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Dritter Band.
Narren und Helden


Erstes Kapitel.
Die Stadt am Strom

Wüßte ich doch noch, wie ich damals in die große Stadt gelangt bin und was dem argen Zustand vorangegangen ist, in den ich geriet. Wenn ich nachgrübele, meine Augen und Gedanken von den Bildern des Straßenlebens und vom Grau der Häusermauern zurückschweifen lasse, so rauscht der sommerliche Wald in meiner Erinnerung auf, es muß schon herbstlich gewesen sein, denn der Himmel war tief und blau über schon gelblichen Baumwipfeln. Auch trieben die Bäche welke Blätter, und auf den Feldern blühten die ersten Herbstzeitlosen, das Geschwätz der Stare über sich, die sich für ihre Reise in den Kronen der alleinstehenden Bäume versammelten.

Es tauchten die ersten Anzeichen der Nähe einer großen Stadt auf, die Wälder verarmten und verloren ihre Geheimnisse, die Straßen wurden besser und behaupteten sich zwischen den Feldern, als sei der betretene Boden wichtiger als der fruchtbringende, und nachts hörte man in der Ferne Eisenbahnzüge. Ich kam an einen großen Fluß, den ich begleitete, bis ich eine Brücke erreichte und die Heerstraße fand. Da sah ich auch schon in weiter Ferne den grau-weißlichen Erdschorf der Vorstädte, wie große Flecke eines bröckelnden Aussatzes brach es aus dem Boden hervor, von Dunst überraucht. Die Menschen, denen ich begegnete, grüßten einander nicht mehr, ihre Züge waren von Mühseligkeit und Ablehnung gezeichnet, Mißtrauen und Feindschaft lagerten auf ihren Stirnen. Das sieht niemand, der dauernd unter ihnen weilt, weil sein Wesen die gleichen Male trägt. Ich beschloß umzukehren oder die Stadt zu umgehen, aber der abgetane Sommer hinter mir lockte nicht mehr, und es zog mich mit jenen Mächten in das Gemiedene hinüber, die den Wechsel unserer Zustände zu wollen scheinen und denen wir auch dann gehorsam sind, wenn wir glauben, sie besiegt und überwunden zu haben.

Aber meine Verwundbarkeit und Empfindlichkeit hatten nicht allein darin ihren Grund, daß die großzügigen und barmherzigen Wohltaten der Natur mein Gemüt verwöhnt hatten, sondern ich spürte bald, daß mein Mangel an frohem Wagemut, an glücklicher Lebensneugier und gesunden Widerstandskräften eine andere Ursache haben mußte. Ich merkte es erst recht, als ich, schon in die Vorstädte gelangt, eine alte Frau um Auskunft bat. Ich verstand sie nicht, und mir schien, als schwankte sie hin und her und grinste abscheulich.

»Du bist krank, Bürschchen«, sagte sie. »Geh hin und leg dich nieder. Ich brauch' mein Teil selbst, es ist wenig genug.«

Ich ließ sie vorüber und lehnte mich an eine Hausmauer. Nun ging es mir schon besser. Neben mir war der Eingang zu einem kleinen Krämerladen, bei dem es in der langsam hereinbrechenden Dämmerung lebhaft ein und aus ging. Ich versuchte Charakter und Beruf der Käufer festzustellen, setzte mich auf eine Steinstufe und begann sie zu beobachten. Hier, dachte ich dann, kann ich nicht sitzen bleiben, hier darf ich nicht krank werden, wie peinlich wäre das.

Es kam ein hagerer, ältlicher Mann rasch auf den Laden zu und sprang mit komischer Jugendlichkeit hinein. Er trug einen schwarzen Anzug mit langem Rock, der ihm zu eng war, man sah seine Zugstiefel mit den Ösen, die abstanden wie seine Ohren. Sein runder, steifer Hut saß ihm auf dem Kopf, als sei er dort probeweise abgestellt worden oder wie zum Trocknen. Dieser Hut hatte keinerlei Beziehungen zu seiner Bestimmung, vielleicht war er überhaupt überflüssig – ich beschloß zu fragen.

Als der Mann den Laden wieder verließ und an mir vorüberschritt, redete ich ihn an, viel zu laut, vielleicht, weil ich fürchtete, schwächlich und leise zu sprechen:

»Werter Herr, abgesehen von Ihrem Hut, über den ich jetzt doch nicht sprechen möchte, was ist dies für eine Stadt?«

Der Alte blieb stehen und wandte sich mir mit Zurückhaltung zu, ein wenig verschraubt in der Haltung, geneigt und von oben her betrachtend, wie einer eine Baumwurzel im Wald anschaut, die er für eine Schlange hält. »Eine Stadt ... diese Stadt? Sind Sie närrisch?«

»Nein, ich möchte es nur wissen«, sagte ich.

»Also doch närrisch«, rief er und sprang etwas zurück. Dann suchte er, meinen Gesichtsausdruck zu erkennen, und beruhigte sich etwas, wahrscheinlich weil es schon dunkel war.

»Selbst wenn Sie hier unwissend sein sollten«, meinte er, »so sind doch Sie fremd in der Stadt, keinesfalls aber wissen Sie nicht, in welcher Stadt Sie sich befinden. Wozu also diese Frage, außerdem habe ich Eile, wie Sie sehen.«

»Sie sind Schreiber, nicht wahr?« fragte ich herzlich. »Vielleicht auch Schirmmacher oder Antiquar.«

»Das ist denn doch ...« Der Alte rückte in eine landläufige Straßenhaltung zurück und trat, beschleunigten Schritts, den Heimweg an. Bevor er um eine Straßenecke bog, wandte er sich noch einmal um und drohte mir. Offenbar hatte ich seinen Beruf verfehlt.

Er könnte auch Kirchendiener sein, grübelte ich, daß ich darauf nicht gekommen bin! Man verliert wirklich allen Zusammenhang und jede Sicherheit der Einschätzung, wenn man nicht dauernd unter Menschen lebt. Aber hier kann ich nicht krank werden, es wäre geradezu unanständig. Mir erschien es, als wäre an aller Krankheit das Qualvollste ein Gefühl der Scham, ja, ich schämte mich, nicht gesund zu sein. Ein dunkler Winkel mußte sich doch in einer großen Stadt finden lassen. Ich dachte eine Weile an solchen Winkel und stellte ihn mir vor, überzeugt davon, daß von allen Menschen der Erde auch nicht einer mich dort suchen würde. Doch, dachte ich, der Schutzmann vielleicht, und ich erkannte, daß niemand ein Recht hat, sich für völlig verlassen zu halten.

Eine Frau mit einem Kinderwagen kam vorüber, sah mich sitzen und machte halt:

»Was ist?« fragte sie.

»Abend«, antwortete ich, »es ist Abend, gute Frau. Ein Abend, wie die Stadt ihn bietet, mit Sternen ohne rechten Platz, mit Wind ohne Wohlgerüche, mit Dunkelheit ohne Ruhe. Kennen Sie den Ruf der Eule über dem gelblichen Wiesengrund, aus der Baumgruppe, die schwarz im Himmel steht, das Grillenlied und die Wasserschleier am Schilfufer? Nehmen Sie Platz, ich setze voraus, daß Ihr Kind schläft, so werde ich eine Weile vom Abend sprechen, vom Abend der Erde, und wie Schlaf und Tod in seinem Wesen wohltätig werden, fröhlich, leicht, wie das Lächeln eines Kindes beim verborgenen Spiel.«

»Warum lehnen Sie den Kopf an die Mauer? Sind Sie krank?«

»Nein, nein«, sagte ich rasch und stand auf, »nur müde, ich wollte hier ein wenig schlafen. Aber natürlich«, fuhr ich mit aufmunterndem Grinsen fort, »schlafen kann man auch daheim.«

Die Frau suchte brummend im Kinderwagen, scheinbar geärgert, barsch und verdrossen. Dann reichte sie mir ein großes Stück Brot herüber, ihr Gesicht wurde für einen Augenblick glücklich, deshalb nahm ich das Brot, obgleich es mir an nichts fehlte. Ich hatte bei meinem letzten dörflichen Aufenthalt im Moor Torf gestochen und ein gutes Dutzend Silberstücke in der Tasche, genug, um wochenlang auf meine Art zu leben. Die Frau schritt weiter, ihre nackten Füße staken in hölzernen Pantoffeln, und ihr Rock hing wie ein schmutziger Sack um die Knie.

Ich sah ein, daß es nun Zeit war aufzubrechen. Der Aufbruch ins Leere ist eine tiefe Mühe, die Wahl der Straßen eine Qual. Ich maß mir den Weg von Laterne zu Laterne ab, um ein Ziel zu haben, kaum wertvoller, kaum sinnvoller als das Ziel der meisten Menschen. Es zog mich bald dorthin, wo die Straßenlichter trüber und nur noch vereinzelt brannten, weil dieser sinnlose Weg mit seinen Zielen mir maßlos in den Schläfen zu brennen begann und eine tiefe Wut in mir kochte. Vielleicht ist es Fieber, dachte ich, das ist so eine tiefe heimliche Wut, die erst dann zur Barmherzigkeit wird, wenn wir ihr ganz verfallen sind.

Es war dunkler geworden und die Straßen enger, aber ich mußte tiefer im Herzen der Stadt sein, denn es dröhnte und donnerte in naher Ferne. Irgendwo in erreichbarer Weite, am Ende einer Gasse, sah ich das Glitzern einer belebten Hauptstraße und floh. Du Lichtschimmer, der kein Ausweg ist, mißbrauchte, erkrankte, entzündete Nacht! Eine kleine Quergasse, dunkel wie ein Sarg, sog mich in ihre feuchte Finsternis, ein rotes Lämpchen glomm irgendwo tief oder hoch, möglich, daß diese Straßenhöhle hinauf oder hinab führte. Ich beschloß, eine Weile zu rasten, und drückte mich tief in den Schwellenwinkel einer Tür. Es begann zu regnen.

Nach einer langen Zeit flog ein rotes Licht vor mir auf, so hell und schön, daß es wärmte, und ein Menschenangesicht von großer Güte neigte sich über mich. Eine Hand tastete über meine Stirn; nie, seit meiner Mutter Tagen, ist eine Hand liebevoller gewesen! Ja, auf diese Stimme hatte ich noch gewartet, das war es, worauf ich heimlich gehofft hatte, nun war alles gut für immer.

Ein arges Teufelsspiel meiner kranken Phantasie verdarb mir die Wohltat dieses Augenblicks, es klangen aus dem Argen her Stimmen in mein Glück hinein und suchten es zu zerstören.

