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Eines Tages im Verlauf unseres Lebens kommen die Menschen unserer Jugend wieder zu uns, einer nach dem anderen, jeder zu seiner Stunde, und reden zu uns, auch die Toten. Aber nicht allein im Geist, wie in einer heimlichen Erinnerung der Vergangenheit, sondern oft auch leiblich, in Person, und für gewöhnlich sind es diejenigen, die uns nicht allein nahegestanden haben, sondern deren Einfluß auf unser Leben von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Wer es als Erscheinung im vergänglichen Dasein Zufall nennen will, der möge es tun, in jenen tieferen Gründen, in denen die Quellen des Weltwesens als reine Flut entspringen, spiegelt sich dem ahnungsvollen Geist unserer Liebe der Sinn der Dinge in zugleich wunderbaren und einfachen Zusammenhängen, und der Glaube an Zufälle verliert sich vor dem Glanz, den das Bild unseres recht verstandenen Geschicks ausstrahlt.
Die tiefere Bedeutung dieser Wiederkehr liegt in ihrer Mahnung. Es ist die letzte Mahnung aus einem versunkenen Abschnitt unseres Lebens, sie ruft unsere Erinnerung an und zugleich das Gedächtnis wach, so daß wir genötigt werden, zu forschen und zu vergleichen, bis wir erkannt haben, welchen Wert für den Weg unserer Seele das zurückgelegte Stück Weg unseres Leibes gehabt hat. Ob wir gesunken oder gestiegen, reicher oder ärmer geworden sind und ob unsere Bahn gerade oder in verhängnisvollen und gefährlichen Windungen verlaufen ist. Denn oft messen wir das eigene Wachstum oder die eigene Verkümmerung mit glückbringender oder grausamer Deutlichkeit am Wesen solcher Menschen, die uns einst nahegestanden haben und die nun nach langer Trennung plötzlich im neuen Lebenskleid vor uns hintreten.
Ich habe mir diese Gedanken gemacht, seit ich meinen alten Gefährten aus unruhigen Jugendtagen in neuen Verhältnissen wiedergefunden und seine Geschichte erfahren habe, die mir einen bleibenden Eindruck zurückgelassen hat. Dieser merkwürdige Mensch hieß Heiliger, aber ich nannte ihn damals Holler, weil er es aus eigener Gewöhnung her so wollte und weil sein eigentlicher Name in einem gar zu ungewöhnlichen Gegensatz zu seinem Charakter und zu seiner Lebensart gestanden hätte. Er gehörte zu jenen behinderten Naturen, die unausgesetzt unter anspruchsvollen Forderungen dahinleben, die nie anders als mit kritischer Geringschätzung an alles herantreten können, was nicht ihrer Art und ihres Besitzes ist, und die doch keine Kraft haben, ihre oft bis zur Anmaßung gesteigerten Wünsche in sich selbst und anderen gegenüber zu erfüllen. So entsteht eine ruhlose Mischung von Kritik und Schwäche, von Ungenügen und Überhebung in ihnen, und wenn auch unser aller Seelen sicherlich nicht völlig frei von diesem Zwiespalt sind, so liegt doch ein Unterschied darin, ob solch ein innerer Gegensatz uns erhebt und fördert oder ob er uns reine Genüsse verdirbt und Selbsttäuschung als Element einer qualvoll errungenen Daseinslust zurückläßt. Mein Gefährte verstand es nicht, die Schuld an seinem Mißgeschick bei sich selbst zu suchen; ich habe über seinen Bemühungen und über seiner spöttischen Überheblichkeit damals zum erstenmal empfunden, daß der tiefere Grund vieler Mißverhältnisse im Haushalt unserer Seele der ist, daß wir nicht hoch genug von den Menschen denken. Damit verbindet sich noch nicht die Notwendigkeit, sich selbst zu erniedrigen oder gering einzuschätzen, vielmehr liegt die erhebende Genugtuung darin, nicht an etwas Geringem oder Unvollkommenem zu leiden, sondern an einer getrübten Schönheit.
Ich sprach damals unter vielerlei anderem auch hierüber mit ihm, aber er lachte mich aus, und das Ungeschick meiner Beweisführung mag ihm berechtigten Grund dazu gegeben haben. Auch war meine Lebenslage nicht dazu angetan, meinen Worten Nachdruck zu verleihen, denn meine Stiefel waren nicht weniger durchgelaufen, mein Rock nicht weniger zerschlissen als der seine, und wir suchten beide vom dunklen Grund der Großstadt aus einen helleren Platz, um einmal wieder, gegen das Entgelt irgendeiner Tätigkeit, ruhig schlafen und sorglos essen zu können.
Wir trafen uns vor einer Anschlagtafel in der Hafengegend Hamburgs, dort waren Stellenangebote ausgeschrieben. Er betrachtete mich, die Hände in den Taschen, eine Weile von der Seite, wir gaben uns beide den Anschein herablassender Unbeteiligtheit, als suchten wir ein Unterkommen für einen verarmten Bekannten. Als ich mich aber abwandte, sagte er zu mir:
»Du suchst Arbeit? Was kannst du tun? Was bist du?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich, »es soll sich erst zeigen.«
»Mit mir ist es umgekehrt«, sagte er ernst und skeptisch, »ich weiß, was ich kann und was ich bin, aber es soll sich, scheint's, niemals zeigen.«
Das gefiel mir, wie überhaupt sein ganzes Gebaren. Ich hatte damals und habe heute noch eine unbegrenzte Hochachtung vor dieser unbestürmbaren Sicherheit gewisser Menschen, deren Selbstbewußtsein niemals zu weichen scheint, und obgleich ich wohl weiß, daß sie es sehr oft allein den Beschränkungen ihres Wesens verdanken und der glücklichen Blindheit für alle Hindernisse und für die Hemmungen der Andächtigeren, bleibt die Wirkung im Augenblick doch bestehen. Die Unfähigkeit solcher Menschen, einen Fehler bei sich vermuten zu können, gibt ihnen in den ärmlichen Schranken einer praktischen Frage oft einen Halt und Kraft zu raschen Entscheidungen, wie überhaupt nun einmal im Lauf der Welt ein mit Geschicklichkeit verbundener Nachteil oft weit mehr gilt und ausmacht als ein mit Ungeschick gepaarter Vorteil.
Wir schritten miteinander zum Hafen hinab, ließen uns in der Sonne auf einer der Steintreppen nieder, die zum Wasser niederführten, und sprachen mit der Reserve unseres jugendlichen Stolzes über das Elend unseres Daseins. Dabei waren wir anfänglich beide bemüht, nur so viel einzugestehen, als ohnehin erkennbar war. Wir versprachen uns gegenseitig gesicherte Lebensstellungen, sobald wir nur erst wieder selbst auf die Bahn unseres Rechts und unserer Bestimmung gelangt wären. Ich bewunderte den unbestürmbaren Ernst meines Nachbarn:
»Sag nur Holler; so hieß ich schon immer. Hast du noch Geld?«
Ich nannte die Summe, die ich den Umständen entsprechend zu nennen für vernünftig hielt. Damals hatte ich schon Bedrängnisse genug überstanden, um zu wissen, daß ich mich gegen den Überschwang meiner leichtherzigen Stimmungen schützen mußte, wenn nüchterne Augenblicke es mir erlaubten. Er wollte das Geld sehen. Wie ruhig und sachlich er eine solch schamlose Bitte des Mißtrauens und der Begierde aussprechen konnte. In diesen Dingen hatte die Kälte der Gasse sein Herz schon bis zur Roheit verhärtet. Ich zeigte das Geld und zählte es auf die Steine. Mein Lächeln nahm er durch einen flüchtigen, kühlen Blick zu Notiz und senkte die Lider halb, wie in Nachdenklichkeit darüber, was es hier zu lächeln geben möchte und wie einer den Ernst des Geldes und den der Lage nicht zu würdigen verstünde.
