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Vergeblich durchstöberte Ferragut während der nächsten Tage die Pariser Zeitungen nach weiteren Notizen – jüngere Ereignisse hatten sich in den Vordergrund des öffentlichen Interesses gedrängt, und die Spionin war darüber zeitweilig vergessen worden. Erst als er zwei Monate später, von einer neuen Orientfahrt heimkehrend, wieder Marseille anlief, sollte er Gewißheit über Freyas Schicksal erhalten.
Gleich nach der Landung ging er zur Hauptpost, um seine dort lagernde Korrespondenz abzuholen. Man händigte ihm ein ganzes Bündel Zeitungen und Briefe aus, deren Aufschriften er rasch überflog. Ein einziger Brief von Cinta, so dünn und leicht, daß der Umschlag schwerlich mehr als einen Bogen bergen würde; hingegen drei dicke Schreiben Tònis – eine Art Tagebuch –, die regelmäßig sowohl von seinen Käufen und Anpflanzungen als auch von seiner Hoffnung, den Kapitän bald dort unten begrüßen zu können, berichteten; und endlich noch verschiedene Briefe seiner Bank, wahrscheinlich Abrechnungen und Belege.
Eine Post, wie sie ihn jedesmal erwartete, und schon wollte er sie ungelesen in seine Tasche versenken, als ein Kuvert mit unbekannter Handschrift und dem Poststempel Paris seine Aufmerksamkeit fesselte.
Neugierig riß er es auf und sah in seiner Hand eine ganze Anzahl engbeschriebener Seiten. Der Briefkopf trug Adresse und Namen eines berühmten Pariser Rechtsanwalts, der Ferragut aus verschiedenen großen Prozessen geläufig war. Was konnte ihm eine solche juristische Leuchte mitzuteilen haben? … Aber nach wenigen Zeilen hielt er im Lesen inne. Er war auf den Namen »Freya Talberg« gestoßen – der Brief kam von ihrem Verteidiger vor dem Kriegsgericht.
Ah, für diese Lektüre brauchte er Ruhe, mußte er allein sein! Er ging zurück zu seinem Schiff, eiligen Schrittes, aber der Weg dünkte ihn viel länger als sonst.
Freya war nicht mehr. In wenigen Minuten jedoch sollte ihr Schatten wieder aufleben in dem schwimmenden Hause, das sie zweimal betreten hatte; in wenigen Minuten würde er von ihren letzten, in Geheimnis gehüllten Stunden wissen und die Barriere des Schweigens durchbrechen, mit der die Richter ihren Tod umgaben.
Er riegelte die Tür seiner Kajüte ab. Dann zog er mit nervöser Hand aus dem Umschlag zwölf Briefseiten, denen zwei Zeitungsabschnitte beigefügt waren. Auf dem einen sah er Freya, ein sanftes, abgehärmtes Gesicht – nichts von der temperamentvollen Frau, die in seiner Erinnerung lebte. Der andere zeigte das Bild ihres Verteidigers: ein kluger Kopf mit weißen Haaren, aber ganz jungen Augen.
Nach den ersten Zeilen erriet Ferragut, daß der berühmte Advokat weder reden noch schreiben konnte, ohne Literatur zu machen. Sein Brief war ein Bericht in korrektem, wohl abgemessenem Ton, in dem die Erregung – so stark sie auch sein mochte – sorgsam gezügelt wurde, damit sie den Stil nicht störe.
Zuerst erklärte er, warum er sich zur Verteidigung einer Spionin entschlossen habe. Die öffentliche Meinung verlangte mit wilder Feindseligkeit eine schnelle Bestrafung. Doch kein Pariser Anwalt wollte als Verteidiger für diese Ausländerin eintreten, und gerade das hatte ihn bewogen, dieses Amt zu übernehmen, ohne Furcht vor Angriffen.
Ferragut allerdings argwöhnte hinter diesem Opfer mehr die Geste eines durch Freyas Liebreiz bezauberten, galanten alten Herrn. Und außerdem konnte dieser Prozeß, der für Paris ein Ereignis bedeutete, dem Verteidiger eine gewisse romantische Aureole verleihen.
Die anfänglich gehegte Hoffnung auf Erfolg schwand sehr bald. Freyas Verteidigung erwies sich als unmöglich. Wurde sie über ihr früheres Leben befragt, so brach sie in Tränen aus oder blieb stumm, mit vage umherschweifendem Blick, als handele es sich um das Schicksal eines Dritten.
Aber die Richter brauchten kein Geständnis. Selten hatten die französischen Agenten im Auslande so gut gearbeitet: man besaß genaue Daten über die Tätigkeit der Angeklagten während der letzten Friedensjahre und über ihre Tätigkeit im Kriege. Eine Reihe aufgefangener Briefschaften bildeten unwiderlegbare Beweise.
»Als Franzose«, schrieb der Anwalt, »empfand ich Abscheu gegen Freya, als mir offenbar wurde, wie sehr sie meinem Lande geschadet hatte; als Mann hingegen fühlte ich Mitleid mit ihrem widerspruchsvollen Charakter, der sich ihrer Vergehen kaum bewußt geworden war – mit diesem Egoismus einer schönen, den Luxus liebenden Frau, die ihre Moral einem Wohlleben opferte.
