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1.

Der Amateurphotograph.

Michael Gebhart war ein beneidenswerter, junger Mann. Er hatte in der Auswahl seiner Eltern die nötige Sorgfalt walten lassen und sich eine Wiege auserwählt, an der ein Elternpaar nur darauf wartete, ihren Sprößling mit all dem zu überschütten, was wir als den Inbegriff jeden Glückes anerkennen. Die reichen Eltern hatten, so lange sie lebten, nur darauf hingearbeitet, das einzige Kind glücklich zu machen. Und Michael Gebhart war glücklich. Schon die Natur hatte ihn begünstigt. Er war schön und von eleganter Erscheinung, besaß dabei aber ein sehr zufriedenes Gemüt, das ihm auch ein Glück unter weniger günstigen Verhältnissen gebracht hätte.

Michael war eben ein Schoßkind der launigen Glücksgöttin Fortuna. Seine Eltern waren schon seit mehreren Jahren tot. Ganz allein lebte er mit einer tüchtigen Wirtschafterin, die er mit dem Erbe seiner Eltern übernommen hatte, und einem Hausburschen in einer eleganten Wohnung.

Wie es seine Gewohnheit war, hatte Gebhart an dem wundervollen Sommertage schon in der frühesten Morgenstunde, nur mit seinem Photographenapparate ausgerüstet, allein einen Ausflug unternommen. Zur Mittagsstunde war er zurückgekehrt, und sofort nach dem Essen war er in der Dunkelkammer verschwunden, um die Bilder zu exponieren, die er auf seinem Spaziergange aufgenommen hatte.

Er war ein leidenschaftlicher Amateurphotograph und hatte sich als solcher schon viele Preise erworben. Seine Aufnahmen waren stets mit peinlicher Exaktheit ausgeführt. Die schönsten und bestgelungenen seiner Aufnahmen pflegte er zu vergrößern und in passender Umrahmung als Zimmerschmuck zu verwenden.

Auch an dem Vormittage war ihm das Glück günstig gewesen. In einer Talmulde der Glonn hatte er zwischen sanftansteigenden Hügeln ein rebenumsponnenes Häuschen entdeckt, das so einsam in dem Landschaftsbilde lag, als wohnte darin das Märchen. In dem Morgensonnenlicht leuchtete das weiße Mauerwerk nochmals so hell, von dem dunklen Laubwerk der Reben, die an den Mauern emporkletterten, kontrastierte wirkungsvoll das helle Grün der Fensterläden. Im Hintergrunde stiegen die Hügel an mit den lichten Baumgruppen. Darüber lag ein flimmernder, blaßgrauer Himmel, an dem eben eine mächtige, weiße, silbrigglänzende Wolke emporstieg.

So sah er noch im Geiste das Bild; es sollte eine seiner besten Aufnahmen werden.

Die Dunkelkammer war nur durch ein rotes Ampellicht spärlich erhellt. Michael Gebhart hatte schon das Fixierbad bereitgestellt; dann kam die Platte aus der Kassette in das Bad. Unter gleichmäßigem Schaukeln plätscherte die Flüssigkeit über die Glasplatte, die sich allmählich dunkler färbte. Helle und dunkle Stellen prägten sich ab, das Bild entwickelte sich. Der Himmel, der Wald, das Häuschen selbst, alles war schon zu sehen. Soviel konnte er jetzt schon erkennen, daß diese Aufnahme zu seinen glücklichsten gehörte. Jetzt war die Platte ganz entwickelt.

Er hielt sie gegen das rötliche Ampellicht, um das Bild nochmals in allen Einzelheiten zu prüfen.

»Gut!« murmelte er dabei befriedigt vor sich hin. »Man sieht fast Blatt für Blatt der Reben, die das Haus umspinnen.«

Dann schwieg er, aber wie einer, der über eine plötzliche Entdeckung überrascht ist; er sah aufmerksamer auf das Negativbild der Platte und fast wäre sie seiner Hand entfallen.

Dabei kam kein Wort über seine Lippen, das verraten hätte, was ihn so erschreckt hatte. Nur eine etwas fieberhafte Hast hatte ihn gepackt, als er in einem zweiten Bade die fertig entwickelte Platte unempfindlich gegen Licht machte.

