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Frau Direktor konnte wieder einmal nicht schlafen; sie glaubte, daß sie die Sorgen für ihren großen Haushalt wach erhielten, vielleicht aber war es ein Hummersalat, den sie sich am Abend zuvor besonders hatte munden lassen.
Direktors hielten stets auf eine reichbesetzte Tafel, aber zur Weihnachtszeit wurde diese mit unverdaulichen Speisen geradezu überladen. Man verstand das schöne Fest leider nicht anders zu feiern. Natürlich war am Anfang des neuen Jahres die ganze Familie höchst unbehaglich und elend. Dieser traurige Zustand wiederholte sich alle Jahre, die Festtagsfreuden blieben die gleichen, niemand fiel's ein, Weihnachten anders zu feiern. »Was soll man machen?« sagte Frau Direktor. »Es ist nun einmal so hergebracht, daß man zu viel ißt; in allen Familien ist es ganz dasselbe; wir allein können doch nicht vernünftiger leben als andre Leute.«
Damit tröstete sich Frau Direktor auch, als sie sich schlaflos von einer Seite zur andern drehte. Dabei kam sie nun auch von einem Gedanken auf den andern; zuletzt auf die Uslars, und da sie jetzt niemand hörte, war ihr Urteil über diese jungen Mädchen sehr lobend. »Merkwürdig gebildet und so aparte Manieren. Ach, wenn meine Mädels doch was davon profitieren könnten! Die Gelegenheit sollte man sich nicht entgehen lassen; lange wird der Uslar hier auch nicht Verwalter bleiben. Ich muß ein Lesekränzchen arrangieren – einmal französisch – einmal englisch; aber selbstverständlich immer bei uns.«
Am andern Morgen beim Frühstück teilte sie ihrer Familie den Plan mit. »Die armen Kinder haben keine Mutter,« sprach sie, »und da muß man sich ihrer etwas annehmen.«
Aurora, beide Ellbogen auf den Tisch gestützt, und so den Löffel mit der in den Kaffee gebrockten Semmel zu Munde führend – in der Familie ließ sich Aurora ein wenig gehen – sagte: »Na, wenn in dem englischen und französischen Kränzchen deutsch gesprochen wird, bin ich auch dabei.«
Rosamunde aber sprang auf und gab ihrer Mama aus Dankbarkeit einen Kuß. Sie konnte kaum erwarten, die frohe Nachricht Uslars zu verkünden. Gleich nach dem Frühstück rannte sie über den Hof und klopfte an das Fenster, hinter dem Adele stand und eben alle die kleinen Nippes auf ihrem Schreibtisch mit einem feinen Tuch abstäubte.
»Kommen Sie doch lieber herein,« bat Adele. »Wir sind ganz allein. Minna unterrichtet die Kinder in Papas Stube.«
Rosamunde trat ein. »Ach, Adele – ich darf Sie doch Adele nennen?« Und als Adele ein wenig herablassend nickte, fuhr das gute Mädchen eifrig fort: »Mama hat in der Nacht einen so herrlichen Gedanken gehabt. Ich bin gleich herübergekommen, denn ich muß mit Ihnen davon reden. Ach, Sie gefallen mir ja so schrecklich gut. So gut wie Sie und Ihre Schwester Minna hat mir noch nie jemand gefallen. Darf ich Ihnen einen Kuß geben?«
Das kleine Fräulein nickte mit einer noch herablassenderen Miene, aber die gute Rosamunde nahm die Erlaubnis an und küßte Adele ganz herzhaft ab; als sie dann endlich saß, berichtete sie von dem herrlichen Lesekränzchen-Plane.
»Das ist ein sehr hübscher Plan,« entgegnete Adele höflich, doch ein wenig kühl. »Aber ich muß zuerst mit Minna darüber sprechen.« Und als sie die Stimme der Schwester draußen vernahm, die eine Pause benutzend in der Küche nachsah, rief sie Minna herein.
Etwas verlegener als vor Adele und die Worte überstürzend brachte Rosamunde der Mutter Plan heraus. Minna entgegnete sehr freundlich: »Wir können leider von dem gütigen Vorschlag Ihrer Mama keinen Gebrauch machen. Jede Woche einen Nachmittag außer dem Hause – das ist für uns nicht möglich; wir können die Kinder nicht so oft verlassen.«
Rosamundes Gesichtchen wurde lang und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ach, ich merke schon, wir sind Ihnen nicht gebildet genug, und Sie wollen keinen Umgang mit uns haben.« Hier brach das arme Kind in Schluchzen aus. »Ach, und Sie gefallen mir doch so gut! Ich habe Sie so lieb.«
Dieser Schmerz rührte Adele so, daß sie sich zu einer Umarmung herabließ, aber in ihrem Herzen war sie sehr froh, daß Minna nicht auf das Lesekränzchen eingegangen war.
