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Die Begegnung in Marseille

Tòni, der Eisenbahnfahrten wegen der mit ihnen verbundenen lähmenden Unbeweglichkeit verabscheute, mußte die Nereide verlassen und sich der Marter unterwerfen, zwölf Stunden eingepfercht zwischen unbekannten Menschen zu sitzen.

Nachdem die Zeitungen in Barcelona die Kunde von dem Tode des jungen Esteban Ferragut verbreitet hatten, erfuhr er, als sei diese Todesnachricht noch nicht Unheil genug, durch einen spanischen Kapitän, der von Marseille kam, daß der Herr der Nereide krank in einem Hotel am dortigen Hafen läge. Und unverzüglich reiste Tòni ab.

Mit eingesunkenen Augen und wirrem Bart saß Ferragut hinfällig in einem Lehnstuhl, als sein Steuermann eintrat.

»Tòni! … Tòni!«

Endlich konnte Ulysses weinen, und diese Tränen schafften ihm Erleichterung. Tònis Anwesenheit rief ihn ins Leben zurück; er hatte das Gefühl, als sei die Nereide gekommen, ihn zu holen, und die Energie vergangener Zeiten erwachte von neuem. Wenn nur nicht diese Scham und Reue gewesen wäre! Denn Tòni kannte sein Geheimnis, ihm als einzigen hatte er von der Versorgung der deutschen Unterseeboote gesprochen.

Doch sein Steuermann bewies so viel Taktgefühl, das Verschulden des Vaters nicht zu erwähnen. »Auch ich habe Söhne verloren, Ulysses … und ich weiß, daß man mit Verzweiflung nichts ausrichtet …«

Nicht eine einzige Anspielung auf die Tage, die dem traurigen Ereignis voraufgegangen waren!

Dank seiner Fürsorge und seinem freundlichen Zureden kam Ferragut wieder zu Kräften und war eine Woche später reisefähig.

Mit scheuer Befangenheit betrat er sein Haus. Die sanfte Cinta, der er bisher stets mit der gönnerhaften Überlegenheit der Orientalen, die den Frauen die Seele absprechen, begegnet war, flößte ihm eine gewisse Angst ein. Wie würde sie ihn empfangen? …

Sie sagte nichts von dem, was er befürchtete, brach aber in ein verzweifeltes Schluchzen aus, als würde durch den Anblick ihres Gatten das Bild des Sohnes, den sie nie wiedersehen sollte, noch klarer in ihr wachgerufen. Blasser und stiller denn je, nahm sie dann ihr gewohntes Leben wieder auf; saß, die beiden kleinen Nichten zu ihren Füßen, Stunde um Stunde über die ewige Spitzenarbeit gebeugt, die sie nur beiseitelegte, um auch für die geringsten Einzelheiten, soweit sie das Wohlbefinden ihres Gatten betrafen, selbst Sorge zu tragen.

Doch trotz dieser Aufmerksamkeiten erriet Ferragut, daß etwas Ungeheuerliches, etwas Trennendes zwischen ihnen stände, und eines Tages, als er sie in einer Aufwallung seiner alten Zuneigung umarmen wollte, befreite sie sich mit einer Geste gekränkter Scham – stieß ihn zurück. Fahl, mit zitternden Nasenflügeln und flammenden Augen redete sie sich, und all das, was die Jahre auf dem Grunde ihrer Seele aufgespeichert hatten, brach hastig, sich überstürzend, hervor.

»Nein! … Und nein! Leben wir meinetwegen gemeinsam weiter, weil Gott es so befiehlt. Aber ich liebe dich nicht mehr, kann dich nicht mehr lieben … Wieviel Böses hast du mir angetan! Suche nur überall auf deinen Fahrten und bei deinen häßlichen Abenteuern, ob du je eine Frau finden wirst, die dich so liebte wie ich.«

Ihre Stimme wurde heiser vor Aufregung.

