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Minna schreckte auf und setzte sich im Bett in die Höhe; sie war von einem Geräusch – es klang wie ein Fall – erweckt worden. Der helle Tag schien herein, sie hatte die Zeit zum Aufstehen verschlafen. Aber was war denn geschehen? Was hatte sie so unsanft geweckt? Ihr Herz pochte noch heftig von dem Schreck.
Da vernahm sie ein leises Stöhnen. Gott im Himmel, da lag Bruno auf der kalten Erde, vergeblich bemüht, sich wieder aufzurichten.
Mit einem Wehruf sprang Minna auf und trug den Knaben in sein Bett. Nie in ihrem Leben war sie so tödlich erschrocken, als da sie das geliebte Kind so kläglich, so ganz hilflos auf dem Boden liegen sah.
Während die Tränen über ihre blassen Wangen flossen und sein mageres Gesichtchen badeten, rieb sie ihm die erstarrten Glieder. »Mein Liebling – ach, mein süßes Herz, was hast du getan!« jammerte sie.
»Ich wollte dich nicht stören, Minni, du schliefst so gut; es wurde mir zu langweilig im Bett, und da stand ich endlich auf und da bin ich hingefallen und konnte mir nicht wieder aufhelfen. – Aber jetzt ist ja alles vorüber. Bitte, liebe Minni, zieh dich schnell an; du wirst dich im Nachthemd erkälten. Und du stehst mit bloßen Füßen auf den kalten Dielen.«
Minna zitterte an allen Gliedern; sie wußte nicht, war es der Schreck oder fror sie. Aber sie gehorchte dem Bruder und zog sich schnell an; sie durfte nicht krank werden. Dazwischen aber küßte sie ihn und sagte: »Das darfst du nicht wieder tun, Bruno.«
Als er wieder warm geworden war, brachte sie ihm selbst das Frühstück, und dabei unterhielt sie ihn von dem gestrigen Abend, nach dem er mit großen: Interesse fragte.
Aber alles, was sie erlebt hatte, kam ihr auf einmal ganz verändert vor; das Vergnügen war ihr wie ein Rausch, der am andern Morgen Kopfschmerzen verursacht; ja wenn sie das bleiche, kranke Gesicht des Knaben ansah, fühlte sie fast einen Ekel davor. Sie war nicht imstande von sich zu sprechen, nur von der Gesellschaft und von Adelens Triumphen erzählte sie.
Bruno freute sich offenbar über Adelens Erfolg. »Sie wird jetzt auch im Hause ganz verständig,« sagte er bedächtig und altklug, wie seine Art war. »Das ist dein Verdienst, Minni. Wer mit dir lebt, muß gut und brav werden. Ach, Minni – gehe nur nicht von uns fort – bleibe bei uns, nicht wahr, Minni, solange ich lebe, verläßt du uns nicht?«
Diese Bitte bewegte Minna in tiefster Seele; sie sank neben ihm nieder und umschlang ihn mit ihren Armen. »Nie, nie gehe ich von dir, mein Liebling,« schluchzte sie. Ihr Herz war mit dem Knaben ja ganz verwachsen. Sie liebte ihn, so jung sie war, doch mehr als eine Mutter als eine Schwester; sie meinte, niemals genug für ihn zu tun, und nichts, was sie tat, kam ihr wie ein Opfer vor, denn der wahren Liebe fällt alles leicht, sie denkt ja niemals an sich selbst.
Als Bruno später auf dem Lehnstuhl warm eingehüllt saß, berichtete nun Adele und war so amüsant dabei, daß Bruno und Ella nicht aus dem Lachen kamen.
Minna aber saß tiefer als sonst über ihrer Arbeit gebeugt und lachte nicht mit. Manchmal warf sie einen sorgenvollen Blick auf Bruno, dann mußte sie einen Seufzer unterdrücken. »Wo hatte ich nur meine Augen!« dachte sie reuevoll. »Bruno sieht viel kränker aus. Er ist unter meiner Pflege nicht gesünder geworden. Vielleicht ist's auch nicht gut, daß wir zu ebener Erde wohnen. Ich werde mit Papa sprechen. Der Arzt muß unsern Jungen einmal ernstlich untersuchen.«
Am Abend, als die Geschwister schliefen, auch Herr Uslar sich zeitiger als sonst zurückgezogen hatte, und Minna sich gleichfalls zur Ruhe begeben wollte, kam Adele schmeichelnd auf sie zu.
