Otto Julius Bierbaum
Stilpe
Otto Julius Bierbaum

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Drittes Kapitel.

Obwohl das Cénacle keine moralische Anstalt war, so bedeutete es für Stilpe doch einen Haltepunkt und eine Verbindung wenigstens mit der Fiktion »extra-alkoholischer Tendenzen«.

Stilpe führte damals kein Tagebuch mehr, denn er hatte überhaupt das »unzüchtige Verhältnis mit Büchern« aufgegeben, aber zuweilen, wenn er sich übel fühlte, ergriff er, wiederum in seinem Stile von damals zu reden, den »Stecken und Stab des Bleistiftes und wanderte gedankenvoll über die ausgebleichte Wüste weißen Papieres«.

Einige dieser Notizen sind geeignet, ein Stück seiner Seele von damals erkennen zu lassen:

 

Die Gelbmützelei ist ein scheußlicher Unsinn und meiner unwürdig. Aber ich selbst bin meiner unwürdig, denn ich werfe die gelbe Mütze diesen Idioten nicht vor die Füße, sondern ich trage sie noch immer mit einer lachhaften Würde. Heiße jetzt Erster Chargierter gar. Kann man tiefer sinken?

Ich tyrannisiere diese gelbmützigen Banausen mit vollendeter Kunst und einigem Genuß, und keiner von ihnen erfreut sich mehr eines intakten Magens. Nie wurde so gesoffen wie unter meiner Ägide. Was soll man auch mit diesen Knaben anderes anfangen? Frösche muß man in den Sumpf treiben.

Ich fange an, unzufrieden mit mir zu werden und erwäge den Plan, diese gelbe Blase zu sprengen. Wenn ich sie nur nicht alle so tiefgründig angepumpt hätte . . .

Und außerdem: Was soll ich denn sonst anfangen? Noch scheint die Zeit nicht erfüllt zu sein, wo ich mich diesem Herrn Geheimrat Ammer, falls er sich nicht schon zu seinen Vätern versammelt hat, als Stütze des Staates anbieten kann. Oder sollte ich tatsächlich studieren? Welch eine Idee!

Nicht mal für Liebe habe ich genügend Zeit. Wann, frage ich, wann kann ich mit Hingabe und Hinnahme lieben?

Um zehn Uhr zerrt mich der Leibfuchs aus dem Bett und kredenzt mir das Antidotum gegen den Datterich, die liebliche Lase voll Culmbacher Biers.

Bis zwölf Uhr pauke ich der Füchse summende Herde für die Mensuren ein.

Dann salbt mich der Friseur, und bis um drei Uhr treib ich die braven Knaben in die Lichtenheiner Schwemme.

Hol sie der Teufel, ich beneide sie! Denn selbst dieses Lehmwasser macht sie betrunken.

Auch mein Mittagsmahl erledige ich um diese Zeit. Es ist erstaunlich, wie mäßig ich darin bin. Rohes Fleisch und Caviar, etliche Eier und Bouillon erhalten diesen schwachen Leib.

Von drei bis fünf der Kaffeelachs; doch ist das ein leerer Name, denn ich habe längst den Kaffee durch Liköre ersetzt, und statt des Skates herrscht der Lederbecher mit den Knobelknochen. Das ist meine palaestra musarum, denn erstens erfinde ich neue Knobeltouren und zweitens muß ich beim Mogeln immerhin aufpassen.

Das erschöpft mich sehr, und ich begebe mich nun auf das schwarze Ledersopha in der Kneipe, wo ich der Ruhe pflege, bis das Gas angebrannt wird und die werten Knaben anrücken, um bis früh zwei, drei Uhr von mir vollgeplumpt zu werden.

Mir scheint, das ist kein Leben nach dem Geschmacke Apollos und der neun Musen, – oder sind es zwölf? Ewig verwechsle ich die Apostel mit den Musen.

Und die Liebe! Sie muß hungern!

Liebe und Alkohol sind feindliche Mächte. Tragisches Geschick, beiden hold zu sein.

Zuweilen giebt es Mensuren. Ich leugne nicht, daß diese kleine Aufregung mich amüsiert.

Trinkt man vorher fünf Cognacs, so ist man erstaunlich wacker und ließe sich mit Heroismus den Schädel spalten. Nein: Lieber blos die Backe, denn das ists ja, was den Menschen ziert, und dazu ward ihm der Verstand: Der Durchzieher.

Ich glaube, jetzt etwa einschockmal gefochten zu haben, wenn man diesen mathematischen Wechsel von Schlag und Parade fechten nennen kann. Man gewöhnt sich daran wie der Pudel ans Baden.

Das Schönste dabei ist der Geruch, diese allerliebste Mischung von Jodoform, Carbol, Cognac und ein bischen Schweiß. Es wirkt wie ein Aphrodisiacum auf mich. Aber es ist möglich, daß ich ein bischen pervers bin. Blutdurst und Wollust! Gieb mir dein Herz zu saufen, Laura: Ich liebe Dich!

Die schweren Sachen meid ich. Meine Säbelmensur war nicht eigentlich prima nota. Ich hatte den Cognac überschätzt. Man muß entschieden Porter dabei zur Hand haben. Porter und Cognac zusammen macht sicher sehr säbelmutig. Man muß nur auch die Dosis richtig bemessen.

Ich halte es nicht für ausgeschlossen. daß ich ohne Alkohol mehr horazischen als achilleischen Mut bewähren würde.

Dies unter uns gesagt.

