen zu einem wüsten Lüstlingsleben, durch seine Not jeder Aussicht beraubt, seine Entwürfe als Künstler und Gelehrter zu vollenden, setzt und verliert er seinen letzten Napoleondor in einer Spielbank des Palais Royal: dies einleitende, zuerst in einer Zeitschrift gedruckte Kapitel machte durch seine Wucht solchen Eindruck auf den jungen, dazumal in Paris weilenden Bulwer, daß er die Schilderung sofort in seinem Werk »Frankreich« wiederholte. Raphaels nächster Weg geht zur Seinebrücke. Fest entschlossen, seinem Elend durch einen Sprung in den Strom ein Ziel zu setzen, verschiebt er dies Äußerste bis zur Dunkelheit. Der Lebenssatte schleppt sich eine Weile weiter und tritt in einen der am Seineufer gelegenen Antiquitätenladen, in dem sich Musterstücke der Kultur und Unkultur aller Zeiten und Zonen wie im Wirrwarr eines Welttrödelmarktes drängen – Sinnbilder der geistigen und künstlerischen Schöpfungen und Mißgeburten aller Völker, denen der Grübler ehedem vergebens die Lösung aller Erdenrätsel abfragen wollte. Zuletzt erscheint dem durch diese Fülle der Gesichte Betäubten, vor Erschöpfung in Halbschlaf Versunkenen im Wachtraum der Inhaber dieser Kuriositätensammlung, ein eisgrauer, mephistophelisch gemutender Jude. Der gespenstische Alte forscht ihn aus, und Raphael verschweigt dem Greis den letzten Grund seines Lebensüberdrusses nicht: hoffnungslose Not, da er zu stolz sei, Hilfe von irgendwem zu erbitten. Der Jude weist ihm daraufhin ein Unikum, das ihm, unabhängig von jedem fremden Beistand, Erfüllung jedes Wunsches gewähren könnte: die mit orientalischem Kunstfleiß zugerichtete Haut eines wilden Esels. Ein magisch leuchtendes Amulett, dessen Kehrseite in Sanskritlettern die von dem auch dieser Sprache kundigen Raphael enträtselte Inschrift trägt: »Wenn du mich besitzest wirst du alles besitzen. Aber dein Leben wird mir gehören. Gott hat es also gewollt. Wünsche, und all deine Wünsche werden erfüllt werden. Aber regle deine Wünsche nach deinem Leben. Es ist in ihnen beschlossen. Bei jedem Begehren würde ich dahinschwinden wie deine Tage. Willst du mich? Dann nimm mich. Gott wird dich erhören. Also sei es.« In den Jahrtausenden, die seit der Niederschrift dieser Botschaft durch einen Brahminen verflossen waren, hatte niemand, auch nicht der jetzige Besitzer des Talismans, gewagt, die Zaubermacht dieser Wundergabe zu versuchen, die mit der Dauer des eigenen Daseins so verhängnisvoll verknüpft ist. Raphael, der nichts mehr zu verlieren hat, greift aber nach dem Talisman, der beiläufig den Umfang eines Fuchsfelles hat. Ungläubig traut er den Worten des Juden so wenig, daß er noch im Antiquitätenladen auf der Stelle Reichtümer, Bacchanalien, maßlose, Fausts Forderungen an Mephisto vergleichbare, Schicksalswenden begehrt: für den Augenblick vergebens. Doch beim ersten Schritt auf die Straße stellt sich zu seiner Überraschung Segen und Fluch der Zaubergabe ein. Just vorübergehende Kameraden nötigen ihn, sofort das Festmahl eines durch verräterische Mordanschläge zum Nabob gewordenen Zeitungseigentümers mitzumachen, der zur Gründungsfeier seines Blattes Literaten und Kurtisanen geladen hat, um sie durch Verschwendung ohnegleichen zu verblüffen. Und wie das Verlangen nach sardanapalischen Festen, erfüllt sich sein Verlangen nach märchenhaften Schätzen durch einen der Gegenwart gemäßen Zauberschlag: ein Notar bringt als Testamentsvollstrecker eines in Kalkutta gestorbenen Verwandten Raphael eine Millionenerbschaft. So lebenssatt Raphael tags vorher den Spieltisch des Palais Royal verlassen hat, so lebenshungrig ist er von Stund an. Krankhaft ängstlich verschließt er sich vor aller Welt. Er weicht jedem Wunsch aus, um jeder Verkürzung seiner Tage vorzubeugen. Umsonst. Der Kampf gegen die, wenn auch verhaltene, doch unbesiegbare Begehrlichkeit der eigenen, wie aller menschlichen Natur ist aussichtslos. Das Chagrinleder rückt ihm beständig deutlicher und drohender Linie um Linie sein Los vor Augen. Es schrumpft immer mehr zusammen: immer kleiner nimmt es sich allmählich wie ein Eichenblatt, zuletzt nur noch wie ein Windlingsblättchen aus. Kein Arzt kann sein Leiden bannen, kein Chemiker, Mechaniker, Technologe das Chagrinleder verlängern; vergebens will er sich des Talismans entledigen, das Chagrinleder in einen tiefen Brunnen versenken: ein Gärtner der das Amulett arglos herausholte, bringt es dem Verzweifelnden zurück. Auch seine Wiederbegegnung mit dem Stifter des Talismans zeigt ihm den Hohn seines Schicksals: er hat dem mehr als Hundertjährigen beim Abschied aus seinem Laden spöttisch gewünscht, sich in eine Tänzerin zu verlieben: auch dies Begehren wird erfüllt: Raphael trifft den Händler, der sich für einen jeder Leidenschaft unzugänglichen Weisen hielt, im Foyer der Italienischen Oper als jugendlich geschminkten, fratzenhaften, Grauen erweckenden Galan einer Modekurtisane wieder. Und auch dieses von Raphael unbedacht dem Urgreis zugedachte groteske letzte Liebesabenteuer hat ihm ein Stück Leben, einen Zoll Chagrinleder gekostet. Zu gleichem Unheil schlägt jedes düstere und freundliche Zwischenspiel aus: ein Zweikampf, in dem sein Widersacher fällt; sein Herzensbund mit der Einzigen, die Valentin seit jeher selbstlos geliebt hat, die Tochter seiner früheren Mansardenvermieterin, Pauline, die der sinnlos Rasende brünstig umfängt; das letzte Restchen des Chagrinleders wird in dieser Aufwallung vergeudet, sein Ausgang ist unaufhaltsam.