»Von hier aus bin ich dir gefolgt auf all deinen Reisen, und sobald du heimkehrtest, wurde mir jede Untreue offenbar. Die Briefchen in deinen Taschen erzählten mir davon, die Photographien in deinen Büchern, die Anspielungen deiner Kameraden, dein arrogantes Lächeln … auch gewisse Zärtlichkeiten, hinter denen ich andere Frauen ahnte. Über alles bin ich hinweggekommen. Als Kapitänstochter, die ihre Mutter oft genug weinen sah, kenne ich die Seeleute. Es ist bitter für eine Frau, die liebt – doch man kann es verzeihen. Jetzt aber … jetzt?«

Sie bebte vor Zorn beim Gedanken an seine letzte Untreue. Dieses Mal handelte es sich weder um die käuflichen Weiber der Hafenstädte, noch um alleinreisende Frauen, die ein wenig Liebe verschenken, wie man, ohne den Schritt anzuhalten, ein Almosen gibt. Jetzt hatte er sich gleich einem enthusiastischen Jüngling in eine schöne und elegante Dame verliebt, um derentwillen er sein Schiff und seine Geschäfte vergaß, seinem Heim fernblieb, als verzichte er für immer auf seine Familie! … Und als Esteban sich schließlich aufmachte, den treulosen Vater heimzuholen, fand er den Tod … und was für einen Tod!

Etwas mehr als nur der Schmerz der beleidigten Gattin vibrierte in ihren Klagen. Es war die Rivalität mit jener Frau in Neapel, die Cinta für eine Dame der großen Welt hielt, umwoben von dem ganzen bestechenden Zauber des Reichtums und der hohen Geburt – war das Gefühl der Ohnmacht einer bescheidenen Hausfrau gegenüber den überlegenen Waffen der Verführung.

»Ich war längst entschlossen, alles zu ignorieren, denn ich hatte einen Trost: meinen Sohn. Mochtest du da draußen treiben, was du wolltest, mein Sohn lebte an meiner Seite … Doch jetzt? Nie mehr werde ich ihn sehen! Du weißt, daß ich nicht noch einmal Mutter werden darf … Und du bist es, der ihn mir genommen hat, den einzigen. Bedenke, daß dein Sohn heute noch leben würde, wenn du nicht in Neapel geblieben wärest!«

Mitleiderregend war Ferraguts Anblick. Mit gesenktem Kopf ließ er ihre bitteren Worte über sich ergehen. Ah, wenn sie die ganze Wahrheit wüßte! bohrte sein Gewissen.

»Jedesmal, wenn ich deine Schritte höre, steigt alles wieder in mir auf. Dann hasse ich dich, Ulysses, hasse dich, wie ich nie einen Menschen hassen zu können vermeinte!«

Diese entsetzliche Szene überzeugte ihn, daß er fort mußte. Dies war nicht mehr sein Haus, Cinta nicht mehr seine Frau. Die Erinnerung an den Toten stellte sich überall und zu jeder Stunde zwischen sie. Zurück aufs Meer! Für den Rest seiner Tage würde die Nereide sein einziger Zufluchtsort sein.

Einige Tage später befahl der Kapitän Ferragut, sein Schiff klarzumachen. Er hatte sich erboten, die alliierte Flotte vor den Dardanellen zu versorgen, und hinfort würde die Nereide Lebensmittel, Waffen, Munition und Flugzeuge transportieren.

Tòni wagte einen Einwand: »In Südamerika finden wir genau so lohnende Frachten, haben aber den Vorteil, in Sicherheit zu fahren.«

»Und meine Rache?« lautete Ferraguts Antwort. »Von nun ab ist mein Leben ausschließlich der Aufgabe gewidmet, denen, die den Tod meines Jungen verschuldet haben, so viel Schaden als irgend möglich zuzufügen. Was willst du übrigens, du Querkopf? … Jetzt müßtest du doch zufrieden sein, arbeiten wir doch für deine Republik!«

Die Ladung wurde in einem englischen Hafen eingenommen, und die Nereide suchte sich ihren Weg nach den Dardanellen allein, ohne den Schutz der Zerstörer, von denen die Konvois der Handelsdampfer begleitet wurden. Der Kapitän kannte sein Mittelmeer. Überdies wehte, ohne daß sich sein Gewissen hierdurch bedrückt fühlte, am Heck seines Schiffes die neutrale spanische Flagge. Waren nicht überall alte Seeräubersitten wieder aufgenommen worden? …

Nur die zum Schlaf unbedingt notwendigen Stunden litt es ihn in seiner Kabine. Tagsüber stand er mit Tòni auf der Brücke, um das bewegliche Blau abzusuchen, das früher nicht vorhandene Gefahren barg. Holzstücke, leere, in der Sonne blinkende Konservenbüchsen, Algenbüschel, eine sich auf den Wogen wiegende Möwe – alles, was sonst unbeachtet am Schiff vorbeitrieb, wirkte jetzt alarmierend, und in dunklen Nächten gesellte sich zu der Gefahr der Unterseeboote noch die einer Kollision, da sowohl Kriegsschiffe als auch Transporte mit abgeblendeten Lichtern fuhren.