»Ich habe es mir überlegt, Minna,« sagte sie. »Die Einladung zu Zarnikows können wir wenigstens annehmen. Natürlich nicht beide zugleich; du sollst dich einmal ein paar Tage erholen, das hast du dir redlich verdient. Und auf mich kannst du dich verlassen. Ich verspreche dir heilig, Bruno gut zu pflegen und alles zu machen, was du verlangst; du sollst sehen, ich gebe mir alle Mühe, damit du dich einmal ohne Sorge amüsieren kannst.« – Minna schwieg; das Schweigen war gar nicht gemütlich, aber da Adele noch mehr auf dem Herzen hatte, fuhr sie fort: »Und weißt du, den Kasinoball könnten wir eigentlich auch annehmen. Es wird nicht viel mehr kosten als einen Wagen, und soviel gibt Papa uns zuliebe schon aus. – Aber warum sagst du gar nichts? So sprich doch lieber; du kannst mich ja auszanken, wenn du Lust dazu hast.«
Minna blickte sie mit den ernsten Augen an. »Ich will gar nicht zanken, Adele. Gestern Abend habe ich auch daran gedacht, ob es nicht möglich wäre, daß wir, wie andre junge Mädchen, unsre Jugend ein wenig genießen könnten; es hat mir auch sehr gut gefallen, daß die Leute soviel von uns hermachten. Es war gerade, als spürte ich, daß ich eine Macht über die Menschen besäße – hier mehr noch als in Berlin, wo wir nicht wie Wundertiere angestaunt wurden.«
»Ja,« sagte Adele mit einem tiefen Atemzuge, »so war es gerade – so kam's mir auch vor; ich dachte auf einmal: ich kann alles, was ich will – ich kann allen diesen Menschen den Kopf verdrehen.«
»Und ich glaube auch,« fuhr Minna fort, »wenn diese Macht ungenützt bleibt – so muß sie allmählich verkümmern und endlich ganz verloren gehen.«
»Siehst du wohl, daß ich recht habe, Minni?« Und Adele umarmte zärtlich die Schwester.
»Aber weißt du, Adele – seit ich Bruno heut früh so elend, so hilflos auf dem Boden liegen sah, bin ich aus diesem Gesellschaftstraume erwacht.«
»Bruno wird gewiß nicht noch einmal allein aus dem Bett aufstehen, wenn er gesehen hat, wie's dich erschreckte.«
»Nein nein, Adele – so ein Leben ist nicht für uns. Der liebe Gott hat uns einen ganz andern Weg gewiesen. Wir haben nur eine Gesellschaft mitgemacht, und gleich denken wir nur an Vergnügen; wenn wir uns jetzt nicht zurückhalten, stecken wir im Gesellschaftstrubel drin und wissen nicht, wie hinauskommen. Nein – mit diesem Leben müssen wir brechen; verstehst du mich?« Minna sprach ungewöhnlich ernst. »Wir beide müssen mit ihm brechen. Hier im Hause liegt unsre Pflicht, und da müssen wir auch unser Glück suchen; nicht draußen. Sind wir nicht alle so unendlich glücklich, seit du dich wieder mit uns vereinigt hast, liebes Herz? Das ist das Glück, das der liebe Gott für uns bestimmte.« Und wie von einer trüben Ahnung ergriffen, setzte sie mit plötzlich gefalteten Händen hinzu: »Gott mag es uns noch recht lange erhalten.«
»Vielleicht hast du recht,« sagte Adele und unterdrückte das Weinen, »aber es ist so schwer. Wir sind doch nur einmal jung ...«
»Du wirst mir schon recht geben; es kommt einem auch nur im ersten Augenblick so schwer vor. Wir wollen ja auch fröhlich sein und uns Vergnügen machen. Eins aber ist unerträglich, Adele – das ist die Reue. Heute früh hatte ich einen Vorgeschmack davon. Dies Gefühl mag ich nicht noch einmal durchleben.«
»Ja, das kann man an dem Baron Neitung sehen,« bemerkte Adele und trocknete sich wieder die Augen.