Dieser Totentanz zieht in einer Freskenreihe vorüber, die niemand Balzac vor- oder nachgemacht hat. Die Spielbank im Palais-Royal, der Antiquitätenladen am Quai Malaquais haftet unvergeßbar im Gedächtnis. Die Orgie im Palast des verrufenen Bankiers ist die Ausgeburt von Phantasien, wie sie nach Balzacs gelegentlicher scherzhafter Selbstironie nur im Hirn hungernder Studenten aufsteigen – grandios im Taumel maßlosen Prassens, unbändiger Sinnlichkeit willfähriger, feiler Schönheiten, im Wortrausch lästernder Landsknechte des Journalismus; noch grandioser in der Aschermittwochstimmung des grauenden Morgens, in den zwischen Schamlosigkeit und Verzweiflung wechselnden Ausbrüchen der Hetären. Die an die Schülerszene im Faust anklingende Abrechnung mit selbstgerechten Wortführern der Wissenschaft, hadernden Ärzten, eingebildeten Pedanten ist in ihrer schroffen Einseitigkeit von teuflischem Humor. Tröstlich ist einzig und allein das Jugendidyll: Paulinens verschämte Fürsorge für den darbenden Musensohn Raphael und sein später, kurzer Halt in einem weltfernen Alpental. Sonst erscheint eine Welt, in der Geschöpfe von der Reinheit und Güte Paulinens unterliegen, indessen die Verkörperung der Modegesellschaft Foedora in ihrer verhärteten Selbstsucht triumphiert, fluchwürdig und todesreif.