Kürzlich focht ein Jüngling auf unsre Waffen, der entsetzliche Angst hatte, sich aber doch nicht eher umdrehen ließ, als bis er einen ausgewachsenen Durchzieher hatte. Später gestand er mir, daß er »aus Liebe« gefochten hätte.

– Wie? rief ich, hat Ihr Gegner sich erfrecht, Ihr Fräulein Braut zu betasten?

– Ach nein, sagte er, meine Braut wünscht nur, daß ich einen schönen Schmiß habe.

So heroisch sind die Töchter Thusneldas angelegt.

– Hörst du nicht den Eichwald rauschen?

Als ich noch Bücher las, habe ich irgendwo das Diktum gefunden, daß der Mensch nie verzweifeln könne, denn es bleibe ihm auch beim schlimmsten Zahnweh immer die tröstliche Möglichkeit des Selbstmordes.

Ich habe ein Analogon dazu; ich sage mir: Du kannst zwar versumpfen, aber es bleibt Dir immer noch die Möglichkeit, Journalist zu werden.

Diese Verachtung des Journalismus gehörte zum Repertoire des Cénacles, aber Stilpe fing doch bereits an, sich mit dem Gedanken sehr vertraut zu machen, daß ihm schließlich die Laufbahn des Zeitungslitteraten blühen möchte.

Zwar war er keineswegs an seiner dichterischen Bedeutung irre geworden; der Nagel saß fest. Aber der Umstand, daß er jetzt im Grunde nicht einmal mehr Pläne zu künftigen Werken machte, kam ihm doch manchmal zum Bewußtsein, und dann sagte er sich: Ich bin eine zersplitterte Natur, der Fluch des modernen Menschen lastet auf mir, daß wir uns nicht sammeln können; gut also, so ziehe ich ohne Wehleidigkeit den Schluß daraus und schlage mich zu jenen, die ihre Goldbarren täglich stückweise und halb ausgeprägt vor die Masse werfen müssen.

Und sofort malte er sich eine vollkommene Umwälzung der deutschen Zeitungslitteratur aus, die vor sich gehen würde, wenn er zu ihr gehörte.

Aber, als ihm ein Artikel, den er einmal in den Ferien geschrieben hatte, zurückgeschickt wurde, erfaßte ihn gleich wieder der große Ekel vor diesen »öffentlichen Männern, die sich zeilenweise prostituieren und sich von ihren weiblichen Berufsgenossinnen nur dadurch unterscheiden, daß sie nicht gutmütig wie jene sind.« Und die Zeitungen nannte er nun wieder »Holzpapierbordells«.

Um diese Zeit war es, daß Girlinger wieder vor ihm auftauchte.

Girlinger hatte in Zürich und Genf studiert, trug schwarze Coteletten, einen Cylinder und immer Handschuhe. Er war sehr gesetzt und durchaus solide. Sein Plan war eigentlich gewesen, romanische Philologie zu studieren, und er hatte diesem Fach, wofür er Fleiß und Talent in sehr hohem Grade besaß, auch wirklich mit Eifer obgelegen, aber, da sein Vater darauf bestand, er müsse sich der Jurisprudenz widmen, so hatte er sich schließlich dazu verstanden und trieb nun auch Jurisprudenz mit Eifer und Zielbewußtsein. Ein gewisser Zug von echter Resignation stand ihm dabei sehr gut. Äußerlich erlebt hatte er so gut wie nichts, aber er hatte viel an sich gearbeitet.

Als er Stilpen zum ersten Mal in seiner gelben Mütze sah, nahm er seinen Cylinder sehr tief und zeremoniell ab und machte sogar eine Verbeugung dabei.

Stilpe empfand das als Hohn und stürzte sich auf ihn:

– Ach, der Herr Referendar! Welch ein Cylinder! Wo hast Du die Sametbürste, Freund meiner Jugend?

Girlinger erwiderte: Ich schlage einen anderen Stil vor, wenn wir uns unterhalten wollen. Übrigens bin ich meinem Examen ferner als Du, denn ich stehe im ersten juristischen Semester.

– Ich schlage vor, daß wir weder von Semestern noch von Examen reden, wenn wir uns unterhalten wollen. Ich spreche nicht gerne von gleichgültigen Dingen. Nur zu Deiner Orientierung bemerke ich, daß ich immer noch als stud. jur. et phil. immatrikuliert bin, ohne indeß von diesen Würden Gebrauch zu machen. Ich fahre noch immer fort, mir das Leben anzusehen. Auch trinke ich gerne Spirituosisches. Du scheinst mir dagegen ein buveur d'eau zu sein.

– So, Mürger kennst Du auch?

– Es giebt keinen besseren Kenner dieses Klassikers. Schade übrigens, daß die Stelle eines Barbemuche in unserm Cénacle schon besetzt ist, ich würde sonst Dir meine Fürsprache nicht vorenthalten.

– Danke. Ich bin nicht für gelbe Mützen.

– Köstlich! Nein, diese Biermütze hat mit dem Cénacle nichts zu thun. Dein Cylinderhut läuft keine Gefahr, wenn Du uns die Ehre und das Vergnügen machen willst, der definitiven Aufnahme des Herrn Lehmann in das höhere Barbemuchiat beizuwohnen. Morgen Abend um acht auf meiner Bude, wenn ich bitten darf. Oder fürchtest Du Dich vor ostpreußischen Bowlen . . .

– Herr Lehmann ist wohl ein Idiot?

– Nein, ein Idealist, aber mit Baarmitteln. Du wirst Deine Menschenkenntnis bereichern, wenn Du kommst, und außerdem einige Chorgesänge vernehmen, die sich meiner Verfasserschaft rühmen. Wenn Du aber nicht kommst, so werde ich mich aus Gram betrinken und in der Betrunkenheit dem Cénacle Deine Flucht nach Griechenland erzählen.