»Du bist wohl von oben her oder ...?« fragte er. Ich leugnete meinen Stand mit Eifer, und da er nicht begriff weshalb, sagte er listig:
»Also hast du etwas auf dem Kerbholz!«
Das bestritt ich um so weniger, als ich gern etwas in der Art vorzuweisen gehabt hätte, das wäre doch etwas gewesen, meinem Bekannten Achtung einzuflößen. Aber er fragte nicht einmal, was es sein möchte. Das Geld erhielt ich übrigens vollzählig zurück, nachdem es eine Schüttelkur in seinen Fäusten durchgemacht hatte. Er schien meiner sicher zu sein.
»Du lügst«, sagte er freundlich, »du bist in keinem Keller geboren.«
»Wie willst du das wissen?« fragte ich, »vielleicht in einer Dachkammer.
»Erst recht nicht. Ich seh' es an den Händen, an den Händen sieht man alles. Ich habe mich zu lange abgemüht, aus den meinen etwas zu machen, als daß ich nicht wüßte, daß man mit solchen Händen, wie du sie hast, geboren werden muß. Waschen nützt nichts. Wenn ich mir die Nägel reinige, so sieht es aus, als hätte ich mir die Pfoten in Lauge gekocht; auf die Form kommt es an, verstehst du? Wenn die deinen dreckig sind, so sind sie immer noch besser als die meinen im gewaschenen Zustand. Und wie dir die Schnauze im Kinn sitzt! Dich nimmt keiner, weil niemand glaubt, daß er dir etwas zumuten kann. Bei den niedrigen Stellen sehen die Herren bei unsereinem immer zuerst darauf, daß ihm das Dienen in den Knochen hockt; das wird wohl so in Ordnung sein, ich mache es später auch nicht anders. Jeder an seinem Platz. Aber du wirst besser daran tun, dich an ein Mädchen heranzumachen. Hab' ich auch versucht, es ist aber nicht das Rechte für mich, denn ich will nicht nur leben, einfach so dahinleben, sondern ich will etwas erreichen. Hinauf, du wirst schon wissen. Das geht nur allein. Weshalb bist du nicht geblieben, wo du warst?«
Ich begriff über seinen Fragen und im weiteren Verlauf unseres Gesprächs, daß ich etwas aufgegeben hatte, das wertvoller sein mußte, als es mir bisher erschienen war. Soviel wurde mir klar, was ich dahinten gelassen hatte, was mir geboten worden war, stand hier weit höher im Wert als selbst das letzte Ziel meines Gefährten. Mich befielen Sorge und ein tiefes Mißbehagen. Mein Nachbar war bei seinem liebsten Thema angelangt, dessen Gedanken ihn ganz erfüllten.
»Woher ich meine Bildung habe?« wiederholte er eine Frage von mir. »Ja, die fällt dir auf, natürlich. Ich habe eine Weile Zeitungen ausgetragen, drei Monate lang, dann einen Lesezirkel, der nur in den besten Häusern gehalten wird. In solchen Mappen findest du Bildungsstoff für alle Lebenslagen, von allen Seiten wird der Geist angegangen, mit Witz oder Belehrung, Unterhaltung oder Illustrationen, vor allem aber mit Gemüt und feinstem Ton. Ich habe auf den herrschaftlichen Treppen gesessen und mich gebildet, auf roten Läufern, zwischen Messingstangen, mit Eifer, mein Lieber, bis man mich aus meiner Anstellung fortjagte, weil die Leute ihre Mappen nicht mehr rechtzeitig bekamen. Ich habe damals acht oder zehn Romane, die in Fortsetzungen erschienen, zu gleicher Zeit gelesen, ohne ein einziges Mal eine Person zu verwechseln. Und dabei war jeder zweite Mann ein Leutnant und jede dritte Dame eine Gräfin. Leider ließ ich mich verleiten, aus einzelnen Heften herauszuschneiden, was mir gefiel, damit ich es daheim gründlicher durchlesen konnte. Das behagte den Abonnenten nicht, und es liefen Beschwerden bei meiner Buchhandlung ein. Man kam mir auf die Spur und setzte mich vor die Tür, statt mir einen Posten einzuräumen, der meinen Kenntnissen und meinem Wert entsprach. Was der Buchhalter dort, der alte Esel, zuwege brachte, das hätte ich noch zehnmal gekonnt. Ich sagte es meinem Chef und fügte hinzu, mit der Hälfte des Gehaltes, das jener Mann bezöge, wäre mir gedient; er fragte aber nur, wo ich meinen Hut hätte. So sind die Menschen.«
Ich gab zu der seinen meine Meinung über die Menschen ab, die ihm bestätigte, was er bestätigt haben wollte. Es war mir unmöglich, ihm zu widersprechen, und ich glaube, nicht allein deshalb, weil die Aussicht zu überzeugen mir gering erschien, sondern weil ich das Bild nicht beeinträchtigen wollte, das sich mir in seiner Person und in seinen Anschauungen darbot. Es lag mir daran, nicht zu stören, eine selbstsüchtige Nachsicht, die mir später den Vorwurf der Falschheit eintrug. Holler gehörte zu jenen Menschen, die keinen Widerspruch ertragen können, ihn aber heimlich überall vermuten, und die nie verfehlen, später die Rücksichtnahme auf ihre Empfindlichkeit als Schwäche oder Hinterhältigkeit auszulegen.
Die kleinen und größeren Dampfboote des Elbhafens vor uns durchfurchten das trübe Flußwasser in einer für ihr schmales Gebiet scheinbar viel zu großen Hast, es gab kaum ein ruhiges Wasserfleckchen vor uns, das nicht die Spuren dieses erregten Treibens aufwies. Über dem lauten, bunten Bild lag ein blendender Mittagssonnenschein, das weiße Licht blinkte in den kleinen, eifrigen Wellen der trüben Flut in seinem untrübbaren Himmelsglanz und erfüllte mein Herz mit der Heiterkeit seines bewegten Wesens, während es zugleich eine wache Müdigkeit und einen schläfrigen Lebenswohlstand auf meine Lider und in meine Sinne senkte, wie nur die Jugend sie kennt, der alle Müdigkeit noch frei von Leere und Gram ist.
Mein Gefährte dieser beschaulichen Mittagsstunde sah starr und tief mit seinen Gedanken beschäftigt in die Weite. Ich betrachtete sein gebräuntes, mageres Gesicht mit den klugen Augen, die zugleich frech und gutmütig dreinschauen konnten, überlegen und ratlos. Sein blondes Haar war kurz geschoren, und der schwarze, steife Hut, viel zu weit, bestaubt und abgegriffen, ließ die Stirn bis an die Haare frei und schien seinen Halt auf den großen Ohren zu finden, die wie beleidigt und in Übereilung vom Kopf abstrebten. Die schweren roten Hände standen in merkwürdigem Gegensatz zu Augen und Stirn, die zweifellos nicht ohne eine gewisse Vornehmheit waren, ja, die für Augenblicke geradezu schön wirken konnten. Aber die Ohren, diese Ohren ... Ich möchte dein Elternpaar einmal sehen, dachte ich.
»Wir wollen essen gehen«, sagte Holler plötzlich und erhob sich, als sei längst darüber beschlossen worden. Er rückte seinen Hut zurecht und nach vorn, aber er fiel wieder in seine alte Lage zurück, rasch und sicher, als habe man sich an seinen Rechten vergangen.