»Glaubst du noch immer, daß der Mann fähig war, seinen Vater zu töten?«
»Ich meine ja nicht mit bösem Vorsatz aber aus Unvorsichtigkeit oder Ungeschick; weshalb würde es ihn denn sonst so unglücklich machen?«
»Aber, Adele, wenn er seinen Vater sehr geliebt hat und mit seiner Hand ihm das Leben nahm, mag's auch nur ein unglücklicher Zufall gewesen sein, ist's doch ganz natürlich, wenn er unglücklich ist? Ich fühle, wie er leiden muß. Ich denke oft an ihn. Ich kann jetzt verstehen, warum er fast menschenscheu geworden ist.«
An diesem Abend kamen Adele keine bösen Gedanken, Minna hatte zu wahr, zu aufrichtig gesprochen; aber auf einmal flog's durch ihr Köpfchen: »Sollte Minna am Ende gar ein bißchen eifersüchtig sein?«
»Minna,« sagte sich Adele, »ist viel besser, pflichttreuer, geschickter, gescheiter und fleißiger als ich. Aber in Gesellschaft wird danach nicht gefragt; sie ist ja auch hübsch – und spielt schön Klavier – aber das macht alles nicht soviel aus; ich glaube, daß ich für die Gesellschaft mehr Talent besitze als sie.«
Wie beschämt war aber Adele, als sie hörte, daß Minna niemals von sich erzählte, sondern allein von dem Lobe, das Adele geerntet hatte, und von dem Talent, das sie beim Komödienspielen gezeigt – und wie graziös sie getanzt – ja es war fast, als wäre Minna ihre Mutter, die sich über die Triumphe einer Tochter freute, nicht eine Schwester, die kaum drei Jahre älter war als sie.
Da empfand Adele etwas von der Reue, die so furchtbare Qualen macht; aber sie war leichtlebiger als Minna und tröstete sich damit, daß sie diesen Verdacht ja noch gegen niemand ausgesprochen habe. In diesen Tagen zeigte sie sich besonders zärtlich gegen die Schwester.
Aber wenn sie auch nicht wagte, davon zu sprechen, es fiel dem armen Kinde sehr schwer, die gesellschaftlichen Vergnügungen aufzugeben. Es ist leicht der Gesellschaft zu entsagen, wenn man häßlich, ungeschickt und talentlos ist, aber dem, der im Gegenteil liebenswürdig und talentvoll ist, wird der Kampf nicht leicht gemacht.
Frau Rosine saß mit ihrem Strickstrumpf am Tische bei Uslars, denn ein Stündchen bei ›ihren Kindern‹ zu schwatzen, war ihr größtes Vergnügen; besonders wo es so viel zu hören gab, wie jetzt nach dem Karlingschen Zauberfeste. Da fuhr eine sehr elegante Equipage vor und Maruschka meldete, verwirrt und rot vor Aufregung: »Gräfin Zarnikow und Komtesse Hilda.«
Schnell packte Frau Rosine ihr Strickzeug zusammen und wollte ausreißen.
»Aber, Frau Rendant, was fällt Ihnen denn ein?« rief Minna lachend. »Die Gräfin wird sich freuen, Sie kennen zu lernen, ich habe ihr ja schon von Ihrer großen Güte gegen uns erzählt.«
»Von mir?« fragte Frau Rosine, und vor Freude traten ihr die Tränen in die Augen. »Sie haben auf dem Balle von mir zur Gräfin Zarnikow gesprochen?«
Minna konnte ihr nur zunicken, denn die Damen traten in diesem Augenblick ein.
»Wir kommen selbst, meine lieben Kinder, um mit euch einen Tag zu verabreden; denn wenn Hilda schreibt, macht ihr am Ende nur Ausflüchte,« rief die Gräfin; dann folgte stürmische Umarmung, besonders lebhaft ausgeführt von Hilda und Adele, darauf die Vorstellung der Kinder und Frau Rosinens.