– Warum soll ich nicht kommen? Da Herr Lehmann die Bowle bezahlt, bin ich ja sicher.

– Schön, aber Cigarren kannst Du wenigstens mitbringen.

– Ich rauche nicht.

– Um so besser, so wirst Du uns nicht berauben. Aber merke Dir die Marke: Henry Clay. Schreib Dirs ins Notizbuch. Eine Kiste genügt. Schreib aber Clay richtig, nicht wie das Kuhfutter, sondern so: C . . . l . . . a . . . y. So ists richtig. Du wirst wohl empfangen sein!

– Sind Weiber dabei?

– Pfui! So einer bist Du? Daher der Cylinderhut und die Koteletten? Kalipsichore verhüllt ihr Haupt.

– Wer?

– Kalipsichore, die Muse der epischen Tanzkunst, wenns gefällig ist. Sie wird persönlich da sein. Im Civil heißt sie Hulda Ranker. Du kennst doch das Zeitwort rankern?

– Ich glaube, Du bist betrunken.

– Bleibe fest und glaube getrost, Du wirst nicht irre gehn. Aber vergiß die Cigarren nicht! Du kannst auch Huldan ein Corsett mitbringen. Ich habs ihr schon lange versprochen. Doch von Seide muß es sein!

Girlinger hielt es für gut, sich nun zu verabschieden.

– Total versumpft! dachte er bei sich. Und wie der Mensch aussah! Dieses angeschwemmte Fett unter fast gelber Haut! Diese unstäten, schwimmenden Augen! Und salopp! In einem Corps scheint er nicht zu sein. Sogar die Wäsche nicht sauber. Und die Hand feucht. Wie er dahin geht, der richtige Gewohnheitssäufer, der zwar nicht direkt schwankt, aber doch auch nicht richtig gradeaus gehen kann. Natürlich auch Gedankenflucht. Er kann sicherlich keine zehn Zeilen logisch schreiben. Delirantenphantasie. Ein Ragout im Hirnkasten. Wie viel Schulden mag der Mensch haben!

Girlinger hatte ein schönes psychologisches Thema für sein Tagebuch.

Stilpes Wohnung lag im Durchgang der großen Feuerkugel (Einst wohnte Goethe hier – jetzt Wir!) drei Treppen hoch und bestand aus einem mäßig großen Zimmer und einem Alkoven.

– Der einzige Fehler dieser Bude ist, pflegte Stilpe zu sagen, daß sie gerade Wände hat. Schiefe Wände wären stimmungsvoller. Aber man beachte die charaktervolle Schäbigkeit der Ausstattung! Wer angesichts dieses pöbelhaften Sophas, dieser kontrakten Stühle, dieses ewig wackelnden Tisches und dieses immer aufklaffenden Kleidersargs, von dem infamen »Napoleon in der Schlacht bei Leipzig« ganz zu schweigen, daran dächte, hier die Miete nicht schuldig zu bleiben, müßte ein gefühlloser Barbar genannt werden. Was aber das Bett anlangt, meine Lieben, so giebt es keine vorlautere Bestie als dies. Es quietscht schon, wenn man es ansieht, geschweige denn . . . aber das ist ein rein musikalisches Thema.

In dieser Wohnung also, die wirklich abscheulich war, versammelte sich am folgenden Sonntage das Cénacle zur Feier der endgiltigen Aufnahme des Philologen Lehmann, der soviel Geschmack am Cénacle genommen hatte, daß er sich selber an den gröbsten Verhöhnungen seiner Person beteiligte.

Stilpe erschien eine halbe Stunde vor Beginn der Festlichkeit. Mit ihm betrat Hulda Ranker das Zimmer. Sie that es mit der Sicherheit einer Person, die mit den Lokalitäten vertraut ist. Hübsch war sie eigentlich nicht, aber sie hatte das gewisse Pusselig-Graziöse der Leipzigerin, an der der Kenner noch heute die Erbreste aus jener galanten Zeit bemerkt, in der, wie die Kulturhistoriker sagen, »die Leipzigerinnen an lockerer Moral mit den Pariserinnen um die Palme rangen.«

Die Moral Huldas war wohl nie sehr fest gewesen, aber Stilpe hatte sie, obwohl er erst vor vier Wochen dem Mädchen »das Taschentuch zugeworfen« hatte, derart gelockert, daß sie vollkommen durchsichtig geworden war. Aber das stand Fräulein Hulda gerade gut. Sie gehörte zu den Mädchen, die an Charakter gewinnen, indem sie an Moral verlieren.

Im Übrigen war sie schlank, von guter Taille, brünett und passabel angezogen. Tagüber verkaufte sie Cravatten. Diesem Umstand verdankte die geistsprühende Scherzfrage Stilpes ihr Dasein: Welcher Unterschied besteht zwischen Hogarth und mir? Antwort: Jener malte ein Crevettenmädchen, ich bedichte ein Cravattenmädchen.

Aber mit dem Dichten sah es auch in diesem Falle windig aus. Außer dem verwegenen Ritornell:

O holde Hulda!
Ganz ohne Makel wärst Du, reimtest Du Dich nicht
Auf Ludwig Fulda

existierte keine Zeile, zu der Fräulein Ranker Pathe gestanden hätte, und auch dieses zierliche Stachelpoem verdankt seine Entstehung mehr Stilpes Antipathie gegen »diesen schreibenden Kapitalisten«, als seiner Liebe zu der braunen Verkäuferin, ganz abgesehen davon, daß es eine von den auch sonst nicht seltenen Improvisationen seiner Skandierkunst war, die sich auf einen Reimzufall zurückführen ließen.