Ihr Erscheinen vor dem Kriegsgericht war voll peinlicher Tragik. Die Gefängnishaft mit all ihren Bitterkeiten hatte sie vollkommen deprimiert. Doch als sie sich jetzt zwölf Männern in Uniform gegenübersah, schien sie aus ihrer Apathie zu erwachen, und ihre erste Geste war die einer jeden schönen Frau, die ihre Machtmittel kennt. Gibt es einen Franzosen, der weiblichem Liebreiz widerstehen kann?
Sie lächelte … beantwortete dann die Fragen mit anmutiger Bescheidenheit, während ihre naiven Augen von den Offizieren hinter dem Richtertisch zu dem Ankläger in blauer Uniform schweiften.
Aber etwas Kaltes, etwas Feindliches schwebte in der Luft, das ihr Lächeln lähmte und ihre Worte des Nachhalls beraubte. Alle die Stirnen beugten sich unter der Wucht schwerer Gedanken, alle diese ernsten Männer sahen in diesem Augenblick zwanzig Jahre älter aus, als sie waren. Und Freya verstand, daß sie aufgehört hatte, eine Frau zu sein, und nichts war als eine Angeklagte.
›Ich will nicht sterben!‹ rief sie plötzlich, nur noch ein armes, vor Furcht verwirrtes Geschöpf. ›Ich bin unschuldig!‹
Sie log – mit der absurden Unlogik jener, die fühlen, daß es um Tod und Leben geht –, widerrief ihre früheren Erklärungen, bezweifelte die Echtheit der gegen sie sprechenden Briefschaften.«
An Freyas Seite hatte der Anwalt den Spruch des Kriegsgerichtes erwartet. Neue Hoffnung schien seine Klientin zu beleben; sie plauderte mit ihm in der liebenswürdigsten Weise und hatte ein freundliches Lächeln für die Gendarmen, denen ihre Bewachung oblag. Kavaliere wie die Franzosen konnten doch keine Frau töten! …
Es wurde Nacht, ehe das Gericht wieder eintrat. »Zum Tode verurteilt!«
Als das fatale Wort fiel, wurde Freyas Gesicht grau wie Asche. Sie taumelte und mußte sich auf ihren Anwalt stützen.
»Ich will nicht sterben!« wiederholte sie und beteuerte, nur aus dem Instinkt der Selbsterhaltung heraus, immer wieder ihre Unschuld.
Ihr Anwalt ließ sie ein Gnadengesuch an den Präsidenten der Republik unterzeichnen, wodurch er einen Aufschub von zwei Monaten erzielte. Doch auch dieser letzte Rekurs versagte; das einzige Resultat all seiner Bemühungen war die Erlaubnis, Freya, wie sie es wünschte, zur Exekution begleiten zu dürfen.
Es war vier Uhr morgens, als ein Bote des Polizeipräfekten den Maître mit der Mitteilung aus dem Schlafe riß, daß bei Tagesanbruch das Urteil vollstreckt werden sollte.
Ein Automobil brachte ihn quer durch das stumme Paris, das nur wenige abgeblendete Laternen erhellten, zum Gefängnis von Saint-Lazare. Düstere Korridore, Uniformen, Wärter …
Die Tür zu einer Zelle öffnete sich. Friedlich schlief im Schein des reglementsmäßigen Nachtlichtes die ahnungslose Frau.
Bei dem Geräusch der Schritte fuhr sie hoch und sah entsetzt diese Männer vor ihrem Bett stehen.
»Mut, Madame!« redete sie der Gefängnisdirektor an. »Das Gnadengesuch ist abschlägig beschieden worden.«
Ihr Erschrecken war vorüber; nur die brüske Überraschung im Moment des Erwachens hatte sie betäubt. Sobald ihr Gehirn wieder funktionierte, fragte sie vollkommen ruhig:
»Ist die Stunde gekommen? … Gut denn, ich bin bereit.«
In Gegenwart von zwei Wärtern – eine Vorsichtsmaßregel gegen irgendeinen Selbstmordversuch – mußte sie sich ankleiden.
Sie trug ein grauseidenes Kleid, einen Pelzmantel und Samthut, als sie aus ihrer Zelle trat. Auf der Brust schimmerte die Perlenkette, an Händen und Ohren glitzerten ihre Brillanten und Smaragden.
»Ich sterbe wie ein Soldat – in meiner Uniform!« sagte sie zu ihrem Anwalt mit einem traurigen Lächeln.
Zwei barmherzige Schwestern, die sich ihrer im Gefängnis angenommen hatten, zeigten weniger Fassung als Freya selbst und versuchten dennoch, ihr Trost zuzusprechen. Genau so erschüttert war der Anstaltsgeistliche. Gewiß, er hatte schon manchem Verurteilten Beistand geleistet – doch das waren Männer gewesen. Hier aber sollte er eine Frau auf den Tod vorbereiten … eine schöne Frau, juwelengeschmückt, mit dem feinen Hauch eines exquisiten Parfüms, als wollte sie in ihrem Auto zu einem Fünfuhrtee fahren …
Nochmals wurde das Urteil verlesen, desgleichen die Verwerfung ihres Gnadengesuchs. Dann ließ man sie die Akten unterzeichnen.