Eines Abends fiel Ulysses beim Sichten alter Papiere Freyas Photographie in die Hände. Und das Lächeln dieser stolzen Augen weckte widerstreitende Gefühle. Er sah die Schönheit ihres Körpers, erschauerte bei der Erinnerung an das Glück vergangener Stunden und wurde desungeachtet von der Rachsucht des Levantiners beherrscht, für den der Tod allein volle Sühne ist.

Er zerriß die Photographie … um Minuten später die Stücke wieder sorgsam zusammenzukleben.

Nein, sie war ja gar nicht die Hauptschuldige! Der andere war es, dieser falsche Diplomat, dessen Torpedo vielleicht auch den armen Esteban zerstückelt hatte. Ah, wenn der Teufel ihm den mal über den Weg führen sollte! …

Nichts war unerträglicher als die Einsamkeit seiner Kabine, die ohnmächtige Rachegelüste in ihm auslöste. Auf der Brücke, neben Tòni, fühlte er sich wohler. Und um seinem Steuermann über die endlosen Wachstunden hinwegzuhelfen, erzählte er ihm bisweilen Geschichten aus der Vergangenheit.

»Die Augen der ganzen Welt sind auf die Blockade der Dardanellen gerichtet. Aber niemand erinnert sich, daß einst wir Katalonier Herren der Meerenge waren und daß einst Gallipoli von dem Valencianer Ramón Muntaner beherrscht wurde.

Als das Haus Aragon am Ende des 13. Jahrhunderts die französische Dynastie endgültig aus Sizilien vertrieben hatte, stellte sich Roger de Flor mit seinen leichten Fußtruppen – Spanier aus den Tälern der Pyrenäen, vom Ufer des Ebro und von den Ebenen Valencias – in den Dienst der Kaiser von Byzanz, denen die ersten Einfälle der Türken drohten. Aus Philadelpheia, Magnesia und Ephesus verjagten sie die Mohammedaner und gelangten auf ihrem Siegeszuge bis zum Fuß des fernen Taurus. Doch angesichts dieser Erfolge begannen die verweichlichten, in Zirkusspielen und theologischen Streitigkeiten aufgehenden Patrizier von Byzanz vor diesen Scharen zu zittern, die halb Banditen, halb Soldaten, einen Troß zäher, abgehärteter Weiber und halbnackter Kinder mit sich führten.

Und obwohl der greise Basileus Andronicus Paläologus ihren Führer zum Cäsar erhoben und mit einer kaiserlichen Prinzessin vermählt hatte, trieb die Furcht, die Spanier könnten die Paläologen entthronen und eine eigene Dynastie errichten, den Sohn des Basileus, Michael IX., dennoch zum Verrat. Roger de Flor und mit ihm viele seiner Führer wurden ermordet.

Viertausend Mann stark, verschanzten sich die Spanier unter Muntaner in Gallipoli und hielten zwei Jahre lang dem Sturm der Byzantiner und ihrer bulgarischen Hilfstruppen stand. Dann gingen sie zum Angriff über, eroberten Thrazien und gelangten bis vor die Tore von Byzanz. Erst der Hunger zwang sie zum Abzug. Über Saloniki und die Klöster vom Berge Athos zogen sie nach Griechenland, wo sie am Ufer des Copais-Sees den Herzog von Athen, Gautier de Brienne, einen Nachkommen der französischen Kreuzfahrer, schlugen, um das spanische Herzogtum von Athen und Neopatras zu errichten, dessen Krone sie den aragonischen Königen übertrugen.

»Das Buch der Sitten und Gebräuche der Stadt Barcelona« wurde Gesetz in Athen und Theben, der katalonische Dialekt regierte als offizielle Sprache im Lande des Demosthenes, und auf den Altären des noch unversehrten Parthenons stand die Statue der Heiligen Jungfrau, der Panagia Ateneiotissa, vor der die Priester auf katalonisch predigten.

Achtzig Jahre währte diese Abenteurerherrschaft, von der nichts zurückgeblieben ist als die Verwünschung ›Möge dich die Rache des Katalonen ereilen‹, die sich noch Jahrhunderte im Mund des griechischen und rumelischen Volkes erhielt …«

Ständig von kalten Regenböen gepeitscht, erreichte die Nereide die Insel Tenedos und löschte einen Teil ihrer Ladung. Wie ein dumpfer Donner grollte hier unaufhörlich das Echo des Geschützfeuers von den Dardanellen. Ihr nächstes Ziel war Saloniki.