Minna sprach auch noch sehr herzlich mit Rosamunde; sie erzählte ihr, wie ihr Tag von früh an vollständig eingeteilt wäre, und wieviel Adele ihr jetzt helfe – Adele wurde über dieses Lob rot vor Freude –, und wie sie untereinander so glücklich und zufrieden lebten, daß sie nur wünschte, es möchte immer so bleiben. Bei diesen Worten aber entschlüpfte ihr ein Seufzer. Sie dachte an Bruno, der seit dem vorgestrigen Fall noch recht elend war.
Ein wenig getröstet kehrte Rosamunde zurück, aber doch ganz langsam und nachdenklich. Auf dem Hofe begegnete ihr Fritz Steube, der Lehrer ihrer Brüder. Er sah ungewöhnlich ernst, ja fast traurig aus. Sie wurde plötzlich von glühendem Rot übergossen und stammelte verwirrt: »Ist Ihnen auch etwas Unangenehmes begegnet, Herr Steube?«
»Mir auch?« fragte er, anstatt zu antworten. »Was ist Ihnen denn begegnet, Fräulein Rosamunde?« Sein Ton und sein Ausdruck dem jungen Mädchen gegenüber waren ganz anders, als wenn er mit seinen jungen Zöglingen redete. Im Kreise der Familie zeigte er auch stets ein kaltes, zurückhaltendes Benehmen. Rosamunde aber mußte seinem Herzen näher stehen.
Sie fühlte das in diesem Augenblick besonders lebhaft, und abermals überflog Röte ihr Gesichtchen; dann zog's wie Sonnenschein darüber und sie blickte vertrauend zu dem ernsten Manne auf. »Mama wollte ein Lesekränzchen mit Uslars einrichten, aber Minna schlägt es ab. Sie will die Geschwister nicht verlassen,« berichtete sie.
»Darin hat Fräulein Minna auch ganz recht,« bestätigte der Hauslehrer. »Aber sagen Sie zu Hause diese Ablehnung nicht so gerade heraus, Fräulein Rosamunde, Ihre Mama könnte sie Fräulein Uslar übelnehmen und den Umgang mit ihnen abbrechen; der Umgang ist aber für Sie sehr vorteilhaft, und – ich dachte eben darüber nach – es wäre mir eine große Beruhigung – wüßte ich – daß Sie an den Fräulein Uslars Freundinnen gewonnen hätten – wenn ich nicht mehr hier bin.«
Sofort verschwand der Sonnenstrahl auf ihrem Gesichtchen, das ganz weiß geworden war. »Sie wollen uns verlassen?« stammelte das erschreckte Kind.
»Herr Direktor hat mir soeben angekündigt, daß er die Jungen von Ostern an auf das Gymnasium nach Beuthen geben will. Ich wollte, der Herr Direktor hätte mir den Entschluß früher mitgeteilt; er sprach bis jetzt immer davon, sie meiner Obhut noch ein Jahr anzuvertrauen. Ich werde die Jungen nun tüchtig anstrengen müssen, damit sie meinem Unterricht keine Schande machen.«
»Und Sie wollen uns verlassen?« wiederholte Rosamunde, als habe sie nur das eine begriffen, daß er gehen wolle. »Was – was soll dann aus uns werden!«
Dieser ungekünstelte Schmerz schien auch den jungen Mann tief zu bewegen. »O, Fräulein Rosamunde,« sagte er, »ich dachte, daß es nur mir so schwer würde, mich von Ihnen zu trennen ...«
»Ich – ich – kann nicht an die Trennung denken ... Ich bin sehr unglücklich. Ich habe ja niemand, der mich versteht, wenn Sie von uns gehen!« Und das arme Kind brach in Schluchzen aus.
»Ach, Fräulein Rosamunde – Sie sprechen da Worte aus, die für mich sehr bedeutungsvoll sind. Ich habe jetzt freilich noch kein Recht, Sie zu versichern ...«
Da ließ sich Auroras scharfe Stimme vernehmen. »Wie kannst du dich denn im Hofe hinstellen und schwatzen?«
Der Hauslehrer kam dem jungen Mädchen zu Hilfe, das nicht sogleich eine Entschuldigung finden konnte. Freilich erzählte er nicht, daß Rosamunde ihm, der sie längst geliebt, in diesem Augenblick den Zustand ihres jungen Herzens verraten habe, sondern er berichtete nur von der Ablehnung des Lesekränzchens.
