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Alf hieß ein Mann, auf den alle Bauern seines Dorfes große Hoffnungen setzten, weil er die meisten an Arbeitskraft wie an Klugheit übertraf. Aber als der Mann dreißig Jahre alt war, zog er sich auf das Gebirge zurück und machte sich zwei Meilen von dem Dorf ein Stück urbar. Viele wunderten sich, daß er eine solche Nachbarschaft mit sich allein aushielt, wunderten sich aber noch mehr, als sie einige Jahre später ein junges Mädchen aus dem Tal mit ihm teilen wollte, und noch dazu dasjenige, welches bei all ihren Festlichkeiten und Tänzen das fröhlichste gewesen war.
Sie wurden die »Waldleute« genannt, und er war unter dem Namen »Alf im Walde« bekannt; die Leute sahen ihm lange nach, wenn sie ihn bei der Kirche oder bei der Arbeit trafen, denn sie begriffen ihn nicht, und er ließ es sich auch nicht angelegen sein, sich ihnen gegenüber zu erklären. Seine Frau war nur einigemal im Dorf gewesen, und das eine Mal, um ein Kind taufen zu lassen.
Dieses Kind war ein Sohn, der den Namen Thrond erhalten hatte. Je mehr er heranwuchs, desto öfter sprachen sie davon, daß sie Hilfe haben müßten, und da sie nicht Mittel zu haben glaubten, sich einen erwachsenen Menschen zu halten, so nahmen sie sich nach ihrer Ausdrucksweise einen »halben«; sie bekamen ein vierzehnjähriges Mädchen in das Haus, welches den Knaben wartete, wenn die Eltern außerhalb des Hauses beschäftigt waren.
Das Mädchen war allerdings ein wenig einfältig, und der Knabe merkte bald, daß, was die Mutter sagte, leicht zu fassen war, aber schwer, was Ragnhild zu ihm sprach. Mit dem Vater verkehrte er nicht viel und hatte eher Furcht vor ihm, denn wenn dieser im Zimmer war, mußte die größte Stille herrschen.
Da, an einem Weihnachtsabend – auf dem Tisch brannten zwei Lichter, und der Vater trank aus einer Flasche, die ganz weiß war – nahm der Vater Thrond auf seinen Schoß, blickte ihm scharf in die Augen und rief: »Sieh mich an, Junge!« Darauf sagte er etwas milder: »Du bist gottlob nicht furchtsam! Hast du Lust, ein Märchen zu hören?« Der Knabe sagte nichts, blickte aber den Vater mit großen Augen an. Da erzählte ihm dieser von einem Mann aus Waage, der Blessom hieß. Er, der Mann, war wegen eines Prozesses, den er führte, in Kopenhagen, und das Gerichtsverfahren hatte bis Einbruch des Weihnachtsabends gedauert. Das tat Blessom leid, und als er nun so auf den Straßen umherwandelte und sich nach Hause sehnte, sah er einen großen, kräftigen Mann in einem weißen Mantel vor sich her gehen. »Du schreitest schnell vorwärts!« sagte Blessom. »Ich habe heute abend auch noch weit nach Hause«, versetzte der Mann. – »Wo willst du denn hin?« – »Nach Waage«, erwiderte der Mann und schritt weiter. »Ach«, seufzte Blessom, »könnte ich doch auch nur mit hin!« – »Du kannst dich ja hinten auf meine Schlittenkufen stellen!« entgegnete der Mann und lenkte in eine Querstraße ein, in der das Pferd stand. Er stieg ein und blickte sich nach Blessom um, als dieser auf die Kufen stieg. »Du mußt dich aber ja festhalten!« sagte er. Blessom tat so und hatte es wahrlich nötig, denn es ging nicht immer auf gerader Erde. »Ich glaube gar, du fährst über Wasser hin«, sagte Blessom. – »Das tu' ich«, versetzte der Mann, und der Schaum brauste rings um sie her. Wieder eine Strecke weiter kam es Blessom so vor, als ob es nicht länger über das Wasser fortginge. »Ich glaube gar, daß es jetzt durch die Luft geht«, sagte er. – »Ei ja, das tut es«, erwiderte der Mann. Aber als sie noch weitergefahren waren, glaubte Blessom die Gegend, durch welche sie fuhren, wiederzuerkennen. »Ich glaube, das ist Waage«, sagte er. »Ja, nun sind wir angelangt«, entgegnete der Mann, und Blessom freute sich über die schnelle Fahrt. »Besten Dank für die vortreffliche Fahrt!« sagte er. »Danke gleichfalls«, antwortete der Mann und fügte, als er das Pferd wieder antrieb, hinzu: »Jetzt verlohnt es sich nicht mehr der Mühe, daß du dich weiter nach mir umsiehst!« – ›Nein, nein‹, dachte Blessom und stolperte über die Hügel nach Hause. Aber da wurde hinter ihm plötzlich ein solches Lärmen und Krachen, als sollte die ganze Felsenwand zusammenstürzen, und die ganze Gegend wurde ringsumher hell erleuchtet; er schaute sich um, und da sah er den Mann in dem weißen Mantel durch lodernde Flammen in den geöffneten Berg, der wie eine hohe Pforte über ihm stand, hineinfahren. Blessom wurde über die Reisegesellschaft, die er gehabt, ein wenig überrascht und wollte den Kopf wieder umwenden, aber wie er geworden war, blieb er sitzen, und nie wurde Blessoms Kopf wieder gerade.