»Das Luder krepiert. Laß sein, komm weiter.«

»Vielleicht hat er Geld, sieh nach.«

»So adrette Fressen drücken sich erst in den Rinnstein, wenn der letzte Groschen zum Teufel ist. Brot hat er im Rock.«

Die Stimmen waren ein furchtbarer Wechsel von Nacht und Tag, von Wohltat und Entsetzen, die eine riß mich in düstere Abgründe des Verderbens nieder, die andere gaukelte mir Errettung und Leben vor, Befreiung und stille Gegend. Der Unterschied lag nur im Klang, alle Worte waren böse und roh.

Nun brach der Himmel über mir auf:

»Soll der arme Hund hier verrecken? Gib die Flasche.«

»Leer. Komm weiter.«

Es wurde tierische Nacht nach diesen drei Worten, Fratzengewölk brüllte mich an, Abgründe, wie schwarze Wasserfälle, rissen mich mit sich nieder. Aber unten, tief am kreisenden Grund, schimmerte wieder Licht:

»Dann geh allein. Ich bring ihn hinauf. Zwei Häuser weit und ein paar Treppen hoch, soviel ist ein Mensch wert.«

»Nicht halb soviel.«

»Faß an, was liegt daran. Wie willst du wissen, wozu es gut sein kann.«

»Weil es ein Mannsbild ist! Wär' es ein Weib, du wärst längst davon.«

»Gut für dich, daß du kein Weib warst, als ich dich fand. Sei so anständig, wie du es immer bist, wenn man deine Gemeinheit anbetet. Warte.«

Wieder flammte es rot vor mir auf, ich sah nichts als guten Feuerschein, wohltätig, wie eine Decke bei Frost. Dann ging ich dahin, ohne meine Füße am Boden zu spüren, ich schaukelte voran, den Kopf bald zur Rechten, bald zur Linken auf einer fremden Schulter. Ein Schlüssel klirrte im Schloß. Der Kellergeruch eines Hausflurs umfing mich und es war still in der Luft. Nun kamen Stufen, Winkel und Wendungen und hier und da träge und schwer ein Aufenthalt an der kalten Fliese einer Mauer. Die tragenden und stützenden Kräfte aber waren sonderbar geschickt und voll seltsamen Takts der Berührung. Ein unterdrücktes Lachen, vermischt mit einem Ächzen der Anstrengung, machte alles plötzlich schicksalslos und leichtfertig. Nichts war ja im Grunde arg bei diesem Erlebnis, alles war ein wirrer Menschenscherz in der irdischen Nacht der großen Stadt am Strom, in die ich geraten war. Ich versuchte mich zu erklären, dies alles gefällig darzutun. Nur keine Feierlichkeit, dachte ich, ich muß mein Wesen ändern.

»Halt das Maul«, sagte eine liebe Stimme an meinem Ohr, »warte, bis wir oben sind.«

»Die Vorschrift kenn' ich«, fiel die rauhe Stimme ein, und es erklang wieder unterdrücktes Lachen in der Dunkelheit.

Wir stiegen ein Jahr, zwei Jahre, dann entstand unter sonderbaren Raumgeräuschen ein mattes, gleichmäßiges Licht, in dem ich verschwand.

 

Nebenan wurde eine Flasche entkorkt, und ein mächtiges Gelächter fiel mich heiser rasselnd an. Es dröhnte in dem dreiseitigen Lichtrahmen nach, in dem ich schwebte und Schmerzen empfand. Einer der Lichtränder war breiter als die anderen und floß sonderbar in den Bildraum von Finsternis. In seiner Lichtbahn sah ich neben mir ein Bierglas mit Milch stehen, Brot und ein Stück Wurst lagen daneben und bildeten miteinander eine lächerliche Welt. Ich begann wie im Traum den Raum abzutasten, meine rechte Hand stieß sofort an die Decke und konnte sich nicht erheben, die linke fand erst Widerstand, wenn ich sie ganz emporreckte, die schwach angelehnte Tür in ihren Lichträndern vermochte ich zu erreichen. Grade über meiner Stirn war ein kleines Lichtrechteck, so groß wie ein Buch, das silbrig und matt schimmerte, gleißend, wie vom Mond beleuchtetes Wasser. Dies Himmelchen kannte ich schon, aber aus uralter Erinnerung her, früher war es grell und blendend gewesen, hatte gesaugt und gestochen; wann mochte das gewesen sein? Vielleicht gestern.

An der Tür hingen, ein dunkles Bündel, Kleider übereinander, die sich weich anfühlten und stark dufteten. Ich schloß die Augen, und es wurden Blumen daraus, so daß ich mich wieder zurechtfand und erleichtert atmete. Darüber war die Welt still geworden, es war jenes seltsame Etwas geschehen, nach dem es nebenan immer still wurde. Dies Etwas mußte eine schreckliche Marter sein, wie doch die Menschen seufzen mußten, bevor ihnen Ruhe zuteil ward. Mein Herz war voll froher Erwartung, denn nun würden die drei Lichtlinien bald zu einem großen, erleuchteten Abgrund zusammenstürzen, er begann von rechts, und alles war mit Licht und Hoffnung überflutet. Da stand wieder die Gestalt im Rahmen, niemand sollte versuchen mich zu täuschen, es konnte nur meine Mutter sein. Zuerst erschien sie in einer matt durchleuchteten Rauchwolke, die das Atmen erschwerte, dann klirrte es sanft im Nebenraum, und auf meine Stirn fiel kühle Luft.

Wie befangen doch meine Mutter geworden war, sie hatte eine Berechtigung verloren, ihr gutes, derbes Zugreifen. Man hätte in Zorn darüber geraten können, wie oft sie fragte. Fragte denn eine Mutter? Es ist wahr, ich bin lange fort gewesen, und vielleicht haben deine guten Hände, die ihre Bahnen, Griffe und ihren tragenden Druck wie aus einem Urwissen her vollbrachten, nun den Zusammenhang verloren und finden nach der langen Trennung den rechten Halt an mir nicht mehr. Die bergende Brust ist versiegt. Nun hängen die Hände auf deinen Schoß nieder, oder sie öffnen sich mit einer fragenden Gebärde gegen den weiterstürzenden Weltgang. Vielleicht ist dort noch ein Tuch zu glätten, dort noch ein Blumenstand zu ordnen oder ein guter Stuhl vor Sonne zu schützen – ach Gott, wo ist mein lieber Sohn?

Ja, ich verstehe dich, und nicht nur deshalb, weil du mir wohltust. Aber weshalb stellst du so sonderbare Fragen? Auch ist die Vaterstimme, die häufig in deiner Nähe erschallt, eine schmerzliche Störung für uns. Aber du wirst schon wissen, woran du mit ihm bist, und läßt mich allein, noch eh' ich recht geborgen bin. Ich muß wieder fort, aber bald werde ich dir auf alles antworten.

Wie kann denn ein Vater ein Hindernis sein, wenn ich mein Gesicht in deine stützende Hand berge oder für einen Augenblick an deiner Schulter ruhe, im guten Duft deines warmen Leibes? Weiß er denn nicht, daß es keinen anderen Halt in der Welt gibt, nur diese Schulter und die Genesung, die dein Körper weht? Du hast meine schwachen Hände einst zärtlich geküßt, ist das nicht ein Zeichen? Ja, nun verstehe ich endlich deine Worte, aber weshalb beginnst du deine Sätze immer in der Mitte?

»... und viele Namen hast du mir gegeben. Bald nanntest du mich Asja, dann Teja oder Kaja, aber am häufigsten sagtest du Mutter zu mir.«

»Ich weiß nicht, wer du bist und wie ich zu dir gekommen bin«, antwortete ich dem Mädchen an meinem Lager, das mich fragte.

»Bleib liegen, du würdest deinen Kopf stoßen. Wir haben dich auf der Straße gefunden, Jannot und ich.«

»Ist Jannot der Vater?«

»Das fehlte ihm noch! Was für ein Vater denn? Nein, sei ohne Sorge, er kommt nicht mehr so bald. Sie haben ihn aufgegriffen und trocken gesetzt, das ist für den Winter kein Unglück und dauert nicht lange. Drei Monate. Er hat Glück gehabt, wie immer. Verzeih schon, daß ich nicht bei Toilette bin, aber wir wohnen hier gut, weil der große Kamin durch die Wand geht, da ist es so warm bei mir wie unten in den Küchen. Hast du Hunger? Ja, ja, Jannot ist ein wilder Bursche, aber er hat Schneid und kann wandern. Wer ihn kennt, kann sich auf ihn verlassen.«

»Wer bist du?«

»Daß sie ihn erwischt haben, ist nur durch die Schuld der anderen gekommen. Schuld? Was sag' ich denn! Sie würden sich hüten; aber durch ihre Dummheit. Und dann der Seidenrock mit dem Gesicht wie Milch der Madonna. Wie blöde diese vornehmen Weiber sind, kann unsereins unmöglich ahnen. Bleib doch liegen. Zum Tanzen ist hier kein Platz, kaum, daß es zu besseren Bewegungen ausreicht. Später will ich dir die Geschichte von Jannot erzählen, du wirst bald gesund sein.«

Ich sank wieder in die Welt des halben Daseins zurück, es flimmerte mir gläsern auf die Augenlider, aber ich hatte Furcht, meine Augen zu schließen. Mir war, als sollte ich nur eben noch rasch alles erfahren, es war wenig und in einem großen einzigen Lebenssatz zu sagen, aber es waren zuviel kleine Geister am Wort. Nebenan, in der hellen, bedrängenden Welt, entkleidete sich ein Mädchen, ernst und großartig, als beginge sie den Opferakt, der die Welt erlöst. Ich konnte die Tür zur Welt nicht schließen und auch die Augen nicht, so daß die nackte Gestalt durch eine furchtbare Offenheit tief in die Täler meiner Bewußtheit schritt, um in meinen Traum zu gleiten.

Es begab sich vielerlei, aber ich vermochte es oft nur in beziehungslosen Einzelheiten zu erkennen und wußte nicht wann noch wo. Das Schwierigste war, die Abstände zu ermessen, in denen die Ereignisse voneinander lagen, auch fanden sie in verschiedenen Schichten des Weltraums statt, und ich hatte viel Mühe damit, die tatsächlichen Geschehnisse von denen zu unterscheiden, die sich in einer tieferen Wirklichkeit abspielten. Eines Tages finde ich die feste Grenzlinie wieder, dachte ich oft, das Bewußtseinsgleichgewicht, jenen Schwerpunkt, von welchem aus sich scheiden läßt, was Traum und Wirklichkeit ist. Aber irgendwie verwarf ich diesen Wunsch, als sei der erhoffte Zustand farblos und nüchtern. Wie war es doch, was mir geschehen war, und womit die neue Welt immer wieder begann, sobald erneut Bilder und Gestalten vor meine inneren Augen traten? Ein Bursche und ein Mädchen hatten mich aufgenommen, ich lag in einem Verschlag ihrer Kammer. Ihn hatte ich niemals mit Bewußtsein gesehen, nur als wirkende Gegenwart empfunden, und sie, die Els von mir genannt sein wollte, hatte mir erzählt, er sei im Gefängnis. Hatte er denn sie bestohlen? Nein, es mußte sich um eine Dritte handeln, um irgendein Mädchen anderer, besserer Gesellschaft, die ihn geliebt und die er beraubt hatte. Und Els schien ihm beides zu vergeben, verstand es, lächelte ausgleichend, wenn sie davon sprach, und seltsam überlegen. Meine ungeduldige und erwartungsvolle Seele bedrängte die erzwungene Geduld meines Körpers, aber Schlaf und Traum halfen ihr.