In St. Pauli, dicht an der Altonaer Stadtgrenze, lag Hollers Stammlokal. Ein alter Seebär bediente uns, es gab gebratene Fische und Pellkartoffeln, Bier und endlich einen Schnaps. Holler verließ nach der Mahlzeit für einen Augenblick das dunkle Lokal, nachdem er mich zuvor um Geld angegangen hatte, kehrte aber bald zurück und brachte eine Handvoll Zigaretten mit, die er auf seine Art verteilte.
»Dies muß für heute genügen«, meinte er und legte sich auf die Holzbank, »wir müssen unser Geld einteilen.« Gleich darauf schlief er ein, und der Wirt machte mir die bescheidene Rechnung. Kaum eine Mark kostete alles zusammen, da sah ich ein, daß Holler im Recht war, sich mit mir an einen Tisch zu setzen, dessen nützlichen Wohlstand ich seiner Erfahrung verdankte.
Das Lokal war fast leer, und die Nachmittagssonne legte aus einem Häuserspalt einen Lichtstreifen auf das Fensterbrett, auf dem ein Goldfisch in einer dicken Bierflasche hauste. Der Wirt setzte sich zu mir, brachte in einer henkellosen Tasse einen Rest Milchkaffee, den er mir hinschob, und begann eine Unterhaltung, der ich mich nicht gewachsen zeigte. Er meinte endlich:
»Du machst dein Glück nicht auf der Straße.«
»In meinem Stand ist es mir auch nicht gelungen«, antwortete ich, »so muß ich es hier versuchen.«
»Hier? Hier ist nicht auf der Straße. Ich hab' die Straße hinter mir, sie führte über See. Dies Haus ist mein. Wie kommst du an Holler?«
Ich erzählte es.
»Du kannst mit ihm gehen«, sagte der Wirt, »es ist Verlaß auf ihn, er treibt es bescheiden, und du kannst von ihm lernen. Aus ihm wird einmal etwas. Aber du? Sie erwarten wohl, daß ich ›Sie‹ zu Ihnen sage?«
Ich wehrte ab, aber viel zu höflich und umständlich, als daß ich ihn nicht in seiner Meinung bestärkt hätte. Er lächelte nachsichtig.
»Nur los, mein Jung', die Welt hat schließlich eine Lücke für jeden; aber täusch dich nicht. Ihr glaubt immer, eine Stiege tiefer geht es besser, wenn ihr in der Beletage Schiffbruch erlitten habt. Es ist aber viel leichter für einen von unten her, etwas höher oben festen Fuß zu fassen als umgekehrt. Das Lehrgeld, das die Gasse fordert, ist viel höher, es nimmt immer, außer dem guten Rock, auch ein Stück Haut mir, und auf solchen Narben wächst kein Bart. Bei mir kommen viele zusammen, denn ich hab' noch keinem das Fell abgezogen, und wem ich das Zuchthaus ansehe, der bleibt mir draußen. Du bist erst bei der Portokasse angelangt, aber gib acht, daß es nicht der Geldschrank wird.«
So seid ihr, dachte ich, wenn ihr mit der einen Hand einmal eine Wohltat bietet, so reicht ihr mit der anderen eine Demütigung dar. Was wißt ihr von dem Verlangen der Jugend, alle Schranken zu zerbrechen, um die Welt neu zu erbauen! Aber ich fühlte, bitterlich aufgestört, daß dieser Mann dort recht hatte, wo seine Erfahrung herrschte und wo er sich sein Haus gebaut hatte, er, wie auch Holler und wie alle seinesgleichen, denen ich mich aus Not zugetan fühlte und zu denen ich doch nicht gehörte. Aber sie machten tiefen Eindruck auf mich, denn ich hielt sie für stark und lebenstüchtig, mich dagegen für schwach, und ihre Welt war die erste Lebenserfahrung meines bedrängten Gemüts, mein erster Geschmack von den Fluten des großen Stroms. Ich vermochte den Umfang und die Bedeutung dieses Machtbereichs noch nicht zu ermessen, aber sein plumper, sicherer Bau schüchterte mich ein. Vielleicht war mein Fehler im Grunde nur, daß ich noch niemanden und nichts verachten konnte, denn diese Fähigkeit erhebt sich für gewöhnlich nur in niedrigen Seelen frühzeitig.
Als Holler erwachte, gingen wir zum Segelschiffhafen hinab.
»Mit dir kann man verkehren«, sagte er ruhig, als er erfuhr, daß die Zeche bezahlt sei. Seine roten Ohren leuchteten aufmunternd.
Ich lobte seine Erfahrungen und seine Kenntnisse der Verhältnisse.
»Gib dir keine Mühe«, sagte er, »ich habe dir ja schon gesagt, daß man mit dir verkehren kann.«
Als ich davon zu reden begann, daß ich eine Arbeit suchen wollte, hielt er auf dem Wege inne und sah sorgenvoll in das Treiben der Gasse.
»Dann dürfen wir nicht zum Hafen gehen, denn dort findest du welche. Wozu willst du jetzt schon arbeiten, da du doch noch Geld hast, das für uns beide eine Woche reichen wird, wenn du dich mir anvertraust? Später werde ich dir etwas verschaffen, auch über See, wenn du willst.«
Als ich einwandte, daß ich es ungern bis aufs Letzte ankommen ließe, meinte er nachlässig:
»Ich würde jetzt nur arbeiten, wenn es nicht anders ginge. Was soll dir denn eine Arbeit nützen, die du hier oder dort findest und die du nur ungeschickt und für kurze Zeit ausüben kannst? Sie hält dich auf und bringt dich zurück, vielleicht verpaßt du darüber die Gelegenheit, an den Ort deiner Bestimmung zu kommen. Ist es dagegen erst einmal die richtige Stellung, dann ist es allerdings gut, auszuhalten, nicht lockerzulassen und emporzuklimmen. Aber so ... nein, ich werde lieber mit dir reden und dir zeigen, was alles sich machen läßt. Zuerst müssen wir über deine Kleider sprechen.«
Ich war nicht dieser Meinung, aber ich widersprach meinem neuen Kameraden auch nicht. Was ich noch zu verlieren hatte, war keinen Einwand wert, aber Hollers Art und sein derbes Geschick, seine schnodderige Hoffnungsfreudigkeit und sein gewissenhaftes Schmarotzertum zogen mich an. Auch versprach ich mir Erfahrungen, deren Wert ich zugleich anzweifelte und suchte; meine Zukunft lag so dunkel vor mir wie eine undurchdringliche Nebelnacht.
»Würde einer mit Holzschuhen in einen Salon gehen, wo Vorhänge und Ölgemälde an den Tapeten hängen?« sagte Holler und sah an mir auf und nieder. »Nein, weshalb gehst du also mit einem Papierkragen und Manschetten durch den Rinnstein? Was seh' ich? Eine Weste sehe ich, einen Schlips, eine Nickelkette, und wahrscheinlich hast du sogar ein Taschentuch und eine Uhr. Schau mich an: einen Bibi, ein Halstuch, den Rock, Hosen aus Küfersamt, einen Gürtel. Gott steh mir bei! Sieht mich einer, so denkt er: Der kennt seine Lage, weiß sich zu bewegen und hat keine Bremsen im Kopf. Der rührt sich, wo er hingehört, und gehört hin, wo er sich rührt. Was sonst, das andere wird sich zeigen.«
»Aber weshalb bist du selbst auf der Straße, wenn du dich vor Vernunft und Geschicklichkeit nicht zu lassen weißt?« Allmählich verdroß mich diese Sicherheit, die sich nur da bewährte, wo es galt, von ihr zu reden.