Etwas Ähnliches hatte der Knabe noch nie in seinem Leben gehört. Er wagte den Vater nicht zu bitten, ihm noch mehr Märchen zu erzählen, aber früh am nächsten Morgen fragte er die Mutter, ob sie nicht auch einige wüßte. Ei ja, sie kannte genug, aber sie handelten meistens von Prinzessinnen, die sieben Jahre gefangen saßen, bis der rechte Prinz kam. Der Knabe glaubte, daß alles, was er hörte und sah, ihn dicht umgäbe.
Er zählte bereits acht Jahre, als an einem Winterabend zum erstenmal ein Fremder zur Tür hereintrat. Er hatte schwarzes Haar, und solches hatte Thrond nie gesehen. Er grüßte kurz »Guten Abend« und trat in das Zimmer. Thrond wurde ängstlich und setzte sich auf einen Schemel neben dem Herd. Die Mutter bat den Mann, Platz zu nehmen; er tat so, und nun konnte die Mutter sich ihn näher betrachten. »Ei der Tausend, ist das nicht Geigenknut?« fragte sie. – »Ja, der bin ich. Es ist lange her, seit ich auf deiner Hochzeit spielte.« – »Seitdem ist freilich ein gutes Stück Zeit vergangen. Kommst du weit her?« – »Ich habe während der Weihnachtstage auf der andren Seite des Gebirges gespielt. Aber mitten im Gebirge überfiel mich plötzlich ein eigentümliches Unwohlsein; ich mußte hier hineingehen, um zu ruhen.«
Die Mutter holte ihm Essen; er setzte sich zu Tisch, sagte aber nicht »in Jesu Namen!«, wie es der Knabe stets gehört hatte. Als er gegessen, stand er auf. »Jetzt ist mir wieder ganz wohl«, sagte er, »laß mich nun einen kurzen Augenblick ruhen.« Und er durfte sich in Thronds Bett legen und ausruhen.
Für Thrond wurde auf dem Fußboden eine Lagerstätte bereitet. Als er nun da lag, fror ihn auf der Seite, welche von dem Herde abgewandt war, und das war die linke. Den Grund glaubte er darin zu finden, daß die andere Seite der Nachtkälte nackt ausgesetzt war, denn er wähnte mitten im Walde zu liegen. Wie war er nur in den Wald hinausgekommen? Er richtete sich empor und blickte um sich; das Feuer brannte in weiter Ferne, und er lag wirklich einsam im Walde. Er wollte auf das Feuer zugehen, vermochte sich aber nicht von der Stelle zu rühren. Da ergriff ihn große Angst, denn ein Ungetüm konnte sich auf ihn stürzen, Spuk und Gespenster auf ihn eindringen; hin zum Feuer mußte er, und doch kam er nicht von der Stelle. Da wuchs seine Angst, er nahm sich aus allen Kräften zusammen, stieß mühsam den Ruf »Mutter!« aus – und erwachte. »Liebes Kind, du hast schwer geträumt«, sagte sie und nahm ihn auf den Arm.
Er zitterte am ganzen Leibe und schaute ringsumher. Der fremde Mann war verschwunden, und er wagte nicht nach ihm zu fragen.