Und es mußte etwas ganz Bedeutsames sein, was ihn festgebannt hatte, denn er kümmerte sich um die anderen Aufnahmen, die er sonst noch gemacht hatte, weiter nicht mehr. Das eine Bild hielt ihn gefesselt. Endlich war die Platte soweit fertig, daß er davon Abzüge herstellen konnte.

Als er jene vorher nochmals gegen das Licht hielt, da zitterten seine Finger und seine Lippen murmelten fast unhörbar:

»Das ist ja furchtbar!«

Alles ließ er in der Dunkelkammer liegen, ganz gegen seine Gewohnheit, da er ein Freund peinlichster Ordnung war, und ging nach seinem Zimmer, wo er sofort die Platte in den Rahmen stellte, um eine erste Kopie des Bildes zu erhalten.

Während diese zur Belichtung in der Sonne lag, schritt er in nervöser Unruhe auf und nieder; dabei hatte er die Hände auf den Rücken gelegt und sein Blick irrte immer wieder dorthin, wo sich das erste Bild vollendete.

Endlich!

Er nahm es aus dem Rahmen! Fertig. Seine beste Aufnahme. Doch seine Augen suchten etwas anderes. Die rebenumsponnene Villa zeichnete sich scharf und deutlich ab. Ein Fenster im ersten Stockwerk stand offen. Deutlich erkennbar war es auf dem Bilde. Aber das Bild verriet noch mehr.

In dem offenen Fenster standen zwei Gestalten, eine war nur mit dem Rücken zu erkennen, die zweite aber – ein Mann mit langem Barte – hielt in erhobener Hand ein blankes Beil, das drohend über der ersten Gestalt schwebte und auf diese in gleicher Sekunde niedersausen mußte.

Dies zeigte das Bild.

So war der Photographenapparat Zeuge einer Mordtat gewesen, die sonst niemand gesehen haben mochte. Und der Apparat hatte die Tat festgehalten, sodaß er besser Zeugnis geben konnte wie eines Menschen Worte.

Nur noch kurze Zeit mußte Michael auf das Bild verwenden, um auch das Papier gegen Licht unempfindlich zu machen.

Dann aber verließ er seine Wohnung in eiliger Hast und bestieg die erste Droschke, die seinen Weg kreuzte.

Das Polizeigebäude war das Ziel seiner Fahrt.

Kommissar Steinherz saß in seinem Bureau und ließ die Feder für einen Augenblick ruhen, als Gehhart durch die Tür hereinstürmte, fast atemlos, und an Stelle jeglicher Begrüßung seine photographische Aufnahme auf dem Tische des Kommissars niederlegte, der verwundert bald das Bild, bald den Überbringer anstarrte.

Steinherz war ein mittelgroßer Mann mit kahlem Kopfe und schwarzem Spitzbarte, der aber schon manche weiße Fäden aufwies; er galt als ein sehr tüchtiger Beamter, dem stets die schwierigsten Fälle zugewiesen wurden.

»Was soll ich mit dem Bilde?«

Noch immer keuchend, denn Gebhart war in großen Sprüngen die Treppe zum Bureau emporgestürmt, gab er in abgerissenen Sätzen zur Antwort:

»Diesen Morgen aufgenommen. Auf einem Spaziergange. Nichts gesehen! Nur das Bild.«

Durch diese Worte wurde der Kommissar nicht klarer. Was sollte das Bild? Schließlich war ein Polizeikommissar doch kein Sachverständiger für die Güte photographischer Aufnahmen. Nur um etwas zu sagen, erklärte er, wobei er das Bild an Gebhart wieder zurückgeben wollte:

»Die Aufnahme scheint ja sehr gut gelungen zu sein! Aber weshalb bringen Sie mir das Bild? Ich verstehe nicht viel davon.«

»Aber das Fenster im ersten Stock, das zweite von rechts, steht offen.«

Der Kommissar war noch mehr verwundert. Weshalb sollte ihn das interessieren? Er blickte wieder auf das Bild und bemerkte in gleichgültigem Tone:

»Richtig, das Fenster steht – –«

Aber er vollendete den Satz nicht; er war aufgesprungen, zum Fenster hingeeilt und besah im Lichte genauer das Bild. So klein sich auch alles zeigte, so war die Szene, die sich durch das offene Fenster bot, doch deutlich zu erkennen.