»Frag nicht so dumm«, sagte er ruhig, »soll ich auch noch für die Einfalt der Menschen verantwortlich sein? Und wie hast du denn deine Hände in den Taschen? Die Hände muß man von hinten her in die Taschen einschieben, so daß die Rockzipfel nach vorn stehen, unter den Armen durch. Umgekehrt ist es falsch. Wer den Rock nach hinten drückt, wenn er die Hände einschiebt, der riecht auf hundert Meter nach der geheizten Stube oder nach gesichertem Einkommen. Wir machen's so, schau her, der Rock muß hinten straff anliegen wie ein Gürtel, das gibt Fasson und Wärme; so schiebt man seinen Weg mit Sicherheit und kommt voran, aber wie du den Frack nach hinten baumeln läßt, da sieht jeder auf den ersten Blick, daß du nicht bis an die nächste Ecke kommst.«
Jetzt war mein Groll verflogen, und ich mußte lachen. Nichts überzeugte mehr als diese Weisheit, und nichts erschien mir zugleich belangloser. Holler blieb ernst wie immer und sah mich neugierig und zweiflerisch an. »Nun, wir werden ja sehen«, beruhigte er sich dann selbst; er schien nicht viel auf mich zu setzen.
Am fünften Tag unsrer Bekanntschaft war mein Geld zu Ende; ich muß gestehen, daß ich selber schuld daran war, denn sosehr Holler zur Sparsamkeit anhielt, sosehr forderte er mich ungewollt zugleich heraus, meine letzten Groschen auf seine Sicherheit zu wagen. Vielleicht kam etwas wie Neugierde hinzu, nun zu erfahren, wie er es weiter treiben würde, und gewißlich auch ein gut Teil Schadenfreude, ihn endlich dort am Ende seiner Kraft zu sehen, wo ich am Ende meines Geldes war, denn ich hatte die letzten Stunden unsrer Gemeinsamkeit hart unter seiner anmaßenden Überlegenheit gelitten. Er hatte sich's nun schon die zweite Nacht auf dem Lager meiner Schlafstelle bequem gemacht, trug einen Teil meiner Kleider und unternahm heimlich den Versuch, mir das Rauchen abzugewöhnen. Die ersten beiden Erscheinungen nahm ich ziemlich gelassen hin, aber bei der letzten machte meine Geduld halt. Wovon lebt man denn, wenn man nichts zu leben hat, wenn nicht vom Tabak? Und wenn es einem gutgeht, so braucht man ihn erst recht, denn wie soll man sich seinen Wohlstand anders zu Gemüte führen als durch Rauchen? Das Geld, ja, das will ich zugeben, ist kein rechter Maßstab für die Freundschaft, denn es hat nun einmal die merkwürdige Eigenschaft, vor allem dann zwischen zwei Leute zu treten, wenn es nicht da ist, aber ein Kamerad, der den letzten Tabak nicht ehrlich teilt, ist stets ein schlechter Gefährte in der Not.
Abends fand Holler sich müde und durchnäßt bei mir ein, das Wetter war umgeschlagen, und Regentage ohne Geld und Nahrung sind in den norddeutschen Hafenstädten bedrückender als überall anderswo. Das Meer, das sonst wie ein lieblicher Ausblick in helle Weiten voller Taten und Schätze wirkte, liegt nun trüb und schwer wie eine vergessene Bahn in grauer Öde, und der Weg ins Land zurück scheint wie vermauert und sinnlos. Die Meerstädte haben ihre Augen alle aufs Wasser zu geöffnet und führen zu ihm hinaus; wer lange Zeit am Meer verbracht hat, dem erscheint der Weg in die unbewegte Enge des Landes zurück wie eine feige Flucht und zugleich wie ein mühsames Schwimmen gegen den Strom.
Holler sah mich spöttisch an, als ich darüber sprach.
»Bremsen«, sagte er, »du hast Bremsen im Kopf. Wo ist denn hier überhaupt das Meer? Im Bierpalast bekäme man, unten, für einen Zehner sein Seidel und sein Konzert umsonst. Wenn du noch irgendwo Geld hast? Ich treffe dort Bekannte, man knüpft Beziehungen an; da wird sich schon ein Weg für morgen zeigen.«
»Ich habe kein Geld mehr.«
»Und morgen?«
»Du wirst Rat schaffen.«
»Ich?« fragte Holler erstaunt, aber dann schwieg er und besann sich. Es mußte ihm doch in den Sinn gekommen sein, daß die Ablehnung, die in seiner Frage lag, in einem gar zu schroffen Gegensatz zu allen Versprechungen stand, die er mir gemacht hatte.
»Es ist gut«, sagte er bedächtig und ließ sich auf der Bettstatt nieder. Im Nebenraum schrie ein kleines Kind, und die tröstende Stimme einer Frau fiel abgebrochen und traurig in den beharrlichen Jammer des feinen Lebensstimmchens ein. Holler erhob sich:
»Hör also, du wirst deiner Mutter schreiben, oder besser ich – nun, so hör mich doch erst zu Ende –, ich werde schreiben, du seist erkrankt und lägst mittellos und ohne Hilfe danieder. Dann kommt Geld, oder ich müßte keine Mutter kennen.«
»Du kennst keine Mutter«, antwortete ich, »wenn du von ihr nur weißt, daß man sie ausnutzen kann.«
Er stellte sich nach diesen Worten gleichmütig, ohne weiter auf die Ausführung seines Vorschlags zu drängen, aber ich spürte doch, daß sie ihm ins Herz gesunken waren. Wir schlenderten ratlos in den trüben Abend hinaus, hungrig und frierend. Spät in der Nacht, als wir im Lokal seines alten Seebären aus Gnade ein Unterkommen und einen Grog auf Kredit erhalten hatten, sagte er plötzlich, als begänne er ein ganz neues Thema:
»Ich habe stets die größte Achtung vor meiner Mutter gehabt, solange sie lebte, ich wäre ihr nicht davongelaufen wie du!«
»Hast du auch vor mir Achtung?« fragte ich.
»Das kann ich nicht gerade behaupten«, meinte er zögernd, neugierig, worauf ich hinaus wollte.
»So wird dich nichts hindern, mir davonzulaufen.«
»Nein«, sagte er wichtig, ohne ganz zu verstehen, wie ich es meinte, »ich werde dich deinem Schicksal nicht überlassen.«
Am andern Morgen ging ich mit der aufsteigenden Sonne auf Kiel zu. Ich war acht Tage unterwegs, fand aber dort bald eine Anstellung auf einem Raddampfer, der über Korsör nach Kopenhagen fuhr. Holler sah ich nicht mehr wieder, bis ich ihm vor nun etwa einem Jahr nach einer fast fünfzehnjährigen Trennung wieder begegnete, und so komme ich nun zur Erzählung dieser merkwürdigen Erneuerung seines Bildes, die nicht allein jene Tage in Hamburg in meiner Erinnerung auferstehen ließ, sondern mir auch die seltsamste Wandlung zeigte, die ich jemals bei einem Menschen erlebt habe.
Nun glaube ich nicht, daß ein Menschenwesen sich im Grunde jemals ändert, so verschiedenartig sein Geschick sich gestalten mag und so unterschiedlich eine Natur in dieser oder jener Umgebung in guten oder schlechten Verhältnissen wirken mag. Und so fesselt meine Gedanken bei diesem Vergleich weniger der Unterschied der beiden Erscheinungen als vielmehr das Bemühen, in jenem ersten Bild die Züge des zweiten zu suchen und umgekehrt. Die Erfahrung, daß Lebensumstände selbst gute oder edle Eigenschaften völlig in den Hintergrund drängen können, hat mich in gleichem Maß beschäftigt wie die Gewißheit, daß ein einziger bewußter Willensakt nicht allein das äußere, sondern auch das innere Ergehen eines Menschen umzugestalten vermag. Es sind ohne Zweifel in einem solchen Fall eher unentschiedene, schwächere und in ihren Anlagen wenig ausgesprochene Naturen, bei denen Wohl oder Wehe ihres Daseins nur von Verschiebungen ihrer Betrachtungsart abhängt, denn alle großangelegten Seelen erleben ihr Schicksal nicht durch Wandelbarkeit, sondern durch ihre Beharrlichkeit, nicht durch die gefällige Gunst einer Abkehr, sondern durch den Eigensinn ihrer Standhaftigkeit.