Nun nahm ich den Fuß und stieß, vorsichtig unter der Decke hervor, die Tür auf, die nur angelehnt stand. Im Nebenraum war blaues Morgenlicht, und in einem Sessel, der durch einen Stuhl verlängert worden war, schlief das Mädchen, von dem ich aus irgendeiner Erfahrung her wußte, daß es Els hieß. Vielleicht hatte sie selbst es mir gesagt, als ich es nicht mit Bewußtsein aufnehmen konnte, vielleicht hatte ich den Namen geträumt oder ausgedacht.

Ihr blonder Kopf lag schräg an der hohen Lehne, und das Morgenlicht fiel auf die geschlossenen Augen. Neben ihr auf dem Tisch tickte eine kleine blecherne Weckuhr, eine fast geleerte Flasche ohne Kork stand daneben und eine Kerze in einem Blechbecher. Ich fühlte mich wohl und leicht und beschloß sogleich, mich zu erheben, denn mir kam zum Bewußtsein, daß ich das Bett innehatte, vielleicht schlief Els schon die zweite Nacht in dieser unbequemen Lage, oder wieviel Nächte waren es gewesen? Ich werde das Bett mit ihrem Lehnstuhl vertauschen, ich will in diesem blauen Morgenlicht ruhen, dachte ich. Das Zimmer schaukelte heftig, als ich es nun betrat, es mußte ein altes, gebrechliches Haus sein, in dem wir wohnten, ich stützte es ein wenig am Türrahmen. Da sah ich, daß ein breites, unbenutztes Ruhebett im Zimmer stand, dicht neben dem herdartigen Ofen. Es war kühl im Raum und roch nach Wein und Rauch, draußen sah ich Dächer und einen schmalen rötlichen Lichtstreif, der sich in den Schrägungen spiegelte.

Ich bemerkte nun, daß ich es war, der schwankte, und griff nach der Flasche. Els schlief fest. Ihr Gesicht erschien mir so schön und glücklich, daß ich innehielt, bevor ich trank, und diese Züge betrachten mußte. Dann nahm ich einen festen Schluck, der mich ganz und gar mit Feuer anfüllte, so daß ich die Flasche unvorsichtig und mit einem lauten Knall auf den Tisch sinken ließ. Nun sahen mich zwei große, lebendige Augen an, o Gott, wie schön das war. Ich lächelte glücklich, würgte und taumelte.

Els stand nun so ruhig auf, als habe sie nicht geschlafen, sondern als wäre sie Schritt für Schritt meine Begleiterin gewesen. Sie sah auf die Flasche und legte dann ihren Arm um mich und führte mich auf mein Bett zurück. Dabei erwiderte sie mein Lächeln freundlich, als wäre zu dieser Stunde nichts in der Welt notwendig als dieses stützende Lächeln.

»So geht es nicht mit dir«, sagte sie. »Nun sieh doch, da bin ich auf dem Sessel eingeschlafen. Hast du Durst?«

Ich schüttelte den Kopf, weil ich nicht sprechen konnte, dieses Getränk war von äußerst gewalttätiger Kraft.

Endlich gelang es mir:

»Du frierst auf dem Stuhl. Nimm mein Bett.«

»Gut«, sagte sie, »es ist ja breit, aber nun schlaf auch du, es ist noch nicht Tag, und ich bin schrecklich müde.«

Sie legte sich neben mich, ohne mehr als ein Rändlein Platz zu beanspruchen, zog die Decke über uns beide und schlief sofort tief und fest ein.

Hat mich schon etwas so froh gemacht wie dieses Tun? Ich konnte nicht schlafen vor Glück und begriff nicht, woher es kam. Alles, alles vorher hab' ich zu schwer genommen, dachte ich. Ist nicht immer Tag geworden wie heute, haben die Müden nicht geschlafen und die Wachen und Munteren gewirkt? Gab es nicht Lager in der Welt, Raum, Licht und Menschen? Wir sind nicht am Anfang und sind nicht am Ende, mitten im Planetenlauf dieses Menschensterns ging uns das Licht auf. Darüber war mir, als müßte ich weiterleben, aufstehen und wirken mit neuer Kraft und gehobenem Glauben. Ich fuhr mit der Hand sacht über die blonde Haarwelle, die schwer auf dem Kissen ruhte, legte meine Stirn darauf und dankte Gott, dem Vater.

 

Am Morgen war Els schon angezogen, als ich erwachte, sie schien im Begriff fortzugehen, blieb aber, als sie erkannte, daß ich bei guten Sinnen war, brachte mir Tee und Brot und setzte sich, halb in der Tür, an mein Lager.

»Ich habe noch Zeit«, kam sie meiner Besorgnis zuvor, mir schien aber doch, sie bliebe gegen ihre ursprüngliche Absicht und nur mir zulieb. Ich sah ihren Kopf gegen das helle Fenster des Nebenraums, sie saß am Eingang in die Welt, die ich fast vergessen hatte, aber ihre Gegenwart machte mich so froh, als sei sie alles, was ich in dieser Welt gesucht hatte, und ich mühte mich, ihre Gestalt und ihr Wesen mit Augen und allen Sinnen zu ermessen.

Dann fragte ich nach ihrem Gefährten, dessen lange Abwesenheit ich geträumt oder empfunden hatte.

»Es ist so still geworden bei euch«, sagte ich.

Ihre Stirn, im Rahmen des von hinten erleuchteten blonden Haars, senkte sich, ich erkannte den Ausdruck ihres Gesichts nur undeutlich:

»Jannot ist im Gefängnis, ich habe dir doch erzählt, wie es gekommen ist.«

Ich wußte nichts mehr deutlich. »Kann ich denn hier noch bleiben?«

»Schuld ist diese – Clio ... nicht einmal ihren ganzen Namen weiß ich. Sie wird sich Jannot in den Weg gestellt haben, wie es gewöhnlich ist, und er ist kein Joseph, mußt du wissen, auch leben wir ja hier nicht in Ägypten. Das Armband, das er mitgenommen hat, wird das Beste an ihr gewesen sein. Sie vermißt es und erzählt es ahnungslos ihrer Mutter, nachdem sie drei Tage vorher zu Jannot gesagt hat, daß alles, was ihr gehöre, auch sein Eigentum sei. Die Mutter hat das Zimmermädchen im Verdacht und erstattet Anzeige, ihre Tochter hat ihr natürlich von Jannots Besuchen nichts erzählt, wo findest du denn, daß Mutter und Tochter in Liebesdingen gegeneinander offen sind, also konnte für sie kein anderer als das Mädchen als Dieb in Frage kommen. Nun, das Zimmermädchen läßt sich solche Beschuldigung nicht gefallen und berichtet der Mutter, daß Jannot heimlich tägliche und nächtliche Besuche bei ihrer Tochter gemacht hat, das verstehe ich, man läßt sich nicht hängen, um andern ihre Schäferstündchen zu verschönern. Sie behauptet, er habe das Armband gestohlen. Da das Mädchen ihre Angaben auch vor dem Untersuchungsrichter wiederholt, wird Jannot verhaftet. Die Mutter sieht nur noch Nebel und hält das Mädchen für eine Lügnerin, wie käme sie auch dazu, bei ihrer Tochter etwas Natürliches vorauszusetzen. Die Gerichtsverhandlung war unglaublich, ich sitze auf der Galerie ... Die Mutter fällt von einer Ohnmacht in die andre, so daß die Gerichtsdiener nicht aus dem Wassertragen herauskommen. Die bestohlene Geliebte behauptet plötzlich heldenhaft, Jannot das Armband geschenkt zu haben, sie wollte ihn retten, und als der Richter sie fragt, inwiefern sie es dann vermißt haben könnte, legt sie sich still neben ihre Mutter, und beide bekommen Kompressen. Jannot, der Teufel, muß einfach lachen. Nun ruht er sich eine Weile aus. Vermißt du ihn?«

Els sprach gezwungen, unsicher und gequält heiter.

»Nein«, antwortete ich betroffen, »ich kenn' ihn ja nicht.«

»Er ist mein Freund«, sagte Els.

»Auch jetzt noch?« fragte ich gedankenlos.

Els erhob sich und lächelte.

»Ich bin am Mittag zurück«, sagte sie. »Du wirst alles finden, was du brauchst, und was fehlt, bringe ich dir mit.«

Als sie gegangen war, dachte ich: Hätte ich doch diese Frage nicht gestellt. Aber die undeutliche Erzählung dieser Vorgänge erregte und verwirrte mich. Ihr Wohltäter und Diebe, dachte ich, und suchte Entschlüsse zu fassen, aber meine Müdigkeit und Schwäche überwältigten mich, und der Sonnenschein vom Fenster her fiel mir wie gewaltiger Lärm in die schwachen Sinne.

Nun schien die Nachmittagssonne milde über die Dächer, durch schimmernden Dunst in den Fensterwinkel, das war manchen Tag später. Ich saß dicht an der Scheibe in Els' Sessel und versuchte die Hände, aus der Decke hervor, in dem Goldlicht zu wärmen, das zu uns hereinsank, aber es war kalt und winterlich. Das Dächermeer draußen, grau und rötlich, erschien mir freundlich, wie auch die Weite des Horizonts, aus der geheimnisvoll Giebel dämmerten. Ich fühlte mich geborgen und durch mein Leben beglückt, kein arger Gedanke aus der Vergangenheit oder an die Zukunft gewann Raum oder Bedeutung in mir, die Seele begleitete den auftauchenden und hinanstrebenden Körper auf dem langsamen und ungewissen Weg der Genesung.