Die Mutter zog ihr schwarzes Kleid an und ging in das Dorf hinab. Bei ihrer Rückkehr wurde sie von zwei andren Fremden begleitet, ebenfalls mit schwarzem Haar und niedrigen Hüten. Auch sie sagten nicht »in Jesu Namen«, als sie aßen, und sprachen mit dem Vater immer ganz leise. Darauf gingen sie miteinander in die Scheune und kamen aus ihr mit einem großen Kasten zurück, den sie zwischen sich trugen. Sie setzten ihn auf einen Schlitten und sagten Lebewohl. Da sagte die Mutter: »Wartet noch einen Augenblick und nehmet den kleinen Kasten, den er bei sich trug, mit euch.« Sie wollte ihn holen, aber der eine der Männer sagte: »Den kann der da bekommen« und wies dabei auf Thrond. Der andere fügte noch hinzu: »Wende ihn ebensogut an wie der, welcher jetzt hier ruht« und zeigte nach dem großen Kasten hin. Dann lachten sie beide und zogen von dannen. Thrond sah den kleinen Kasten, welchen er auf solche Weise erhalten, an und fragte: »Was ist darin?« – »Sieh selber nach«, erwiderte die Mutter. Er tat es, und sie half ihm beim Öffnen! Da überflog der Ausdruck großer Freude sein Gesicht, denn er gewahrte darin etwas gar Leichtes und Feines liegen. – »Nimm es!« sagte die Mutter. Er betastete es nur mit einem Finger, zog ihn aber schnell wieder mit großem Schrecken zurück. »Es weint!« rief er ängstlich. »Fasse nur dreist zu!« sagte die Mutter, und nun griff er mit der ganzen Hand zu und langte es heraus. Er drehte es hin und her, lachte und befühlte es von allen Seiten. »Liebe Mutter, was ist das?« fragte er, es kam ihm so federleicht vor. – »Es ist eine Geige.«
Auf diese Weise bekam Thrond Alfson seine erste Geige.
Der Vater konnte etwas spielen und zeigte dem Knaben die ersten Griffe, die Mutter konnte aus der Zeit, in der sie noch tanzte, einige Melodien trällern, und diese lernte Thrond von ihr, aber bald ersann er sich neue. Sobald er nicht lernte, spielte er, spielte so anhaltend, daß der Vater einmal zu ihm sagte, er würde darüber ganz bleich und elend; alles, was der Knabe bis dahin gelesen und gehört hatte, ging in die Geige über. Die weiche, feine Saite war die Mutter; die danebenliegende, welche der Mutter stets folgte, war Ragnhild. Die grobe Saite, die er seltener benutzte, war der Vater. Aber vor der letzten, so ernsten und strengen Saite fürchtete er sich halb und halb, und ihr gab er keinen Namen. Tat er einen Fehlgriff auf der Quinte, so tönte ihm das wie Katzengeschrei, auf der Saite des Vaters wie Ochsengebrüll. Der Bogen war ihm das Bild jenes Blessom, der in einer Nacht von Kopenhagen bis Waage fahren durfte. Auch jede Melodie bezeichnete ihm einen bestimmten Gegenstand. Die, in der lang anhaltende, ernste Töne vorkamen, veranschaulichte ihm die Mutter in ihrem schwarzen Kleid. Bei einer recht hüpfenden und springenden dachte er an Moses, welcher stotterte und mit seinem Stab gegen den Felsen schlug. Wenn der Bogen nur leicht die Saiten berührte, sah er die Waldnymphe vor sich, welche im Nebel, so daß es kein anderer sehen konnte, das Vieh forttrieb.
Aber sein Spiel drang über die Felswände hinfort, und Sehnsucht erfaßte sein Herz. Als der Vater eines Tages erzählte, daß auf dem Markt ein kleiner Knabe gespielt und viel Geld verdient hätte, wartete Thrond in der Küche auf die Mutter und fragte sie leise, ob er nicht auch mit auf den Markt gehen und den Leuten etwas vorspielen dürfte. »Wie kannst du dir nur dergleichen in den Kopf setzen!« erwiderte die Mutter, sprach aber gleichwohl darüber sofort mit dem Vater. »Er wird früh genug in die Welt hinauskommen«, entgegnete der Vater, und das sprach er in einer Weise, daß die Mutter nicht länger bat.