Aurora zeigte sich im ersten Augenblick so empört über diese Ablehnung, wie Fritz Steube erwartete, daß sich auch ihre Mutter zeigen würde.
»Wenn Ihnen am Umgange mit den Fräulein Uslars etwas liegt, wäre es vielleicht besser, Sie berichteten der Frau Mutter nur, daß sie von Fräulein Minna gehört, sie könne ihre Geschwister nicht verlassen, und daß sie deshalb zu dem Lesekränzchen gar nicht aufgefordert hätten.«
»Ich werde mir das überlegen,« erwiderte Aurora scharf und wendete sich dann zu Rosamunde: »Du bist doch noch ein dummes Kind. Wie kannst du denn gleich heulen, weil es den Uslars einfällt, wieder einmal die großen Damen zu spielen? Laß dich nur mit den verheulten Augen vor niemand sehen.«
Darin traf sie Rosamundens Meinung; das arme Kind hatte große Lust, sich in einem stillen Winkelchen auszuweinen. Aber seit Rosamunde einem ermutigend liebevollen Blick aus Fritz Steubes Augen begegnet war, waren ihre Tränen fast mehr die Folgen eines unerwarteten Glückes, als des Schmerzes.
»Ich gehe jetzt selbst zu Uslars,« sagte Aurora; »ich habe soeben von unsrer Marie« – Marie war das Hausmädchen – »recht sonderbare Dinge gehört. Die Uslars haben ja mit dem Baron Neitung geradezu Freundschaft geschlossen; sie sind den ganzen Abend im Schlosse gewesen, und er hat sie selbst nach Hause gefahren. Sie werden sich hier ganz unmöglich machen, wenn sie mit diesen Leuten umgehen.«
»Aber, Fräulein Aurora,« wendete der Hauslehrer ein, »es ist doch nicht gewiß, daß der Baron seinen Vater in böser Absicht erschossen habe.«
»Wissen Sie vielleicht, wie es zugegangen ist?« fragte Aurora spitz. »Nun, ich werde Uslars wenigstens über die Folgen ihres Benehmens aufklären; was sie dann tun, ist ihre Sache, mich geht's nichts an.«
Sie wandte sich dem kleinen Hause zu, warf aber noch einen prüfenden Blick zurück, und als sie Rosamunde in das Haus treten, den Hauslehrer aber dem Tore zuschreiten sah, klopfte sie bei Uslars an.
Der Besuch war nicht so interessant, als Aurora erwartet hatte. Minna gab wieder Unterricht, und nach Adelens Bericht von dem Unfall konnte es selbst Aurora nur billigen, daß man sich unter diesen Verhältnissen in das Haus des ›Vatermörders‹ begeben hatte.
Mit dem feinen Takte, der ihr eigen war, vermied Adele, des Barons mehr als irgend notwendig zu erwähnen; von dem Grauen, das sie alle zuerst gefühlt hatten, erzählte sie gleichfalls nichts, berichtete dagegen ausführlich von dem Kleiderwechsel, der redseligen Stabele, dem sentimentalen kleinen Fräulein und der freundlichen Baronin.
Auch das war für Aurora schon ganz interessant; lieber hätte sie freilich von dem Baron noch mehr erfahren. Jedenfalls hatte der Umgang mit diesen Uslars an Interesse gewonnen, und sie befolgte deshalb des Hauslehrers guten Rat.
»Mama,« sagte sie im Laufe des Tags, »vielleicht ist's gescheiter, Uslars nicht zu dem Lesekränzchen aufzufordern; ich sprach sie heute, Minna ist schrecklich pedantisch – Gott im Himmel, die Kinder sind doch nicht mehr so klein, aber Minna tut gerade, als könnte sie sie keinen Augenblick verlassen.«
»Da ist mir's nur recht lieb, daß du nicht erst was gesagt hast,« pflichtete Frau Direktor ihrer Tochter bei, »man hätte sich am Ende gar einer Ablehnung ausgesetzt. Hochmütig sind sie ja ohnedies wie Prinzessinnen. Ich will mir's doch erst noch überlegen, ob wir sie zu unserm Balle einladen.«
Aurora war klug genug, nicht zu widersprechen, aber wenige Tage später rückte sie damit heraus. »Es wäre doch recht apart, wenn wir vor dem Tanzen eine Komödie spielten, oder Bilder stellten, oder etwas musizierten,« schlug sie vor.
»Ach Gott, Kinder,« rief Frau Karling, »so was macht ja schreckliche Umstände; da muß man doch jemand haben, der etwas davon versteht.«
»Vielleicht verstehen Uslars etwas davon,« meinte Aurora. »Ich kann sie ja mal fragen.«
Es war gegen Abend, als sich die beiden Karlings hinüberbegaben.