»Das ist also die Frau Rendant, die sich euer so gütig angenommen hat?« fragte die Gräfin, ging auf Frau Rosine zu und schüttelte ihr herzlich die Hand. »Da muß ich Ihnen ja selbst noch einmal danken, Frau Rendant; ich habe diese Mädchen so lieb, daß ich denen, die ihnen Gutes erweisen, ganz besonders dankbar bin. Man sieht es Ihnen an, wie gütig Sie sind, Frau Rendant; wenn Minna die Kinder unter Ihrem Schutze weiß, wird sie sich auch eher entschließen, einmal eine Nacht fortzubleiben.«
In ihrer ruhigen Art setzte Minna, während Brunos Augen sie fast angstvoll beobachteten, auseinander, daß es kein Mangel an Vertrauen gegen Frau Rendant sein solle, daß sie sich aber nicht entschließen könne, Bruno, der ›gerade jetzt‹ ein wenig leidender wäre, zu verlassen. Adele aber wolle sie gern einen Urlaub gewähren.
»Und du denkst wohl, daß ich dich allein bei den Kindern lasse?« erwiderte Adele; » du brauchst eine Erfrischung, nicht ich.«
Die Gräfin war eine zärtliche Mutter; als ihr Blick auf dem bleichen Bruno ruhte, erkannte sie, daß Minna, als treusorgende Schwester, ihn nicht verlassen könnte. »Ich mache euch einen andern Vorschlag,« sagte sie. »Wir wollen uns noch ein Weilchen gedulden, bis der Frühling gekommen ist; dann müßt ihr mich aber alle zusammen besuchen, und so ein paar Tage auf dem Lande würden unserm kleinen Manne auch gut tun?« Sie streichelte dem Knaben herzlich den Kopf, er blickte sie mit dankbar strahlenden Augen an.
Ella klatschte in die Hände und rief: »Ach, das ist herrlich!« Hilda und Adele stimmten begeistert ein, und selbst Minna fühlte bei diesem gütigen Vorschlage ihren Widerstand besiegt, ja auch ihr Gesichtchen leuchtete vor Vergnügen; »ein paar Tage im Freien müßten Bruno gewiß kräftigen, und Papa würde sich wohl gern behelfen,« sagte sie.
»Herr Uslar kommt dann zu mir in Pension,« meinte Frau Rosine, die an diesem Plane gleichfalls großes Gefallen fand.
Es kamen seit dem Karlingschen Balle öfter Besuche in das kleine Haus. Wer hätte seine Gesellschaft nicht gern durch so liebenswürdige und gewandte junge Damen geschmückt? Aber alle mußten mit einer abschlägigen Antwort wieder fortgehen; keine Bitte, doch nur diese eine Ausnahme zu machen, die von jedem einzelnen wiederholt wurde, wollte helfen. Und doch ging niemand beleidigt fort; jeder empfand die höchste Achtung vor der hingebenden Liebe und strengen Pflichttreue eines so jungen und so begabten Mädchens wie Minna.
Die Equipage der Baronin Neitung hielt öfter vor dem Häuschen. Sie kam mit Fräulein Kamilla, um die so eigentümlich eingeleitete Bekanntschaft fortzusetzen; es war eine fast rührende Liebe, die sie den Kindern bewies. Sie machte Brunos wegen alle möglichen Vorschläge, sie nahm an seinem Leiden wahrhaft mütterlichen Anteil. Minna mußte ihr ausführlich berichten, was der Arzt über ihn gesagt hatte.
Es war kein ganz klares Urteil, und Minna fürchtete manchmal, der Arzt habe sie mit den unbestimmten Hoffnungen, die er gab, am Ende nur täuschen wollen. Aber Herr Uslar klammerte sich an seinen Ausspruch, und so wagte Minna gar nicht, ihren Zweifel laut werden zu lassen.
Baron Neitung begleitete niemals seine Mutter, und wenn diese von ihm sprach, so war's mit einer sehr betrübten Stimme; denn seine Schwermut und Menschenscheu hatten seit dem Abend, auf den sie so große Hoffnungen baute, eher noch zugenommen.
Nach jedem solchen Besuche wurde das tiefe Mitgefühl, das Minna für den unglücklichen jungen Mann empfand, noch verstärkt; er stand mit den traurigen, ernsten Augen wie gebannt vor ihrer Seele, und sie konnte den Schlaf dann lange nicht finden.