Ein Oberst eröffnete ihr, daß sie noch über einige Minuten verfügen könne, um an ihre Verwandten oder Freunde ein Abschiedswort zu richten.
»An wen sollte ich wohl schreiben? …« entgegnete Freya. »Ich habe niemanden auf der Welt.«
»Wie von einer Erinnerung gefaßt«, fuhr der Anwalt fort, »griff sie plötzlich doch zur Feder und schrieb einige Zeilen – Freya dachte an Sie, Herr Kapitän; ihr letzter Brief war für Sie bestimmt. Aber dieser Brief wurde nicht beendigt. Das Schreiben fiel ihr schwer, die Hand bebte. Sie zerriß den Bogen … und ich mußte ihr schwören, Ihnen ihren Gruß auszurichten.«
Es kam die letzte Fahrt – über die Place de la Nation, La Barrière und die lange Avenue de Vincennes zum Schießplatz.
Ein schwaches Licht bleichte den Himmel, an dem sich die Konturen der Dächer matt abhoben. Die vereinzelten Passanten – Arbeiter, auf dem Wege zur Fabrik befindlich, und Grünkramhändlerinnen, die von der Markthalle kamen und ihre leichten Handkarren vor sich herschoben – wandten den Kopf, um interessiert diesen schnellen Automobilen nachzusehen. Vielleicht eine frühe Hochzeit? … Oder eine vergnügte, von nächtlichem Bummel heimkehrende Gesellschaft? …
Auf dem großen, grasbewachsenen Platz waren zwei Kompanien aufmarschiert. Bläulich und kalt wie ein stählerner Reflex lag das Licht der Morgendämmerung auf diesen beiden Massen bewaffneter Männer, zwischen denen eine breite Gasse gelassen war. Am Ende dieser Gasse ragte ein Pfahl – etwas abseits hielt ein zweispänniger Packwagen.
Im selben Moment, als Freya, allein, näher kam, ertönte ein Kommando. Ein scharfer, trockener Schlag: die Kompanien präsentierten, Tambours schlugen, Clairons gellten.
Es war die Huldigung vor der Majestät des Gesetzes, und Freya wußte es. Doch sie wollte glauben, daß ihr selbst diese Ehrung galt. Hochaufgerichtet, einen Ausdruck in den Augen, als schritte sie eine Front ab, ging sie festen Fußes bis zu dem hölzernen Pfahl.
»Bei Gott! Welche Haltung!« hörte man eine bewundernde Stimme.
Als der Gendarm, der sie an den Pfosten geschnürt hatte, sich anschickte, ihr auch die Augen zu verbinden, wies sie das weiße Tuch stolz zurück.
Zwölf Mann, von einem kleinen blonden Leutnant geführt, marschierten bis auf acht Meter Entfernung vor. Jetzt erst, als die zwölf Gewehre anlegten, erfaßte sie der ganze Schrecken der Wirklichkeit. Tränen stiegen in ihre Augen – ein Schrei gellte, lauter als die Clairons.
Schnell senkte der Leutnant den Degen … Die Salve krachte …
Freya krümmte sich. Dann glitt ihr Körper, dessen Fesseln die Kugeln durchschlagen hatten, an dem Pfosten entlang zu Boden. Aus dem Pikett löste sich ein Unteroffizier, den Revolver in der Hand, ging bis zu der Blutlache, die sich um die Erschossene zu bilden begann, und die Lippen zusammenpressend, beugte er sich nieder, während der Lauf seines Revolvers die über das Ohr gefallenen Haarlocken zurücklegte. Sie atmete noch … Ein Schuß in die Schläfe! Ein letztes Mal zuckte der Körper zusammen … dann Todesstarre.
Neue Kommandos. Die beiden Kompanien schwenkten ein, um mit klingendem Spiel vor dem Leichnam zu defilieren.
Der Gerechtigkeit war Genüge getan. Clairons und Trommeln, deren Echo der junge Morgen vergrößerte, verloren sich in der Ferne. Aus dem Packwagen zogen ein paar Männer einen ärmlichen Sarg – ein Sarg, der eher einer Kiste ähnelte –, und als sie den Leichnam hineingelegt hatten, nahmen die beiden Nonnen zaghaft die Juwelen an sich, von Freya für wohltätige Zwecke bestimmt. Dann schloß sich der Deckel, und für immer verschwand, was noch vor ein paar Minuten eine wunderschöne Frau gewesen. Vier Bretter, die rote Kleiderfetzen, durchlöchertes Fleisch und zerschmetterte Knochen bewahrten!