Wer jetzt die Stube mit den Kirschbaummöbeln betrat, dem wehte wohltuend ein Geist der Liebe und des Friedens entgegen. Rosamunde dachte beim Eintreten: »Ach, wär's doch bei uns auch so gemütlich!« Aber selbst Aurora, so oberflächlich und verbildet sie war, wurde davon berührt.
Um den kreisrunden Tisch, auf dem die Lampe brannte, saßen die Uslars. Adele besserte Strümpfe aus, Ella zertrennte ein altes Kleidchen, das unter Minnas geschickten Händen neu erstehen sollte, Bruno zeichnete, auf dem Sofa liegend – das Sitzen und Gehen wurde ihm immer beschwerlicher – eine Maschine. Minna aber strickte und las zugleich aus Grubes Geschichtsbildern vor. Des Vaters Lehnstuhl stand neben dem Ofen, Hausschuhe davor und der Hausrock über der Lehne. Maruschka saß bescheiden in einem Winkelchen und strickte; es war ihr erlaubt, zuzuhören, bis Herr Uslar nach Hause kam, dann aber gehörte die Familie sich selber an. Leider wurde Maruschka durch Minnas Vorlesung nicht klüger, sondern im Gegenteil richteten die Geschichtsbücher in ihrem armen Kopfe eine schreckliche Verwirrung an.
Ein zweites Mal wagte Minna, eingedenk ihres Vaters Mahnung, nicht, der Karlingschen Familie eine Bitte abzuschlagen.
»Wenn Sie mir gestatten, eine Nebenrolle zu übernehmen, bin ich gern bereit, Komödie zu spielen, und es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen auszuhelfen; Adele ist, sobald sie Ihnen nützlich sein kann, von allen häuslichen Pflichten dispensiert.«
Adele wollte Einwendungen erheben, aber nur ganz schwache, denn das Komödienspiel besaß für sie einen sehr großen Reiz. Rosamunde war darüber so vergnügt, daß sie Adele umarmte, und auch Aurora schied sehr befriedigt.
Es folgten einige stürmische Szenen im Karlingschen Hause. Der Hauslehrer war beauftragt worden, sämtliche Lustspiele der Reclamschen Universalbibliothek herbeizuschaffen. Das war nun ein gewaltiger Stoß und die Wahl eines Stückes wurde zur Qual.
Aurora wünschte eine kokette junge Witwe zu geben, die sich in eleganten Toiletten zeigen konnte; danach wählte sie. Ob das Stück paßte, ob es für andre hübsche Rollen bot, fragte sie nicht. Sobald Rosamunde einen Einspruch erhob, wurde sie eine einfältige Gans und der Hauslehrer gleich ein Philister genannt. Endlich fand Aurora wirklich ein Stück, worin ihr die Hauptrolle zusagte, und dieses sollte aufgeführt werden. Nachdem sie befriedigt war, wurde sie gnädig und bot Rosamunde die sehr niedliche Rolle einer Naiven an. Herr Referendar Stattlich sollte ihren Verehrer übernehmen.
Diesmal protestierte Rosamunde energisch. »Was denkst du?« rief sie empört. »Minna Uslar soll eine alte Tante geben und Adele ein Dienstmädchen? Das ist doch ein bißchen viel verlangt. Die Naive muß Adele machen; ich begnüge mich herzlich gern mit dem Dienstmädchen.«
Fritz Steube versprach die Regie zu übernehmen, und die wenigen Nebenrollen boten keine Schwierigkeit.
Frau Direktor amüsierte sich in den Proben außerordentlich, weil Aurora – ihr Liebling – die Hauptrolle spielte; Adele machte ihre Sache sogar ganz schlecht, sie hatte Kopfschmerzen, und Minna kam in der Rolle der alten Tante gar nicht zur Geltung.
Frau Direktor wurde deshalb so gnädig, daß sie vorschlug, die jungen Damen möchten noch ein Konzert arrangieren.
»Meine Mädels haben Geld genug gekostet,« sagte sie. »Nun mögen sie einmal zeigen, was sie gelernt haben. – Sie spielen doch gewiß auch Klavier, Fräulein Minna?«
»Nur bin ich leider ganz aus der Übung, da wir kein Instrument besitzen,« entgegnete Minna.