Auf die Freundschaft mit Frau Direktor und Aurora war aber in der Ballnacht ein Reif gefallen. »Die jungen Damen sind mir doch ein bißchen – nun wie soll ich sagen – zu ungewöhnlich,« äußerte Frau Direktor. »Wenn man Töchter hat, muß man am Ende vorsichtig sein; in Tarnowitz ist man sehr streng in diesem Punkte. Da habe ich gedacht, wunder was für ein Aufsehen die Mädchen gemacht hätten – aber nun findet man sie doch auch nicht in einer Gesellschaft wieder. Verwalterstöchter bleiben eben Verwalterstöchter, und wenn sie zehnmal eine Tante haben, die zufällig Exzellenz ist.«
Aurora widmete sich übrigens seit dem Abend mehr der klassischen Musik und begann sich sogar die Mondscheinsonate einzuüben. Als sie sie aber einmal in einer Kaffeegesellschaft, die ihre Mutter gab, vorzuspielen wagte, fragte Frau Doktor Lange, die für sehr musikalisch galt, von wem das Stück wäre. Sie hatte aus Auroras Spiel den Komponisten nicht zu erkennen vermocht.
Nur Rosamunde ließ sich in ihrer Liebe zu Uslars nicht irre machen. Sie verlangte gerade in dieser Zeit nach einer Freundin, der sie rückhaltlos vertrauen durfte; Aurora konnte ihr keine Freundin sein, sie war zu oberflächlich, eingebildet und selbstisch; Rosamunde wußte, daß sie gar nicht verstehen würde, was in ihr vorging. Und wußte sie es denn selbst? Als ihr der Hauslehrer damals im Hofe gesagt hatte, daß er das Haus verlassen würde, war ein ganz neues, wunderbares Empfinden in ihrer Seele erwacht; sie kannte sich nicht wieder.
Seit Fritz Steube in das Haus gekommen war, setzte sie – noch ein halbes Kind – stets ein ganz besonderes Vertrauen in ihn; sie kam oft mit Fragen zu ihm, oft kindischen, einfältigen Fragen, aber er lachte sie nicht höhnisch aus wie Aurora, die sich so ungeheuer viel klüger dünkte; er wußte sie in einer Weise zu belehren, daß sie am Lernen Vergnügen zu finden anfing und gern ein ernsthaftes Buch – eine Beschäftigung, die sie früher haßte – zur Hand nahm.
Daß ihr freundlicher Lehrer geistig und sittlich höher stehe als ihre eigne Familie, wurde ihr allmählich klar, und sie bekam unbedingtes Vertrauen zu einem Manne, von dem sie fühlte, daß er ihr in jeder Lage ihres Lebens ein Berater und Leiter sein würde. Aurora fand immer etwas an dem ›Kandidaten‹ – sie sprach diesen Titel mit verächtlicher Betonung aus – zu verspotten: bald war es sein guter Appetit, bald die manchmal etwas salbungsvollen Redensarten. Dann verteidigte Rosamunde ihren Freund und ertrug geduldig Auroras Sticheleien.
Jetzt, seit Fritz Steube mit ihr im Hofe gesprochen hatte, konnte sie ihn nicht mehr verteidigen. Sie errötete schon, wenn sein Name ausgesprochen wurde, und bekam Herzklopfen, sobald sie an ihn dachte; trotzdem dachte sie viel an ihn. Sie fühlte ein lebhaftes Verlangen, ihm, solange er im Hause wäre, recht viel Liebes zu erweisen, und hielt sich trotzdem scheu von ihm entfernt; gab sich's aber einmal, daß er ein paar Worte mit ihr allein redete, oder sie ein inniger Blick aus seinen Augen traf – dann kam sie in eine Art Glücksrausch, und in dieser Stimmung wurde es ihr nicht schwer, der Mutter und Auroras üble Launen zu ertragen. Dachte sie aber daran, daß der Tag näher rückte, an dem er das Haus verlassen würde, hätte sie weinen, immer nur weinen können.
Das waren Stunden, in denen sie sich sehnte, einmal mit Minna vertraulich zu sprechen. Adele war ihr für ein solches Vertrauen doch noch zu jung. – Oftmals kam sie wohl für ein paar Minuten nach dem Uslarschen Hause, fand aber weder Gelegenheit, noch fühlte sie den Mut, sich mit Minna allein zu unterhalten.