Els saß halb bekleidet und mit offenem Haar auf einer niedrigen Bank und arbeitete mit ungeschickter Geschäftigkeit an einem Kinderröckchen, dessen Stoff sie aus einem Tuchkleid geschnitten hatte, wie man Anzeigen aus einer Zeitung schneidet. Die Fetzen lagen am Boden umher, Garn und Nadel hatten in dem Deckel ihrer Schminkedose Platz gefunden, sie bediente sich einer Nagelschere. Im Ofen, der zugleich Herd war, regte sich hörbar und sichtbar das Feuer; das lange Rohr, schräg und verbeult, erinnerte mich an einen verkannten Propheten, ich wußte aber nicht mehr, wo ich ihm schon begegnet war. Wie sich mir denn überhaupt die Dinge des Daseins sonderbar beziehungsvoll und in vereinsamter Eigenvernunft darboten, sie wußten und wollten mehr als ich und redeten zu mir über ihre Absichten.

Ich sah auf Els nieder und fand sie schön, wie sehr doch ihre Schönheit in den Farben lag. In der Farbe der Haut und des Haars, der Lippen und Augen. Eine Farbe fehlte, denn sie saß ruhig da, das war das Weiß ihrer Zähne. Wenn sie mich ansah, zitterte ich vor Freude, so lebendig waren ihre braunen Augen, sie strahlten vor Wohlstand, als wären sie voller Keime und Gold. Wenn ihre Hände sich bewegten, eilte meine Erwartung mit, erregt vor Neugier, glücklich in der Gnade des Schauens und von Dankbarkeit erfüllt, weil ein Mensch in meiner Nähe war, der hatte und konnte, was Menschen zu warmen, gesunden Geschöpfen macht.

Wie alles Wohlgeschickte, machte ihr Wesen mich unfähig, über mich selbst zu sprechen, ich mußte sie betrachten. So war kein rechtes Gesprächsthema zwischen uns, wenn nicht ihre Angelegenheiten, aber gern sprach sie nur über Jannot, jedoch nie gefiel sie mir besser als dann. Zuweilen sah sie zu mir auf, ihr schneiderliches Ungeschick schien sie zu verstimmen, und ich mußte es ausbaden.

»Du bist ein rechter Gaukelfritze«, sagte sie, »nicht dies, nicht das, grinst und zerflatterst. Was hab' ich mir da aufgeladen.«

Ihr Ton war mütterlich und ihre Augen erstaunt.

»Was bist du denn? Wer lebt so?« fuhr sie fort.

»Was ist denn Jannot, dein Schatz, von dem du immer sprichst?«

»Da sieh dich vor!«

»Ich habe nichts zu verlieren.«

»So spürst du, daß er gewinnt!«

»Du siehst die Welt mit seinen Augen!«

»Weit gefehlt«, lachte sie, »ich sehe mit meinen Augen ihn. Wenn du also gesund bist, wo gehst du dann hin?«

»Ich werde heiraten«, sagte ich, »eine Familie gründen, das ist man dem Staat schuldig.«

»Warte noch«, riet sie freundlich.

Sie stach sich in den Finger und fluchte gassenerschütternd. Den Finger im Mund, stieß sie die niedergefallene Arbeit mit dem Fuß in die Ecke.

Ich tröstete sie:

»Auch ein Finger muß eines Tages seine Unschuld verlieren.«

»Du bist ja doch ein anständiger Kerl«, sagte sie verwundert.

»Wie's kommt, Els. Dir bin ich dankbar. Um dir gut zu sein, könnte ich schlecht werden.«

»Braucht's denn das?« fragte sie ohne Groll. »Ich versteh' dich nicht. Du sprichst so sonderbar aus dem Hinterhalt, warum bist du nicht offen und einfach.«

»Wir schämen uns alle, das ist es, Els.«

»Wozu denn, vor wem?«

»Vor Gott, Els.«

»Wie du sprichst! Ganz erschrocken wird man, und du sagst Gott und hast die Augen ernst.«

»Der Gott, den man uns lehrt, will uns nur zur Hälfte«, sagte ich mehr vor mich hin, »deshalb schämen wir uns vor ihm, wenn wir ganz sein möchten.«

»Du bist wohl ein Gottsucher«, sagte sie neugierig und lächelte verlegen über die Wahl ihres Worts, »geh zur Heilsarmee, da ist alles deutlich, mit Musik. Muck ist zur Heilsarmee gekommen, als sie aus dem Hospital entlassen wurde. Muck war reizend, Jannot sagte zu ihr ›Glassplitterchen‹. So war sie, frech und süß und spitz, sie hatte keinen Tau in den Blicken und konnte nicht fröhlich sein.«

»Wie meinst du das?«

»Das versteht er nicht! Du hättest dabeisein sollen, als Muck uns dann besuchte. Jannot war da, sie hatte ihre heilige Tracht an und Drucksachen im Arm und wollte uns das Heil bringen. Nun, Jannot sagte: ›Gib her, Glassplitterchen, einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.‹ Du mußt ihn kennen, hart und nebenbei, ganz einfach sagt er solche Dinge, den Mund wie bei einem Begräbnis, ganz bitterlich, und seine Augen ziehen ihr heiter das Röckchen aus. Nun, ein Röckchen war es gerade nicht, sie stand hinten mit den Absätzen darauf, und auch vorn war abgesperrt: ›Wer weitergeht, wird erschossen.‹ Jannot schaut sie ruhig an und läßt sie reden. Ach, wie tapfer Glassplitterchen war, ich hätte heulen können, steht wie am Marterpfahl, die Lippen zittern ihr, die Worte kommen zuletzt ganz verwelkt, und mit den Händen drückt sie Luft. Jannot rührt sich nicht, du weißt nicht, was in ihm geschieht. Weiß er es denn? Endlich winkt er schlicht mit der Hand, nur mit dem Finger, und nimmt sie aufs Knie, damit sie nicht umsinkt, dann hebt er ihr die Schleifenhaube ab, macht die Stirn frei und küßt sie aufs Maul, ganz brüderlich. Glassplitterchen bebt schrecklich, und man sieht, sie betet auf Teufel komm raus. Endlich kreischt sie:

›Satan, hebe dich weg von mir!‹

›Gleich‹, sagt Jannot, ›wir müssen erst wissen, wo er steckt. Gib mal den Zettel da.‹

Die lagen schon auf der Erde. Muck kann nicht, so gebe ich denn ein Blatt, und Jannot fängt an zu lesen, damit Muck sich beruhigen kann, sie war so weiß wie das Papier, das Jannot hielt. Er liest eine Weile, und Muck bebt in seinem Arm so stark, daß auch das Papier zittert. Ich sah von hinten Bilder und las auf der anderen Seite, man wollte doch Glassplitterchen nicht quälen.

›Bist du denn froh bei denen da?‹ fragt Jannot nach einer Weile ohne Spott, damit die Antwort nicht falsch wird. Sein Gesicht ist leer und ruhig, man kann eintreten und atmen. Glassplitterchen nickt und kann endlich weinen, du mußt wissen, wie sehr sie ihn liebt. Sie stottert: ›Komm mit zu uns, Jannot!‹ Da wird ihm die Stirn dunkel, und er fragt: ›Hab' ich dich gebeten hierzubleiben?‹ Ich dachte schon, er sei zornig und wird sie schlagen, aber er blickt gut und streichelt ihr den Kopf. Das kannst du nicht, du weißt nicht, wie seine Hand arm und glücklich macht, fühlst nur noch den Körper und schmiegst dich einfach an, die Augen zu. Aber er hebt sie weg und sagt:

›Lauf Muck, sei glücklich.‹

Bis dahin war's recht, aber als er sich nun abwandte, schon nicht mehr den Sinn bei ihr, und gehn will, da packt es sie schrecklich, sie stürzt hin und schreit laut heraus, zerbeißt ihre Lippen, daß Blut fließt, und sucht mit beiden Armen und Händen am Boden seine Füße. So ein Theater hat man ihr beigebracht! Aber nun packt es auch mich, denn ich seh', daß es ihr ernst ist und wie ihr die Knie gehn.

›Aas‹, schrei' ich Jannot an, ›hilf ihr doch, sei anständig!‹ Aber er wollte nicht, sondern ging fort. So mußte ich denn Glassplitterchen aufheben, ich wusch ihr den Mund, und sie schlief bei mir ein. Als sie am Abend aufwachte, ging sie still fort, nachdem sie meine Hand geküßt hatte, das war mir peinlich.«

 

Oft war ich den ganzen Tag allein, denn ich war noch zu schwach, um das Haus zu verlassen, es war still geworden in unserer Dachkammer, seit Jannot im Gefängnis saß. Els kam oft erst spät gegen Abend, und die Stunden hindurch, in denen ich auf sie wartete, fühlte ich, wie tief von Herzen ich ihr verbunden war, sie war der Mensch dieser meiner Lebenszeit, Wärme und Gegenwart. Was sonst noch zu ihr kam, wurde von ihr nicht sonderlich ernst genommen, am wenigsten die Männer, Jannots Freunde oder Bekannte, die bald ganz ausblieben. Ich hörte und sah wohl, daß sie sich zu Anfang um ihre Gunst bemühten, aber ich fühlte die ganze Aussichtslosigkeit solcher Hoffnungen, noch ehe die ohne jeden Aufwand wirkende Überlegenheit dieses Mädchens sie mir durch ihre Ablehnung bestätigte. Ihre Abwehr bestand in einem Erstaunen ohne Spott oder erkennbare Verneinung, ich habe niemals in meinem Leben wieder ein Mädchen gesehen, das seine Macht in so natürlicher Freiheit gebrauchte, und doch wäre sie sicherlich verwundert gewesen, wenn man ihr von dieser Macht gesprochen hätte.

Es wurde mir lange Zeit hindurch schwer, sie einzureihen, bis ich gewahr wurde, daß mein Fehler darin bestand, daß ich es überhaupt versuchte. Auch heute noch mißfällt es mir, meine Gedanken anders zu ihr zurückzusenden als dankbar. Die hohe Erfahrung, die ich durch ihr Dasein gemacht habe, ist zur Grundlage meiner Achtung vor der Natur des Weibes geworden, und zwischen Seide und Sitte, Gunst und Erleiden, Bildung und Roheit suche ich nach den Merkmalen ihrer Natur, um mein Gemüt zu beruhigen.

Die Enttäuschung, die ich ihr durch meine Jugend bereiten mußte, durch meinen Unverstand und durch manch törichtes Wort einer vorschnellen Einschätzung, rechne ich mir zur Schuld meines Lebens an, zu einer Schuld, die ich nicht anders abzutragen vermag als durch meinen nie ruhenden Haß gegen die Halbheit, Unechtheit und Verdorbenheit jener hochmütigen Frauensittlichkeit unserer Tage, die Anstand des Verhaltens für Anmut des Herzens hält, Unantastbarkeit für Tugend erklärt und die eine lüsterne Enthaltsamkeit höher einschätzt als eine haltlose Lust.