– Laß die Rollfahnen runter, Mädchen, und mach Licht! kommandierte Stilpe. Es giebt hier in der Umgegend keusche Augen, die sehr lüstern sind. So! Die Beleuchtung ist mangelhaft, aber das kommt Deinem Teint zugute. Im Schummerigen wirken die Weiber überhaupt am besten. Daher die vielen Rendezvous bei der Gaslaterne. Das elektrische Licht wird die Rendezvous stark reduzieren, und Herr Siemens ist für die Moral sehr viel wichtiger, als der Sittlichkeitsverein.

– Quatsch nich, Käfer. Heute wird so wie so wieder furchtbar geredet werden.

– Sehr richtig! Aber auch getrunken, meine braune Taube, ja sogar gegessen, und zwar keineswegs Schweinsknochen mit Klößen, sondern fabelhafte Sachen. Außerdem wirst Du drei neue Männer kennen lernen und zwar 1) jenen Lehmann, 2) einen Herrn im Cylinder und 3) einen Cylinder mit einem Herrn.

– Mit Deim närrschen Zeig! (Huldas Aussprüche müssen immer Leipzigerisch gelesen werden, auch wenn sie deutsch wiedergegeben sind.)

– Ich rede ernst wie immer. Der dritte Mann ist nämlich der kleine August, den Kenner trotzdem August den Starken heißen.

– Warum denn?

– Nicht blos im Biceps liegt die Kraft des Manns! . . .

– Komm, sag mir, warum er August der Starke heißt!

– Ich werde mich hüten, denn ich liebe Dich. Nur soviel: Dieser kleine Mann, der sich durch einen hohen Cylinder zu recken trachtet, ist ein fulminanter Musikus und würde schon viele Opern geschrieben haben, wenn er nicht immer trinken müßte. Zwar behauptet er, ich wäre schuld daran, weil ich ihm den Text nicht schreibe, den ich ihm versprochen habe. Aber das ist eben jene Schlange, die sich in den werten Schwanz beißt: Ich dichte nicht, weil er nicht komponiert, und er komponiert nicht, weil ich nicht dichte. Ergo müssen wir beide saufen.

– Sag doch nicht saufen, das klingt so ruppig.

– Kann ich dafür, daß die Wahrheit ein Rauhbein ist?

– Du bist eins!

– Und dennoch liebt mich Deine Sanftheit! Aber es klingelt! Schwing Dich hinaus, Mädchen!

Es war Herr Lehmann mit drei Packträgern. Er machte eine tiefe Verbeugung, der man die Tanzstunde ansah, vor Hulda und begrüßte Stilpen ehrerbietig.

– Schön, mein Engel, sprach dieser, ich sehe, Du hast Alles gut in die Wege geleitet. Nun laß mich das Auspacken überwachen. Setz Dich zu diesem schlanken Mädchen, aber halte Dich in den Grenzen der Wohlanständigkeit. Noch bist Du nicht in der Gemeinde derer, denen Alles erlaubt ist.

Und nun kommandierte er:

– Der die Flaschen hat, vortreten! . . . Ah! Sie! Gut gewählt, der Mann. Er ist würdig, volle Flaschen zu tragen! Lieben Sie Nordhäuser? Schon gut! . . . Nun packen Sie aus! Vorne ran die dicken Flaschen! Gut! . . . Wieviel? Sechs? Gut! . . . Jetzt die kleinen stämmigen! Das müssen vierundzwanzig sein! Stimmts? Gut! Sehr gut! . . . Jetzt die rothalsigen! Süße Kerlchen, was? . . . Zehne? Da fehlen zweie! Mensch, Sie werden doch nicht? Ah, da strecken sie ja die roten Hälse vor. Zu den anderen! Schön ausrichten! Gut! Ganz gut und wacker! . . . Sie waren gewiß Unteroffizier. Natürlich! Es lebe der Reservemann! . . . Aber jetzt die Gelbkapseln, die feierlichen und steifen Gelbkapseln! . . . Drei! Ja, ja, es werden nicht mehr. Aber reichen Sie mir mal eine. Schön. Ich bin zufrieden. Lassen Sie sich auszahlen bei dem Herrn dort. Er wird Ihnen auch ein paar Cigarren geben.

– Jetzt der zweite mit dem Freßkober und dem Geschirr! . . . Umgotteswillen vorsichtig! Den Bowlenbauch mitten auf den Tisch. Die Gläser wie ein Kranz herum. . . . So! Sie haben Talent, alter Herr . . . Nun die Teller. Aber da soll dieses Fräulein helfen . . . Hulda, arrangiere das Tellerwesen. Und nimm Dich auch der Messer und Gabeln an. Und nun: Was ruht im werten Schrein!? Gut! . . . Gut! . . . Es ist Alles in rechtem Verhältnis, sowohl das, was dem Meere entstammt, wie das vom festen Lande. Die ganze Geographie ist vertreten, von der Adria bis zum schwarzen Meere . . . Ja, die Eisenbahnen sind ein rechter Segen, nicht wahr, Mister? . . . Und nun lassen Sie sich gleichfalls von dem verehrten Gastgeber auslohnen. Auch Sie haben drei Cigarren extra verdient.

– Und nun der Düstere in der Ecke mit dem schwarzen Sarg! Heran und ausgepackt! . . . Wie? Ein Cello? Seit wann zählt das zu den Viktualien? . . . Ah, Du willst kniegeigen? Schön! Placet! So kann ich mir mein Bettduo sparen.