Ein Mann mit Vollbart drang mit hochgeschwungenem Beil auf einen anderen ein, der ihm den Rücken zuwandte.

Das hatte die photographische Linse in einer Momentaufnahme festgehalten.

Hastig wandte sich Steinherz um.

»Da ist ein Mord geschehen!«

»So kann es nur sein,« antwortete Gebhart.

»Wo waren Sie gewesen, wo haben Sie diese Aufnahme gemacht?«

»Im Glonntale. Wo der Weg von Auhof nach Maxkron führt.«

»Wann?«

»Diesen Morgen, es wird gegen zehn Uhr gewesen sein.«

»Haben Sie dabei die Szene an jenem Fenster nicht selbst beobachtet?«

»Nein! Erst als ich in meiner Dunkelkammer das Bild entwickelte, wurde ich darauf aufmerksam.«

»Haben Sie Zeit?«

»Natürlich!«

»Dann werden Sie mich nach dem Orte der Mordtat begleiten!«

Es war kaum eine Viertelstunde verstrichen, da fuhr ein Automobil im schärfsten Tempo auf der Landstraße nach Auhof.

In dem Automobil saßen Michael Gebhart, Kommissar Steinherz und noch zwei Kriminalbeamte. Es wurde nur wenig gesprochen, denn alle hingen ihren eigenen Gedanken nach, die sich ausschließlich damit beschäftigten, was wohl in dem rebenumrankten Häuschen gefunden würde.

»Wenn wir die Höhe dieser Straße erreicht haben werden, können wir die Villa sehen,« sagte endlich Michael Gebhart und wies mit ausgestreckter Hand auf den leicht ansteigenden Hügel, den das Automobil in rasendem Tempo erklomm.

Nun lag das Landschaftsbild auch schon so vor ihnen, wie es die photographische Aufnahme gezeigt hatte.

Kommissar Steinherz warf einen prüfenden Blick auf das Bild des Friedens. Eine fast feiertägige Ruhe lag über der Landschaft. Die Nachmittagssonne war hinter einen Hügel verkrochen und nur schwache Strahlen sandte sie durch die dichten Baumstämme des hochaufragenden Waldes; aber keiner davon drang in die Talsenkung hinunter, in der das rebenumsponnene Landhäuschen stand. Wie ein Märchen, in tiefen Schlaf versunken, sinnend und träumend lag das Landhäuschen in seiner Abendruhe. Die Türen waren geschlossen, nichts regte sich, nichts ließ auf Leben dort unten schließen.

»Wissen Sie, wer der Besitzer davon ist?« fragte der Kommissar.

»Nein.«

»Als Sie diesen Morgen die Aufnahme gemacht hatten, hatten Sie dabei auch keine Beobachtung gemacht, ob dieses Häuschen bewohnt ist?«

»Nein! Ich dachte, es sei unbewohnt.«

Kommissar Steinherz hatte, um Vergleiche anstellen zu können, die Photographie in der Hand.

»Das Bild zeigt mit wunderbarer Schärfe das offene Fenster, läßt die Szene genau erkennen: der Mann mit dem Vollbart schwingt drohend das Beil über dem Ahnungslosen, der ihm den Rücken zuwendet. Genauer ist aber dieser mutmaßliche Mörder auch nicht zu erkennen. Ein Mann mit Vollbart! Wer sein Opfer war, darüber werden wir bald Gewißheit erlangen.«

Das Automobil sauste den Berg hinab, der Villa zu.

»Von dem Baume dort habe ich die Aufnahme gemacht.«

»Richtig! Das Bild läßt es erkennen. Aber das auf dem Bilde offene Fenster ist jetzt geschlossen wie die anderen.«

»Wirklich!«

»Das hat nachträglich der Mörder getan,« erklärte der Kommissar. »Nur ist es zu spät geschehen, denn der photographische Apparat war schon Zeuge seiner Tat.«

Das Automobil hielt vor dem kleinen Landhause an. Mit erwartungsvoller Aufregung und beklemmenden Gefühlen schritt Gebhart mit dem Kommissar der Tür zu.