Ich durchschritt an einem warmen Herbsttag die bewaldeten Höhenzüge eines süddeutschen Vorgebirges, um so endlich über Rosenheim nach München zu gelangen, wo ich damals meinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Nahe der Stadt begannen vereinzelte Häuser sich zur Rechten und Linken der Straße zu erheben, nicht eben herrschaftliche Landsitze und auch nicht Bauernhäuser, sondern Bauten jenes Gemisches von kleinstädtischem Wohlstand und ländlicher Nutzbarkeit, wie man sie, besonders im Süden Deutschlands, im Umkreis der Provinzstädte fast überall findet. Ich kann nicht eben sagen, daß das Häuschen, vor dem ich stehenblieb, mich sonderlich anzog, aber es hatte in seiner Anlage, seinem Vorbau und seinem Gärtchen etwas von jenem unverkennbaren Gepräge bescheidener Daseinsfreude, wie sie uns bei manchen Dingen, fast wie Wesenszüge ihres Besitzers, fesseln können. Es kam bei mir zweifellos ein wenig selbstquälerische Neugier hinzu, die nicht frei von einem arglosen Neid ist, in der ich zuweilen diese gesicherten Lebensplätze eines beschaulichen und kampflosen Daseins betrachten muß. Eine spöttische Genugtuung kann mich dabei bewegen und etwas wie eine boshafte Seligkeit an meiner Freiheit. Meine neugierige Bewunderung für Leute, die glauben, sich ohne ein Zugeständnis ihrer Seele eine irdisch gesicherte Lage geschaffen zu haben, wird niemals aufhören.
Ein paar Tannen erhoben sich noch zwischen mir und dem freien Ausblick auf den Vorgarten, und ich war eben im Begriff, den Schutz meines Beobachtungsplatzes aufzugeben, um meinen Weg fortzusetzen, als ich einen Mann hinter einem treibhausartigen Gartenhäuschen hervortreten sah, der, eine lange Pfeife in der halb erhobenen Hand, den Kiesweg vor dem Hause auf und ab zu schreiten begann. Er näherte sich meinem unfreiwilligen Versteck, wandte mir den Rücken und schritt den Weg wieder zurück.
Nun, das wollte betrachtet sein. Es lag allzuviel behäbiges Wohlbehagen in diesem Hin- und Herschreiten, die Pfeife schlug in der leicht geschwungenen Hand einen mäßigen, frommen Takt, und der ein wenig schräggehaltene Kopf predigte geradezu seinen Wohlstand zwischen den breiten Schultern. Ja, man hätte glauben können, selbst das Gehen bereitete diesem Manne heimlich Genuß; es lag etwas zugleich Forsches und Friedliches darin.
Ich gestehe, daß dieser Anblick mir mißfiel. Daseinslust an kleinen Selbstverständlichkeiten zur Schau zu tragen ist immer erbärmlich, selbst im vertrautesten Umgang und besonders in der Jugend, niemals wird ein hochgesinntes Herz es dulden. Aber diese Freudigkeit hatte zugleich etwas Bedächtiges, und um Stirn und Augen des Mannes lag eine Resignation, die das Kleinliche seines Gebarens zwar nicht aufhob, aber milderte, und die den Beschauer auf Nachsicht stimmte.
Als der vergnügte Spaziergänger mir ein drittes Mal sein Angesicht zuwandte, das einen großen braunen Vollbart trug, sah ich plötzlich in tiefen Fernen meiner Erinnerung das Elbwasser von Hamburg, die Hafenstraße und ihre schmalen, hohen Häuser. Die Sonne glitzerte über der ärgerlich erregten Flut, und die Signalpfeifen der Dampfschiffe riefen durcheinander; und noch ehe sich mir die Beziehung dieses Bildes zum gegenwärtigen geklärt hatte, sah ich, daß sein Auftauchen sich mit den beiden großen roten Ohren verband, die sich meinen Augen in der Sonne darboten, und nun wußte ich, daß dieser Mann vor mir Holler war.
Eine ungestüme Heiterkeit ergriff mich so stürmisch, daß ich mich ihrer fast schämte, ich mußte mir Gewalt antun, um den würdigen Hausbesitzer nicht mit einem Gelächter zu überfallen. Es ist trostlos, wie sehr empfindsame und zugleich temperamentvolle Leute zu Übereilungen neigen, ja zu Taktlosigkeiten; sie setzen ihren Zustand überall voraus und erregen Erstaunen und Ablehnung, wo sie Zustimmung erwarten. Die Beschaffenheit der Durchschnittsseele ruht für gewöhnlich in einem geordneten Mittelmaß der Weltbetrachtung, und jede Abweichung von ihm wird zumeist und zuerst nur als eine Störung empfunden, sei sie nun höher gestimmt oder tiefer.
Holler erkannte mich sofort, als ich ihm auf dem Gartenweg entgegentrat.
»Du? Ach du! So treffen wir uns im Leben wieder! Das hätte ich niemals gedacht, und noch dazu hier, hier in Bayern!«
Er war augenscheinlich verlegen und sprach laut und etwas polternd, mir war, als übereilten sich seine Bemühungen, rasch und auf einmal alles klarzulegen, was ihn in jener langen Zeit unsrer Trennung bewegt und geführt hatte. Dabei trat deutlich ein seltsames Schuldbewußtsein bei ihm zutage, das anfänglich fast rührend auf mich wirkte und in einem komischen Gegensatz zu seiner sehr würdigen und unterstrichen bürgerlich-männlichen Erscheinung stand.
»So ist es also gekommen ... wie geht es dir? Hast auch du ... hast du etwas erreicht?«
»Nein«, sagte ich, »ich gehe immer noch bald hierhin, bald dorthin und verweile, wo es mir gefällt. Ich habe mein Haus nirgends gebaut.«
»Du siehst aus, nun, als wärst du lange unterwegs.« Er sah an mir auf und nieder und schien ein wenig peinlich berührt. »Aber so tritt doch ein, ich bitte dich, sei willkommen in meinem Hause.«
Wie er die letzten beiden Worte betonte!
»Bitte schön, bitte schön«, sagte er eifrig, verbeugte sich am Eingang ein wenig und schritt dann selbst zuerst ins Haus.
Damals auf der Straße warst du sicherer, dachte ich.
Es schien mir, als ränge er innerlich um den rechten Standpunkt, den er mir gegenüber einzunehmen hätte, und als kämpfe er mit sich, ob es in dieser seltsamen Situation des Wiedersehens mit einem alten Kumpanen von der Gasse richtiger war, seine Ehre zu betonen oder die meine. Er schwankte deutlich zwischen dem Stolz, dem heimatlosen Fremdling ein Plätzchen am eigenen Herd anweisen zu können, und dem Wunsch, durch erkennbare Bescheidenheit seinen Errungenschaften einen doppelten Wert in meinen Augen zu verleihen.
Im Hausflur stand ein eigenartiges Gerät, das nach allen Seiten Gamsbockhörner ausstreckte, und Holler wollte meinen Mantel an diesen für solche Kleidungsstücke auf das zweckmäßigste eingerichteten Apparat hängen, ich hatte aber keinen. »Ach so ...«, sagte er, beruhigte sich jedoch, da ich seinem Gamsbockgalgen Beachtung schenkte.