Die Weltschmerzdichtung jener Jahre hat wenige Schöpfungen von gleicher Bedeutung hervorgebracht. Im Naturselbstdruck zeigt das Werk das damalige Abbild von Balzacs Universum. Der Erfolg des Buches war von Anfang an außerordentlich, und die Peau de chagrin hat, wie Oscar Wildes »Bildnis des Dorian Grey« bezeigt, Nachfolge bis auf jüngere Geschlechter gefunden. Als Urbilder Foedoras wurden mehr als siebzig Salonköniginnen, unter ihnen so grundverschiedene, wie die kühle Madame Recamier und die Geliebte Eugène Sues, die nachmals Rossinis Frau werden sollte, Olympia Pellissier genannt. Spaßvögel warfen die Frage auf, was geschehen wäre, wenn Raphael den Wunsch ausgesprochen hätte, das Chagrinleder möge sich ungemessen ausdehnen. Der vielbelesene Philarète Chasles unterlegte der Dichtung in einer überschwenglichen Anzeige vielfach seine eigenen Gedanken und nannte die Peau de chagrin ein Strafgericht, bei dem die Gesellschaft unter den Klängen einer Rossinischen Musik zur Stäupung und Brandmarkung auf das Schafott geschleppt wird. Das rühmlichste Zeugnis für den Wert des Buches war aber, daß Goethe (was Balzac leider nie erfahren sollte) sich angelegentlich damit beschäftigte und im Gespräch mit Soret das Urteil fällte: man könne jede Einzelheit darin angreifen, auf jeder Seite Verstöße und Extravaganzen des Verfassers finden, mit einem Wort, mehr Mängel als nötig, um ein sonst gutes Buch zu vernichten, und doch sei es unmöglich, das Werk eines mehr als alltäglichen, ganz vorzüglichen Geistes zu verkennen und es ohne Interesse zu lesen.

Bedeutsame Aufschlüsse über seine letzten Absichten gab Balzac nachträglich selbst: er schrieb an Montalembert, dem er sich für einen wohlwollenden Artikel im katholischen Correspondant verpflichtet fühlte: sein Buch wolle, wie das Vorbild der Natur und das Muster seiner Meister, in seinem Knochengerüst verborgenes Mark bieten; im Chagrinleder sei, mit Ballanche zu reden, alles Mythus und Symbol; es sei die allgemein gefaßte Formel des menschlichen Lebens, abgesehen von den Individualitäten. In seinen weiteren Bemerkungen stößt man auf die Keimzelle des Planes der Comédie humaine: ihm erschien die Peau de chagrin wie der konzentrische Grundriß eines Riesenbaues; diesem Urentwurf würden die Individualitäten folgen, alle besonderen Existenzen, von der niedrigsten bis zu der des Königs und Priesters, dieser höchsten Gipfel unserer Gesellschaft. In diesen Bildern werde er die Wirkungen des Gedankens im Leben verfolgen. Dann soll ein anderes Werk, betitelt Geschichte der Erbschaft des Marquis von Carabas, das Leben der Nationen formulieren, die Phasen ihrer Regierungen und in besserer Form beweisen, daß die Politik sich im Kreise drehe und offenbar stationär sei, daß Ruhe nur in einer starken hierarchischen Gesellschaft sei.

Wie sehr er sich zur Lösung so gewaltiger Aufgaben berufen fühlte, sprach er 1831 in einer anonymen Ankündigung seiner »Contes philosophiques« aus: »Es ist die Natur, die die Erzähler schafft. Du kannst ein Gelehrter, ein ernster Schriftsteller sein, wenn du nicht als Erzähler zur Welt gekommen bist, wirst du nie die Volkstümlichkeit erlangen, die (Radcliffs) Mysterien Udolphs und der Peau de chagrin, Tausendundeine Nacht und Balzac zuteil geworden. Ich habe irgendwo gelesen, daß Gott Adam in die Welt gesetzt und der Namensschöpfer ihm dabei gesagt hat: Du bist nun der Mensch. Könnte man nicht ebenso sagen, daß er Balzac mit dem Wort in die Welt gesetzt hat: Nun bist du die Erzählung.« »Die philosophischen Erzählungen sind die Brandmarkung einer in Ausschweifung und Wohlleben verderbten Zivilisation. So ist Tausendundeine Nacht die vollständige Geschichte des erschlafften Orientes in den Tagen seines Glückes und seiner duftschweren Träume. So ist Candide die ganze Geschichte einer Epoche, in der es Bastillen, Hirschparks und einen absoluten König gab. Indem Hr. v. Balzac also im ersten Anlauf seinen Platz an der Seite formidabler Erzähler einnahm, bewies er, daß das Drama, das heute nicht mehr auf dem Theater möglich ist, noch in der Erzählung möglich erscheint. So war die Überraschung groß, daß wir dank diesem Erzähler noch etwas unter uns gefunden haben, was der Dichtung gleicht, die Feste, den Rausch, das Freudenmädchen, das inmitten der Orgien seine Liebkosungen erhitzten Blutes verschenkt; Punsch, der von blauen Flammen gekrönt, herumkreist; die Politik in Glanzhandschuhen; der moschusgeschwängerte Ehebruch; die Armut, von Sauberkeit, Schicklichkeit und glücklichen Zufällen umgeben; die Oper und ihre Dirnen, das rosenfarbene Boudoir und seine weichen Vorhänge; der Festschmaus und seine Nachwehen; wir haben selbst die Ärzte Molières gesehen: so sehr bedarf dieser Mann der Sarkasmen und Grotesken. Je weiter wir in der Peau de chagrin fortschreiten, desto mehr erkennt man erstaunt und schmerzbewegt, daß dieses 19. Jahrhundert, in dem wir leben, wirklich also beschaffen ist. Die Peau de chagrin ist Candide mit Randbemerkungen von Béranger – die Miseren, der Luxus, der Glaube, die Spottsucht, die Brust ohne Herz, der Schädel ohne Hirn des 19. Jahrhunderts, dies Jahrhundert schimmernder Wahngebilde, von denen man in 50 Jahren nichts mehr wird erfahren können, außer der Peau de chagrin.«