Beim Morgengrauen lief sie auf der Reede ein, und als der Nebel dünner wurde, stachen blitzende Minaretts in ein Stückchen blauen Himmel. Allmählich entschleierten sich auch die großen Geschäftshäuser, Hotels, Banken, Kinos und Varietés dicht am Wasser, die der Weiße Turm, ein Rest der byzantinischen Befestigungen, zu beschützen schien. Aus diesem europäischen Stadtteil kletterten Straßen durch die griechischen, mohammedanischen und israelitischen Viertel aufwärts zu einem Plateau, auf dem hohe Gebäude zwischen den dunklen Kerzen der Zypressen sichtbar wurden.

Die religiöse Verschiedenheit seiner Bewohner hatte Saloniki mit Türmen und Domen übersät. Breit wölbten sich die vergoldeten Kuppeln der griechischen Kirchen; auf dem höchsten Turm der katholischen Kathedrale funkelte das Kreuz; die Synagogen stuften sich terrassenförmig in geometrischen Linien, während weiß, spitz und schlank die Minaretts nach oben strebten.

Um die Stadt herum verlor sich das flache Land endlos bis zum Horizont, und diese braune Steppe, die Ferragut vor Jahren in monotoner, trostloser Verlassenheit kennengelernt hatte, ohne andere Unterbrechung als die kleinen Oasen der mohammedanischen Friedhöfe, kribbelte jetzt von intensivem Leben. Tausende und Tausende von Männern kampierten dort draußen in Zeltlagern mit rechtwinkligen Straßen, in Städten aus Holzbaracken und riesigen Konstruktionen, deren Leinwandwände sich im Winde blähten.

Durch sein Glas sah der Kapitän lange Reihen Pferde auf dem Wege zur Tränke; Artillerieparke, deren aufwärtsgerichtete Geschütze Teleskoprohren glichen; Riesenvögel mit gelben Flügeln, die sich allmählich vom Boden lösten, um surrend und blitzend im Blau zu verschwinden. Das ganze von dem verfehlten Dardanellenabenteuer zurückflutende Heer samt den von Marseille und Gibraltar eingetroffenen Verstärkungen drängte sich um Saloniki.

Nicht minder bewegtes Leben zeigte der Hafen. Von allen Ländern, von allen Ozeanen kamen alliierte und neutrale Schiffe, luden die Ernten ganzer Provinzen aus, endlose Herden von Ochsen und Pferden, Tonnen und Tonnen mörderischen Stahls und Menschenmassen. Dann füllten sie ihre Bäuche wieder mit den Überbleibseln des Krieges: schadhaft gewordenen Waffen, zerstückelten Männern …

Während die Nereide löschte, hielt sich Ferragut tagsüber meist an Land auf. Besonders interessierten ihn die engen Gassen des türkischen Viertels; die weißen Häuser mit den vorspringenden roten Erkern, eng vergittert wie Vogelbauer, und die Moscheen, in deren Zypressenhöfen schwermütig ein Springbrunnen singt; die mitten in die verkehrsreiche Straße gestellten Kioske der Heiligengräber mit trüb brennender Lampe; vom schwarzen Firadje verhüllte Frauen und Greise in der Scharlachmütze, stumm und nachdenklich im Sattel ihres Esels hin und her schwankend.

Die alte Römerstraße, die einst Rom und Byzanz verband, kreuzte eine Gasse des modernen Saloniki, und noch war sowohl ein Teil des blauen Fliesenbelags als auch ein Triumphbogen erhalten, an dessen verwittertem Sockel barfüßige Schuhputzer, den Fes auf dem Kopfe, ihr Handwerk ausübten.

Und überall ein Gewimmel der verschiedensten Uniformen, der verschiedensten Rassen. Neben weißen Franzosen in blauer Uniform und neben Engländern in Khaki drängten sich schwarze afrikanische Schützen, bronzefarbene Inder in weißem Turban, Anamiten mit dreieckigen Augen, überragt von den hochgeschlagenen Filzhüten der Kanadier und Australier. Die Sturmflut des Weltkrieges hatte diese Antipoden in den schlafenden Winkel Griechenlands geschwemmt.