»Ihr letzter Gedanke galt Ihnen«, schloß der alte Maître melancholisch seinen Brief, »und auch ein wenig mir, denn ehe man sie fesselte, hob sie noch einmal grüßend die Hand …«
Ferragut versank in schmerzliches Brüten. Also war Freya tot, und niemals mehr würde er sie an Bord seines Schiffes auftauchen sehen …
Die alten Gefühle brachen sich Bahn, um ihn heftiger als je zu quälen.
Er dachte zurück an Neapel, an die Abgeschiedenheit ihres Haremslebens, als Freya hüllenlos für ihn tanzte. Und dieser Körper, von der Natur in einem Augenblick des Enthusiasmus geformt, existierte nicht mehr! … War nichts als ein Haufen verwesendes Fleisch! …
Plötzlich glaubte er, ihr Gesicht vor sich zu sehen, mit der von graziösen Löckchen geliebkosten Schläfe, die seine reinsten Küsse empfangen hatte: Küsse der Güte und Dankbarkeit … Aber die zarte, weiße Haut verlor auf einmal ihren Blütenschimmer, sie wurde bläulichrot – Blut spritzte heraus. Und mit Reue erinnerte sich Ferragut an jenen brutalen Faustschlag in Barcelona … Dann öffnete sich die Schläfe zu einem tiefen Loch, mit zackigem Rand wie ein Stern … Der Gnadenschuß, der ihrer Todesnot ein Ende machte.
Arme Freya! Arme Streiterin gegen das andere Geschlecht! Ihr Leben lang hatte sie die Männer gehaßt und konnte doch nicht ohne die Männer leben. Alles, was sie ihnen Böses angetan, war ihr reichlich vergolten worden!
Ah, diese düstere Vision würde er niemals verwischen können, diese zerfetzte Schläfe würde ihn in den einsamen Stunden auf der Brücke beharrlich verfolgen …
Vielleicht riet ihm Tòni, der immer drängte, er möchte die Seefahrt aufgeben und auf diese unmögliche Rache verzichten, das einzig Richtige. Was bedeutete der Kapitän Ferragut gegen so viele? Er gehörte keiner der kriegführenden Nationen an; er war nichts als eine Art Freibeuter ohne Angriffswaffen. Weniger noch als das: ein Kauffahrer, der unter dem Schutz seiner neutralen Flagge Kriegsmaterial transportierte. Konnte er sich wundern, daß der Feind der Nereide mit größerem Eifer nachstellte als einem Schiff der alliierten Flotte? Gab es nicht sogar viele mit den Zentralmächten sympathisierende Spanier, die den Untergang der Nereide und ihres Kapitäns freudig begrüßen würden?
Aber was sollte er an Land tun? … Bisher hatte er gelebt, ohne zu wissen, warum noch wofür, und hatte Gefahren und Abenteuer gesucht, nur um das prickelnde Gefühl auszukosten, ihrer Herr zu werden.
Wußte er überhaupt, was er sich wünschte? Das Geld, das er jetzt im Überfluß besaß, machte ihn nicht glücklich … Einen Namen? Das ganze spanische Mittelmeer kannte den Kapitän Ferragut.
Blieb die Liebe! … Ulysses verzog das Gesicht. Er kannte sie und wünschte nicht, ihr nochmals zu begegnen. Die Liebe einer ergebenen Gefährtin, die warme Zuneigung, deren sanftes Licht den Lebensabend erhellen kann, hatte er für immer verscherzt. Und auf die andere Liebe, die romantische Passion, deren Konflikte das Leben so interessant gestaltet, verzichtete er.
Die Liebe des Vaters, dauerhafter als jedes andere Gefühl, hätte die kommenden Jahre ausfüllen können … doch sein Sohn war tot.
Nur die Rache blieb ihm. Aber im Vergleich zu dem Enthusiasmus, der in diesen tragischen Stunden die Massen der Menschen zu unerhörten Opfern trieb, schien sie ihm so erbärmlich, so egoistisch …
Mitten in diesen Gedanken begann ein irgendwo gehörtes Wort in seinem Gehirn zu singen: ein Leben ohne Ideal ist nicht wert, gelebt zu werden.
Tòni tauchte in seiner Erinnerung auf, wie er sich bemühte, seine konfusen Gedanken zu formulieren. Naive Schwärmerei … Trotzdem erkannte Ferragut jetzt an, daß sein Steuermann ihm überlegen war. Der hatte ein Ideal nach seiner Manier. Etwas mehr als nur der Egoismus nahm ihn in Anspruch: er erstrebte für die anderen Menschen das, was er für gut erachtete, und verteidigte seine Überzeugung mit dem mystischen Enthusiasmus, den alle bekunden, die der Welt einen neuen Glauben bringen wollen, mit der Inbrunst der Streiter des Kreuzes Christi und der Streiter des Propheten, mit der Zähigkeit der Inquisition und der Jakobiner.
Was berechtigte ihn, über seinen Steuermann zu lachen, diesen Gläubigen, der mit der Reinheit eines Kindes von einer freien und glücklichen Menschheit träumte? … Was konnte er diesem Glauben entgegensetzen außer stupidem Spott? …
Das Leben erschien ihm unter einem neuen Licht, wie etwas sehr Ernsthaftes und Geheimnisvolles, das allen zwischen Wiege und Grab einen Brückenzoll abfordert.
