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Es lebten einmal zwei Brüder von derselben Mutter und demselben Vater: Anapu war der Name des Großen, Bitu war der Name des Kleinen. Anapu aber hatte ein Haus und ein Weib, und sein kleiner Bruder war bei ihm als Knecht: er machte die Kleider, ging auf dem Felde hinter den Tieren her, er mähte und drosch. Denn dieser kleine Bruder war ein Arbeiter, wie es seinesgleichen nicht gab auf der ganzen Welt.
Und wenn es Saatzeit war, sagte der große Bruder zu ihm: »Richte unsern Pflug, denn das Land ist aus dem Wasser gekommen, und es ist gute Zeit.«
Und viele Tage später waren sie auf dem Felde und ackerten. Der Große trieb seinen Bruder zur Eile an: »Geh, lauf, hol das Saatkorn aus dem Dorfe!«
Und der kleine Bruder traf des Großen Frau, und sie ließ sich gerade das Haar kämmen. Er sprach: »Gib mir Korn, ich muß eilends wieder aufs Feld, denn mein Bruder wartet auf mich.« Und sie sagte: »Geh in den Schuppen und nimm dir selber was du brauchst, ich möchte meine Haare nicht in Unordnung bringen.« Der Kleine ging also und lud auf, was er nur konnte, an Korn und Gerste.
Sie sagte: »Wieviel trägst du auf deiner Schulter?« und der Kleine sagte: »Drei Maße Gerste und fünf Maße Korn, das trage ich.« Und sie sprach wieder: »Du hast wirklich viel Kraft und wirst alle Tage stärker.« Und ihr Herz erfuhr ein neues Liebesverlangen. Sie erhob sich, nahm ihn bei der Hand und sprach: »Komm, wir wollen miteinander auf das Lager liegen. Tust du mir dies, so geb ich dir schöne Kleider.«
Der Kleine geriet wie ein südländischer Panther in großen Zorn ob dieser schlechten Worte, die sie ihm sagte, und sie bekam große Angst. Denn er sprach: »Du bist mir wie eine Mutter, und dein Mann ist mir wie ein Vater. Er gibt mir zu leben. Ach, was du mir da Schreckliches gesagt hast! Sag es mir nicht wieder, und ich will es keinem Menschen sagen.« Er nahm seine Last wieder auf und ging auf das Feld.
Da hatte die Frau des großen Bruders arge Furcht. Sie tat ganz schwarzes Fett auf ihren Leib und wurde davon wie eine, die von einem Übeltäter geschlagen ward, um so zu ihrem Manne zu sagen: »Dein kleiner Bruder wollte mir Gewalt antun,« wenn er des Abends zurückkäme. Dies wollte sie ihrem Manne sagen.
Als der Mann nun heimkam zum Abend, fand er sein Weib in Schmerzen im Bette liegen; sie goß ihm nicht Wasser über die Hände, wie sie es jeden Tag tat; sie machte kein Licht, und das Gemach blieb im Dunkel. »Wer hat mit dir gesprochen?« fragte er. »Niemand als dein kleiner Bruder. Er sagte, als er das Saatkorn holte, zu mir: ›Komm, wir wollen eine Stunde beieinanderliegen; schmücke dein Haar.‹ Ich sagte darauf: ›Was? Bin ich nicht deine Mutter? Und dein großer Bruder, ist er nicht wie ein Vater zu dir?‹ Da bekam er Angst und schlug mich, daß ich es dir nicht vermelde. Aber wenn du ihn weiterleben läßt, dann sterb ich. Denn du kannst dir wohl denken, was er mir tut, da ich es dir erzählt habe.«
Den großen Bruder packte ein mächtiger Zorn. Er schliff sein Messer an dem Steine und nahm es in die Hand und stellte sich hinter der Stalltüre auf, um seinen kleinen Bruder zu töten, wenn er des Abends mit dem Vieh heimkäme.
Aber die Kuh, die vorausging, warnte den kleinen Bruder. Er schaute an der Stalltür hinunter und sah die Füße seines großen Bruders, der dahinterstand, sein Messer in der Faust. Da warf der Kleine seine Last zu Boden und lief, was er konnte, und hinter ihm her sein großer Bruder mit dem Messer.
Der Kleine rief zu Phra-Harmakhuti: »Du, mein Meister, richtest wahr und falsch.« Und Phra hörte die Anrufung und ließ allsogleich ein großes Wasser zwischen den Brüdern sein, und das war ganz voll mit Krokodilen; und der Große stand auf diesem, der Kleine auf dem andern Ufer. Und der Kleine rief: »Bleib da bis zum Sonnenaufgang, dann will ich die Wahrheit feststellen, denn ich werde niemals mehr mit dir sein.«
Und als der andere Tag anbrach und Phra-Harmakhuti sich erhoben hatte, sah jedes den andern. Und der kleine sagte zu dem großen Bruder: »Was willst du mich töten, ohne daß du gehört hast, was mein Mund zu sagen hat? Ich bin doch dein kleiner Bruder! Und du mir wie ein Vater! Und dein Weib mir wie eine Mutter! Aber da du mich um Korn schicktest, sprach sie zu mir: ›Komm, schlafen wir miteinander eine Stunde.‹ Und dann hat sie dir dies anders erzählt."
Darauf nahm der Kleine aus seinem Beutel ein Messer, schnitt sich das Glied ab und warf es ins Wasser, wo es die Krokodile fraßen. Hierauf fiel er hin und ging ein in das Tal von Acacia. Der große Bruder kehrte zurück in sein Haus, die Hand auf dem Haupte, das ganz voller Staub war, den er sich darüber gestreut hatte. Er tötete sein Weib, warf es den Hunden vor und weinte um seinen kleinen Bruder.