Bald darauf erzählten der Vater und die Mutter bei Tische von neuen Nachbarsleuten, die sich vor kurzem auf dem Gebirge angesiedelt hatten und sich nun verheiraten wollten. Sie hatten, wie der Vater sagte, noch keinen Spielmann. »Könnte ich nicht ihr Spielmann werden?« fragte der Knabe leise, als die Mutter wieder in der Küche stand. – »Du, der du noch ein kleiner Junge bist!« versetzte sie; aber sie ging doch auf die Scheunentenne hinaus, wo gerade der Vater war, und sagte es ihm. »Er war noch nie im Kirchspiel«, setzte sie hinzu, »er hat noch nie eine Kirche gesehen.« – »Ich begreife nicht, weshalb du mich zu bitten nötig hast«, sagte Alf, aber er sagte auch nicht mehr, und deshalb glaubte die Mutter, daß hierin eine Art Erlaubnis läge. Infolgedessen ging sie zu den neuen Ansiedlern hinüber und bot ihren Sohn an. »Wie er spielt«, sagte sie, »hat noch nie ein so junger Bursch gespielt«, und richtig – der Knabe sollte sie auf dem Brautmarsch als Spielmann begleiten.
Da gab es große Freude daheim. Von früh bis spät spielte Thrond und übte neue Melodien ein, und des Nachts träumte er von ihnen; sie trugen ihn über die Berge in fremde Lande hinaus, als ritte er auf segelnden Wolken. Die Mutter nähte neue Kleider, aber der Vater hielt es im Zimmer nicht aus.
Die letzte Nacht schlief der Knabe nicht, sondern ersann eine neue Melodie über die Kirche, die er noch nicht gesehen hatte. Früh am Morgen war er auf, die Mutter ebenfalls, um ihm Frühstück zu geben; aber er konnte nichts essen. Er zog die neuen Kleider an, nahm die Violine in die Hand, und da kam es ihm vor, als flimmerte es ihm vor den Augen. Die Mutter begleitete ihn bis auf die Steintreppe hinaus und sah ihm nach, während er den Abhang hinaufging. Es war das erstemal, daß er das väterliche Haus verließ.
Der Vater stieg leise aus dem Bett auf und trat an das Fenster; er stand da und blickte dem Knaben nach, bis er die Tritte der Mutter auf der Treppe vernahm; da suchte er wieder das Bett auf, und als sie hereintrat, lag er mit geschlossenen Augen da.
Sie ging unaufhörlich um ihn her, als ob sie etwas auf dem Herzen hätte, was sie gern vorbringen möchte. Und endlich konnte sie es nicht länger zurückhalten. »Ich denke doch, daß ich zur Kirche hinab und nachsehen müßte, wie es geht.« Er gab keine Antwort, deshalb betrachtete sie die Sache als abgemacht, zog sich an und ging.
Es war ein herrlicher, sonnenheller Tag, als der Knabe das Gebirge hinauf wanderte. Er lauschte auf den Gesang der Vögel und sah die Sonne zwischen den Blättern flimmern, während er mit der Geige unter dem Arme schnell vorwärts schritt. Und als er nach dem Hochzeitshaus kam, sah er noch immer nichts anderes, als was er vorher im Kopfe hatte, weder den Brautstaat noch das Brautgefolge; er fragte bloß, ob sie bald aufbrechen würden, und das wollten sie. Er ging mit der Geige voran; nun spielte er den ganzen Morgen, daß es zwischen den Bäumen widerhallte. »Sehen wir die Kirche bald?« fragte er rückwärts gewandt; lange erhielt er eine verneinende Antwort, aber endlich sagte jemand: »Sobald wir dort um den Felsenvorsprung biegen, wirst du die Kirche sehen.« Er spielte seine neuste Melodie, der Bogen tanzte, und er sah gerade vor sich hin. Da lag mit einem Male das Kirchspiel gerade vor ihm!