Die Packträger traten ab.

Kaum waren sie draußen, so hörte man in einer Art Baßfistel kreischen: Infames Rindvieh! Haben Sie keine Augen? Das Luder hat mir die Galloschen abgetreten!

Und herein stürmte ein kleiner Mensch mit kurzem weißen Stoppelbarte, kaum einen Meter hoch, aber mit einem hohen Röhrenhute bedeckt. Er schrie immer noch und fuchtelte dabei mit seinem Regenschirm herum: Meine rechte Gallosche! Dieses Trampeltier! Wie? Ochse! Direkt auf die Gallosche! Ich gehe sofort!

– Aber August! Siehst Du die Dame nicht? klagte Stilpe. Und sofort war der kleine Mann friedlich.

– Hehe! Warten Sie, mein Fräulein, gleich komm ich und lege mich Ihnen zu Füßen. Blos den Hut und Schirm und Mantel, puh, diesen zentnerschweren Mantel, diese Rüstung, Luder, das . . .

Herr Lehmann stürzte herbei und nahm dem Kleinen die Garderobe ab.

– Sehr nett, Herr . . .?

– Leh . . . Barbe . . . (Herr Lehmann wußte im Cénacle bis jetzt noch nicht, wie er hieß).

– Sehr freundlich, Herr Lehbarb!

Stilpe wieherte vor Entzücken.

– Gottverdammich, was heulst Du wie eine Lokomotive! Willst Du mich wahnsinnig machen? Kennst Du keine Rücksicht? Ich gehe sofort!

– Aber August! Du hast Dich dem Mädchen immer noch nicht zu Füßen gelegt.

– Oh, oh, oh, oh, Dein Geschrei! Dein Geschrei! Aber jetzt liege ich schon!

Und er fuhr auf Hulda los und ergriff ihre Hände und machte dabei eine Verbeugung, so daß er sie niederzog wie einen Plumpenschwengel.

– Ach, die reizenden warmen Händchen! Uh, uh, uh, ti, ti, ti, so warme kleine Patschen! Mm, mm, mm! Heißen?

– Hulda heißt das Mädchen, bemerkte Stilpe.

– Hab ich Dich gefragt? Weg! Weg! Kommen Sie, Huldachen, zu mir aufs Kanapee, Huldachen.

Er schleppte sie förmlich zum Sopha, auf das er sich nach türkischer Art setzte, weil er europäisch sitzend mit den Füßen nicht zum Boden gereicht hätte.

Das Zimmer war jetzt eigentlich schon voll, aber es kamen noch sieben Personen, nämlich:

  1. Girlinger, der sich überaus schüchtern und mit der ganzen Ratlosigkeit eines stark kurzsichtigen Menschen benahm, dem die Brille angelaufen ist. Die Cigarren hatte er mitgebracht;
  2. Stössel, der diskret den Corpsstudenten zu markieren bemüht war und übrigens etwas blasiert aussah. Mit ihm
  3. Fräulein Grete Gramm, genannt das allitterierende Mädchen, eine etwas üppige Blondine, phlegmatisch, aber unendlich verliebt. Übrigens eine »Bürgerstochter«;
  4. Wippert, der jetzt einen sehr schönen dichten Schnurrbart hatte und nicht ganz geschickt den ungezwungenen Weltmann spielte. Mit ihm
  5. Fräulein Clara Winkler, ein sehr lebhaftes rotblondes Ding, das draußen am Carolatheater Choristin war und den braven Wippert ein bischen tyrannisierte;
  6. Barmann, der immer noch wie ein Knabe aussah, obwohl er eine Menge Schmisse auf der linken Backe hatte und ungemein selbstbewußt auftrat. Dieser mit
  7. Fräulein Anna Obersdorfer. Das war eine sehr kleine, flinke Person mit großen lebhaften schwarzen Augen und braunen, lockigen Haaren, die die Stirne ganz verdeckten. Sie hatte etwas spätzinnenhaftes in ihrer hupfigen Hurtigkeit. Auch »Bürgerstochter«, aber schon eigentlich nicht mehr ganz.

Die elf Personen wurden folgendermaßen plaziert:

Sopha: Linke Lehne: Stössel. Rechte Lehne: Barmann. Neben Stössel das alliterierende Mädchen. Neben Barmann die kleine Anna. Mittelplatz: Der kleine August mit Hulda.

Dem Sopha gegenüber, auf Stilpes Koffer (einst war er, mit Schmetterlingen angefüllt, in Südamerika gewesen), Wippert und die rote Clara.

An der linken Schmalseite des Tisches Girlinger, an der rechten Stilpe.

Herr Lehmann stand, gelehnt an sein Cellogehäuse, zwischen Tisch und Alkoventhür.

Wenn vier Leipzigerinnen mit sechs jungen Männern und einem alten Herrn von der Art des kleinen August zusammen sind, so geht es nicht leise zu, sondern sehr schnabellant wie in einem Spatzenschwarme, der sich auf einem vollen Kirschbaume niedergelassen hat. Als ob sie vier Wochen in ein Trapistenkloster eingesperrt gewesen wären, schwatzten die Mädchen, und die Cénacliers thaten das Gleiche. Aber der Quetschdiskant des kleinen August dominierte deutlich. Allen Mädchen gleichzeitig galante Komplimente zu sagen, aber zugleich die jungen Herren mit Grobheiten zu regalieren, schien sein Programm zu sein. Die andern spielten nur ihr Instrument, er, der Kapellmeister, beherrschte die Partitur. Es war wirklich eine Leistung. Girlinger, neben Herrn Lehmann der einzig Schweigende, duckte sich unwillkürlich etwas in diesem Gestöber von Worten.