Ein Messingschild wies den Namen:

»H. Sontheimer.«

Ehe der Kommissar die Glocke läutete, wandte er sich fragend an Michael Gebhart:

»Sollte dies der bekannte Hans Sontheimer, der Begründer der Firma Sontheimer-Esdeale sein?«

»Mir unbekannt.«

Ein schrilles Läuten folgte.

Dann aber atemlose Stille. Nichts regte sich. Im Hause schien kein Mensch zu sein.

Nochmals versuchte es der Kommissar. Länger und stärker war sein Läuten.

Aber der Erfolg war der gleiche. Kein fremder Laut kam aus dieser einsamen Villa, nur Widerhall des Läutens tönte zurück.

Stumm und tot!

»Wir müssen die Tür aufbrechen!«

Kaum hatte der Kommissar die Weisung gegeben, da arbeiteten die beiden Kriminalbeamten mit Brechwerkzeug auch schon an der Tür, die ihren Anstrengungen nur sehr geringen Widerstand entgegensetzte. Bald krachte das Holz und die Tür war offen.

Der Kommissar und Gebhart betraten als die ersten das einsame Haus, in dem die Mordtat begangen sein mußte.

Bald waren sie durch alle Zimmer im Erdgeschoß gekommen, die zwar sämtlich mit elegantem Luxus möbliert waren, aber doch verrieten, daß sie in der letzten Zeit nicht bewohnt worden waren. Die Polstermöbel hatten alle Schutzbezüge, die Kästen und Schränke waren leer.

Dann stiegen sie die Treppe empor, die unter ihren Schritten ganz leise knarrte; und das klang wie ein stöhnendes Ächzen, wie das Jammern eines Todwunden. Die ersten Zimmer leer.

»Das Haus scheint nicht bewohnt gewesen zu sein!«

Michael Gebhart, dessen Aufregung sich umsomehr steigerte, je näher sie dem Zimmer kamen, in dem der Mord geschehen sein mußte, nickte nur mit dem Kopfe. Er fühlte, daß seine Füße zitterten.

»Dort! In dem Zimmer muß die Tat begangen worden sein.«

Kommissar Steinherz stand vor der Tür; seine Hand hatte die Klinke gefaßt. Die Tür war nicht versperrt. Langsam öffnete er sie und die beiden konnten in das Zimmer hineingehen.

Aber was sie sahen, war von so überraschender Wirkung, wie es der grauenvollste Anblick nicht hätte hervorrufen können. Was sich ihren Augen zeigte, war das, was sie am allerwenigsten vermuten konnten, was am allerwenigsten wahrscheinlich war.

So mußte es auch kommen, daß sich beide in fassungslosem Erstaunen anstarrten und keiner zunächst ein Wort sprechen konnte.

Dort das Fenster!

Durch dieses hatte der Photographenapparat die Mordtat festgebannt.

Kommissar Steinherz fand zuerst Worte der Überraschung und des Erstaunens.

»Leer! Keine Leiche, kein Mord! Nirgends Blut, nirgends die Spuren einer Mordtat.«

Michael Gebhart nickte erst zustimmend, dann sagte er langsam und nachdenklich, als müßte er jedes Wort erst prüfen und abwägen:

»Aber der Apparat kann doch nicht lügen.«

»Hier zeigt sich aber auch nicht die mindeste Spur!« erklärte der Kommissar wiederum.

So war es auch.

Das Zimmer war offenbar die Bibliothek. In großen Schrankfächern standen Bücher, hohe und kleine, meist Handelsliteratur. In anderen Regalen waren schönwissenschaftliche Werke, darunter alle Klassiker und viele moderne Autoren. Einen bevorzugten Platz nahmen die Werke Nietzsches ein und das Exemplar von »Also sprach Zarathustra« war viel abgegriffen. Dies mußte besonders bevorzugt worden sein.

Neben dem Fenster war ein kleiner Schreibtisch. Auf dem großen Bodenteppich stand ein eckiges Rauchtischchen, um das vier Fauteuils gruppiert waren.

Auf den Bücherregalen und Ständern waren die Büsten bekannter Dichter.

Sonst wies das Zimmer nichts auf.

»Es ist leer! Überall größte Ordnung! Hier kann kein Mord verübt worden sein.«

»Ist es auch das gesuchte Zimmer?«

Der Kommissar war zum Fenster hingegangen und blickte hinaus.