Am meisten aber beglückte mich ihr Plaudern, und ich fragte sie oft. Es brach ihr wie glitzernde Quellen aus der Seele, rascher oft, als ihre Worte zu folgen vermochten, und vieles verstand ich oft besser durch das, was sie andeutungsreich verschwieg, oder auch durch ihre Gebärden daß es in der ganzen Welt keinen Widerspruch gegen ihre Auffassung zu geben schien, und oft formte sie mit der Hand, die den Ausdruck ihres Gesichts ergänzte, ein Ungewitter von Einsicht, Spott, Enttäuschung oder Gewißheit vor mich hin. Dabei war ihr Urteil von erfahrungsloser Ursicherheit der Klarheit. Was aber allem, was sie tat oder sagte, Glanz und Wärme verlieh, das war die Güte ihres Herzens. Sie übersah die halbe Welt und oft das Wichtigste, aber nie einen selbst noch so schwachen Widerschein echten Gefühls.

Meistens sprach sie über Jannot, dessen Bild mir stark und ungenau aus ihren spärlichen und immer ein wenig hochmütigen Bezeichnungen herauswuchs. Sie beschrieb ihn mir nie, und ich mußte mir sein Bild aus den Wirkungen seiner Person zusammenstellen, von denen ich hörte. Aber ich erfuhr von seinen Kräften nicht als von erschütternden Besonderheiten, sondern als von Voraussetzungen, und gewann lange keine Sicherheit über seinen Charakter, noch weniger jedoch über seine Beschäftigung oder über seinen Beruf. Els wich zu Anfang meinen Fragen aus, lächelte erwägend und etwas mitleidig, wenn ich forschte, und eilte ihrem heimlichen Wissen meist in nachdenklichem Schweigen nach. Ich liebte ihr Lächeln sehr, wenn sie so, halb zweiflerisch, halb stolz, ihre Gedanken von mir abwandte und meine Frage nur sich selbst beantwortete. Immer mußte die letzte Antwort, die sie sich verstohlen selbst gab, zuversichtlich und beruhigend sein, denn sie wandte sich mir endlich wieder zu, wie nach einem verborgenen Sieg. Die Geschichte seines Mißgeschicks, aus der sie mir am ersten Tage meiner erneuten Aufnahmefähigkeit Andeutungen gemacht hatte, erfuhr ich später ganz und nicht nur aus ihrem Munde, ich hatte damals längst aufgehört, über Els' Stellung zu Jannot zu lächeln, und ihren abschweifenden Gedanken, wenn sein Name fiel, folgte ich mit Verzagtheit und heimlichem Grauen, wie man jemandem im Dunkeln nachgeht.

Eines Abends, als sie ziemlich spät heimkam und ich noch am Fenster bei einer Kerze im alten Sessel wachte, weil ich das Liegen nicht mehr ertrug, war sie still und nachdenklich. Auf meine Fragen antwortete sie einsilbig und sah mich mißtrauisch an, als sei ich eines rechten Vertrauens nicht würdig. Aber ich bemerkte, daß sie voller Unruhe und Ungenügen war und keine rechte Lust zum Schlafen hatte. So wartete ich, da ich ihr inneres Leben kannte und wußte, daß sie lieber sprach, wenn sie nicht dazu gedrängt wurde. Sie ging ziellos im Raum umher, und ihre kleinen Beschäftigungen hatten keinen Sinn, zuletzt war es, als schritte sie, abwesend und ihrer selbst nicht bewußt, um das Licht der Kerze herum, das die Kammer spärlich erhellte. Nun hockte sie auf der Bank im Halbdunkel nieder und schaute mit großen, hellen Augen in das Licht.

Spräche sie doch über sich, dachte ich.

»Jetzt sind es noch fast zwei Monate«, sagte sie endlich.

Sie sprach von Jannot. »Vielleicht gesteht man ihm eine Bewährungsfrist zu«, fuhr sie fort, »es ist das erste Mal, daß ihn solch ein Mißstand betrifft, aber ihn macht es nur härter. Auch denen, die der Teufel liebt, dienen alle Dinge zum besten.«

»Liebt ihn der Teufel?« fragte ich.

»Dein Teufel nicht«, warf sie hin. »Heute nacht ist mir Rasso im Geist begegnet, der Knabe, und nun muß ich an ihn denken. Damals ging die Tür auf, und er stand vor mir, schön, ach so schön!«

»Wer war Rasso?« fragte ich.

Sie schwieg und sah die Flamme an. Dann blies sie leicht hinein und folgte mit wachen Augen dem Flattern des schmalen Feuers.

»Wer Rasso war? Wie soll ich ihn dir schildern? Schon wenn ich spreche, verdirbt sein Bild mir, in meinem Schweigen allein lebt er, ist schön und gegenwärtig. Aber man sagt es schließlich doch, halb vom Hang nach Gemeinschaft getrieben, halb verräterisch. Es war ein kleiner Jungsiegfried, ein Page wie von alters her, verstehst du? Das unglaublich dichte Haar um den schmalen Kopf wie eine kupferne Kappe, die Augen blau im reinen Wangenbett, dunkel wie Steine im Alabaster, der kühne, schüchterne Mund wie eine warme Altstimme, die ihre Lebensform für immer gefunden hat. Er war kühl und heilig, ja ehrfurchtgebietend, du sahst ihn an und erbebtest, und dein armes Dasein war dir wie ein welkes Blatt. Oder du erinnertest dich plötzlich an ein Gebet. Ich kann es nicht schildern.«

»Du kannst es wie keine, Els.«

»Ach, ich sehe es mit viel besseren Augen, als die armen zwei es sind, die sich von Wort und Stimme helfen lassen und in die du hineinschaust. Ich sehe und suche nicht mehr gern in den Augen der Menschen, ich mag nur solche Augen, die nicht einlassen, die wach, hart und verschlossen sind. Jannots Augen sind Geißeln, sie lügen, höhnen und schmeicheln vielleicht, aber es sind Tore ohne Eingang, die nur den selbstsüchtigen Ausgang des eigenen haben, immer drängt es aus ihnen heraus in die nach Kraft verlangende Welt, aber du kannst nicht hinein, er kann niemand hereinlassen, es sei denn zum Schein. Hab' ich sie einmal getrübt, so schlägt er mich bestimmt.«

»Jetzt bist du wieder bei Jannot angelangt.«

»Er ist allein. Was ihr nicht von Einsamkeit wißt oder gar von uns Weibern in unserem Verlangen nach dem Mann. Wie ihr euch doch die matten Köpfchen zerbrecht nach den Ursachen, aus denen bestimmte Männer von uns geliebt werden, geliebt und wieder geliebt, immer geliebt und nur von den Besten unter uns. Es ist nur die Einsamkeit, die uns anzieht, aber beileibe nicht das, was ihr darunter versteht. Wenn du das mit den Augen vorhin verstanden hast, so weißt du, welche Männer ich einsam nenne. Der Mann, der sich selbst für einsam erklärt, ist immer ein Narr.«

»Du wolltest von Rasso erzählen.«

»Wie du dich von Jannot abwendest! Wie recht ich habe. Ich glaube, recht hat man in Wahrheit nur dann, wenn es einem keiner mit Worten bestätigt. Was uns groß und schön wird, wächst auf abseitigem Boden, über dem ein trauriges Schweigen herrscht. Wie der Aufenthalt auf diesen Gefilden gnädig berauscht, überall siehst du Gottes Fußspuren. Dort begegnet mir auch zuweilen Rasso noch, bis ich ihn dann vergessen habe oder er nur am fernen Horizont wandert, als Schattenriß und dunkle Gestalt, denn die Züge verblassen. Wenn ich den Jungen ansah, so meinte ich oft, aller Liebreiz seiner Mutter, von ihrer ersten Beglückung, sei Gestalt geworden und schmücke die Welt. Nicht Knabe noch Mädchen, nicht Mann noch Weib erschienen mir in ihm, sondern der junge, herrliche Mensch.

Ich kam von Jannot, den ich damals erst ganz kurze Zeit kannte und nicht anders als alle, es war sehr früh am Morgen in den Anlagen, ich band mir an einer Bank den Schuh. Da ritt Rasso mit seinem Reitlehrer hinter mir heran. Die Pferde gingen lautlos auf dem Reitweg, ich hörte zuerst seine Stimme und erschrak, als ich mich umwandte, weil die Pferde schon so nah waren. Wir sahen uns einen Augenblick an, und ich dachte: Ist das ein Mädchen oder ein Knabe?

Er sah sich um, hielt die Hand, im Morgenwind, gegen die frische Sonne, alles glitzerte, dann zog er das Pferd schräg und sprang aus dem Sattel. Aber als er vor mir stand, brachte er kein Wort hervor, jedoch ich verstand ihn und sagte einfach, wo ich wohnte. Er wurde glühendrot, verneigte sich stumm und stieg wieder auf seinen Gaul, den sein Lehrer mit einem Gesicht hielt, als fühlte er sich plötzlich Mutter. Ich schnürte mir den Schuh fertig und ging heim; ich hatte nicht einmal den Fuß von der Bank genommen. Schon am Mittag dachte ich nicht mehr an die Begegnung, denn ich hatte Jannot im Kopf.

Gegen Abend steht Rasso in der Tür, in holder Tapferkeit, bleich wie der Tod. Ich hab' ihm den Frühling nicht schwergemacht. Was die Knaben in dieser heiligen Lebenszeit so töricht macht, das ist meist nur die Eitelkeit, Dummheit und Herzlosigkeit der Weiber, in der sie alles zu erlauben scheinen und nichts gewähren.

Rasso erfüllte diese Tage meines Lebens mit einem Glück, das niemand benennen kann, so duftet im März der Boden, wenn der erste warme Wind durch die Buschzweige weht und die Lerche aus dem Blauen tönt, das am Horizont fast grünlich leuchtet, zwischen den Wolkenzügen. Gehorsam und eigenwillig brannte das erfahrene Herz, und was ich ihm erwiderte, war so ungetrübt und innig überwacht wie die Tränen im Schlaf. So hatte es Jannot vielleicht niemals leichter mit mir als damals, wiewohl die meisten Menschen annehmen werden, daß es gerade umgekehrt hätte sein müssen. Und sonderbar genug, ich wollte Jannot weit inbrünstiger als er mich, und von dem Tage an, da ich ihm angehörte, wurde ich Rassos Schwester, seine Zartheit peinigte mich nun fast, sein zögerndes Begehren flößte mir Mitleid ein, seine Berührung gelinden Widerwillen.