»Ein hübsches Ding«, sagte ich.
»Und nützlich, nützlich!« rief er fröhlich. Es schien, als kämen wir einander näher. Die Wohnstube, in die ich geführt wurde, entbehrte der Gemütlichkeit nicht, obgleich ihre Einrichtung auf geringen Geschmack und ein Übermaß kleinlicher Sorgfalt schließen ließ. Ein wohltuender Schein von Geborgenheit ging von dem grünlichen Dämmerlicht aus, das eine hohe Tannenwand vor den Fenstern verbreitete. Ein anderes Fenster eröffnete einen schönen, freien Fernblick auf die Alpenkette und ihr Vorland, das im Silber des Tageslichtes erglänzte.
»Hier hast du es gut«, sagte ich. Irgend etwas mußte gesagt werden, denn Holler wurde sichtlich immer befangener, und ich bemerkte nun zum erstenmal zu meinem Erstaunen, daß er sich des Vorzugs seiner Lage zu schämen schien, als täte er mir ein Unrecht damit an. Ich glaubte deutlich zu sehen, daß ich mich in dieser Wahrnehmung nicht täuschte, und sagte deshalb:
»Es ist mir immer recht gut gegangen in den langen Jahren unsrer Trennung. Zwar habe ich kein gesichertes Heim, wie du es dir errungen hast, aber dafür habe ich viel von der Welt gesehen. Auch dir wird es nicht auf einen Anlauf gelungen sein, so viel geordneten Bestand in dein Leben zu bringen, damals in Hamburg sah es für uns noch nicht nach Ruhe aus.«
Mit dieser Erwähnung der Vergangenheit schien der Bann gebrochen.
»Ja, Hamburg ...«, sagte Holler langsam, »zwischen jenen Tagen und den Jahren, die ihnen gefolgt sind, und heute, da liegt etwas an Erlebnissen! Du sollst alles wissen«, fuhr er plötzlich in neuem Eifer fort, »gerade du, denn du kannst es ermessen, weil du mich und meine Lage damals gekannt hast; die Menschen meines jetzigen Lebens wissen es nicht, und es lockt mich nicht, mit ihnen darüber zu sprechen, weil die Leute die Gasse nur kennen und verstehen, wenn ihr Lebensweg sie hindurchgeführt hat. Ich war im Gefängnis ...«
Er schwieg jählings und sah sich im Zimmer um, als fürchtete er, ein Lauscher möchte ihn gehört haben. Es ging etwas in ihm vor wie eine plötzliche Rückkehr, er schien von einer Welt in die andere zu springen und keinen Ausgleich zwischen ihnen herstellen zu können. Aber dann lachte er in so deutlicher Erleichterung auf, als habe er jahrelang unter Qualen auf den Tag gewartet, an dem er einem Menschen seines alten Lebens dieses Geständnis machen konnte.
Aber bevor er zu erzählen begann, zeigte er sich als Gastgeber besorgt und erwies mir eine Reihe von Aufmerksamkeiten von verschiedenem Wert. Er trug aus einem Eckschrank eine kantige Flasche herbei, streichelte sie unterwegs, wahrscheinlich weil sich Staub auf ihr niedergelassen hatte, und sah mich mit glänzenden Augen an, als er zwei kleine Gläser mit der Flüssigkeit anfüllte, die diese Flasche enthielt.
»Fichtennadelschnaps«, sagte er und betrachtete mich abwartend, wobei er voll freundlicher Herausforderung nickte.
Es war ein selbstbereiteter Fichtennadelschnaps. Nun habe ich jedoch gegen Fichtennadelschnaps eine Abneigung, ganz besonders gegen solchen, der »hausgemacht« ist, wie einige Leute es nennen. Es sind gewöhnlich Leute aus der Druckereibranche oder auch kleinere Handwerker- oder Beamtenfamilien in auskömmlichen Lebensverhältnissen, die sich mit der Zubereitung dieses Getränks beschäftigen und die sich geneigt zeigen, es bei jeder Gelegenheit anzubieten. Erblicken sie den Gast, so eilen sie auf ihn zu, und er wird genötigt, ihrem Hausprodukt aus Fichtennadeln Ehre zu erweisen, und sie legen große Freigebigkeit an den Tag, weil sie selbst sich längst davon überzeugt haben, wie unangenehm Fichtennadelschnaps schmeckt und wie selten er sich als bekömmlich bewährt.
So ließ auch Holler sein Glas unberührt vor sich stehen, aber er rühmte sein Getränk mit gewählten Ausdrücken, wie ich sie vorher niemals bei ihm beobachtet habe. Es war von grünlicher Farbe. Auch brachte er Zigarren herbei, die mich erschreckten, denn sie waren hellbraun und ziemlich dünn, von einer schüchternen und stillen Form; es ist schwer, sie zu schildern, weil man nicht überall Verständnis für Tabak voraussetzen darf, aber diese Zigarren waren schrecklich. Man erhält solche Ware bei Nichtrauchern vorgesetzt; sie dulden das gehaßte Laster nicht nur bei anderen, nein, sie erweisen sich auch als weitherzig und vielseitig, indem sie sich herbeilassen, es darzureichen. Aber ungewollt bewirken sie, daß auch der Beschenkte das Rauchen nach kurzer Zeit für ein Laster erklärt.
Während ich die Erinnerung an diese Augenblicke niederschreibe, verfalle ich bei der Darstellung der Einzelheiten unwillkürlich in einen Ton, der ganz der Stimmung entspricht, in der ich mich damals befand. Die Unausgeglichenheit eines Gemütsanspruchs in seiner Umgebung läßt oft ein Ungenügen in uns zurück, das nur den Ausweg in Zorn oder in unwiderstehliche Spottlust kennt, weil kein vernünftiges Mittel ausreichen würde, um Harmonie herzustellen. Wenn ich Hollers neue Lage während unsrer Unterhaltung mit seiner ehemaligen verglich, so war mir zumute, als sei er so unbewußt und innerlich unbeteiligt in die eine wie in die andere geraten. Aber doch blieb es mir geheimnisvoll, auf welche Art diese seltsame Umwandlung sich vollzogen hatte. Ich kannte Holler vor seiner Erzählung noch nicht gut genug, um ohne weiteres begreiflich zu finden, daß er und Menschen seiner Art zuwenig innere und geklärte Beziehungen zu den Dingen haben, als daß sie nicht jede Stellung ohne Skrupel einzunehmen vermögen, die das Schicksal ihnen am Rand des Lebens anbietet. War mir vor Jahren Hollers gewissenhaftes Schmarotzertum der Gasse aufgefallen, so lernte ich ihn nun als einen schmarotzenden Gewissenhaften kennen, überredet von der neuen Lebensform, aber nicht überzeugt. Für die Abweichungen der Menschen in die Unsicherheiten der Gasse hat die Gesellschaft Verachtung oder Strafen, für die Abweichungen in die Sicherheiten ihrer Schranken aber Anerkennung, und beides ohne Prüfung. Im Licht der menschlichen Natur aber können beide Schritte sowohl vernünftig als unvernünftig sein, und in ihrem Geist machen sich beide gleich bestraft, wenn es Abweichungen von der natürlichen Bestimmung des Handelnden sind.