Das erste, was er sah, war ein leichter Nebel, der sich rauchartig die entgegengesetzte Felsenwand emporzog. Dann schweiften seine Blicke über grüne Wiesen und große Häuser mit Fenstern, deren Scheiben in den hellen Sonnenstrahlen feurig glühten. Es flimmerte fast wie auf der Eisbahn an einem Wintertag. Die Häuser wurden beständig größer, und immer mehr Fenster wurden sichtbar, und hier lagen auf der einen Seite ungeheuer große, rote Häuser, Pferde standen vor ihnen an den Mauern angebunden, kleine, festlich gekleidete Kinder spielten auf einer Anhöhe, Hunde saßen daneben und sahen zu. Aber über dies alles tönte ein langer, tiefer Ton hin fort, so daß Thrond sein Inneres erbeben fühlte und es ihm vorkam, als ob sich alles, was er sah, im Takte nach demselben bewegte. Da erblickte er mit einem Male ein großes, schmales Haus, das mit einer hohen, glänzenden Spitze gen Himmel emporragte. Und unterwärts funkelten Hunderte von Fenstern in der Sonne, so daß das Haus wie in einer hellen Flamme dastand. ›Das muß die Kirche sein‹, dachte der Knabe, ›und der Ton muß von ihr herkommen.‹ Ringsumher stand eine unermeßliche Menge Menschen, und sämtliche glichen einander. Er brachte sie sofort mit der Kirche in Verbindung und bekam dadurch eine mit Furcht gemischte Achtung vor dem kleinsten Kinde. ›Jetzt muß ich spielen‹, dachte Thrond und nahm alle seine Kräfte zusammen. Aber was war dies? Die Geige brachte ja keinen Ton mehr hervor. Es muß etwas an den Saiten in Unordnung sein; er sah nach, aber es war kein Fehler zu entdecken. »Dann muß es daran liegen, daß ich den Bogen nicht kräftig genug aufsetze«, und er strich mit aller Kraft, aber die Geige war wie zersprungen. Er spielte nun statt der Melodie, welche die Kirche bedeuten sollte, eine andere, aber die Töne waren ebenso kreischend, kein richtiger Ton, nichts als pfeifende und jammernde Laute. Er fühlte, wie der kalte Schweiß über sein Gesicht hinabperlte, er dachte an die klugen Leute, die umherstanden und ihn vielleicht auslachten, ihn, der doch zu Hause so schön spielen konnte, während es ihm hier nicht einen einzigen Ton hervorzubringen gelang! »Gottlob, daß die Mutter nicht hier ist und meine Schande mit ansieht«, sagte er leise zu sich selbst, als er spielend mitten durch die Leute hindurchschritt aber sieh, da stand sie in dem schwarzen Kleide und wich weiter und immer weiter zurück. Da erblickte er in demselben Augenblicke hoch oben auf der Turmspitze den schwarzhaarigen Mann sitzen, der ihm die Geige gegeben hatte. »Gib sie wieder her!« rief er, lachte und streckte die Arme aus, und die Turmspitze bewegte sich mit ihm auf und nieder. Aber der Knabe nahm die Geige unter den einen Arm; »du bekommst sie nicht!« rief er, wandte sich um und lief aus der Volksmenge hinaus, die Häuser entlang, über Wiesen und Felder hin fort, bis er nicht mehr konnte und auf die Erde sank.
Lange lag er da, das Gesicht zur Erde gekehrt, und als er endlich den Kopf erhob, hörte und sah er nur Gottes endlosen Himmel, der sich mit seinem ewigen Sausen über ihm wölbte. Das war ihm so entsetzlich, daß er das Gesicht abermals gegen die Erde wenden mußte. Als er das Haupt von neuem emporrichtete, gewahrte er die Geige, die für sich allein dalag. »Deine Schuld ist das alles!« rief der Knabe und hob sie hoch empor, um sie zu zerschmettern, hielt aber plötzlich inne und blickte sie an. – »Wir haben viele frohe Stunden miteinander zugebracht«, sagte er und verfiel abermals in Schweigen. – Aber kurz darauf fügte er hinzu: »Die Saiten müssen fort, denn sie taugen nichts.« Und er zog ein Messer hervor und schnitt zu. »Au!« sagte die Quinte kurz und traurig. Der Knabe schnitt. »Au!« sagte die nächste Saite; aber der Knabe schnitt weiter. »Au!« sagte die dritte schwer bekümmert – und nun war er vor der vierten angelangt. Ein herber Schmerz ergriff ihn; die vierte Saite, sie, der er nie gewagt hatte einen Namen zu geben, sie zerschnitt er nicht. Jetzt war es auch, als ob er fühlte, daß sein Unvermögen zu spielen nicht der Fehler der Saiten war. Da kam seine Mutter langsam auf ihn zugegangen, um ihn nach Hause zu führen. Aber eine noch größere Furcht ergriff ihn; er richtete sich empor und rief ihr entgegen: »Nein, Mutter, nach Hause kehre ich nicht eher zurück, als bis ich spielen kann, was ich heute gesehen habe.«