Er empfand es beinahe eher, als ich mir darüber klar wurde, ich habe niemals etwas vorher gewußt von dem, was mich wirklich im Nerv meines Lebens anging, meine Erfahrung traf immer mit meinem Schicksal zusammen, ich glaube, daß ich ganz ohne Lebensangst bin. Die schmerzliche Unruhe des Knaben rührte mich, ich beschloß, ihm alles einfach zu sagen, aber es ist sonderbar, wie schwer uns ein ehrliches Wort wird, wenn es die Neigung eines Mannes treffen soll. Bin ich denn feige? Nein, ich glaube, es gäbe kein Liebesschicksal mehr in der Welt, wenn wir deutlich dartun könnten, was wir fühlen oder sind.

So geschah es denn, da ich immer noch schwieg, daß Rasso mich hin und wieder zur gewohnten Stunde nicht antraf. Ich konnte die Qual seiner jungen Glut, die sich vor mir entfacht hatte, nicht mehr ertragen, und sein Gesicht erschreckte mich. Jannot, dem ich alles sagte, ließ sich durch meine Erzählung kaum in dem unterbrechen, was ihn damals gerade in Gedanken beschäftigte, und als Antwort fuhr er mit seinen Dingen fort. Ich erbebte an den Mauern seines Wesens, nicht einmal mein Geständnis berührte ihn. Aber ich weiß, daß ich gerade über solchem Verhalten endlich den festen Entschluß und auch den Mut fand, Rasso alles zu sagen. Jannot geht gradeaus, begleitet man ihn, so tut man es auch.

Aber just an diesem Tage wollte es das Geschick, daß Rasso mir nachgegangen war, er hatte im Hause erfragt, wo ich zu finden sei. Ich saß mit Jannot in einer kleinen Gartenwirtschaft unter Kastanienbäumen, allen sichtbar und so auch Rasso. Dort hat er mich an Jannots Seite gesehen, vielleicht sogar gehört, aber wäre denn dies letzte nötig gewesen? Die Augen dessen, dem das Herz von enttäuschter Liebe blutet, sehen deutlich. Er ging heim und schoß sich tot.

Auf seinem Tisch hatte er einen Brief an mich hinterlassen, durch ihn erfuhr ich später, was ich dir erzählt habe, seinen Tod hörte ich erst, als er schon begraben lag. Ich war nach den drei, vier Tagen, in denen er sich nun überhaupt nicht mehr hatte sehen lassen, halb froh, halb unruhig und saß in meinem Zimmer, als ein Wagen vorfuhr und kurz darauf ein hoher, schlanker Herr im dunklen Gewand, grau an den Schläfen und den Hut in der Hand, bei mir eintrat. Ich sehe, ehe ein Wort fällt: Das ist sein Vater. Ich bewohnte damals in einem alten Haus vor der Stadt ein kleines Zimmer zu ebener Erde, in das der wilde Wein durch niedrige Fenster wuchs, das auf eine kleine Gartenwiese hinausführte, auf der zwei Schafe weideten. Es war gegen Abend, und das Zimmer lag im freundlichen Licht.

›Rasso ist tot‹, sagte ich nach einer Weile voll lebendigen und peinvollen Schweigens. Rassos Mutter war früh gestorben, das wußte ich von ihm selbst, auch hatte er oft mit Liebe und glühender Verehrung von seinem Vater gesprochen. Das Gesicht dieses Mannes zeigte weder Schmerz noch Neugier, noch irgendeine Regung seines Gemüts, er setzte sich auf einen Stuhl am Fenster, so daß er in mein Gesicht sehen konnte, auf das das Licht fiel. Ich sah das seine undeutlich, vielmehr nur seinen Umriß, die Schultern, die Neigung der Stirn und die gemessenen und spärlichen Bewegungen, und es war gut so, weil sie mir mehr als Mienenspiel und Stimme sagen.

Denke dir, er fragte mich nicht einmal, wer ich sei, er wußte es sofort. Vielleicht glaubst du mir nicht, ich sage dir aber, daß er ehrfürchtig gegen mich war, um seines Sohnes willen war er ehrfürchtig. Wie er seines Kindes Ehre hochhielt! Weißt du, daß ich schwer weine, hast du schon Tränen bei mir gesehen, wer kann sich dessen rühmen, nicht einmal Jannot, der alles von mir hat. Aber hier habe ich mit meinen Tränen gekämpft, es ist nie wieder etwas so Schönes in mein Leben gekommen wie das Vatertum dieses Menschen. Er verherrlichte bei mir sein edles, altes Geschlecht, indem er seines Kindes Liebe über seinen großen Schmerz stellte. Weißt du, und er kannte das Weib, da war nichts von gut oder böse, nichts von brav oder ungesittet. Er begann vorsichtig, aber ohne Falsch, er wollte keine Tatsachen wissen, die wichtigen hatte er dem Brief entnommen, sondern er wollte wissen, wer ich war.

Ich fühlte den Augenblick, wo er es erfaßte, obgleich kein Mienenspiel in seinem Gesicht verriet, was in ihm vorging. Dann stellte er Fragen von so kühlem Ernst und geradezu, daß ich erschauerte und seine Hand geküßt hätte, wenn ich nicht um seinen Halt besorgt gewesen wäre. Er war wie aus Eisen, aber dies Eisen war dünn und spröde, denn er war kein junger Mann mehr. Wie einfach mich sein Wesen machte, ich habe ihm alles sagen können, nicht was ihn tröstete, nein, ich achtete ihn, sondern was sich in Wahrheit zugetragen hatte. Welch tiefe Ruhe in seinen Augen war, er hatte alles erlebt, nie mehr gegeben, als er hatte, und nie genommen, ohne dreimal zu geben.

Mir war endlich fast zumute, als wollte er nur etwas über sich selbst wissen, sein Sohn war er. Es war sein Geschlecht, um dessen Geschick er bangte. Als er sah, daß ich mit den Tränen kämpfte, machte er eine ablehnende Gebärde mit der Hand, aber dann empfand er sogleich, daß mein Widerstand nicht geringer war als der seine, und er sagte freundlich:

›Sie sollen nicht weinen.‹

›Ich möchte es ja nur, weil ich es nicht darf‹, sagte ich und konnte lächeln.

Er muß das Unnennbare wohl verstanden haben, auch daß meine Bewegung nicht Rasso allein galt, denn er gab mir nach diesen Worten den letzten Brief seines Sohnes. Sein Gesicht blieb versteinert, aber er wußte nun, daß Rasso mich geliebt hatte. Nur das wollte er wissen, zum ersten Mal sah ich einen Zug von Stolz in seinen Zügen, schön und groß im Todeslicht. Er bat mich dann, ihn an den Wagen zu begleiten. Ein Diener stand am Schlag, der andere saß auf dem Bock. Der schlanke Herr verschwand in den weichen, hellen Lederwänden von Sitz und Tür, der Wagen glitt lautlos an, und ich stand, bis das Plätschern der Hufe im fernen Straßengrund verhallte. Es hatte mir so gut gefallen, daß der Kutscher sich nicht umdrehte, als wir aus der Haustür traten.«

 

Ein paar Tage darauf kam Els in heiterster Laune von einem kurzen Gang aus der Welt zurück, die draußen fern und leise erbrauste und tief unter mir lag. Wie doch ihr Wesen das Zimmer und das Herz mit Glück und Licht füllen konnte! Nein, ich werde dich nicht beschreiben, niemals und niemandem, Els! Sei wieder und immer bei mir, wie Wind und Lieder, du schöner Trost.

»Sprich über dich«, sagte ich zu ihr, »erzähle mir wieder von dir und aus deinem Leben.«

Sie lachte mich aus.

»Was soll ich denn sagen? Soll ich einen Lebenslauf erzählen, wie man es im Mädchenpensionat vor seinem Eintritt muß? Wie, du glaubst nicht, daß ich in einem Pensionat war? O freilich, mit Tannenwald vor den Fenstern und zehn Jungfrauen aus besten Kreisen. Die Schwester meines Vaters wollte, als er starb, etwas aus mir machen, versuchsweise, weil sie wohltätig war und ein schlechtes Gewissen hatte. Erst staunte ich, als ich ankam, wie diese faden Püppchen sich anstellten, weiß Gott, was sie in den Adern hatten, mit ihrem Geschwärm, Getue und Gekicher. Elsi vorn und Elsi hinten. Sie schwärmten gleichzeitig für mich und Pastor Koopmann, den hättest du sehen sollen. Einmal nahm er mich besonders, ich hatte schon gesehen, wie er mich, als ich Tennis spielte, mit den Blicken abgraste. Ich war still und sah zu Boden. Als er mich anfaßte, natürlich vorsichtig und an erlaubten Stellen, schlug ich ihn auf die Hand. Ich hoffte, er würde mich der Vorstandsdame melden und die Komödie sei zu Ende, aber er schwieg und entfernte sich versonnen durch die Fichten.

Was mir gefiel, das war die Sauberkeit im ganzen Haus, weit mehr noch als das gute Essen, das mir auch neu war. Die Wäsche, die Betten, die hellen, blanken Zimmerchen und die Badestube hielten mich noch eine Weile fest. Ich lernte zum ersten Mal, so recht den Körper zu pflegen, und wurde darüber ein guter Mensch. Aber schließlich sagte ich mir doch, daß es überall in der Welt Seife geben müßte, auch ohne die Offenbarung St. Johannis, die damals Mode war und bei jeder Gelegenheit erklärt wurde, überall anders. Ich begriff nichts, nur, daß die anderen sie nicht verstanden. Ich sagte das unserem Musiklehrer, als ich ihn endlich einmal auf einem Waldweg isoliert hatte. Er gefiel mir, aber seine Schüchternheit war trostlos. Er erschrak sehr über meine Nachricht und fing dann an zu lachen, so daß kein vernünftiger Satz mehr möglich war.

›Gehen Sie doch um Gottes willen heim, Fräulein‹, riet er mir und sah sich nach allen Seiten um, ›wenn man uns hier zusammen entdeckte!‹

›Wenn wir ins Gehölz gehen‹, versuchte ich, ›sind wir sicher.‹

Er wurde rot und rief aus:

›Sie holdes Kind! Wie Ihre Unschuld mich bewegt!‹

Was war da zu machen? Ich glaube, unsereins muß fünfzig Jahre alt werden und trocken wie Torf, bevor uns solcher Tau erfrischt. Ich schonte seinen Schmelz und ließ ihn blühen, aber jetzt kamen Verse und Zittergras, der Funke hatte am falschen Ort gezündet. Mit der Harmonielehre stand es schlecht, wenn ich ihn während der Stunde ruhig anschaute, er verwirrte sich bis zum Stottern, und die Mädchen umher besorgten das Lachen, wozu ich mich schwer entschloß, denn mir war es ernst um mich, um mein Wesen und um meine Kräfte. An den Scheiben taute der Frühling.