Während Holler mit allerlei verworrenen Mitteilungen begann, sah ich mich im Zimmer um, und seine Gegenstände wirkten auf mich wie Illustrationen zu seiner Geschichte, wie dekorativ gehaltene Bildwerke eines Zeichners, der das Wesen dieses Mannes mit treuer Hingabe erforscht und mit Sicherheit erkannt hatte. Vor mir hob sich von einer froschgrünen Tapete die hochfahrende Rückenlehne eines Sofas ab, die von glänzendem dunkelbraunem Holz angefertigt war und in deren Verschnörkelungen der Verfall der Naturgesetze triumphierte. Mehrere Kugeln, sinnlos auf gekerbten Leisten gelagert und von Rillen umzogen, schlössen die Ornamente nach oben hin ab, sie stellten Sinnbilder der Weltkugel mit verschiedenen Äquatoren dar und wiesen nur insofern einen Reiz auf, als man in seiner Hoffnung, sie möchten herabrollen, durch die gute Art ihrer Befestigung enttäuscht wurde. Nach rechts und links holten zwei geschwungene Ornamente mit großer Wucht aus, sie hatten Schneckenform und erinnerten an die Fangarme eines schlafenden Polypen. Zwischen ihnen war ein gruppiertes Beet steiler Tulpen angebracht, die sich, je vier nach zwei verschiedenen Seiten, neigten und sowohl in ihrer Politur wie auch in der Schnitztechnik die Bewunderung des Beschauers herausforderten. Die Mannigfaltigkeit des Gesamteindrucks erschöpfte sich jedoch nicht in diesen Anlehnungen an den Reichtum der schaffenden Natur, sondern es war Gelegenheit geboten, neben diesen ästhetisch gedachten Genüssen auch noch praktischen Bedürfnissen Genüge zu tun, denn sowohl zwischen den geschnitzten Tulpen als auch bei den Weltkugeln waren Nischen und kleine Borde angebracht oder Raum gelassen, um allerhand Nutz- oder Gebrauchsgegenstände abzustellen oder dauernd unterzubringen. Hiervon hatte eine sorgende Hand hinreichend Gebrauch gemacht, denn ich erblickte mancherlei Gerätschaften, darunter eine japanische Vase und eine Bibel, ein Tonschwein, das durch den vertrauten Rückenschlitz als Spartopf gekennzeichnet war, eine Pfauenfeder und einen Pfeifenkopf mit dem farbigen Bildnis Martin Luthers. Ich habe die anderen Gegenstände nicht im Gedächtnis behalten, auch waren sie zum großen Teil hinter Sträußen von Papierblumen verborgen, nur ein Wetterhäuschen weiß ich noch, mit einem Dach aus Baumborke und zwei munteren bunten Gestalten, die auf einem beweglichen Brettchen um eine Achse zu kreisen vermochten.
Die übrigen Einrichtungsgegenstände des Zimmers paßten sich diesem Sofa und seinem Stil an, ich will sie nicht beschreiben, denn die meisten Menschen kennen den seltsam vielseitig bewegten und so gar nicht gesicherten Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft dieses Standes auf Ausschmückung ihres Heims. So gering nun Hollers persönliche Beziehungen zu allen Einzelheiten seiner Stube gewesen sein mögen, so entdeckte ich doch bei ihm ein ausgesprochenes Behagen am äußerlichen Wesen aller Dinge. Aber mehr noch als aus dieser Erscheinung ging die Wandlung seines Wesens mir aus den Andeutungen über den Verlauf seinen Lebens hervor. Er rieb sich weich und sacht die großen roten Hände, während er sprach, und kam eine Stelle, der er Bedeutung beilegte, so sah er mich, etwas von unten her, mit seelenloser Innigkeit an. Das Ärgste aber war seine Überlegenheit, in der er sich mehr und mehr gehen ließ, immer wieder sog er ihre Erneuerung aus meinem Schweigen, meiner Befangenheit oder meinem verstaubten Gewand. Einmal unterbrach er sich, unsicher gemacht durch den Ausdruck meiner Bestürzung, die er sich durch die Gelegenheit, bei der sie ausbrach, nicht unbedingt zu seinem Vorteil auslegen konnte, senkte weit von oben her seine große Hand langsam auf meine Schulter und rief in nachsichtiger Ermahnung:
»Viele kommen zu mir, um sich Lebensrat zu holen, so dient nun selbst die Verirrung meiner Jugend mir und anderen zum besten. Aber nur auf diese Art gedenke ich bisweilen der damaligen Tage, ich war ein schlechter, verlorener Mensch.«
»Nun bist du also ein guter?« fragte ich in einem verzweiflungsvollen Anlauf zur Heiterkeit, aber in Empfindungen, mit denen man in einer dumpfen Stube ein Fenster aufstößt.
»Gut?« wiederholte er bedeutungsvoll und mit einem erkennbaren Vorwurf gegen meine Überheblichkeit. »Wer darf sich gut nennen, alter Kamerad?« Er tat, als hätte ich es von mir gesagt.
»Ich war im Gefängnis«, fuhr er in gemachter Besonnenheit fort, und als käme ihm in den Sinn, daß er mir noch Erklärungen schuldig sei, fügte er hinzu: »Da trat eines Tages ein ehrwürdiger Mann in meine Zelle. Gesegnet sei sein Andenken! Ich hatte mir nämlich einen Diebstahl zuschulden kommen lassen, einen, der entdeckt worden war.«
»Ein Pfarrer?«
»Ja«, antwortete Holler entschieden und mit Bekennermut, »es war allerdings ein Pfarrer. Er hat sich nicht allein für mich verwandt, so daß mir ein Teil meiner Bestrafung erlassen worden ist, sondern er hat mir auch den Weg zu einem ganz neuen Leben gewiesen und mir den Eintritt in den Stand der Gebildeten eröffnet. Ich habe nun Frau und Kind, ein Häuslein mit größerem Gärtchen, eine treffliche Imkerei, die ein gutes Bröcklein abwirft, Halt und Sicherheit und bin alleweil frohen Sinns, seit ich weiß, daß ich auf dem rechten Wege bin. Ich gestehe dir ein, damals hörte ich jenen braven Mann zunächst nur in der Hoffnung an, mich seiner bedienen zu können, ich ging scheinbar auf ihn ein, sprach und handelte, wie er wollte und erwartete, und lachte heimlich über ihn. Aber langsam lernte ich einsehen, wie gut es ihm in der Welt ging, für die er eintrat, wie wohl er sich in ihr fühlte, und begriff, daß er die wahre Bildung besaß, mit der man es zu etwas bringt. Alles, bis auf Halstuch und Schuhe, war zwar einfach, aber so ordentlich, so wohlbestellt an ihm, er wußte den Wert aller Einrichtungen zu schätzen, verstand und pflegte sie, wirklich, er hatte die Gefahren des Lebens überwunden und war siegreich daraus hervorgegangen, stets war er vergnügt.«
Ich denke noch heute bisweilen darüber nach, was mich abgehalten haben mag, Holler zu verlassen, es war eine selbstquälerische Neugierde, eine etwas bedenkliche Genußsucht an Besonderlichkeiten und ein sicherlich verderblicher Hang, dort zu verweilen, wo meine Verachtung, entgegen jeder Nachsicht, Wurzeln schlug und sich zu einem üppigen Unkraut im Garten meiner Erfahrungen entwickelte. Ich weiß, daß ich Holler ohne Humor ertrug und daß er mich je länger je mehr nicht belustigte, sondern nur peinigte, aber es lockte mich, ihn gewähren zu lassen, ich genoß ihn in erbittertem Ekel und wie einen süßlichen Trank, der, ohne schädlich zu sein, Übelkeit verursacht, und dieses wachsende Unwohlsein in mir beachtete ich mit steigender Genugtuung. War es mein einziger Erweis berechtigten Widerspruchs, den ich, wenn auch nur mir selbst, erbringen konnte?
