Otto Julius Bierbaum
Stilpe
Otto Julius Bierbaum

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Das Freimaurerinstitut in Dresden-Friedrichstadt verfolgt nicht, wie man aus dem Namen schließen könnte, den Zweck, Freimaurer zu züchten, sondern es erblickt seine Bestimmung darin, aus jungen Knaben, die zu Hause schwer zu glätten sind, wohlpolierte Jünglinge zu machen. Es führt sie aber nicht bis zu jenen Höhen der Bildung, deren Erklimmung die Thore einer Universität öffnet, sondern es begnügt sich mit der bescheideneren, aber zuweilen doch recht mühereichen Aufgabe, seine Pflegebefohlenen nur bis zum Vorhofe des Tempels zu bringen. Dort giebt es ihnen einen leisen Schlag auf die Schulter (so, wie es den jungen Fohlen geschieht, wenn man sie aus dem Stalle läßt) und befiehlt sie der fördernden Gnade dessen, der aus Tertianern nach und nach Primaner und weiterhin im sanften Gleisgange Studenten, Doktoren, Pastoren, Professoren, geheime Räte, wirkliche geheime Räte, kurz allerlei Lichter oder auch wohl blos Leuchter macht.

Mein Freund Stilpe, von dem ich hoffe, daß ich ihn einst unsern Freund werde nennen dürfen (aber man hofft manchmal verwegen), wurde aus zweierlei Gründen in die Obhut dieser wissenschaftlichen und moralischen Brutanstalt gegeben.

Einmal geschah es deshalb, weil der Vater notwendig nach Südamerika reisen mußte, um dort auf irgendwelchen besonders begnadeten Wiesen irgendwelche Schmetterlinge zu fangen, die sich darauf kaprizieren, just und nur dort ihr Dasein hinzubringen, und die deshalb noch immer nicht in die ihnen gebührende Klasse der wissenschaftlichen Schmetterlingsordnung eingetragen waren. Stilpe-Vater hätte aber nicht mit der Seelenruhe, die zu einem solchen Geschäfte nötig ist, in das ferne Land ziehen können, wenn er seinen Sohn nicht in männlicher striegelnden Händen gewußt hätte, als es die der guten Stilpe-Mama waren. Denn es muß gesagt werden, daß Mama Stilpe kein eigentliches Talent für Knabenerziehung besaß. Sie war, eine liebe, nette und hübsche Frau übrigens, zu sanftlebig dazu und hatte das, für andere Kinder vielleicht recht passende, auf Willibald angewandt aber nicht ganz richtige Prinzip, lediglich mit Bonbons zu erziehen.

Sie handelte dabei nicht nach irgend einer pädagogischen Schulmeinung, sondern ganz instinktmäßig. Da sie nämlich selber eine Liebhaberin von Konfitüren aller Art war, so hatte sie die Bemerkung gemacht, daß nichts auf ihre Psyche so beruhigend, begütigend, ja im eigentlichsten Sinne bessernd und, wenn die Bonbons besonders auserlesen waren, erhebend wirkte, als die linde sich lösende Süßigkeit dieser Konditorerzeugnisse, und sie meinte nun, es müsse das bei dem noch naiveren Kontakt zwischen der kindlichen Zunge und Seele im Kindesalter erst recht so sein.

In den einzelnen Fällen hatte es auch immer den Anschein, als ob sie recht hätte. Der kleine Willibald, so hatte man ihn in der Taufe benannt, reagierte wie ein Engel auf Bonbons. Aber von der höheren Betrachtungswarte der väterlichen Kritik aus machte es sich bald bemerkbar, daß das Allgemeinbild der Willibaldschen Entwickelung sich nicht völlig so süß ausnahm wie die einzelnen Reaktionserscheinungen. Kurz gesagt: Willibald war außerhalb der jeweiligen Bonbonwirkungen eine beträchtliche Range.

Der andre Grund zur Überführung des jungen Knaben ins Freimaurerinstitut lag mehr auf wissenschaftlichem Gebiete.

Wenn jemand einen Sohn bekommen hat, so meldet sich, kaum daß die erste Windel trocken geworden ist, die ernste Frage: Was soll der Junge werden? Ist es erstaunlich, daß Stilpe-Vaters Antwort darauf mit der Sicherheit einer Reflexbewegung lautete: ein Lepidopterologe? Diese Antwort ist durchaus begreiflich. Stilpe senior empfand wie jeder Vater seinen Sohn als eine Fortsetzung seiner selbst; was lag da näher, als daß er in ihm auch den zukünftigen Fortsetzer seiner Lebensaufgabe sah? Und nun konnte er sich zwar sagen, daß er selbst schon manchen Schmetterling zur Ehre der Wissenschaft aufgespießt hatte, aber die sattsam bekannte Bescheidenheit unsrer exakten Wissenschaftler erfüllte ihn doch zu sehr, als daß er nicht auch hätte hinzufügen müssen: Es giebt immer noch unaufgespießte Schmetterlinge genug, ja übergenug. Welch ein lieblicher Gedanke aber, daß der Sohn die Schmetterlinge einregistrieren wird, die einzuregistrieren dem Vater von einem neidischen Schicksale versagt gewesen!