Ich weiß nicht, weshalb dieser Gänschenstall, wie auf Verabredung, beschlossen hatte, daß gerade ich wissen müßte, welchem Vorgang der Mensch seine Entstehung verdankt. Die Fragerei war mir widerlich. Als aber eine von ihnen sich eines Nachts in mein Bett wagte, verprügelte ich sie so mörderisch, daß sie in ein gellendes Hilfegeschrei ausbrach, das das ganze Haus weckte, bis die Vorstandsdame in der Zimmertür trompetete:

›Meine Damen, was muß ich erleben!‹

Sie mußte erleben, daß mein Opfer sich heulend über mich beschwerte und mich der Sünde zieh, die ich ihr nicht erlaubt hatte. Ich schwieg. Am anderen Morgen, nach dem bleichen Frühstück, wurde ich in das Zimmer der Vorstandsdame befohlen, ich hatte schon in der Nacht meine Sachen verstaut. Weil ich fort wollte, war ich entschlossen zu schweigen. Die alte Dame saß pfeilgerade auf einem weichen Kanapee. Ich hatte mich nie über sie zu beklagen gehabt und war gespannt.

›Meine liebe Else‹, sagte sie ruhig, ›Sie müssen mein Haus verlassen. Ich habe Ihrer Tante bereits geschrieben. Ich entlasse Sie aber nicht wegen eines Vergehens, denn Sie haben sich nicht vergangen, das weiß ich besser als die anderen, meine liebe Else.‹ Und dann sagte sie noch einmal: ›Meine liebe Else.‹

Dabei glitzerten hinter ihrer Brille zwei große Tropfen. Die Fenster standen weit offen, die Buchfinken schmetterten wie toll, das helle Grün war so schön, daß das ganze Zimmer voll Frühling war.

Wie es weiterging mit mir? Diese Alte hat ihre Tugend mit ihrem ganzen Leben bezahlt, ich bezahlte mein Leben mit meiner Tugend. So bekam ich es billig, denn ich hatte nicht viel von dieser Münze.«

»Ist sie echt, so wird sie nicht kleiner, wenn man damit bezahlt.«

»Möglich. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, eigentlich mache ich mir erst welche, seit du da bist, hier schweigend aus dem Fenster schaust und bisweilen fragst. Habe ich denn überhaupt Charakter? Sag es mir.«

»Es ist gerade den Echten schwer, sogenannten Charakter in einer Zeit zu erweisen, die wie die unsere ist«, antwortete ich. »Die Besten einer Zeit haben stets neue Aufgaben, deshalb verstehen auch die Alten die Jungen so schwer, denn beide haben recht. Ich glaube, in einer Zeit wie der unseren ist die Aufgabe der Echten und Starken dem Sturm tiefer verpflichtet als der Ruhe. Bald gilt es, den Acker zu schirmen, bald gilt es, ihn zu pflügen. Ich kann mir einen Menschen, wie du es bist, nicht im Rahmen der Gesellschaft denken, und ich muß dich doch außerhalb dieses Rahmens von Herzen achten.«

»Was nennst du die Gesellschaft?« fragte Els aufmerksam, ohne auf das einzugehen, was ich über sie gesagt hatte. Ihre Aufmerksamkeit war ein wenig lauernd.

»Die menschliche Gesellschaft ist eine Forderung«, antwortete ich, »versuche zu begreifen, was Gemeinschaft bedeutet. Diese Gemeinschaft kann sich auf vielerlei Stufen zusammenfinden, aber erst als Geistesgemeinschaft wird sie wahre Kultur.«

»Das verstehe ich«, sagte Els.

»So wirst du auch verstehen, daß sich aus einer eingebildeten, heuchlerischen oder unwahren Gesellschaft, die nicht wahre Gemeinschaft ist, einzelne lösen und daß diese einzelnen in ihrer Forderung echter Gemeinschaft notwendig im Gegensatz zur Gesellschaft stehen müssen. Sie scheinen zu stören, stiften Unruhe und gelten oft als Verbrecher, in Wahrheit sind sie der Weg.«

»Du meinst, daß sie auf dem rechten Weg sind?«

»Nein, Els, das meine ich nicht, denn es gibt keine erkennbaren Wege vor uns, sondern nur hinter uns. Wer in solcher Zeit der Wandlung stark, mutig und ehrlich lebt, lebt, wie er beschaffen ist, der ist Weg und Schreitender zugleich.«

Es war deutlich, daß Els, obgleich sie mir mit großer Aufmerksamkeit zuhörte, doch mit etwas ganz anderem beschäftigt war oder vielleicht an eine ganz bestimmte Auslegung oder Anwendung der Worte dachte, die ich so ausgesprochen hatte, wie der Augenblick es mit sich brachte.

»Vielleicht ergeht es solchen Menschen dann ähnlich wie einem Weg«, sagte sie nach einer Weile und lächelte, »sie werden niedergetreten, und man geht über sie hinweg?«

»Ja«, antwortete ich, plötzlich seltsam ergriffen, »es wird niemand etwas Größeres von sich zu sagen vermögen, als daß er der Weg gewesen sei.«

Els nahm mich ganz in ihre Augen:

»Aber die Menschen sprechen von einem Ziel«, sagte sie.

»Und von Zwecken, von Richtungen, von Streben, von der Pflicht zu Moral und Charakter und von der Absicht zur Liebe und zum Glauben! Im Grunde aber kann niemand etwas erreichen, was er nicht hat, etwas werden, was er nicht ist. Ein Mensch ist gut, wenn edle Kräfte, ihm gegeben, absichtslos und ohne Zwecke in ihm und durch ihn wirken, niemals aber allein schon deshalb, weil er sich auf sie einstellt, um sie zu erreichen oder um sie zur Wirkung zu bringen. Und ein Mensch, in dem keinerlei edle Kräfte wirken, ist nicht böse, wie die Menschen es nennen, sondern er ist schlecht.«

»Und wann ist ein Mensch böse?« fragte Els nur mit den Lippen.

»Böse ist ein Mensch, in dem Kräfte wirken ohne Gemeinschaft mit dem Wesen der Liebe. In diesem Sinn ist die Natur böse, auch die des Menschen von Jugend auf. Wenn du von kalt und warm sprichst, so weißt du, was böse und gut bedeutet, und wenn du an lau denkst, so begreifst du vielleicht, was schlecht ist.«

Da erhob sich Els, legte ihre Arme um meinen Hals und küßte mich auf den Mund wie ein dankbares Kind. Ich erschrak vor ihrer Gebärde, die voll großen Glücks war, und verstand sie nicht.

Ja, so war es mit Els, so und ähnlich, wieviel ich doch vergessen habe und wie wenig ich über das zu sagen weiß, was mir im Gedächtnis geblieben ist. Die Begebnisse liegen alle weit zurück, so daß die Gestalten jener Tage ihres Zusammenhangs mit den kleinen Dingen des verständlichen Alltags entkleidet sind und oft vor mich hintreten, als schritten sie groß und abgesondert am Horizont meiner Erinnerung.

 

Es wurde einmal wieder hell auf der dahineilenden Erde. Els rührte sich, sie machte Feuer, öffnete, als es bei ihr warm geworden war, die Tür zu meiner Kammer und sagte diesmal, wie oft:

»Immer bist du schon wach.«

»Ich dachte daran, ob du Geld hast, Geld genug, einen kranken Gast so lange zu beherbergen.«

»Jannot hat immer Geld. Nichts gibt er leichter her als das, und immer soviel, als ich will.«

»Ihr habt keine Sorgen? Du lebst doch arm, ich meine einfach.«

»O nein«, sagte sie, »nur ohne ihn. Wenn er nicht da ist, freut mich kein Genuß. Er gibt oft an einem Abend mehr Geld aus, als dein Brot in einem Jahr kosten würde. Warum denkst du an solche Dinge?«

»Denkst du nie daran?«

»Nein«, sagte Els, »ein junges Weib, das an Geld denkt, ist häßlich oder verdorben, es sei denn, sie täte es für einen anderen Menschen. Wie schlecht du doch Jannot kennst.«

»Wie meinst du das?«

»Hier ist dein Kaffee, mein Lieber. Nun wirst du bald wieder aufstehen. Wenn man morgens liegenbleibt, kommen dumme Gedanken, stehst du aufrecht, so sind sie fort. Die bösen Morgengedanken lassen sich fortwaschen.«

»Ich für meinen Teil brauche nur deine Nähe«, sagte ich. »Weshalb lachst du?«

»Weil ich sicher sein kann, von Jannot einen Fußtritt zu bekommen, wenn ich morgens in seiner Nähe bleibe. Ich dachte mir dein liebes Sätzchen in seinem Mund.«

»Spotte nicht, Els. Sind dir Fußtritte lieber als gute Worte?«

»Manchmal«, sagte sie zögernd, »nur kommt es darauf an, wer sie gibt und was er sonst noch zu geben hat.«

»Was gibt er dir denn? Ich hörte von dir nur, daß er nimmt.«

»Halt gibt er mir, mein Lieber, er gibt mir Halt.«

»Also du glaubst, die Liebe gäbe einen Halt in der Welt?«

»Ja«, sagte Els, »meine.«

»Und wenn sie nicht erwidert wird?«

»Dann ist es traurig in der Welt«, antwortete sie, »aber die Trauer im Bund mit meiner Liebe ist weit mehr als das Glück, das die Liebe eines anderen mir bringen kann, wenn ich selbst nicht beteiligt bin. Ich weiß das doch. Was müssen das für Menschen sein, die Liebe begehren, die sie nicht erwidern; armes Gesindel.«

Es klopfte. Els öffnete dem Briefträger, den ich an seinem Morgengruß erkannte, und ich hörte sie lachen. Er schien ihr außer einem Brief etwas geschenkt zu haben, denn sie warf ein Päckchen auf ihr Bett, bevor sie das Schreiben öffnete. Es wurde still, während sie las, und blieb es. Sie beeilte sich nun beim Ankleiden und machte sorgfältig Toilette, ohne noch mit mir zu reden. Der Brief wird von Jannot sein, dachte ich, aber bevor sie ging, hob sie ihn noch einmal auf, roch daran und sagte: »So geht es nicht, Fräulein, aber wie du meinst.« Sie schloß hinter sich ab, als sie ging.

Als ich erwachte, mußte viel Zeit vergangen sein, nach dem Stand des Lichts war Mittag vorüber. Ich hörte sprechen im Nebenraum, es waren Els und die Stimme einer fremden Frau. Meine Kammertür stand angelehnt, man sprach zu Anfang gedämpft und scheinbar vorsichtig, die fremde Stimme berührte mich, sie klang sanft, ohne weinerlich zu wirken, und forschend-liebevoll, ohne an Offenheit zu verlieren. Ich erbaute in meiner Phantasie über diesem Klang das Wesen der Seele, die zu dieser Stimme gehören mochte, das war ein Spiel, das mich eine Weile ergötzte, bis Jannots Name fiel und meine Aufmerksamkeit in ein anderes Bereich gezogen wurde.