Frau Direktor konnte es nicht begreifen, daß Rosamunde, die in diesem Winter zum ersten Male ausgeführt wurde, auf den Bällen mehr gefiel, als Aurora, die ihr Liebling war und in der Familie für ungewöhnlich gescheit galt. Rosamunde war keine Schönheit, aber durch ihre frischen Farben, ihre freundlichen blauen Augen und den Reiz der Jugend und Unschuld wurde sie sehr anziehend. Auf dem letzten Kasinoball machte ihr ein reicher junger Fabrikant, Herr Olbers aus Pleß, auffallend den Hof. Er erschien am nächsten Nachmittag in Frack und Klapphut im Karlingschen Hause und hielt bei den Eltern um ihre Hand an.
Die Partie war glänzend, der Bewerber willkommen; nur paßte es der Frau Direktor nicht, daß er um Rosamunde warb. »Meine älteste Tochter heißt Aurora,« wagte sie zu bemerken, aber der Bewerber fuhr fort, von ›Rosamunde‹ zu sprechen.
»Sie ist noch sehr jung und unerfahren,« wandte die Mutter ein, »sie ist noch nicht einmal achtzehn Jahre alt. Sie sollten doch lieber an eine etwas ältere, feiner gebildete, auch talentvollere Frau denken.« Frau Direktor war wirklich nahe daran, den Namen dieser Frau auszusprechen, als ihr der Gemahl einen strafenden Blick zuwarf, worauf sie verstummte.
Der Direktor war herzlich froh, eine seiner Töchter gut versorgt zu wissen. Er kannte seine eignen Verhältnisse: Vermögen war nicht vorhanden, die reiche Einnahme wurde aufgebraucht, manchmal sogar noch mehr Geld, als man einnahm, aber gewaltsam zwingen wollte er seine Tochter nicht; es sollten ihr die Vorteile der Verbindung nur so lange und deutlich vorgestellt werden, bis sie diese begriffen hätte.
Der Bewerber wurde mit den besten Aussichten auf Erfolg verabschiedet, und die Eltern ließen das junge Mädchen nach des Vaters Zimmer bescheiden.
Aurora bildete sich ein, Johann habe nur den falschen Namen gesagt; sie hatte gleichfalls mit dem jungen Fabrikanten getanzt; sie sah ihn in feierlichem Anzuge aus dem Wagen steigen und wieder fortfahren, sie glaubte gewiß, daß sie die Erkorene sei, und begleitete Rosamunde, in der Hoffnung, das Mißverständnis müsse sich aufklären.
Die Enttäuschung war nicht geeignet, ihre Laune zu verbessern. Ach, wie gern hätte ihr die arme Rosamunde diesen Bewerber abgetreten! Sie geriet bei dem Antrag in die tödlichste Verlegenheit. Was sollte sie denn tun? Fritz Steube hatte ihr noch gar nicht gesagt, daß er sie heiraten würde; er besaß auch noch keine Stellung; in diesem Augenblick war er nicht einmal im Hause, sondern befand sich in Georgenberg, um dort eine Probepredigt zu halten. Wie hätte sie seinen Beistand anrufen sollen?
Aber sie fühlte doch, so jung und unerfahren sie auch war, daß sie in diesem Augenblick für das Glück ihres ganzen Lebens kämpfen, tapfer kämpfen müsse; darum entgegnete sie mit einer Ruhe, die ihre Eltern nicht angenehm überraschte: »Ihr könnt nicht verlangen, daß ich einen ganz fremden Mann heirate.«
Die Mutter schlug die Hände zusammen, der Vater sprang heftig auf. »Wahrscheinlich haben ihr die dummen Romane schon den Kopf verdreht. Auf wen wartest du denn eigentlich? Willst du vielleicht einen Grafen heiraten?« Und Frau Direktor, die nicht warten konnte, bis ihr Mann zu reden aufhörte, schrie dazwischen: »Willst du vielleicht irgend einen Hungerleider heiraten? Habt ihr nicht an Uslars ein Beispiel, wie's ist, wenn man nichts hat und selbst die Weihnachtsgeschenke verkaufen muß?«
Aurora begnügte sich vorderhand mit verächtlichen Blicken und höhnischem Lächeln. Endlich, als der erste Sturm vorübergebraust war, sagte Rosamunde bebend und mit den Tränen kämpfend: »Ich kann ihn nicht heiraten; bitte quält mich nicht. Zwinge mich nicht dazu, lieber Papa, freiwillig heirate ich ihn nicht.« Damit war ihre Kraft erschöpft, das arme Kind lief fort, und fast ohne zu wissen, was sie tat, die Treppe hinunter und über den Hof zu Uslars.