Indessen: Stilpe-Vater war ein starker Geist und wußte die Subjektivität des väterlich Angenehmen von der Objektivität der Pflichten zu trennen. Er sagte sich: Man muß alle Thüren offen lassen und bis zu dem Zeitpunkt warten, wo man aus den Schritten des jungen Menschen ungefähr ersehen kann, zu welchen er sich am fügsamsten leiten lassen wird. Nur nicht schieben und stoßen! Er war durch seinen Beruf an zartere Hantierung gewöhnt.

Daher gab er denn seinen Sohn, als der im lateinfähigen Alter war (ach, wie bald ist das ein Deutscher!), nicht mit plumper Hast auf ein Gymnasium, sondern richtete sein Augenmerk auf eine Anstalt, die beide Wege, den in die Humaniora, und den in die Realistika, offen ließ. Eine solche Anstalt war das Freimaurerinstitut. Im Allgemeinen mehr den realistischen Disziplinen des menschlichen Wissens gewidmet, besaß es doch auch eine Selekta für die unter seinen Zöglingen, die es nach den Reizen des klassischen Altertums oder wenigstens nach den Laufbahnen gelüstete, die nur der lateinisch und griechisch geaichte Jüngling betreten darf.

So ward Willibald, als er acht Jahre alt war, in die Zöglingsschaar des Freimaurerinstitutes eingereiht.

Acht Jahre alt! Mit Bonbons erzogen! Sehr eigensinnig! Sehr zart! Sehr blaß! Und nun plötzlich unter dem Glassturz zärtlichster Bemutterung hervorgezogen und einer Knabenstriegelungsanstalt überantwortet, die geradezu spartanischen Erziehungsgrundsätzen huldigte . . .!

Oh mein kleiner Willibald, was wirst du erleben müssen! Wehe, die Zeit der Bonbons ist vorüber.

Willibald erhielt die Nummer 171, als er ins Institut eintrat. Man schrieb sie ihm mit Tinte in die Wäsche, nähte sie ihm in die Kleider, klebte sie ihm in Stiefel und Mütze; sie stand auf seinem Kleider- und Bücherschrank, sie stand auf seinem Bette, sie stand auf seinem Waschbecken, seinem Stiefelwichsplatz, seinem Seifenkasten; und auch auf dem hölzernen Gewehre stand sie, mit dem er exerzierte. Denn es wurde exerziert in diesem Institute, exerziert unter der Leitung zweier schnauzbärtiger ehemaliger Unteroffiziere, die auch sonst als Knabendresseure einen wichtigen Platz im Erziehungsplane dieser martialischen Anstalt hatten.

Man kann daraus erkennen, wie eminent modern die Anlage dieses pädagogischen Institutes war. Sie ging nicht aufs Sentimentale, sondern aufs Robuste aus, sie wollte nicht Romantiker erziehen, sondern Realisten, sie wusch die jungen Häute nicht mit Mandelmilch, sondern mit Bimsteinseife. Wie in den meisten dieser Internate, so lebte auch in ihr das bewährte Staffelprinzip des Lebens, das sich in Kürze so darstellen läßt: Die Unteren sind die Fußschemel der Oberen, und keiner kommt ungetreten in die Höhe. So erfüllen diese Anstalten aufs Vollkommenste den erzieherischen Zweck, aufs Leben vorzubereiten. Denn sie nehmen es in seiner ganzen Rohheit vorweg. Der Spaltpilz des Illusionismus wird mit kräftiger Hand ausgemerzt, und die bedenkliche Neigung mancher jungen Seelen ins Optimistische wird durch reichlich und konsequent applizierte Blitzgüsse weggeschreckt.

So redet unsere erwachsene Philosophie. Aber, liebe Leute, so ein kleiner Junge von acht Jahren . . . Mein Gott, woher soll der erwachsene Philosophie haben? Er begreift mit nichten die Heilsamkeit des lebensvorbildlichen Getretenwerdens, er versteht ganz und gar nicht, wie wertvoll es ist, sich die junge Haut durch Schinden abhärten zu lassen, ihm fehlt jeder Sinn für das realistisch Tüchtige dieser ganzen Methode. Er fühlt sich einfach kreuzunglücklich. Er denkt an Muttern und weint.

So auch Willibald.

Was hat der arme kleine Kerl geheult unter seiner Bettdecke! Und wie hat er manchmal mit den Zähnen geknirscht vor Ingrimm, wenn ihn die Oberen drangsalten, ihn, den »Battling«. So wurden nämlich die Kleinen genannt.

Die Battlingschaft war bitter wie die Rekrutenzeit. Ach nein: Wohl bitterer noch. Denn, was so eine junge Seele empfindlich ist, das kann sich ein erwachsenes Gehirn manchmal gar nicht mehr vorstellen.

Deshalb wird es gut sein, ich lasse den Battling selber reden.


 << zurück weiter >>