Ob die Ideale falsch waren – darauf kam es nicht an. Aber man mußte an etwas glauben! Mochten die Philosophen die Wahrheit mit Vernunftgründen suchen, der Rest der Menschheit würde sich immer an Ideale klammern, die Hoffnungen aufsprießen ließen, denen allein die Kraft innewohnte, die große Masse in Aktion zu setzen.
Alle Religionen zerbröckelten vor einer kühlen Untersuchung, und trotzdem brachten sie Heilige und Märtyrer, wahre Übermenschen der Moral, hervor. Alle Revolutionen ergaben mangelhafte Resultate, und trotzdem hatten sie die größten Helden, die gewaltigsten Bewegungen erzeugt.
»Glauben! … Träumen!« sang die Stimme in seinem Innern weiter. »Ein Ideal haben! …«
Geboren werden, wachsen, zeugen und sterben genügte nicht; das alles taten auch die Tiere. Der Mensch aber soll dies erweitern durch etwas, das nur ihm eigen ist: die Fähigkeit, sich die Zukunft auszudenken … zu träumen! Das von seinen Vorfahren überkommene Erbe an Illusionen muß er um eine neue vermehren und sie zu verwirklichen trachten.
Die Welt befand sich im Krieg. Die Männer von halb Europa rangen mit denen der anderen Hälfte, die einen wie die anderen für ein Ideal, das sie durch Gewalt und Tod bekräftigten, wie es die Menschen anderer Zeiten getan hatten, denen eine religiöse oder revolutionäre Idee als einzige Wahrheit galt …
Und Ferragut glaubte, seinen Onkel, den Triton, zu hören, wenn er ihm die Zusammenstöße zwischen den Männern des Nordens und den Männern des Südens beschrieb, diese hartnäckigen Kämpfe um Amphitrites blauen Mantel. Er, Ulysses Ferragut, gehörte zum Mittelmeer und wollte in diesem Kampfe nicht gleichmütig zusehen. Dieses, sein Meer mußte der lateinischen Rasse bleiben! …
Jetzt hatte er den Glauben, die Illusion, die den Mann zum Helden macht. Vielleicht war es ein Ideal, das einer kühlen, verstandesmäßigen Prüfung nicht standhielt – aber es war unbedingt ein Ideal, und mit neuem Enthusiasmus konnte er sein Seemannsdasein fortsetzen.
Und nach dem Frieden?
Auch dann brauchte er sich nicht vom Meer zu trennen. Dann begann der scharfe Kampf um die Märkte der jungen Nationen Südamerikas. Ein Kampf, in dem er vielleicht Führer sein würde! … Kühne und hochfliegende Pläne formten sich in seinem Kopf … er träumte von dem Schaffen einer Dampferflotte, die bis zu den Häfen des Stillen Ozeans fahren sollte, träumte weiter von einer siegreichen Wiedergeburt jener Rasse, die den größten Teil des Planeten entdeckt hat …
Eines Morgens erreichte ihn der Befehl, in Gibraltar die Ladung eines havarierten Dampfers zu übernehmen.
Niemals hatte der Kapitän der Nereide eine Fahrt so freudig angetreten, hoffte er doch, mit dem Land auch die Erinnerung an diese Frau, deren Gesicht quälend seine Träume heimsuchte, hinter sich zu lassen.
Ohne den Golf von Lion zu passieren, steuerte er, weitab von der Küste, direkt auf das Kap San Antonio zu, und eines Abends erblickte die Besatzung am fernen Horizont blaue Berge: die Insel Mallorca. Während der Nacht zogen die Leuchtfeuer von Ibiza und Formentera vorüber, und bei Sonnenaufgang erschien über dem Meer ein vertikaler, rosiger Fleck, eine feurige Zunge. Es war das gewaltige Massiv des Mongó, das Kap Ferrarius der Alten. Am Fuße seiner steilen Wände lag das Dorf von Ferraguts Vorfahren, das Haus, in dem er die schönsten Tage seiner Kindheit verlebt hatte.
Von hier ab steuerte die Nereide ungeachtet der Untiefen dicht an der Küste entlang, denn dieses Fahrwasser kannte der Kapitän, wie man seinen eigenen Teich kennt.
Die Herbstsonne rötete die gelblichen Höhen der Küste, trockene duftende Berge, über und über mit Kräutern bedeckt, die ihren herben Geruch in die Weite schickten. In allen Falten des Gestades – kleinen Buchten, ausgetrockneten Flußbetten oder Einschnitten zwischen zwei Hügeln – tauchten Gruppen weißer Häuser auf.
Dort drüben in dem Dorf war Tòni. Vielleicht sah er von seiner Tür aus den vorüberfahrenden Dampfer, vielleicht erkannte er sogar voll Rührung sein altes Schiff …
Der französische Offizier, der neben dem Kapitän auf der Brücke stand, bewunderte stumm die Schönheit von Licht und Meer. Nicht eine Wolke am Himmel; alles, oben wie unten, war ein einziges reines Blau, nur unterbrochen von den Schaumfransen, die sich an den Klippen der Küste kämmten, und der breiten, goldenen Sonnenstraße auf dem Wasser. Ein Rudel Delphine umspielte das Schiff und gab ihm wie einer Meeresgottheit das Geleit.