Rosamunde wagte sich mit den verweinten Augen nicht in die Stube hinein, sondern öffnete nur ein Ritzchen der Tür, und mit einer Stimme, der man noch das Schluchzen anhörte, bat sie, ob sie Minna einen Augenblick allein sprechen könnte.
Indem Minna Adele bat, eine andre Lampe anzubrennen, nahm sie die auf dem Tische stehende und trug sie nach des Vaters Stube, denn es war inzwischen Abend geworden.
Rosamunde folgte, und sobald sich die Tür geschlossen hatte, warf sie sich in Minnas Arme. »Ach, ich bin so unglücklich,« schluchzte sie, und nun erfuhr Minna zwar zuerst den Antrag des Fabrikanten, dann aber die kleine unschuldige Liebesgeschichte mit Fritz Steube, in der noch nicht einmal ein Wort von Liebe gesprochen worden war.
»Wenn Herr Steube Sie liebt, wird er auch gewiß, sobald er eine Stellung hat, bei den Eltern um Sie anhalten,« sagte Minna, »und dann werden Sie wieder glücklich werden, liebe Rosamunde. Mir scheint die Sache nicht so traurig.«
Rosamunde kam sich auf einmal auch nicht mehr traurig vor; sie mußte sogar lachen, und dann küßte sie Minna und trocknete die letzte Träne aus ihren Augen. »Nun will ich auch gleich hinübergehen. Heute abend kommt Herr Steube zurück, und wenn alles gut gegangen ist, kann er – vielleicht – ich weiß es ja noch nicht so gewiß, ob er es tun wird ... Nun, wenn etwas Gutes passiert, dann hänge ich ein weißes Tuch an mein Schlafstubenfenster; das ist das Zeichen für Sie, liebe Minna.« Mit diesen Worten und augenscheinlich sehr getröstet betrat sie den Hof.
Der ziemlich große Hof wurde am Eingangstor nur von einer Laterne erleuchtet; es war daher etwas dunkel, und Rosamunde wäre beinahe an einen Herrn angerannt, der, ein Köfferchen in der Hand, eilig vorüberschritt; sie prallte zurück, er gleichfalls, und dabei erkannten sie sich: es war Fritz Steube, der von der Reise zurückkehrte.
»Ich nehme es als ein gutes Zeichen, Rosamunde, daß Sie die erste sind, die mir begegnet,« sagte er herzlich und ließ das gewohnte ›Fräulein‹ zum erstenmal weg. Rosamunde stand das Herz vor freudigem Schreck still, und dann schlug's um so heftiger. »Wie ist es Ihnen in Georgenberg ergangen?« fragte sie leise.
Er schien in gehobener Stimmung. »Die Pfarre ist mir so gut wie gewiß,« berichtete er. »Die beiden andern Kandidaten sind ganz abgefallen; mir aber ist von allen Seiten versichert worden, daß ich gewählt würde, darüber sei kein Zweifel.«
»Dann darf ich Ihnen Glück wünschen,« sagte Rosamunde und streckte ihm zögernd ihre Hand entgegen.
Er nahm ihre Hand, als habe er ein Recht dazu, und behielt sie in der seinen. »Nun kommt ja erst die große Frage, ob ich mir zu der Stellung selbst Glück wünschen darf; und die Beantwortung dieser Frage hängt allein von Ihnen ab. Darf ich bei Ihrem Vater um Ihre Hand anhalten, liebe Rosamunde?«
Sie fühlte, daß sie etwas sagen mußte, aber sie konnte bloß mit dem Kopfe nicken, und bei der Dunkelheit gab sie damit ihre Zustimmung nicht sehr deutlich zu erkennen; Fritz Steube mußte noch einmal fragen: »Wollen Sie meine Frau werden?«
»Ach ja,« sagte Rosamunde leise.
Und da nun Fritz Steube noch im Predigen steckte, fing er sogleich mit pastorlicher Würde an: »Ihr Ja macht mich sehr glücklich; aber – Sie sind noch sehr jung – täuschen Sie sich auch nicht? Meine Frage ist eine sehr ernste Frage; eine der wichtigsten, die jemals an Sie gestellt werden wird, und wie ich wohl annehmen kann, auch gestellt worden ist.«
»Ach nein,« wurde an seiner Seite geflüstert.