Soviel gegen diese maßlose, nichts weniger als geschmackvolle Selbstverherrlichung im ganzen und einzelnen einzuwenden ist: in der entscheidenden Behauptung hat Balzac recht, daß nur die Natur den Erzähler schaffe, und daß er selbst als geborener Erzähler ein solcher Auserwählter der Natur sei. Gleich die ersten seiner »Szenen aus dem Privatleben« brachten 1830 unwiderlegliche Proben dieser Behauptung: Frauenschicksale aus Adels-, Bürger- und Soldatenkreisen, vor allem aber das Charakterbild des dämonischen Wucherers Gobseck. Der hält, seiner Geldmacht als der Beherrscherin seiner Zeit und Welt bewußt, mit ein paar geringeren, ihm geistig und materiell nicht gewachsenen Geschäftsgenossen im verborgenen Heerschau über die Taschen und damit über die Lebens- und Herzensgeheimnisse von Hoch und Nieder, Männlein und Weiblein, verschuldete und unverschuldete Not. Jeder Täuschung unzugänglich hört er aus verlogenen Beichten und ehrlichen Wehrufen seiner Opfer stets die Wahrheit heraus und bereichert also zugleich mit seinem Barschatz an Gold, Juwelen, Pfandstücken aller Art seine den meisten Beichtvätern, Polizisten, Politikern, Tragikern und Komöden überlegene Menschenkenntnis. Balzacs Gobseck ist eines der ersten und dauerhaftesten Meisterblätter seiner Charakterköpfe: dem Maler gebührt dieses einzigen Bildnisses willen ein sicherer Platz in jeder Weltgalerie. Sehr begreiflich, daß – wie das erste Kapitel, Raphaels letzter (am Spieltisch des Palais-Royal gesetzter und verlorener) Napoleondor Bulwers Anteil weckte – Gobseck den just in Paris weilenden Charles Sealsfield zur Nacheiferung bestimmte: der gleichfalls von der Natur zum Erzähler bestimmte österreichische Romancier ließ sich sogar verleiten, Balzacs Geschichte Zug um Zug zu plagiieren.