In dieses militärische Amalgam fügte sich noch die malerische Kleidung der Zivilisten, der Zwittercharakter von Salonikis Bevölkerung, deren Rassen und Religionen sich mengen, ohne sich zu verquicken: die schwarzen Gewänder und hohen, randlosen Mützen der Popen, die Soutanen katholischer Geistlicher, die langen Leibröcke der Rabbiner. Wie die Hirten der Odyssee, hüteten nur mit einem Fell bedeckte Männer ihre Schweineherden vor der Stadt, und an den Kreuzwegen summten, in Fliegenschwärme eingehüllt, entrückte Derwische endlose Suren mit der Hoffnung auf die Hilfe der Gläubigen.

Einen großen Teil der Einwohner lieferten die vielen Abkömmlinge der aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden, von denen sich jedoch lediglich die Alten, der Tradition getreu, wie ihre Vorfahren in buntgestreifte Kaftane kleideten. Während sie sonst auf der Welt meist als Wechsler und Kaufleute ihr Geld verdienen, übten die Hebräer in dieser von ihnen beherrschten Stadt alle Berufe aus, waren Handwerker, Fischer, Kahnführer, Lastträger und Stauer. Zu Hause bedienten sie sich noch immer der kastilianischen Sprache, hielten an ihr fest wie an einer Heimatsflagge, deren Rauschen die verstreuten Seelen verband. Aber an Rückkehr dachten sie nicht. Fürchteten sie etwa, daß die Spanier ihren Stiergefechten abtrünnig werden und die Inquisition wieder einführen könnten, um an jedem Sonntag ein paar Juden zu verbrennen?

Zu der um Saloniki konzentrierten Armee gehörte auch ein Neffe Ferraguts, ein Sohn des Fabrikanten Blanes in Barcelona. Mit dem ganzen Enthusiasmus seiner zwanzig Jahre hatte sich dieser Sproß des friedlichen katalonischen Bürgers zum Ärger seines Vaters und zum Kummer seiner Mutter als Legionär gemeldet. Ferraguts Bitte, ihn im Lager besuchen zu dürfen, wurde gern gewährt, ja, es wurde ihm sogar ein Automobil zur Verfügung gestellt. Aber welch schwierige Fahrt! Immer wieder versperrten lange Munitionskolonnen, Trains oder schwere Motorbatterien den Weg, der von den Regengüssen der letzten Tage in einen Morast verwandelt war.

Nachmittags konnte der Kapitän endlich seinen Neffen umarmen, den er in Gesellschaft zweier anderer Freiwilliger, eines Andalusiers und eines Südamerikaners, antraf.

»Warum bist du eigentlich in die Fremdenlegion eingetreten?« fragte Ferragut seinen Neffen, als er mit den drei Jungen bei einer Flasche Champagner in der Kantine saß.

»Weil ich für die Freiheit der unterdrückten Völker kämpfen wollte, für Polen, Tschechen, Ruthenen und Jugoslawen«, antwortete der junge Blanes. »Und natürlich auch für unser tyrannisch regiertes Katalonien«, fügte er so einfach hinzu, als sei dies etwas Undiskutierbares.

Hier sprang sein Freund, der Andalusier, empört auf, um mit hitzigen Worten die spanische Monarchie zu verteidigen.

Voll Melancholie beschaute der an solche Dispute gewöhnte Südamerikaner inzwischen seine schwarzen Fingernägel. Zwei Tage nach der Mobilmachung hatte er sein prächtiges Automobil der Heeresverwaltung geschenkt und sich selbst als Freiwilliger gemeldet. Konnte er sich ausschließen, wenn alle Mitglieder seines Klubs zur Front gingen? … Und dann dünkte es ihn damals eine Notwendigkeit, den Damen, mit denen er Tango tanzte, zu imponieren.

»Aber der Krieg dauert zu lange, Kapitän. Aus den Kugeln mache ich mir nichts; das Schlimme sind die Läuse, der Dreck. Wann kann man überhaupt Wäsche wechseln oder baden? Ah, wenn ich das geahnt hätte!« Eine nachdenkliche Pause. Dann schloß er: »Schließlich schlage ich mich für Frankreich, weil das Land Schick hat. Nur die Pariserin versteht sich zu kleiden …«

Als Ferragut einige Tage später wieder zu den drei Musketieren – wie er sie getauft hatte – hinauffahren wollte, stand das Bataillon schon an der bulgarischen Front.