»Wollen wir einmal die Bienlein betrachten?« fragte Holler plötzlich, strich sich über den Bart und stand auf. Im wiegenden Schritt durchmaß er das Zimmer. »Auch von ihnen kannst du lernen, es ist ein emsiges, munteres Völkchen, das auf seine Art Ordnung hält, soweit der Mensch es fördert und ihm Anleitungen gibt. Ich habe bald fünfzig starke Stöcke, achtundvierzig, um die Wahrheit zu sagen.«
Wenn ich nur einen hätte, dachte ich.
Und während wir durch schmale Wege über eine Wiese hinter dem Haus schritten, über sauberen Kies zwischen einem winzigen Bodengitter dahin, das das Gras abhielt, seine Befugnisse zu überschreiten, und die Menschen, das Gras zu betreten, dachte ich an das mächtige, gefährliche Leben. An das Leben mit seinen Sturzbächen und Todesschluchten, seinen schwindelnden Höhen, deren blendende Helligkeit das Licht der Augen unter dem Entzücken der Seele erblinden läßt, an das Leben mit seinen Meeren und Gluten, seinem Sturm und seiner herrlichen Sonne. Ehe ein Schatten deiner Welt, Holler, meine Seele verfinstern soll, will ich sie in Schmach und Erniedrigung ersticken, will ich sie unter Martern schänden und mit den letzten Tropfen meines Bluts im Laster vergeuden.
»Tü, tü, tü«, rief Holler weich und zärtlich und lockte mit gemächlich bewegten Fingern irgend etwas aus der Luft. Seiner Lockung wurde jedoch keine Folge geleistet.
»Was ist denn?« fragte ich, bereit, ihn zu erwürgen.
»Meine Bienlein kennen mich gar wohl«, belehrte mich mein Begönner im vollen Genuß dieses Wohlstandes, »aber du – tritt zurück und habe acht! Kürzlich erst entnahm ich Honigseim, mit Maß zwar und wohlbedenkend, wessen die Tierlein selbst noch bedürfen, aber das vergessen sie uns Menschen nicht so bald, und ihr Zorn trifft oft den Falschen. Jedoch auch nicht zu viel darf man ihnen belassen, sonst werden die Bürschlein träge und lassen sich wohl sein.«
Er lachte laut und andauernd, überwältigt von der Berechtigung seiner angewandten Erkenntnis. Es fiel mir übrigens bei dieser Gelegenheit auf, daß seine Hose zu kurz, aber doch bis auf die Stiefel niedergelassen war. Das verlegte die Rundung ihres Bodens etwas tiefer, als der wohlbestellte Schöpfer dieser Ausbuchtung sich befand, und diese Verschiebung, in Gemeinschaft mit Hollers kleinen, genußsüchtigen Schritten, verlieh seiner bewegten oder ruhenden Erscheinung eine so bedürftige Selbstbeschränkung, daß ich tiefes Mitleid empfunden haben würde, wenn nicht jede Teilnahme, selbst nur dieser Art, durch seine Befriedigtheit am Erbärmlichen verscheucht worden wäre.
Er betrachtete mit schräg gehaltenem Kopf die stattliche Anzahl seiner Kästen, die mit Nummern versehen und alle von einem Format und einer Größe waren. Dabei rieb er mit gebogenem Zeigefinger sacht an seiner äußeren Nasenwand auf und ab, etwa dreißigmal und ziemlich rasch. Nun ja, das wollte nicht vergessen sein, er hatte ja da eine eigene Nase. Endlich öffnete er mit zimperlicher Vorsicht einen Bienenkasten von hinten und ließ mich durch eine kleine Glasscheibe in das Innere des Baus schauen, und während ich allerhand zu hören bekam von köstlichem Süßstoff und munterer Emsigkeit eines braven Völkleins, tat sich meinen Blicken und Gedanken für einen Augenblick das Wunder des Bienenstaats auf, und aus irgendeinem Grunde wurde ich zornig.
Draußen brausten die Sommerstimmen der Bienen im Sonnenschein, durch einen kleinen Spalt zwischen den Kästen sah ich die grüne Landschaft erstrahlen, Schneegipfel der Alpen in freier Ferne und ein Stück des silberblauen Himmels.
»Nicht wahr?« fragte Holler, »nicht wahr?« Ich gab ihm recht in allem, was er hören wollte. Er hantierte an einem Versandkästchen für Honig herum, sich der Nützlichkeit jeden Instruments mit geradezu sträflicher Andacht bewußt. Die Schnüre und Hölzer, die das Blechgefäß schützten, waren mit dem Anstand verwahrt und gefügt, mit dem ein altes Mütterchen seine Häkelarbeit versieht, jede Bewegung, in der er ein Gerät handhabte, schien weich und freundlich zu verkünden: Wie schön ist es doch, daß es unter uns Menschen ein Scherlein gibt, ein Hämmerchen, haltbare Schnur, ein sachgemäßes Knötchen oder auch Schleifchen und endlich eine treffliche Post, zu der ein gesicherter Weg führt und die alles redlich an den Ort seiner Bestimmung besorgt.
Aber wie im Grunde solche Art niedrigen Behagens am äußerlichen Befinden der Dinge nicht allein jämmerlich, sondern auch sinnlos ist, so fand ich überall die peinlichste Genauigkeit neben Unordnung und Vernachlässigung, ängstliche Sauberkeit neben Schmutz und Verwahrlosung, es lag beieinander wie geputzte Handgriffe an schiefen, verfaulten Türen oder wie sein von ihm selbst umschmeichelter Körper in der herabgerutschten Hose.
Er sprach mit der satten Sicherheit eines beschränkten Beherrschers über die Nützlichkeit der Bienen, deren Völker er je nach ihrer Leistung tadelte oder lobte, und plötzlich erkannte ich in ihm den alten Holler von der Gasse wieder. Immer noch sprachen Neid und Zurückgesetztheit aus ihm, so gewichtig er das Gegenteil betonte und hervorhob.
Die Lebensgüter, die er mir einst vor Jahren vorgewiesen und mit Eifer empfohlen hatte, waren nicht weniger gestohlen und rechtlos in seinem Besitz gewesen wie diejenigen, die er heute als sein Eigentum ausgab. Und er empfahl sie mir um so eifriger, je mehr er mich glauben machen wollte, daß er sie wirklich besaß. Bestahl er nicht heute die kleinbürgerliche Gesellschaft, wie er damals die Gasse bestohlen hatte? Er ließ immer noch andere für sich arbeiten und schätzte alle Wesen und Dinge nach ihrer Verwendbarkeit ein. Beherrschte er nicht seine Bienen auf jene gebrechliche Art, die die Freiheit seiner Untertanen verkannte und ihre Leistung für sein Verdienst hielt? Wie einst sein seichter Frevel der Gasse sich an ihm mit der Einbuße seiner Freiheit in Kerkerhaft gerächt hatte, so machte sich heute die frevelhafte Seichtheit seiner Beziehung zu den Erscheinungen seines Lebens in einer erneuten Gefangenschaft bestraft, er blieb im Äußerlichen aller Dinge hängen wie im Spinnennetz ein Insekt, das sich für frei hält, weil es schwebt, und das nur deshalb nicht fällt, weil es hängt.
Es drängte mich fort in stürmischer Übereilung, ich hörte keinen Wunsch und keinen Abschiedsgruß mehr. Der Kies unter meinen Füßen schien zu knirschen wie in gequältem Pflichtbewußtsein, die Gartenpforte klirrte streng und zweckbegrenzt. Aber draußen blies Wind von den Bergen, und das geringste meiner Güter erschien mir in Sinnen und Gemüt wie ein unendlicher Reichtum, ich nannte das Elend mit edlen Namen, und die Schmerzen der Menschen erglänzten mir wie im Tau und Himmelsgold des heraufziehenden Abends.