Glücken Würfe wie Gobseck auch nur dem geborenen Genie, zur Kunstübung gleicher Art regte Balzac zur selben Zeit die ganze Künstlerschaft in »Proben französischer Plauderstunden« an. In einer kleinen Abendgesellschaft unterhalten sich die Gäste mit allerhand selbsterlebten, heiteren und ernsten Geschichten. Ein Arzt erzählt, wie eine Frau, die von einem Jugendgeliebten überrascht wurde, aus Angst vor ihrem Gatten kniefällig bittet, ihrer Schwangerschaft ein Ende zu machen und, da der Doktor das Gesetz nicht verletzen will, in hilfloser Verzweiflung einem Kurpfuscher sich ausliefert, der sie grauenhaft in einem menschenunwürdigen Schmutzwinkel verbluten läßt. Offiziere geben Abenteuer aus den napoleonischen Kriegen zum besten: wie ein Italiener einer Wette willen in Spanien einen arglosen Vorposten überfällt, der Leiche das Herz ausreißt, das er bratet und ißt. Ein anderer sah in Kärnten einen General wie einen Holofernes hausen, Greise zu knechtischem Drehen der Sporen seiner Furiere erniedrigen, die Haustochter zur Meuterei herausfordern, seine Untergebenen aus Lust am Bösen zu unmöglichen Märschen kommandieren, um sie ans Messer zu liefern. Ein vierter wagt mit der Historie herauszurücken, wie eine ängstliche Klosterschülerin vor ihrer Hochzeitsnacht durch die von einer weltunkundigen Nonne an einem brünstigen Hengst exemplifizierte Prophezeiung von dem ihr bevorstehenden Geschick in tödlichen Schreck gejagt wird. Ein fünfter trifft einen blutjungen, gutartigen Tourainer Bauernknecht, der als Mörder zum Schafott geführt wird; er hat seinen Herrn mit einer Eisenstange erschlagen, weil ihm der nicht rechtzeitig das versprochene Marktgeschenk, eine rote Paradeweste für die Kirchweih, heimbrachte. Nach diesen und anderen schlicht berichteten Begebenheiten meint einer der Zuhörer: das Gräßliche der Wirklichkeit ist gräßlicher als alles, was von Gräßlichem gefabelt wird. Und auf dem Heimweg epilogiert Balzac: »Ich kann bekräftigen, daß, abgesehen von leichten Ungenauigkeiten, die weder den Wortlaut noch den Sinn verändert haben, all das von Leuten von hohem Verdienst gesagt wurde. Ist es nicht ein interessantes Problem für die Kunst, zu wissen, ob die solcherart kopierte Natur an sich schön ist? Wir alle wurden durch diese wahren Geschichten stark bewegt: würden sie solche Wirkung auch auf Leser üben? Wir gehen in Ausstellungen, um auf äußeren Glanz gestellte Malerarbeiten zu sehen und achten nicht auf Geschöpfe, die in den Straßen von Paris herumwimmeln und schöner sind, schön in ihrem Elend, schön in ihrem Ausdruck, erhabene Kreaturen, wenn auch in Lumpen. Heute schwanken wir zwischen der Idealisierung und der lebenstreuen Wiedergabe der Tatsachen, der Ereignisse, der Menschen. Wählen Sie!« Die Wahlentscheidung wird nach der Naturanlage des Schaffenden und des Beschauenden verschieden ausfallen. Balzac entschied sich mit Vorliebe für »la traduction littérale des faits, des hommes, des évènements«. Allein so wenig der Erzähler der Chouans die Sache der Republikaner oder der Royalisten zu der seinigen machte, so wenig band sich der Dichter der Phantasiestücke der »Peau de chagrin« und des »Livre mystique«, der Schöpfer der Ausnahmenaturen des Geizteufels Grandet, des Rebellengeistes Vautrin, des Erfindergenies Claës, des Neiddämons Cousine Bette, der in den »Contes drolatiques« sprachlich und geistig altertümelnde Jünger und Schüler altfranzösischer Vorgänger an eine einzige maniera. Ebenso formen- als stoffreich wechselte er wohlabwägend, je nach seinen Vorwürfen, Art und Kunst seines Vortrages.