Mitte November traf die Nereide in Marseille ein. Wenn der Kapitän Ferragut sonst, um Kap Croisette herumbiegend, die vergoldete Riesenstatue der Heiligen Jungfrau hoch oben auf der Basilika »Unserer lieben Frau der Wacht« wie eine feurige Lanze hatte auftauchen sehen, so rief er jovial seinem ersten Steuermann zu: »Hallo, Tòni! Marseille! Ich lade dich zu einer Bouillabaisse bei Pascal ein!«, woraufhin Tòni, beim Gedanken an die berühmte, safrangefärbte Fischsuppe, sein bärtiges Gesicht zu einem schlemmerhaften Lächeln verzog.

Von dieser Lebensfreude war nichts zurückgeblieben. Schweigsam und vorsichtig steuerte Ferragut am romantischen Schloß If vorbei in das Hafenbecken von Arenc, nahe den Docks.

Wohl nirgends trat die große Veränderung, die der Krieg mit sich gebracht hatte, klarer hervor. Die Legionen der Schauerleute hatten die Schützengräben geschluckt. Frauen fegten das Pflaster. Senegalschützen luden ein und aus. Um jede Kiste, die sonst vier Mann gemächlich gehoben hätten, stand ein Haufen fröstelnder Schwarzer, die erregt diskutierten, ehe sie sich entschlossen, Hand anzulegen, und der Schritt einer vorübergehenden Frau genügte, daß sie die Arbeit im Stich ließen und ihre Teufelsfratzen mit kindlicher Neugier nach ihr umdrehten.

Kleine Abteilungen, vor und hinter sich Bajonette, marschierten im Takt vorbei. Es waren deutsche Soldaten – trotz ihrer Gefangenschaft unverzagt –, die an Bord geführt wurden, um für die Vernichtung ihrer Landsleute bestimmtes Kriegsmaterial auszuladen. Alle die friedlichen Handelsdampfer führten jetzt am Heck ein Geschütz; England und Frankreich hatten ihre Tramps mobil gemacht und zur Verteidigung gegen die gefürchteten Unterseeboote ausgerüstet.

Wie schon so oft, wanderte Ferragut die berühmte Cannebière entlang, die das ganze Leben Marseilles aufsaugt. Der Mistral begann stark zu wehen, so daß die Kellner der Cafés die Sonnenzelte rafften, als wären es Segel.

Bei der Börse angelangt, schaute er ehrfürchtig nach den Statuen des Entymenes und des Pyteas, der ersten geschichtlich bekannten Seefahrer, die sich nach Umseglung der Säulen des Herkules in den geheimnisvollen Ozean gewagt haben. Der eine erforschte die Küsten Senegals, der andere fuhr nördlich, bis nach den Hebriden.

Die nächsten Tage durchstreifte Ulysses das alte Marseille, in dem die verfallenden Paläste der Kaufleute und Schiffsherren vergangener Jahrhunderte trauerten. Durch die engen, abschüssigen Straßen, das Hauptquartier der buntbemalten Prostitution, eilten die islamischen Krieger des französischen Afrika, um sich schadlos zu halten für die Entbehrung in ihren Ländern, wo die Frau eifersüchtig eingeschlossen wird. Marokkaner im langen, senffarbenen Umhang plauderten in einem Kauderwelsch aus arabischen, französischen und spanischen Brocken mit algerischen Zuaven. Zwischen ihnen hindurch schlüpften halberwachsene Neger, in den Augen ein unruhiges Flackern, als bereiteten sie einen Frauenraub in Massen vor. Und feierlich wie Priester verschwanden die ernsten maurischen Reiter unter den dunklen Türen, zu niedrig für die schneeweiße oder rote Kapuze ihres wehenden Burnus.

All diese Gassen, in deren Mitte die Abwässer von Stein zu Stein abwärtsrieselten, senkten sich zum alten Hafen. Dunkle, übelriechende Röhren mit einem Gewimmel unförmiger Weiber! Doch an ihrem Ende öffnete sich ein großes blaues, lichterfülltes Loch. Weiße Segel glitten vorbei, und von manchen Straßen aus sah Ferragut auch die Spitzen der Basilika Unserer lieben Frau.