»Ach, wissen Sie, es kommt ja nicht so sehr darauf an. Jeder machte so gut es eben geht. Meine Mädels sind ja auch keine Künstlerinnen.« In Gedanken aber setzte sie hinzu: »Die Uslars könnten dabei einmal eine Folie für meine Töchter abgeben.«
Der 25. Januar, an dem das große Zauberfest stattfinden sollte, war angebrochen. In den unteren Räumen des großen Hauses wirtschaftete ein hochnäsiger Koch, vor dem sich selbst die Frau Direktor fürchtete. Die Köchin saß mit rotgeweinten Augen in ihrer Kammer und erklärte, daß keine Macht der Erde sie noch einmal in die Küche brächte.
Lohndiener rannten in geschäftiger Eile treppauf, treppab, und Johann starrte ihnen hilflos nach; ihm blieb nichts übrig, als Treppenkehren und Lampenputzen.
Um sieben Uhr strahlte das Haus im hellsten Lichte, und man hörte viele Equipagen in den Hof rollen.
Frau Rosine wartete in der Uslarschen Wohnstube, um ›ihre Kinder‹ im Staat zu sehen und zu bewundern.
Herr Uslar war etwas später als sonst vom Bureau gekommen, das hatte das Hinübergehen verzögert. Jetzt aber traten Minna und Adele in voller Toilette aus der Schlafstube ein.
»Ei der Tausend!« rief Frau Rosine in aufrichtiger Bewunderung; Ella hob sich auf den Zehen, um Minna einen Kuß zu geben, und Anuscha und Maruschka guckten mit staunenden Gesichtern zur Tür herein.
Und was war da eigentlich zu staunen? Einfacher konnten junge Mädchen nicht gekleidet sein. Hohe weiße Kleider, die starken Haare in einen Knoten gedreht, eine Rose im Haar und einige Knospen am Kleid befestigt – das war alles.
Aber wie saßen diese Kleider den schlanken, eleganten Figuren; wie anmutig waren die Bewegungen, wie frisch glänzten die ungepuderten blühenden Wangen, und wie strahlten die Augen!
Frau Rosine wollte eigentlich behaupten, daß Minna auch die Schönste wäre, weil sie ihr Liebling war; aber über Adele war doch ein ganz eigner Zauber ausgegossen. Minna war im Grunde in ihrem einfachsten Hauskleid anmutig und lieblich, aber Adelens Reiz wurde durch Toilette, sowie durch den Ausdruck des Vergnügens erhöht. Freilich erwartete sie da drüben keine sehr vornehme Gesellschaft, aber wenn man ganz einsam lebt, lernt man vorlieb nehmen.
Frau Karling hatte diesmal alles getan, um mit ihren Töchtern Staat zu machen. Sie verschrieb aus Breslau ganz moderne Toiletten, nur etwas überladen. Wo irgend eine Spitze, eine Schleife, eine Blume anzubringen war, fehlte dieser Schmuck gewiß nicht; auf dem Haar noch dicke Kamelien, in der Hand große Tellerbuketts von frischen Blumen; dazu Federfächer und Tanzkarten – es blieb ihnen kaum eine Hand frei, ihre Gäste zu begrüßen.
Frau Direktor rauschte in einem gelben Damastkleid durch den Saal, mit einem riesigen roten Florfächer bewaffnet. »Ich betrachte mich heute als meinen eignen Gast,« versicherte sie jedem, der es hören wollte. »Ich bin für nichts verantwortlich. Für das Souper hat der Koch zu stehen, für den Wein mein Mann und für die Bedienung die sechs Lohndiener.« Wenn sie bei dem großen Spiegel vorüberging, vergaß sie nicht, einen befriedigten Blick hineinzuwerfen. Auf das schöne Arrangement der Zimmer machte sie ihre Freunde selbst aufmerksam, und wenn sie auf ihre Töchter blickte, verklärte sie der Ausdruck mütterlichen Stolzes. Dafür machten sich die beiden Jungen so unausstehlich wie möglich; sie waren überall im Wege, kauten ohne Aufhören Süßigkeiten, die sie von der schon gedeckten Tafel stibitzten, und waren mit keiner Drohung, mit keinem heimlichen Puff fortzubringen.
Ein kleiner Arger, den Frau Direktor mit ihrem Manne gehabt hatte, war jetzt vergessen; er hatte ihr vorgeworfen, zu viel Geld für Kotillongeschenke ausgegeben zu haben, sie dagegen hatte über die teueren Weine gescholten. Doch jetzt begrüßte sie lächelnd und mit dem riesigen Fächer wedelnd in sehr guter Laune ihre Gäste.