»Wenn das Meer immer so wäre«, sagte Ferragut, »welche Wonne, Seemann zu sein!«
An die steilen Küsten und die ewige Brandung ihrer Bretagne gewöhnt, konnten sich die Matrosen nicht genug über einen Kurs verwundern, der in Rufweite am Land entlangführte.
»Drüben scheiterte ein italienischer Überseedampfer auf der Fahrt nach Buenos Aires … dort brach ein Viermaster auseinander und ging mit der ganzen Ladung verloren …«, erklärte der Kapitän seinen Offizieren, auf die verhängnisvollen Stellen weisend, wo unterseeische Klippen lauerten.
Er jedoch wußte bis auf Zentimeter, wieviel Raum zwischen verräterischem Fels und Kiel lag, und gerade dieses gefährliche Fahrwasser war für ihn der beste Schutz gegen Unterseeboote.
Allmählich verwischte Kap Ferrarius rückwärts als dunkler Fleck. Auf der Steuerbordseite tauchte der Hafen von Alicante auf, und als die Sonne sank, befand man sich vor Kap Palos. Um dies Vorgebirge zu umschiffen, mußte die Nereide zurück aufs offene Meer.
»Vorbei mit der Sicherheit!« äußerte Ulysses. »Dies Gewässer ist sogar ein sehr beliebter Tummelplatz der Unterseeboote. Wenn wir aber bis zum Einbruch der Nacht keine schlimme Begegnung gehabt haben, sind wir morgen in Gibraltar.«
Auch das schärfste Auge konnte jetzt die flache Küste nicht mehr erkennen, und nur der vorspringende Grat des Kaps ragte wie eine Insel aus den Fluten empor.
Caragòl erschien mit einem Tablett auf der Brücke, denn die Ehre, seinem Kapitän den Kaffee zu kredenzen, trat er keinem Küchenjungen ab.
»Was hältst du von der Fahrt?« fragte ihn Ferragut. »Werden wir heil ankommen?«
Der Koch machte eine verächtliche Bewegung: »Uns passiert nichts, kann ja nichts passieren … Die Heiligen in meiner Küche …«
Noch ehe er seinen Satz beendet hatte, klirrte das Tablett auf den Boden, während er selbst torkelte, bis sein Bauch am Geländer der Brücke Halt fand.
»Heiliger Christus von Grao!«
Auch Ferragut war die Tasse, die er eben zum Munde führte, aus der Hand geglitten, und der Mann am Steuer mußte sich krampfhaft an den Speichen festhalten.
Eine gewaltsame Erschütterung lief durch das ganze Schiff, vom Kiel bis in die Toppen, vom Bug bis zur Schraube – ein Beben, als hielten es unsichtbare Zangen mitten in voller Fahrt fest.
»Aufgelaufen«, wollte der Kapitän den Unfall erklären. »Ein Riff, das nicht auf den Karten …«
Im selben Moment trat etwas ein, das seine Meinung widerlegte. Ein Donner zerriß die blaue leuchtende Luft. Nahe am Bug stieg eine dicke, gelbe Rauchsäule auf, in deren Zentrum sich ein Fächer aus zersplittertem Holz, Metallstücken und brennenden Tauen entfaltete.
Die Nereide war torpediert. Hastig spähte Ferragut über die Oberfläche.
»Aha!«
Seine Seemannsaugen hatten den kaum wahrnehmbaren Punkt eines Periskops entdeckt.
Er stieg die Treppe hinab – oder ließ sich vielmehr hinunterrollen – und lief nach achtern.
»Dort! … Dort!«
Und mit dem ausgestreckten Arm wies er nach dem dunklen Punkt, den die drei phlegmatisch neben ihrem Geschütz stehenden Artilleristen vergeblich suchten.
Keiner von ihnen achtete darauf, daß sich das Deck langsam schräg stellte; ganz mechanisch schoben sie die erste Granate ein.
Wieder kam ein Stoß, nicht minder heftig als der erste. Das ganze Schiff ächzte, Planken lösten sich voneinander, Schrauben und Bolzen sprangen heraus. Mittschiffs öffnete sich ein zweiter Krater, der diesmal in seinem Fächer Fetzen menschlicher Glieder mitnahm.
Widerstand war unmöglich. Der Kapitän erriet, welcher Kataklysmus unter seinen Füßen anhob: mit dumpfem Brüllen brach die See, eine schäumende Wasserhose, in den Raum, wälzte alles mit sich, rammte die Schotten und zerstörte, wie die Sturmwoge hinter dem gebrochenen Deich, was sie auf ihrem Wege traf. Und der luftgefüllte Schiffsbauch wurde zu einem Sarg voll Wasser, dessen bleiernes Gewicht zum Grunde wollte.