»Das zweite Fenster rechts! Hier müßte es nach photographischen Aufnahme geschehen sein.«

Gebhart nickte nur.

Das alles war so überraschend auf ihn eingedrungen, daß er noch immer unter dem Banne des am wenigsten Erwarteten stand.

Selbst der Kommissar wurde erst nachdenklich. Er hielt das Bild in der Hand und blickte darauf hin. Aber das Bild änderte sich nicht; er sah auf diesem immer noch das offene Fenster und die Szene, die nur allzu deutlich kundgab, was geschehen sein mußte.

Und jetzt war das Fenster geschlossen.

Keine Leiche! Nirgends Blut!

Kommissar Steinherz zermarterte sein Gehirn, aber er konnte für den großen Widerspruch, der in dem Bilde und in den vorgefundenen Tatsachen lag, keine Lösung finden.

Die photographische Linse, die schärfer und genauer sieht als das Auge, konnte nicht lügen.

Was war denn geschehen?

Das Fenster war geschlossen worden. Die Villa war unbewohnt!

Aber irgend jemand mußte das Fenster geschlossen haben.

Kommissar Steinherz erkannte, daß hier ein Fall gegeben war, der in der Kriminalgeschichte einzig dastand, daß er einer Tat gegenüberstand, die wohl die sensationellste und aufsehenerregendste sein mußte.

An den zwei Tatsachen mußte er unbedingt festhalten:

Das Fenster war offen und dann geschlossen worden.

Zwei Männer waren in diesem Zimmer und einer hatte über den anderen drohend ein Beil erhoben.

Wer aber konnte alle die Fragen beantworten, die sich daraus folgern ließen?

Aber nur eine konnte von größter Bedeutsamkeit sein:

War die Tat ausgeführt worden, die von der photographischen Aufnahme fixiert worden war?

Der erste Augenschein verneinte dies, denn es lag kein Leichnam vor und es zeigten sich keinerlei sonstige Spuren einer solchen Tat.

Jemehr Schwierigkeiten sich dem Kommissar entgegenstellten, je geheimnisvoller und unentwirrbarer das Rätsel wurde, das der Kommissar zur Lösung bringen mußte, umsomehr steigerte sich seine Arbeitslust. Seine Schaffensfreudigkeit nahm mit der Größe der Aufgabe zu.

Steinherz wußte, der oberflächliche Augenschein durfte allein nicht maßgebend sein. Er mußte vorsichtig auf die scheinbar geringfügigsten Nebenumstände Gewicht legen.

Er sprach mit Gebhart kein Wort mehr, sondern ging mit solcher Ruhe seiner Aufgabe nach, als wäre er ganz allein.

Seine ersten Untersuchungen nahm er in den Flurgängen und Nebenräumen vor. Dann erst war er wieder in das Bibliothekzimmer zurückgekehrt, wo er aufmerksam den Boden studierte, dann das Rauchtischchen und die Fauteuils seitwärts rollte und den Teppich wegschaffte.

Was er dabei wahrnahm, schien ihn zu befriedigen, denn er nickte beifällig.

Michael Gebhart war erstaunt allen diesen Untersuchungen gefolgt, die ihm zwecklos erschienen und ihm nicht das mindeste verrieten. Deshalb sagte er zu dem Kommissar, als dieser abermals das Bibliothekzimmer verlassen wollte:

»Dann wäre hier also gar nichts geschehen?«

»O doch, hier ist etwas geschehen! Ein Mord! Weiter nichts!«

»Ein Mord! Dann hat das Bild also richtig gezeigt.«

»Natürlich! Das konnte doch nicht lügen.«

Gebhart erschien noch alles unverständlich, denn er schüttelte zweifelnd den Kopf:

»Aber die Leiche!«

»Diese will ich erst suchen.«

»Wie aber kamen Sie so rasch zu einer solchen Überzeugung?«

»Wenn ich Ihnen das erkläre, so werden Sie es so selbstverständlich finden, daß Sie sich wundern werden, nicht selbst aufmerksam geworden zu sein. Ich habe mir den Flur und die Nebenzimmer angesehen. Dort zeigt der Boden überall die Staubschicht, die genau verrät, daß die Räume in der letzten Zeit nicht bewohnt wurden. Hier aber ist der Boden glatt und zeigt fast kein Staubkörnchen; er mußte also vor kurzer Zeit gereinigt worden sein. Im Herrenzimmer nebenan zeigt eine scharfe abgegrenzte Fläche, daß dort ein Teppich gelegen hat und, wie ich durch Messungen festgestellt habe, ein Teppich von der Größe wie dieser hier. Es stimmt auf den Millimeter. Es war also der Teppich vom Herrenzimmer hierhergeschafft worden. Dafür mußte doch ein bestimmter Grund vorliegen. Ich habe deshalb hier den Teppich weggenommen und gefunden, daß der Boden darunter noch feucht war, daß dieser also erst heute mit Wasser gescheuert worden war.«

Mit immer größerem Erstaunen war Gebhart dem Bericht gefolgt; als der Kommissar nun eine kleine Pause folgen ließ, erklärte er:

»Das ist allerdings leicht wahrzunehmen. Was hat aber das alles zu bedeuten?«

»Es mußte eine Veranlassung vorliegen, gerade dieses Zimmer mit Wasser reinzumachen, den Boden zu scheuern und von dem Herrenzimmer den Teppich hier herüberzubringen. Der Teppich sollte zunächst den feuchten Boden verbergen. Wie nun die ganze Villa eingerichtet ist, läßt sich doch mit größter Wahrscheinlichkeit vermuten, daß auch in diesem Zimmer ein Teppich gelegen hat, genau wie in allen übrigen. Mit den: Bibliothekzimmer allein wurde gewiß keine Ausnahme gemacht.«

»Das kann ich schon verstehen. Wo aber mag dieser Teppich hingebracht worden sein?«

Einen kurzen Augenblick zögerte Kommissar Steinherz mit der Antwort; dann erklärte er:

»Erinnern Sie sich an das Bild! Hier hätte das Opfer stehen müssen, hier der Mörder. Der Ermordete mußte unter einem solchen Schlag sofort zusammengebrochen sein. Sein Blut hatte also den Teppich und den Boden besudelt. Den Boden konnte der Mörder mit Wasser reinwaschen. Den Teppich nicht. Wir werden also den Teppich finden, wo wir die Leiche finden werden.«

Gebhart nickte nur; jetzt war ihm alles verständlich und er erkannte die volle Richtigkeit der Voraussetzungen des Kommissars.

Mit desto größerer Lebhaftigkeit folgte er den weiteren Nachforschungen.

Nun suchte Kommissar Steinherz mit seinen Leuten in allen Räumen des einsamen Landhauses; jedes Fach wurde geöffnet, jeder Schrank, jeder Behälter. Umsonst! In jedem Zimmer wurde gesucht, im Keller und im Speicher, und in dem rückwärts gelegenen Garten.

Doch alles Suchen war ohne Erfolg.

Eine Leiche oder der verschwundene Teppich war nirgends gefunden worden. Der Kommissar hatte seine wohltuende Ruhe verloren, er war nervös und aufgeregt geworden.

Die Leiche konnte der Wind nicht fortgetragen haben! Und doch hatte er sie nirgends finden können.

Im Westen leuchtete dämmerndes Abendrot.

Da ließ der Kommissar das erfolglose Suchen. Er wußte, ein Mord war begangen worden.

Wo aber war die Leiche, wer war der Tote, und wer der Mörder?

Würde er jemals diese drei Fragen beantworten können?

Er erteilte die notwendigen Weisungen: Die beiden Kriminalbeamten mußten in der einsamen Villa übernachten, um am nächsten Morgen die Nachforschungen nach der verschwundenen Leiche fortzusetzen. Nicht allein im Hause, sondern auch in der Umgebung sollte gesucht werden.

Dann erst fuhren Kommissar Steinherz und Gebhart mit dem Automobil nach der Stadt zurück. Erst saßen sie lange Zeit wortlos nebeneinander, bis Gebhart die Frage wagte:

»Was haben Sie nun mit aller Sicherheit erreicht?«

»Ich weiß, daß ein Mord geschehen ist.«

»Sonst nichts?«

Steinherz zuckte die Schultern.

Damit verriet er nichts, und bejahte weder noch verneinte er die Frage.

»Was aber werden Sie jetzt tun?«

»Ich werde mich bei Sontheimer anmelden lassen!«


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