Gespräche, Gestalten, Geschichten, wie sie die »Echantillons de causerie française« festhielten, hatten sich seit Jahrzehnten in seinem Gedächtnis in so unabsehbarer Menge aufgesammelt, daß kein Menschenleben hingereicht hätte, dieser Erinnerungen künstlerisch Herr zu werden. Und wieviel neue Anregungen neuerdings jeder neue Tag ihm brachte, bezeugen seine für den Voleur geschriebenen Leitartikel, seine Kritiken im Feuilleton der Revue politique, seine für diese und andere Blätter improvisierten Skizzen aus dem Alltagsleben. Schon der Katalog seiner Arbeiten im Jahre Dreißig füllt Seiten, und es ist nicht zu viel gesagt, daß Balzac nur der Zahl nach in zehn bis zwölf Monaten Artikel und Bücher fertig brachte, zu denen andere Jahrzehnte brauchen würden. Seine Aufsätze über die Zustände der Hauptstadt nach der Julirevolution sind auf andere Töne gestimmt, als die gleichzeitigen jauchzenden Tagebuchblätter Heines und Börnes revolutionäre Prophezeiungen. Er sieht das tausendjährige Reich noch lange nicht gekommen, zeigt nicht bloß in seinem sehr ernstgemeinten Scherzgedicht »Ci-gît la Muse de Béranger«, daß mit den Liedern auch die Ideen des Chansonniers und mit ihnen die Apostel der Freiheit zuschanden geworden. Viele Märtyrer der Julikämpfe wurden mit größtem Undank mißliebig, unbedankt für ihre Wunden, beiseitegeschoben. Nachdem Balzac in einer Reihe von Chroniken das Ränkespiel der zerklüfteten Parteien, die schmollenden, tatenscheuen Legitimisten, den Wettlauf um die Ministerposten, das Für und Wider von Laffitte, Guizot, Thiers, Lafayette beredet hat, macht er sich den Spaß, den guterfundenen Gegenbrief eines Ackerbürgers aus der Provinz zu bringen, der dem Artikelschreiber grad und grob erklärt, ihm sei sein ganzes Geschmiere so gleichgültig, wie die von ihm genannten neuen Minister und Kammerredner; ihn bekümmere nur das Gedeihen seiner Felder, Weinberge, Viehherden; in seiner Landwirtschaft habe sich nicht das geringste geändert; die Steuern würden mit gleicher Strenge eingetrieben, auch seit statt der weißen die dreifarbige Fahne vom Kirchturm flattere. Von Anfang ist es Balzac klar, daß mit Louis Philipp an Stelle eines bevorrechteten Hochadels das bevorrechtete Großkapital trete, daß eine neue Aristokratie, die häßlichste von allen, die des Geldadels, den Adel der Geburt ablösen würde. Auch die Lockerung der Zensur, die Begünstigung des unter der Restauration verpönten Napopoleonkultus blendet ihn nicht; er findet es lächerlich, daß die Vendôme-Säule sozusagen in Kupfergroschen ausgemünzt wird, daß die Déjazet Napoleon in einer Hosenrolle darstellt, daß Napoleon-Porträts in Gerstenzucker und Seife verbreitet würden: »Triumphe töten einen Menschen oder eine Idee; durch Verfolgung leben religiöse oder politische Dinge auf.« Sowie die gegenwärtige Regierung Theater und Autoren emanzipieren würde, werden sie in Marasmus versinken. Voltaire und Diderot, Rousseau und Courier lieferten moralische Schlachten. Die Revolution von 1789 hat kein einziges Meisterwerk hervorgebracht, weil man alles tun und sagen durfte. Schriftsteller glänzen nur durch Angriff oder Widerstand.

Balzacs auswärtige Politik ist ungestüm bis zur Tollkühnheit: er sähe Belgien am liebsten zu Frankreich geschlagen und fordert mit den natürlichen Grenzen auch den Rhein: von solchen Wagnissen sei das Ministerium der Zwerge weit entfernt: für seine Pläne wären Leute von der Energie des Conventes und Carnots, der politische Elan von 1792 und Gewalthaber wie Napoleon notwendig.

Seltsame Betrachtungen erweckt ihm 1830 die gleichzeitige Erkrankung Goethes und des Papstes, des Dichters von Faust und des Statthalters Christi. Das hätte vormals Paradies und Hölle der Zivilisation, die Ungläubigen und die Frommen in Aufregung versetzt. Das Haupt der satanischen Schule, dem wir Lord Byron und alle Schöpfungen verdanken, in denen das Verbrechen in weißen Handschuhen kraftvolle Gegensätze hervorbringt und unsere durch so viele Revolutionen geprüfte Seelen aufs neue erschüttert, wird voraussichtlich mit dem obersten Haupt der Gläubigen aus dieser Welt scheiden; wo werden sich die beiden finden? Der eine vergöttert von den Menschen, der andere vielleicht schlecht empfangen von den Heiligen.

Die Krone dieser Aufsätze bildet die Umschau, die Balzac an der Jahreswende von 1830/1831 über Weltpolitik und Weltliteratur hält. Zu Beginn des Jahres 1830 sei Europa unter dem Joch von drei Männern: Metternich, Wellington, Polignac; zwei Worten: Priesterschaft und Legitimität; und einem System: der heiligen Allianz, gestanden. Von diesen drei Männern seien zwei gefallen, nur der dritte regiere noch; die zwei Worte bedeuten nichts mehr, und die heilige Allianz sei zertrümmert.

Ebenso kühn wie die Umwälzung der staatlichen behandelt Balzac den Wandel der geistigen Zustände. Mit seltenem Weitblick zieht er außer den bildenden und redenden Künsten auch die jüngsten Entdeckungen und Erfindungen in seinen Gesichtskreis, mißt er die Leistungen der Denker und Forscher der Gegenwart am Wollen und Vollbringen der Größen des vorigen Jahrhunderts mit dem Ergebnis, daß das 19. Jahrhundert auf diesen Gebieten dem 18. nicht den Vorrang lassen müsse. Selbstsicher vertraut er diesem Aufschwung der unabhängigen Geister, und unverzagt setzt er sich Riesenaufgaben, die zu bewältigen nur eine Riesennatur imstande war.


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