Das Heckgeschütz feuerte; doch für Ferraguts Ohren lag in dem Dröhnen eine bittere Ironie. Vielleicht war er als einziger sich über den Zustand des Schiffes im klaren.
»An die Boote!« befahl er.
Über das schräger und schräger liegende Deck lief ein verzweifeltes Beben – das Todesröcheln der Maschinen. Gleichzeitig schoß aus dem Schornstein eine Rauchwolke, dick wie Tinte. Die Augen entsetzt aufgerissen, stürmten die Heizer an Deck: im Kesselraum tobte die See!
Des Kapitäns einzige Sorge war, die Besatzung einzuschiffen. Der Gedanke, sein eigenes Schicksal von dem seines Dampfers zu trennen, kam ihm nicht.
»Die Boote ins Wasser!«
Brutal, rapide wie eine Naturgewalt trat die Katastrophe ein. Eine Explosion, als zersplittere die Welt in Stücke. Und Ferragut fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen weglief. Er schaute um sich. Der Bug existierte nicht mehr … von vorn wälzte sich eine alles zermalmende Woge über das Deck. Das Heck aber hob sich und hob sich – wurde zum Abhang, zur steilen Wand, auf deren Gipfel sich wie eine Wetterfahne der weiße Flaggenschaft reckte.
Um nicht zu fallen, versuchte Ferragut, sich an ein Seil, ein Holz, an irgend etwas anzuklammern. Sein Mühen war nutzlos. Er wurde fortgerissen, umhergewälzt, geschlagen, gequetscht, in einer brüllenden, sich drehenden Nacht. Tödliche Kälte lähmte seine Glieder. Die geschlossenen Augen sahen einen roten Himmel, einen Himmel von Blut, besät mit schwarzen Sternen. Ein entsetzliches Glucksen hämmerte auf seine Ohren, während sein Körper endlose Kapriolen machte, und dem verwirrten Gehirn schien es, als hätte sich ein bodenloses Loch auf dem Grunde des Meeres geöffnet, in das das Wasser aller Ozeane hineinströmte – ein gigantischer Strudel, in dessen Mitte er selbst kreiselte.
»Ich sterbe …«, arbeiteten seine Gedanken. »Ich bin tot!« Und trotzdem bewegte er verzweifelt die Beine, um der weichen Umarmung des verräterischen Wassers zu entgehen.
Die Abwärtsbewegung hörte auf, er stieg … konnte die Augen öffnen … war an der Oberfläche.
Wieviel Zeit er in dem Abgrund zugebracht hatte, wußte er nicht. Minuten höchstens, denn länger vermochte ein Mensch nicht unter Wasser zu bleiben. Desto bestürzter war er daher über die Veränderung, die diese kurze Spanne Zeit zuwege gebracht hatte.
Brach etwa schon die Nacht herein? … Vielleicht schimmerten in den oberen Luftschichten noch die letzten Sonnenstrahlen, doch dicht über dem Wasser war es schon dämmerig, herrschte das Zwielicht einer Höhle.
Die noch kurz zuvor von der Brücke gesehene glatte Oberfläche wallte jetzt in breiten Wogen – jede ein Hügel, der ihm den Ausblick versperrte. Nur wenn Ulysses zum Kamm hinaufgetragen wurde, konnte er mit raschem Blick das einsame Meer umfassen, auf dem dunkle Gegenstände trieben.
Von der Nereide war nichts mehr sichtbar, nicht der Rand eines Schornsteins, nicht einmal eine Mastspitze … alles vom Abgrund verschluckt. Und fast wollten Ferragut Zweifel beschleichen, ob sein Schiff jemals existiert habe.
Er schwamm auf einen Balken zu, der in seiner Nähe umhertrieb, und stützte die Arme auf. Wohl war er imstande, viele Stunden im Wasser zu verharren – doch nackt, die Küste vor Augen, mit der Sicherheit, sobald es ihm paßte, an Land zurückzukehren. Jetzt indes beschwerte ihn die Kleidung, und die Schuhe zogen wie Gewichte …
Und ringsum Wasser! Nicht ein Schiff am Horizont! So schnell war die Katastrophe hereingebrochen, daß dem Telegraphisten nicht einmal die Zeit zu einem Hilferuf geblieben war.
Plötzlich tauchte zwischen zwei Wogen unversehens ein Ungetüm auf, das mit wütenden Stößen das Wasser zerteilte. Doch als es näher kam, entpuppte sich das Ungetüm als ein Mensch … Onkel Caragòl!
Der Alte schwamm, wie Verrückte und Betrunkene schwimmen. Bei jedem Stoß machte er eine übermenschliche Anstrengung, so daß sich der halbe Körper aus dem Wasser hob, und während er in Richtung der Küste zu schwimmen wähnte, steuerte er, die halbblinden Augen stier geradeaus, direkt ins offene Meer.
»Padre San Vicente! …« hörte Ferragut ihn keuchen.
Der Kapitän schrie und winkte. Caragòl sah nichts, hörte nichts. Er schwamm weiter, schnaufend, prustend, mit unerschütterlichem Glauben seine Schutzpatrone anrufend.