Die erste kleine Verstimmung empfand sie bei dem Eintritte der Uslars. Sie erregten offenbar Aufsehen; man merkte es gleich an dem Flüstern, den Blicken. »Was für schöne Mädchen!« – »Die passen ja gar nicht nach Tarnowitz.« – »Wer sind denn diese distinguierten Erscheinungen?« – Solche Ausrufe erreichten das Ohr der Frau Direktor. Sobald diese Frage an sie selbst gerichtet wurde, versicherte sie: »Es sind ja die Töchter von unserm Verwalter. Ich nehme mich der Mädchen etwas an. Sie haben keine Mutter mehr, wissen Sie, und leben in sehr beschränkten Verhältnissen.«
Frau Direktor sprach nur die Wahrheit, und doch wollte es niemand recht glauben. »Sie ist nur neidisch, weil diese Uslars ja zehnmal schöner und vornehmer als ihre Mädels aussehen,« sagte die Frau Bürgermeister zur Frau Gerichtsrat.
Die gute Laune von Frau Direktor kehrte wieder, sobald die jungen Mädchen in dem anstoßenden Salon verschwunden waren. Es erwartete sie noch eine große Freude – sogar ein Triumph. Graf Zarnikow, der Sornitz gekauft hatte, war mit seiner Familie der Einladung zu dem Ballfeste gefolgt. Frau Direktor, die außer den Grafen noch niemand von der Familie gesehen hatte, sprach gegen ihre Umgebung, als wären die Zarnikows ihre Busenfreunde.
Der Eintritt der gräflichen Familie erregte natürlich noch mehr Aufsehen als das Eintreten Herrn Uslars mit seinen Töchtern, denn Frau Direktor sprang von ihrem Sessel auf, drängte sich stürmisch durch einen Kreis von Herren und stürzte der gräflichen Familie entgegen; während sie nach rechts mit dem Riesenfächer ihrem Gatten winkte, rief sie nach links den Kopf gewendet: »Aurora – Rosamunde – kommt schnell,« und ehe sie die Gräfin erreichte, versicherte sie ihr von weitem, daß sie die Ehre zu schätzen wisse, und dabei winkte sie noch immer nach rechts und nach links.
Kaum aber betrat Komtesse Hilda am Arm ihres Bruders den Salon, da ereignete sich etwas – nun wie soll man sagen – Frau Direktor würde das, was sich ereignete, ›unangenehm‹ genannt haben.
Komtesse Hilda, ein reizendes Mädchen von siebzehn Jahren, verließ plötzlich den Arm ihres Bruders; ohne sich um die erstaunten Blicke der Gesellschaft zu kümmern, stürzte sie mit einem Freudenrufe Minna und Adele entgegen, dann umarmte und küßte sie beide ganz ungeniert.
»Gerade als ob sie die intimsten Freunde wären,« bemerkte Aurora zu dem Referendar Stattlich.
Als die Gräfin den Freudenruf ihrer Tochter vernahm, eilte sie gleichfalls in den Salon, abermalige Umarmung; der alte Graf folgte – und Frau Direktor konnte nur den roten Riesenfächer auf- und zuklappen und große Augen machen. Die Freude aber war ihr gründlich verleidet.
Endlich trennte sich die Gräfin von der Gruppe und erzählte Frau Direktor, daß ihre Hilda ein Jahr mit Minna und zwei Jahre mit Adele in der Pension zusammengewesen, und daß Uslars ihrer Hilda beste Freundinnen wären. Trotzdem sei das Wiedersehen ganz überraschend, denn Adele habe das Schreiben ganz eingestellt. Sie hatten zwar gehört, daß Herr Uslar in Tarnowitz sei, aber die Kinder noch in Berlin vermutet. Die Gräfin konnte gar nicht aufhören, von diesen lieben, herrlichen Kindern zu erzählen, und wie glücklich sie wäre, daß Hilda gerade diese Freundinnen hier gefunden habe, deren Umgang sie als ein großes Glück ansehe.
Gewiß hatte niemand Frau Direktor und Aurora beleidigt, und doch sahen sie aus, als wäre ihnen die Butter vom Brote gefallen; aber Frau Direktor beschloß, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und versicherte der Gräfin, daß sich auch ihre Töchter mit den Uslars sehr befreundet hätten, und weil sie gefunden, daß es feine und gebildete Mädchen wären, habe sie ihren Töchtern auch erlaubt, mit ihnen Komödie zu spielen. Vor der Komödie solle sogar noch ein kleines Konzert stattfinden, bei dem die Uslars ebenfalls mitwirkten.
Darauf rief sie laut: »Aurora, Rosamunde – fangt jetzt an; sonst wird's zu spät. Die jungen Herrschaften können das Tanzen ja nicht erwarten.«
Frau Direktor hatte die feste Überzeugung, daß das musikalische Talent ihrer Töchter nicht unbedeutend sei, daß sie wenigstens in diesem Punkte den Uslars überlegen wären.