Er ließ ihre Hand los, so erschrocken war er. »Was wollen Sie damit sagen, Rosamunde?« fragte er fast streng.
»Das ist ja heute schon der zweite Heiratsantrag,« berichtete Rosamunde.
»Der zweite was? – Heiratsantrag? Habe ich recht verstanden, Rosamunde? Sie können doch nicht einem andern Manne gleichfalls Hoffnungen gemacht haben?«
»Ich habe ihn ja nur einmal gesehen,« verteidigte sich das arme Kind, »und ich will ihn auch nicht heiraten; aber die Eltern verlangen es.«
»Ich betrachte es als eine Fügung des Himmels, daß ich gerade jetzt zu einer Pfarre gelange,« sagte Fritz Steube zuversichtlich.
»Ja es ist ein großes Glück,« versicherte Rosamunde.
Beseligt über diese Worte nahm er abermals ihre Hand; da sie aber in diesem Augenblick die erleuchtete Hausflur betraten, entzog sie sie ihm errötend und lief so schnell sie konnte die Treppe hinauf.
Es fiel den Geschwistern auf, wie oft Minna am nächsten Tage ans Fenster ging, aber sie schaute vergeblich nach dem Zeichen aus – kein weißes Tuch flatterte als frohe Botschaft an Rosamundens Fenster. Dagegen brachte Maruschka ein Billettchen, worin Fritz Steube um eine kurze Unterredung bat.
Er kam am Nachmittag und wurde natürlich von Minna in Herrn Uslars Stube empfangen. Daß er nicht als glücklicher Bräutigam käme, stand ihm auf dem Gesicht geschrieben, obgleich er sich mühte, als angehender Pastor den Kummer mit Würde zu tragen.
»Rosamunde hat mir gesagt, daß Sie ihre Vertraute sind, Fräulein Uslar, und ich bitte Sie, daß Sie sich des armen lieben Mädchens annehmen. Trotz der Abweisung der Eltern nenne ich Rosamunde im Herzen meine Braut; als ich jetzt Abschied von ihr nahm, hat sie mir auch versprochen, standhaft auszuharren, aber sie ist ganz vereinsamt in dieser Familie, ich kann wohl sagen umflutet von einem Meere der Bitterkeit und des Eigennutzes; da bedarf sie einer Freundin.«
Minna sagte, daß sie Rosamunde herzlich liebe und ihr gern jeden Freundschaftsdienst erweisen würde.
»Ich habe an den andern Bewerber geschrieben,« berichtete Fritz Steube weiter. »Ich habe ihm vorgestellt, daß Rosamunde einen andern liebe, der gleichfalls imstande wäre, ihr eine gesicherte Zukunft zu bieten, und daß, wenn sie jemals einwillige, die Frau des Fabrikanten zu werden, es nicht aus freien Willen geschehe.«
Nachdem Fritz Steube nun alles das Minna auseinandergesetzt hatte, nahm er von ihr Abschied und versicherte nochmals, welch großes Vertrauen er in ihre Freundschaft setze.
Rosamunde aber zeigte sich gar nicht so niedergeschlagen, wie Minna erwartete, sie war an diesem einen Tage um Jahre verständiger geworden, sie sah ein Ziel vor sich und war entschlossen, dafür zu dulden und auszuharren.
Es traf sich, daß sie einige Tage später mit ihrem reichen Verehrer in einer Gesellschaft zusammenkam. Er fragte, ob sie einen Pastor Steube kenne – die Ernennung Fritz Steubes zum Pastor in Georgenberg war gerade an demselben Tage im Tarnowitzer Amtsblatt bekannt gemacht worden. Rosamunde faßte sich ein Herz und sagte: »Ich betrachte Pastor Steube sogar als meinen Verlobten; denn ich bin sicher, daß mir die Eltern, wenn ich nur treu zu ihm stehe, ihre Zustimmung nicht versagen werden.«
»Sie sind vollkommen im Rechte, mein Fräulein,« erklärte der junge Mann; »wollen Sie Ihren Eltern sagen, daß ich zurücktrete und von ganzem Herzen wünsche, daß Sie glücklich werden möchten?«