Eine Tonne ritt aufwärts zum Kamm einer Woge, und als sie auf dem anderen Hang hinabglitt, versperrte ihr der Kopf des blinden Schwimmers den Weg. Ein Stoß …
»Padre San Vicente!«
Und mit blutüberströmtem Kopf verschwand der alte Caragòl.
Ferragut kannte die Entfernung bis zur Küste zu gut, als daß er auch nur den Versuch gemacht hätte, sie schwimmend zu erreichen! Seine einzige Hoffnung – eine vage Schimäre – war, daß ein zufällig vorüberfahrendes Schiff ihn entdecken und retten würde.
Beinahe schien sich diese Illusion kurz darauf verwirklichen zu wollen. Ulysses bemerkte ein Fahrzeug, lang und mit tiefem Bord, ohne Schornstein und Masten, das langsam den Ort der Katastrophe nach Schiffbrüchigen absuchte. Das Unterseeboot!
Ah, nein! Lieber sterben! … Konnte er sich von denen retten lassen, die ihm den Sohn genommen hatten? …
Und die Hände an die Bohle geklammert, glitt er mit dem Oberkörper ins Wasser zurück.
Ein ferner Schrei, ein anderer … schließlich eine große Stille.
Allmählich verlor er den Begriff der Zeit. Seine erstarrten Hände ließen das Holz fahren, doch der ungebrochene Wille zwang sie, sich von neuem festzuhalten.
Plötzlich erinnerte er sich des Triton, der auch sein Ende im Meer gefunden hatte – Jahrhunderte und Jahrhunderte hindurch war es das Grab der Ferraguts gewesen. Umsonst nannten sie es nicht »unser Meer«.
Konnten nicht die Wogen den Triton hierhergetragen haben? Hierher zu seinen Füßen, an denen diese unwiderstehliche Kraft zog? … Seine Hände lösten sich von dem Holz.
»Onkel! … Onkel!«
In seinen Gedanken rief er ihn mit demselben ängstlichen Stimmchen wie damals, als er als kleiner Junge schwimmen lernte. Doch statt jener von einem struppigen, lächelnden Kopf gekrönten Insel harter Muskeln trafen seine Hände nur das kalte Holz.
Hartnäckig hielt er sich über Wasser, im steten Kampf gegen die Betäubung, die ihm anriet, seinen Halt aufzugeben und sich sinken zu lassen, um zu schlafen … für ewig zu schlafen! Die Kleider zogen immer stärker, wie ein unendlich schweres Leichentuch, das länger und länger wurde, bis es den Grund des Meeres berührte. Verzweifelt hob er den Blick und schaute nach den Sternen. So hoch! … Ah, wenn er sich an einen von ihnen anklammern könnte wie jetzt an das Holz! …
Instinktiv machte er eine Bewegung der Abwehr – sein Kopf war, ohne daß er sich dessen bewußt geworden, ins Wasser eingetaucht. Eine bittere Flüssigkeit füllte seinen Mund, und es kostete eine mühselige Anstrengung, um wieder in eine vertikale Lage zu kommen.
Von neuem betrachtete er den Himmel … Aber der war nicht mehr dunkelblau – dieser Himmel war pechschwarz, und alle Sterne waren rot wie Blutstropfen.
Im gleichen Augenblick hatte er die Gewißheit, daß er nicht mehr allein sei. Er senkte die Augen. Ja, neben ihm war eine Frau! …
Eine Frau, weiß wie die Wolke, weiß wie das Segel, weiß wie der Schaum … Ihr grünes Haar schmückten Perlen und phosphoreszierende Korallen; ihr Lächeln – das Lächeln einer Fürstin, einer Göttin – erhöhte noch die Majestät dieses Diadems.
Sie umschlang ihn mit ihren Armen, drückte ihn gegen ihre nährenden und ewig jungfräulichen Brüste, gegen ihren Leib, glatt und schimmernd wie Perlmutt, auf dem die Spuren der Mutterschaft so schnell verwischten wie Kreise in dem blauen Wasser.
Mit einem herrischen Kuß legte sich ihr bleicher Mund auf die Lippen des Schiffbrüchigen. Und das Wasser dieses Mundes floß über in den seinigen – salzig, endlos … Er fühlte sein Inneres sich dehnen, als ströme das ganze Leben dieser weißen Erscheinung – eine flüssige Masse – in seinen Körper über.
Er konnte nicht mehr sehen, konnte nicht mehr sprechen. Seine Augen waren geschlossen, um sich nie wieder zu öffnen; ein Strom von bitterem Salz floß durch seine Gurgel …
Desungeachtet fuhr er fort, sie zu betrachten, die immer leuchtender wurde und sich immer enger an ihn preßte mit einem Ausdruck von Trauer und Liebe in den meergrünen Augen.
Und so sank er hinunter durch die endlosen Schichten des Abgrunds, regungslos, schlaff, ohne Willen, während in seinem Hirn eine Stimme in seligem Wiedererkennen rief:
»Amphitrite! … Amphitrite!«