Aurora und Rosamunde eröffneten mit der Egmont-Ouvertüre das Programm, und da beide hübsch und korrekt spielten, ernteten sie auch den gebührenden Beifall. Darauf begleitete Rosamunde ihre Schwester, die ein Lied sang oder vielmehr so laut, als es ihre hohe Sopranstimme erlaubte, der ganzen Gesellschaft zurief, daß sie irgend jemand liebe, daß sie aber sterben müsse, da dieser jemand sie verlassen habe.
Danach wurde wieder lebhaft applaudiert und Frau Direktor sogar einiges Schmeichelhafte über den schönen Vortrag gesagt.
»Na, meine Aurora kann ja hernach noch ein Lied singen, aber zuerst wollen wir die Uslars daran kommen lassen; ich wollte ihnen doch auch einmal Gelegenheit geben, daß sie sich produzieren, die armen Dinger kommen ja nie in Gesellschaft.« Frau Direktor wußte, daß sie von Zarnikows nicht gehört werden konnte.
Da erklang ein Akkord – alle Blicke wendeten sich nach dem Flügel – es war, als würde ein ganz andres Instrument angeschlagen. Die älteste Uslar spielte die Mondscheinsonate von Beethoven. Die Stimmen im Saal verstummten – auch in den Nebenzimmern wurde es still, Entferntere drängten sich auf den Fußspitzen näher, ein Lohndiener, der es wagte, Teetassen auf dem Präsentierbrett zusammenzustellen, wurde mit dem »St! St!«, das man ihm von allen Seiten zurief, zu einer Statue und wagte sich nicht von der Stelle zu rühren; es war totenstill geworden, aber sobald Minna schloß – durchbrauste ein wahrer Beifallssturm den Raum. Natürlich stürzte die gräfliche Familie, diesmal gefolgt von andern Herren und Damen, nach dem Flügel, und Frau Direktor dachte nicht ohne Bitterkeit: »Habe ich mich deshalb dieser Mädchen angenommen, damit sie meine Töchter überall in den Schatten stellen?«
Sie hatte sich von dem Schreck noch nicht erholt, da klang es durch den Saal wie silberhelle Glöckchen. Adele sang das reizende Kinderlied, von Taubert komponiert:
»Der Bauer hat ein Taubenhaus,
Da fliegen hundert Tauben 'raus,
Wie will er sie wohl fangen?
Hahaha!
Wie kommt er über'n Hügel?
Er hat ja keine Flügel;
Wie will er sie wohl fangen?
Hahaha!«
Und dieses ›Hahaha‹ sang Adele wie ein reizendes, feines Lachen.
»Das sind ja Künstlerinnen,« hörte Frau Direktor sagen. In allen Tonarten drang der Uslars Lob in ihre Ohren, und das Dakaporufen wurde immer lauter.
Aber die jungen Damen verneigten sich und erklärten, daß sie sich jetzt für die Komödie ankleiden müßten; ehe man sich's versah, hatten sie sich schon den Blicken entzogen.
Einem solchen Sturme des Beifalls sich mit Bescheidenheit entziehen, zeugt von feiner Bildung; aber nur ein wahrhaft gutes Herz wird neidlos, ja mit Entzücken einem Beifall lauschen, der denen gezollt wird, mit denen man gemeinschaftlich etwas vorgetragen hat. Und dieses gute Herz bewies Rosamunde. Sie strahlte vor Freude über den Triumph ihrer Freundinnen. Ja, Freundinnen wollte sie Minna und Adele nennen, mochten sie diese auch nicht ebenso zärtlich und bewundernd wiederlieben; sie hatte sich diese beiden Mädchen zu Freundinnen erwählt.
Gegen den Hauslehrer sprach sie ihre Freude über die Leistungen der Uslars aus. Da benutzte er einen Augenblick, wo niemand sie zu bemerken schien, und drückte Rosamunde die Hand. »Ich habe immer gewußt, daß Sie ein gutes Herz haben,« sprach er bewegt. »Besser als heute konnten Sie's nicht beweisen.«
»Aber ich bitte Sie,« rief Rosamunde, »ich werde uns doch nicht mit Uslars vergleichen? Wir haben uns ein Stück eingepaukt wie Schulmädchen, die aber könnten sich ja in jedem Konzert hören lassen.«
Aurora hatte die letzten Worte gehört. »Du bist auch gleich so exaltiert,« verwies sie laut die Schwester. »Natürlich haben Uslars in Berlin besseren Unterricht gehabt als wir. – Soll ich Sie vielleicht alt schminken, Fräulein Minna?« rief sie dieser zu, die in einem Matronenhäubchen und einem rosigen lachenden Gesichtchen darunter aus dem Garderobezimmer guckte.