Da erhob sich Stilpe mit der gelassenen Eleganz eines Hofmarschalls und sprach:

– Mädchen und Freunde! Der Wohllaut eurer Stimmen ist lieblich, und ich möchte ihm gerne noch stundenlang lauschen. Aber die Pflicht hebt ihren ernsten Zeigefinger. Wir haben heute eine Sache von Wucht und Wichtigkeit vor, laßt uns sogleich daran gehn! Es gilt, diesen Herrn (treten Sie vor, Novize!), der sich in den niederen Probegraden nicht ganz übel benommen hat, nun endlich und formell zu entlehmannen. Seht ihn euch noch einmal prüfend an und laßt euch nicht den Blick durch diese Flaschen und Viktualien trüben, indem ihr euch die Frage vorlegt: Darf er der Schwelle bittend nahen?

– Er darf! riefen die Dreie dumpf.

– Aber natürlich! sagte die kleine Anna. Warum soll er denn nicht dürfen? S is ja n ganz netter Herr!

– Colline, bind Deiner Göttin das Gehege der Zähne zusammen; sie macht den Novizen eitel. Wir aber wollen beginnen!

– Novize! Beherrschen Sie die glänzenden Verse, in denen Sie zu uns zu reden haben?

Herr Lehmann verbeugte sich und sagte: Ja!

– Novize! Schwören Sie, demütig und ohne Murren Alles zu vernehmen, was man Ihnen jetzt sagen wird?

Herr Lehmann verbeugte sich und sagte: Ja!

– Novize! Fangen Sie an.

Herr Lehmann trat einen Schritt vor, legte beide Hände kreuzweis über die Brust, machte in dieser türkischen Haltung eine ganz tiefe Verbeugung, ließ dann die Hände an den Seiten herabsinken und deklamierte, wirklich nicht übel, was folgt:

              Wie Runkelrübenzuckernachgeschmack
Liegt mir im Innern schlammig schwappelig
Ein ekelhaftes je ne sais quoi.
Oh welch ein Bandwurm quält mich Unglückswurm?

Ich frug herum in manchem braven Haus,
Deß Fenster aus bestrichenem Glase sind
Und dessen Hausflur rot beleuchtet ist,
Ich . . .

Da rief die kleine Anna: Schämen Sie sich, Herr Lehmann!

Stilpe war empört:

– Colline! Wenn Dein Ideal nicht den Schnabel hält, mußt Du die Bowle . . . aber ich will nicht vorgreifen. Weiter, Novize!

Herr Lehmann fuhr fort:

        Ich fragte manche blonde Pythia
(Auch manche braune, wie es grade kam):
Setz auf den Dreifuß Dich und sage mir
Wie heißt der Bandwurm, der mich so zerstört?

Doch da kein Dreifuß gegenwärtig war,
Ward kein Orakel mir. Ich zahlt und ging.

Barmann mußte, während Herr Lehmann eine Pause machte, der kleinen Anna eine Serviette um den Mund binden. Aber der kleine August war außer sich vor Vergnügen, und er schrie: Er zahlte und ging! Hehehe! Warum war auch kein Dreifuß gegenwärtig!? Hulda! Warum?

Stilpe machte: Pst!

Herr Lehmann fuhr fort:

       Da fuhr aus grauer Wolke breit und schräg
Ein Balken Licht in mein gequältes Herz,
Und eine linde Stimme sprach: Kameel!
Zu viel des Leders fraßest Du, darum
Bist Du so ledern selber ganz und gar –
Geh hin, purgiere Dich des Pergaments,
Stoß aus den Wust von Chi und Phi und Psi
Und zähle fürder keine Kommas mehr
In alten Schwarten, denn ich sage Dir,
Das ist der Wurm, der Dich zum Wurme macht.

Und ich purgierte mich. Das Seminar
Mied ich wie böser Gase üblen Stank
Und wälzte keine Folianten mehr
Und lauschte nicht mehr mit gedehntem Ohr
Dem Oberkommazähler, und ich ward
Beinah ein Mensch.
                                So steh ich hier am Thor
Und klopfe mit gekrümmtem Finger an:
Laßt mich, nicht in den Tempel, sag ich, oh,
Nein laßt mich in den Vorhof blos hinein,
Daß, ein bescheidner Wandler, rund herum
Um des Cénacles wunderbaren Bau
Ich leise schreiten darf und hie und da
Hinlegen auf der Schwelle Marmorweiß
Ein kleines Opfer der Ergebenheit.

Herr Lehmann schwieg und machte wieder eine ganz tiefe Verbeugung.

Stilpe erhob sich mit Priesterwürde und skandierte:

         Die ihr Adepten seid, sprecht euern Doppelvers!

Und Barmann brummte:

       Ein sehr verwegener Knabe, in der That!
Weinreben nehmt und schlagt ihn auf den Steiß!

Herr Lehmann erschrak und trat einen Schritt zurück. (Denn er hielt Alles für möglich)

Wippert aber rief:

Legt mir den Jüngling in ein Lexikon
Als Lesezeichen, klappt das Buch dann zu!

Herr Lehmann schüttelte betroffen das Haupt.

Und Stössel im Ä-bäh-Tone:

           Es müfft der Mensch. Er riecht nach Wasserfleck.
Desinfiziert ihn mir mit Bibergeil!

Herr Lehmann wollte beinahe ärgerlich werden, er erhob schon die Arme. Aber Stilpe sah ihn durchdringend und zornig an.