Eines Abends, während er die Straßenbahn erwartete, die ihn zum Hafen zurückbringen sollte, hatte er das Gefühl, daß ihn jemand beobachtete, und tatsächlich gewahrte er am Rande des Trottoirs einen sehr eleganten Herrn. Beider Blicke kreuzten sich; doch das glattrasierte Gesicht des andern weckte keine Erinnerung in Ferragut, und da dieser Gentleman sich gleich darauf mit eiligem Schritt entfernte, mußte wohl auch er seinen Irrtum eingesehen haben.

Minuten später hatte der Kapitän diese Begegnung bereits vergessen. Aber als er das Deck seines Schiffes betrat, sah er plötzlich die Augen des Fremden wieder vor sich. Diese stahlgrauen Augen … War er ihnen nicht doch schon einmal begegnet? … Aber wo und wann?

Am letzten Tage seines Aufenthaltes ging Ferragut gegen Mittag noch einmal an Land, um seinen Bart stutzen zu lassen. Nahe den Docks lag ein Friseurladen, den die spanischen Kapitäne bevorzugten, denn das Geschwätz des aus Cartagena stammenden Barbiers, die Bilder von Stiergefechten an den Wänden und eine im Winkel lehnende Gitarre gestalteten diesen Laden zu einem Stückchen Spanien.

Als die Schere des wortreichen Friseurs den Kapitän eine halbe Stunde später entließ, folgte er der einsamen, breiten Straße zwischen den Speichern.

Die stählernen Rolltüren waren geschlossen, doch die Schuppen, leer und hallend wie Kirchenschiffe, hauchten noch den starken Geruch der Waren aus, die sie in Friedenszeiten beherbergt hatten: Vanille, Kaneel, Tabak, chemische Düngemittel. Am Ende der beiden Backsteinmauern sah man den Kai mit seinen Bergen von Stückgut, den Trupps der Auslader, Waggons und Karren; weiterhin ein Gewirr von Masten und Schornsteinen und ganz hinten den gelben Wall des Außendammes, worüber sich ein jüngst vom Regen gewaschener Himmel spannte, mit Flocken kleiner Wolken, weiß und sanft wie Seidenschäfchen.

In der ganzen Straße befand sich außer Ferragut nur ein einziger Mensch, der ihm entgegenkam. Plötzlich machte jener halt und ging, sich auf dem Absatz umdrehend, zum Kai zurück. Durch dieses Kehrtmachen wurde der Kapitän stutzig, und irgendein unerklärliches, fast sinnlos zu nennendes Gefühl sagte ihm, daß er es mit jenem Fremden zu tun habe.

Am Kai angelangt, konnte er gerade noch sehen, wie der Mann mit einer fluchtartigen Eile auf eine Hügelkette aufgehäufter Ballen zustrebte, durch die sich krumme Pfade schlängelten. Noch eine Minute, und er würde unauffindbar sein.

Der Kapitän zögerte. Warum eigentlich diesem Unbekannten nachsetzen? … Aber im gleichen Moment, als er sich diese Frage stellte, drehte der Fremde den Kopf, um sich zu vergewissern, ob man ihm folge. Und diese Sekunde, in der der Fliehende aus vierzig Meter Entfernung zurückschaute, offenbarte Ferragut, der diesen Mann auf dem Trottoir der Cannebière dicht neben sich nicht erkannt hatte, wem die Augen gehörten.

Ein Vorhang zerriß in seinem Gedächtnis, Licht flutete durch … Es war der falsche russische Graf – kein Zweifel, es war von Kramer, der deutsche Marineoffizier, wenn auch glattrasiert und ganz anders gekleidet.

Die Überraschung lähmte Ferragut. Wie ein Ertrinkender sah er mit schwindelnder Schnelligkeit die letzten Phasen seines Lebens: Neapel, die Fahrt des Schoners nach den Unterseebooten, die Torpedierung der California … Und dieser Mann war es, der Estebans Tod auf dem Gewissen hatte!

Instinktiv griff Ulysses an seinen Gürtel … Verflucht sei diese moderne Zeit und ihre trügerische Sicherheit, die einen Mann vertrauensvoll ohne Waffen umhergehen läßt! Nicht einmal ein Federmesser hatte er, nichts als seine Fäuste … In diesem Augenblick hätte er sein ganzes Schiff, sein Leben sogar, für eine Waffe gegeben, um töten zu können. Töten! Er wußte nicht wie, aber töten mußte er.