»Ich danke, ich will das Altwerden sogleich selbst besorgen,« entgegnete Minna, und das Köpfchen verschwand wieder. Aurora, schon im vollen Staate der koketten Witwe, deren Rolle sie spielen sollte, folgte ihr nach der Garderobe. »Ich kann mir schon denken, Sie wollen lieber jung und hübsch aussehen,« rief sie Minna etwas spitz zu.
»Dann würde ich ja die Rolle nur verderben,« entgegnete Minna ruhig. Sie stellte sich vor den Spiegel und malte sich mit Kohle unzählige feine schwarze Linien. An dem Malen lag es wirklich nicht, wenn sie trotz aller Runzeln nicht wie eine alte Dame aussah.
Die Klingel ertönte; die jungen Schauspieler und Schauspielerinnen eilten an ihre Plätze. Der Hauslehrer, das Buch in der Hand, saß in der ersten Kulisse. Aurora warf sich auf einen Sessel und verlangte, daß Adele ihre Falten drapiere. Abermals ertönte die Klingel, und der Vorhang ging auf.
Minna zeigte kein auffallendes Talent; sie machte ihre komische alte Dame, so gut sie eben konnte, nur übertrieb sie manchmal das Komische, ohne deshalb einen großen Lacheffekt zu erreichen. Aurora deklamierte gespreizt ihre langen Tiraden, sie wollte kokett sein und war nur unfein; jedermann hatte dabei das Gefühl, als spielte sie eigentlich nur sich selbst. Der Liebhaber war auch ein wenig steif und langweilig, kurz das Spiel schien nicht das gehoffte Amüsement zu gewähren. Da kam die Szene, in der Adele zum erstenmal aufzutreten hat. Bei den ersten Worten, die sie ganz einfach und natürlich sprach, war's, als ginge ein elektrischer Schlag durch das Publikum; dann fing man an zu lachen und sich zu amüsieren. Adele wurde schon bei offener Szene gerufen, und als sie wieder unter die Gesellschaft trat, wurde sie von den Herren umringt und ihr als Soubrette eine große Laufbahn prophezeit.
Der Vorstand des Kasinos bat Herrn Uslar, sich als Ehrenmitglied seiner Gesellschaft zu betrachten und auf dem nächsten Balle mit seinen Töchtern zu erscheinen. Man habe sehr lange geschwankt, ob man Komödie spielen solle; jetzt sei es entschieden, sobald Herr Uslar nur seinen Töchtern die Erlaubnis gäbe, mitzuwirken. So ging es weiter. Es regnete Einladungen. Jedermann suchte junge Damen, die einer Gesellschaft solchen Zauber zu verleihen wußten, in seinen Kreis zu ziehen. Zarnikows behaupteten, sich mit einem Besuche gar nicht zu begnügen, Uslars müßten gleich mehrere Tage auf sie rechnen; kurz die beiden jungen Mädchen wurden geradezu mit Schmeicheleien und Aufmerksamkeiten überschüttet, und im Kotillon erhielten sie soviel Geschenke, daß sie ihre Herren bitten mußten, sie zu halten.
Frau Direktor und Aurora gingen an diesem Abend oder vielmehr Morgen sehr verstimmt zu Bett.
»Für die Uslars habe ich die schönen Kotillongeschenke auch nicht gekauft,« dachte Frau Direktor. Sie hatte von diesem teueren Feste etwas Besseres erwartet.
Mit ganz andern Gedanken legten sich Minna und Adele schlafen. Sie hatten sehr süße Kost eingenommen, denn es gibt wohl nichts, was jungen Herzen so gut schmeckt wie Schmeichelei und Bewunderung.
Die Gedanken der jungen Mädchen wirbelten stürmisch durcheinander. Ein liebliches Wohlbehagen durchströmte sie; sie waren wie in einem Rausche, einem höchst angenehmen Rausche. Es war lange her, daß Minna eine Huldigung dargebracht wurde, und Adele war zum erstenmal in ihrem Leben in Gesellschaft gewesen. Das entbehrungsvolle und arbeitsreiche tägliche Leben trat in den Hintergrund; es schien, die Tore hatten sich aufgetan vor den jungen gefeierten Schönheiten, und ein neues Leben des Glanzes und der Freude sollte beginnen. Noch rauschte und wogte es durch ihre Seelen; fröhliche Bilder, bewundernde Worte und lautes Beifallsklatschen – da senkte sich auch schon der Schlaf auf ihre Lider, und die eben durchlebte Wirklichkeit wurde in einem Traume weitergesponnen.