Dann sprach er selbst:

         Zu strenge seid ihr, und ich tadle euch.
Seht ihr die Flaschen nicht, das Roastbeef nicht?
Oh lenkt von dieser bangen Menschlichkeit
Den strengen Blick zu diesem Caviar
Und seht der Sprotten goldne Enge an,
Der Flundern breite Liebenswürdigkeit,
Und ach, den Rollmops, wie er zärtlich blinkt
Im Zwiebelkranze, pfeffereingekörnt.
Seid milde, milde, milde, sag ich euch,
Wie dieser Thunfisch, der im Öle schwimmt,
Denn wisset, was in Silber rundlich hier
Priapisch leuchtet, ist kein leerer Wahn,
Nein: Echt Straßburger Gänseleberwurst!

Und also sag ich: Wer kein Unmensch ist,
Entlehmannt diesen Lehmann, und mein Wort
Heißt: Heil Barbemuche, tritt in den Vorhof ein,
Und nimm aus Deiner Westentasche das Recept,
Wie man die Bowle, die Imanuel
Der große Kant erfunden, weislich mischt!

Bei diesen Worten erhoben sich die drei Cénacliers mit ihren drei Mädchen und riefen selbsechst sehr laut und stürmisch:

Es lebe Barbemuche! Er mache die Bowle!
Heil! Hurrah! Landerirette!

Der kleine August aber schrie: Komm Se her, Herr Barbemuche, gäm Se mir n Kuß! Nee, warten Se mal, lieber nich! Gäm Se Huldan n Kuß! Und Hulda giebt mirn wieder, wenn Stilpe nischt drwider hat.

Und jetzt gings los. Stilpe sang mit seiner grausamen Stimme das Lied von der Königsberger Bowle:

Braun, braun, braun,
Braun ist die Bowle, wie was?
Wie was? Wie was?
Ach, Kinder, seid moralisch.
Die Bowle, die ist naß,
Die Bowle, die ist naß.

– Heda, rief Wippert, die Mädchen beengen uns. Sie sollen hinter den Stühlen stehn und uns bedienen. Wir sind die Herren mit dem Peitschenstiel!

– Du bist wohl verrückt, rief seine rote Clara, wie er sich mausig macht!

– Nein, er hat recht! schrie der kleine August. Alle Mädchen raus! Raus! Mädchen sind gut, aber erst trinken! Dann könn se wieder rein! Zu enge! Zu enge!

Er hatte schon fünf Glas getrunken.

Stilpe schlichtete das Problem salomonisch:

– Es ist zu enge, das ist klar. Aber die Mädchen in den Alkoven zu sperren, wäre grausam und gefährlich. Ich schlage dies Arrangement vor: Barbemuche und mein Freund Girlinger schieben diesen köstlich beladenen Tisch in die Ecke, und wir legen uns in den Lichtkreis dieser Petroleumampel auf die Erde. Hulda, hol die Kissen rein! So wollen wir schlemmen und schlampampen nach griechischer Art, lang liegend wie Schläuche, immer ein männlicher neben einem weiblichen.

– Ja, liegen, liegen! rief der kleine August. Hulda, kennste Hamletn?

Und sie lagerten sich griechisch, wie Schläuche.

Das alliterierende Mädchen nahm sich besonders gut aus.

– Sie sind das schönste Kanapee im Möbelmagazine des Herrn, sagte der kleine August.

Herr Lehmann mußte anstatt eines Mädchens sein Cello neben sich legen und die wichtigsten Reden, zumal, wenn sie rhythmisch wurden, mit leisem Saitenrupfen begleiten.

Es entwickelte sich ein unbeschreiblicher Lärm, zumal dann, als die Delikatessen, von denen Stilpe übrigens einige beiseite gebracht hatte, aufgezehrt waren und die Henry Clays dampften.

Der kleine August wälzte sich von Mädchen zu Mädchen und ächzte nur noch, wenn er nicht trank. Ächzend entwarf er verführerische Schilderungen seines Schlafrockes, den ihm Richard Wagner geschenkt haben sollte: – Besucht mich doch mal, Kinder, mein Schlafrock ist aus Seide, hehe, so mollig, und meine Badewanne ist auch nicht aus Pappe, nee!

Wenn aber jemand zur Unzeit lachte, wurde er ungeheuer wild und brüllte Schimpfworte der unerhörtesten Art. Manchmal sang er auch Melodieen aus seinen vielen ungeschriebenen Opern, die alle höchst erotischer Natur waren und im Oriente spielten.

– Hehe, was hat der Meister gesagt? Gottseidank, hat er gesagt, daß der kleine August säuft, sonst müßten wir uns einpacken lassen.

– Und deshalb säufst Du ja blos, August, sagte Stilpe. Er säuft aus Liebe zu Wagner, weil er den nicht umbringen will. Es lebe August der Großmütige!

– Halts Maul, Stilpe, ächzte August, Du bist die frechste Canaille, die ich kenne, aber ich liebe Dich, ich liebe alle frechen Canaillen. Hulda, klopf mir den Buckel ab!

 

Es dauerte nicht lange, und Alle waren betrunken, sogar Girlinger, der sich abwechselnd einen Rabulisten nannte und provençalische Minnelieder sang.

Barmann hielt Volksreden, wobei er fortwährend wiederholte, nicht Bebel sei Präsident, sondern Bismarck.

Auch der kleine August schrie, daß er Bismarck liebte, nur wäre es schade, daß er kein Sachse wäre.

Wippert lag sehr lange auf den Knieen und küßte der roten Clara die Schuhe. Dazu sang er:

Lang, lang ists her.