Vor allem hieß es jetzt, den flüchtenden Feind festzuhalten. Und Ferragut machte sich bereit, mit den Fäusten, mit den Zähnen über ihn herzufallen, zu kämpfen wie die primitiven Menschen, bevor sie die Keule erfanden. Ihm kam es gar nicht in den Sinn, daß der andere vielleicht eine Waffe bei sich haben könnte. Nur an das eine dachte er: den Feind zu töten.

Was scherte es ihn, ob er Aufsehen erregte? Er stürmte los, bückte sich mitten im Lauf und hob einen Pfahl hoch.

Das Ganze hatte Sekunden gedauert, doch immerhin lange genug, um den Verfolgten zwischen den Ballen verschwinden zu lassen.

Ferragut sah verschwommen Schatten näherspringen und unterschied schwarze und weiße Gesichter … Die Auslader, denen dieser wie ein Irrsinniger laufende Mann verdächtig vorkam, versuchten, sich ihm in den Weg zu stellen – mit dem Gerechtigkeitssinn der Masse hielten sie sich allein an den Angreifer, ohne sich um den Verfolgten zu kümmern.

»Carajo! …« Der Kapitän glaubte vor Zorn zu ersticken. Er mußte sein Geheimnis herausschreien. »Das ist ein Spion … ein deutscher Spion!«

Heiser, keuchend klang seine Stimme. Aber niemals hatte ein Kommandowort von ihm ein derartiges Echo gehabt. »Ein Spion …« Der Schrei ließ überall Männer auftauchen – die Erde schien sie auszuspeien. Das Wort pflanzte sich fort von Mund zu Mund, eilte in die Ferne und versetzte auf Kai und Dampfern alles in Aufruhr. »Ein Spion! …« Von Bord der Schiffe sprangen Männer, um an der Menschenjagd teilzunehmen.

An ihm, der diesen Sturm entfesselt hatte, brauste die Flut vorbei und ergoß sich in die engen Gassen zwischen den Bergen aufgetürmter Kisten und Ballen … Windhunde, die das Gebüsch durchstöberten, Frettchen, die das Kaninchen aus seinem Bau trieben.

Der Gehetzte, der in diesem Irrgarten von Pfaden an jeder Ecke auf Verfolger stieß, brach jetzt am anderen Ende aus und lief den Kai entlang.

Aber auf diesem freien Terrain dauerte die Jagd nicht lange. Ein Spion! … Schneller als die Menschen überholte dieser Ruf den Flüchtling. Ein lückenloser Halbkreis erwartete ihn, ein anderer folgte ihm … Und der Kreis schloß sich.

Bleich und atemlos blieb der Mann stehen. Seine rechte Hand fuhr in die Tasche. Vielleicht griff er nach einer Waffe, um sein Leben teuer zu verkaufen!

Die Hand tauchte wieder auf, hob sich … und als sie gerade im Begriff stand, ein Papier in den Mund zu stecken, sauste der Knüppel eines Schwarzen durch die Luft. Schlaff fiel der Arm herunter, und der Mann biß sich auf die Lippe, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken.

Ein Unteroffizier hob das Stückchen dünnes Papier auf: es war ein Plan vom Mittelmeer, wie ein Schachbrett in numerierte Quadrate eingeteilt.

»Es stimmt, der Mann ist ein Spion.«

Ah, der Bandit! Und brutale Hiebe ließen den Gefangenen hin und her taumeln, bis fünf Unteroffiziere ihn schützend in ihre Mitte nahmen. Jetzt konnte Ferragut ihn aus der Nähe sehen: Blut strömte über seinen Kopf, doch in seinen Augen lag ein kalter, hochmütiger Ausdruck.

Wozu sich noch verstellen, nachdem das Papier in Händen der Feinde war? Er wurde wieder zum Offizier. Stolz richtete er sich auf – ein Soldat, der seines Todes gewiß ist.

Als sein Blick auf Ferragut fiel, sah er ihn mit eisiger Verachtung an. Seine Lippen bewegten sich nicht, doch der Kapitän Ferragut verstand diese lautlose Sprache.

»Verräter! Verräter!« sagten die Augen. »Verräter!« sagte der stumme Mund.

Ulysses drängte sich durch, bis er ihm gegenüberstand.

»Mein Sohn … mein einziges Kind, wurde mir bei der Torpedierung der California getötet.«

Diese Worte änderten den Ausdruck im Gesicht des Gefangenen. Seine Lippen formten ein überraschtes »Ah!«. Langsam senkte er die Augen, dann den Kopf …

Am selben Abend noch ging die Nereide in See.


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