Stössel entwickelte Ideen über das Salondrama, das nur geflüstert werden dürfte und wobei man, wie jetzt Operngucker, Hörröhren im Theater verleihen würde.

– Das Flüstertheater ist das Theater der modernen Nerven, das Theater der intimsten Seelendüfte. Seelengesäusel! Wollustgewisper! Sanft! Ganz sanft! Hauch!

Und er flüsterte selber nur noch so leise, daß ihn kein Mensch mehr verstand.

Ans reiner Opposition stellte Stilpe das Ideal eines »Schmettertheaters« auf.

– Nur noch Verse, lang hinhallende Verse wie Fanfaren, Posaunenstöße, die wie lange Donner machtvoll ausrollen. Z. B. so, und er brüllte mit voller Lungenkraft:

Ein Meer von Bowle, Dir, Natur, gebracht,
    in langen, langen, langen Zügen, ohhh!

Sonst sprach man mehr von unlitterarischen Dingen, und Stilpe stellte sogar die Behauptung auf, es sei eine Schande, an Litteratur auch nur zu denken, so lange der Magen noch gesund sei.

– Nur Magenkranke dichten. Wer gesund ist säuft. Und das ist der Grund unsres Saufens: Wir saufen, um auf dem Umwege über eine Magenkrankheit einmal Dichter werden zu können.

Unendlich oft sank man sich in die Arme, zumal, als die Mädchen eingeschlafen waren. Die dicke Grete hatte sich mit Hulda direkt ins Bett gelegt, und die kleine Anna glaubte offenbar, sie wäre zu Hause, denn sie zog sich bis aufs Hemd aus und legte sich aufs Sopha. Herr Lehmann durfte ihr ein Schlummerlied auf dem Cello geigen, und sie küßte ihn dafür recht herzlich, wenn auch im Schlafe. Die rote Clara hatte sich nur die Haare aufgemacht und lag dem kleinen August im Schoße, der aber keinen Sinn mehr dafür hatte und ein paar mal rief: Nehmt doch die Apfelsine weg!

Früh um drei schlief Alles. Nur Stilpe stieg zwischen den Schlafenden hin und her und trank die Bowle leer. – Die Betrunkenheit hob und senkte sich in ihm. Ihm war, als führe ihn etwas im Kreise herum. Zuweilen lallte er:

Wie dieser Lehmann schnarcht!

Dieser Idiot ist ganz selig. Warum? Er hat seine Kniegeige.

Und dieser lasterhafte Greis! Glücklich ist der Halunke. Warum? Er glaubt an Richard Wagner.

Und diese lieben Knaben, eingeschlossen Girlinger. Unbeschreiblich zufriedene Burschen! Warum? Sie haben ihre Frauenzimmer oder ihren Cylinder.

Dahingegen ich!

Ich muß über ihre schnarchenden Leichen steigen und kann nicht schlafen.

Ach, was bin ich elend! Ach! Ach! Ach! Heulen! Heulen!

Warum ist mir so übel? Warum geht Alles in mir auseinander?

Die Schulden! Die Schulden! überall Schulden! Und, äh, ich weiß nicht recht, verlohnt sich denn das Alles? Ich . . . rutsche ja . . . ich . . . rutsche ja . . .

Plötzlich gab er Girlingern einen Stoß mit dem Fuße.

Girlinger lallte: Drück mich nicht so, Johanna!

Stilpen erfaßte ein wütender Zorn: Also auch dieser Häring seufzt! Und er stieß ihn noch einmal: Girlinger!

– Was denn?

– Was hältst Du eigentlich von mir! He? Nicht wahr, ich bin ein Lump und kuhdumm!?

– Versumpft, ganz versumpft, total.

– So, so? Reizend! Hast Du gar keinen Respekt vor mir mehr? Wie?

– Laß mich schlafen, ich muß schlafen. Die Cigarren sind sehr teuer.

– Ob Du mich für dumm hältst!

– Ja, ja doch, meinetwegen, Du bist ja natürlich dumm. Das ewige Saufen . . . Du mußt ja verblöden. Und außerdem . . . geschmacklos . . . Ah . . . Ich muß schlafen.

Natürlich: Dumm! . . . Ja, ja, das Saufen! . . Geschmacklos . . . Freilich . . . Blöde . . . Hm . . . Mir ist selber so . . . Äh, wie die Mädchen schnarchen . . .

Er stellte sich vor die kleine Anna hin: Wie rund sie ist. Hm. Fest. Warm. Und ich stehe da wie ein Klotz. Ich . . . ich . . . habe nicht mal mehr Lust an dem. Ich . . . Gott! Gott! . . .

Er sah sich scheu um und fuhr ihr mit der Hand über die Brust, aber wie angeekelt zog er die Hand schnell zurück.

Plötzlich warf er sich mitten ins Zimmer.

– Ein Sauleben! Ein Sauleben! Alles hin! Alles leer! Fertig! Fertig! Jetzt schon fertig! . . .

Er lachte laut auf und trank den Rest der Bowle aus dem Löffel.

– Und was für eine Art Besoffenheit das ist. Ich werde jetzt moralisch, wenn ich bezecht bin. Köstlich! Über alle Begriffe köstlich! Das ist der Finger Gottes! Ich soll in mich gehen! Ein ausgezeichneter Fingerwink! Eine sublime Ironie!:

Halt ein mit dem Suff, sonst kriegst Du die Moral!

Man kann nicht deutlicher sein. Oh ja, es giebt eine Vorsehung, meine Herrschaften!

Äh, pfui Teufel


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