Nun erst fiel mir auf, wie schweigsam Els bisher gewesen war, und plötzlich wurde mir ihr Schweigen beredter als die Rede der anderen. Da ich Schritte hörte, wußte ich, daß die beiden während ihres Gesprächs im Zimmer auf und ab gingen, ich drückte mit dem Fuß sacht die Tür um ein geringes weiter auf und hörte zu.

»Wenn Sie wußten, daß Jannot im Gefängnis ist, weshalb sind Sie dann hierhergekommen?« fragte Els.

»Er hat sich meinen Besuch im Gefängnis verboten, und ich hoffte hier etwas über sein Befinden zu hören.«

»Es geht ihm gut.«

Die Fremde seufzte. »Sie antworten mir jedesmal so«, sagte sie, »daß mit Ihrem Wort das Gespräch abgebrochen ist. Ich fürchte, Sie wünschen, daß ich Sie wieder verlasse.«

Els schwieg.

»Ich werde es auch gleich tun, aber vielleicht verstehen Sie mich, wenn ich Ihnen meinen Wunsch verrate, mich vor Jannot zu rechtfertigen. Das ist nicht ganz richtig ausgedrückt, vielmehr will ich, daß er die Dinge so sieht, wie sie wirklich gewesen sind, und erkennt, daß ich keine Willensschuld an seinem Verhängnis trage. Meine Mutter – darf ich voraussetzen, daß Sie vom Verlauf der Ereignisse unterrichtet sind?«

»Ja«, sagte Els. »Ich war bei der Gerichtsverhandlung.«

»Meine Mutter erstattete ohne mein Wissen Anzeige, da sie das Zimmermädchen für die Diebin des fehlenden Armbands hielt – ich wollte sagen, daß von einem Diebstahl nur die Rede sein konnte, wenn ein anderer als Jannot – verstehen Sie ... aber ich verwirre mich ...«

»Mir ist die Geschichte bekannt«, sagte Els, »wenn ich irgend etwas an Jannot ausrichten soll, so werde ich es tun.«

»Nein, nein, so nicht«, sagte die Fremde mit bebender Stimme, »das ist es ja nicht, was ich will. Warum machen Sie es mir so schwer?«

»Es wird Ihnen ohnehin schwer sein«, antwortete Els.

Es war eine Weile still, die Fremde ließ sich auf einem Stuhl nieder, und ich sah ihr zartes und feines Angesicht von großer Schönheit, es erschien mir eher für eine junge Frau zu sprechen als für ein Mädchen, aber vielleicht verlieh auch nur ein schmerzlicher Zug von Anspannung und Erschöpfung seinem Ausdruck eine vorzeitige Reife und den Widerschein von Erfahrung. Sie war groß von Figur, schlank und sehr gut gekleidet, ohne daß ihre Eleganz auffällig gewesen wäre, ich schloß auf etwa fünfundzwanzig Jahre ihres Alters. Ich wußte, daß ich jenes Mädchen vor mir hatte, durch deren unschuldigen Anlaß Jannot im Gefängnis saß und deren Geschichte Els mir erzählt hatte.

»O bitte, begreifen Sie doch«, begann die Fremde wieder rasch und herzlich, »daß es mir unsagbar schwer wird, in diesem Fall die richtigen Worte zu finden, daß ich in steter Sorge bin, dort zu verletzen, wo ich einfach und offen sprechen möchte, und daß ich doch das Beste im Sinn habe, daß ich – ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind.«

»Ich habe Ihnen meinen Namen genannt«, entgegnete Els.

»Ihren Namen? Ach ja, gewiß, aber darauf kommt es doch nicht an. Verzeihen Sie mir, aber es will mir seit unserer Begegnung erscheinen, als gäben Sie sich mir gegenüber anders, als Sie sind, als hätten Sie Vorurteile gegen mich und mißtrauten mir. Das wäre ja nur allzu verständlich, aber Sie wissen doch, wie schuldlos ich am Gang der Begebnisse bin und daß ich, daß ich ... eine ganz besondere Teilnahme am Schicksal dieses Mannes habe. Und habe ich nicht recht, wenn ich diese Teilnahme auch bei Ihnen voraussetze?«

»Doch, doch ...«, entgegnete Els.

»Ich fühle es, Sie spotten heimlich meiner Verzweiflung. Oh, Sie tun Unrecht ...«

»Ich spotte nicht«, antwortete Els ruhig, »aber ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann.«

»Wollen Sie mich anhören?«

»Lieber nicht.«

»Es kümmert Sie wohl auch nicht ernstlich! Wie konnte ich jene tiefere menschliche Teilnahme oder auch nur Verständnis ohne weiteres bei einer jungen Dame voraussetzen, die ...«

Els schien durch eine abwehrende Geste zu unterbrechen.

»O doch«, hörte ich ihre Stimme, »Sie durften Verständnis voraussetzen. Ich komme oft in die Lage, die Klagen von Frauen oder Mädchen anzuhören, denen Jannot nicht alle Wünsche erfüllt hat.«

Die Fremde sprang auf:

»Oh, das ist schändlich!« rief sie. Els antwortete:

»Ihre Frage, ob ich Sie anhören wolle, berechtigte mich zu der Annahme, daß Sie die Absicht hatten, Klage zu führen. Es fehlt Ihnen an Takt und menschlicher Reife, um meine Ablehnung von Anfang an aus meinem Verhalten gefühlt zu haben. So zwingen Sie mich dazu, mich auf eine Art verständlich zu machen, die Ihrer Aufnahmefähigkeit angepaßt ist.«

»Sie werfen mir Taktlosigkeit vor?« fragte die junge Dame. Ihr Erstaunen war echt.

»Ja, Taktlosigkeit.«

»Wissen Sie, mit wem Sie reden?«

»Ja. Ich spreche mit einem jungen Weib, das noch immer nicht gemerkt hat, daß ich für seine Geständnisse die denkbar ungeeignetste Person bin. Dazu gehört, bei meinem durchsichtigen Verhalten, ein geradezu barbarischer Mangel an Anstand.«

»Also auch an meinem Anstand zweifeln Sie?«

»Ja«, antwortete Els, »aufrichtig.«

»Etwa weil ...? Und das sagen Sie mir

»Oh«, sagte Els enttäuscht, »Sie verstehen unter Anstand etwas ganz anderes als ich. Wollen wir das Gespräch nicht beenden?«

»Sie weisen mir die Tür? Ich gehe seit drei Wochen an diesem Haus vorüber, hin und her, her und hin, und wage den Gang in diese Kammer nicht. Ich kenne jeden Pflasterstein draußen und die Auslagen in allen Läden. Ich sah Sie kommen und gehen, ich kenne Ihre Gestalt, Ihre Kleider und Schuhe, Ihren Schritt im Dunkeln, Ihre Tageseinteilung bis spät in die Nacht.«

»Verstehen Sie denn nicht«, fragte Els freundlich und unberührt, »daß alles, was ich Ihnen aufrichtig sagen könnte, Ihre Qual nur verdoppeln würde?«

»Gewißheit wäre eine Erleichterung für mich«, antwortete die Fremde.

»Das konnte ich bei Ihrem Verhalten nicht voraussetzen«, antwortete Els, »und ich glaube es Ihnen auch nicht. Aber mehr, als ich jetzt mit Bedeutung verschwiegen habe, werden Sie nicht von mir erfahren.«

Die Fremde erhob sich bebend:

»Oh – nun beginne ich Sie zu verstehen!«

»Es scheint mir nicht, denn Sie glauben, daß ich aus selbstsüchtigen Gründen die Unwahrheit sage, Sie wünschen es wenigstens zu glauben. Ihnen kann man nicht helfen. Sie fragen, weil Sie keine Antworten haben wollen, und was Sie glauben müssen, nennen Sie Lüge.«

»Oh, erbarmen Sie sich, sagen Sie mir doch mit einfachen Worten, hat Jannot viele ... Freundinnen?«

»Ja«, sagte Els.

»Und ... ich begreife nichts mehr, am wenigsten Sie. Und Sie? Sie selbst?«

»Jannot ist mir vollständig gleichgültig«, antwortete Els mit fester und klarer Stimme, deren Wohllaut durch keinerlei Unsicherheit beeinträchtigt wurde.

Die also Beschiedene schien aufzuatmen, sie fand Fassung und ließ sich wieder auf ihren Stuhl nieder.

Ich hätte etwas darum gegeben, den Widerschein dieses Lächelns in Els' Gesicht sehen zu können, denn ich glaubte zuversichtlich an ein gutes Wort von ihr. Deshalb war ich in hohem Maße erstaunt, als sie ziemlich kühl sagte:

»Gehen Sie nun.«

Diese Worte hätten wie eine Frage gedeutet werden können, aber es war doch ein Befehl.

Die Fremde verstand sie nicht und war sicherlich genötigt, sie für anteillos oder gar hartherzig zu halten, und doch erhob sie sich nun in einer Ergebenheit, die wie schlichter Gehorsam wirkte. Sie ergriff Els' Hand, zögerte, versuchte noch einmal zu sprechen, brach traurig ab und zog diese Hand an ihre Lippen. In einer Gebärde von Verlassenheit, aber ohne Zorn, verließ sie den Raum.

Es blieb eine Weile still, und ich hörte die suchenden, abwärts tastenden Schritte auf der schlechten Holztreppe. Dann zog Els die Tür zu meiner Kammer auf, sah mir lachend in die Augen und meinte gutmütig:

»Der arme Jannot.«

 

»Sieh«, sagte am anderen Tage Els zu mir, »da hast du nun erfahren, wie es Jannot mit den Frauen ergehen kann. Man muß ihn gut kennen, um ihn recht zu verstehen. Hältst du ihn für habgierig? Er ist es und ist es wieder nicht. In ihm wacht ein ausgleichendes Gesetz, denn er bewertet nicht die Beute, sondern nur die Gefahr des Raubens, er behält sie selten und bahnt sich nur den ungewöhnlichen Weg, dessen Ziel er nicht kennt. Er ist nicht an seinem Platz, weil wir in einer Zeit leben, die weit mehr Sinn für Unnatur als für Natur hat, in der die Fähigkeit, sich einzufügen, Charakter genannt wird und die Abgeschliffenheit Tugend. Bei wem sich übrigens kein Widerspruch regt, wenn er eine Gans mit Brillanten behängt sieht, der ist ein verdorbener Mensch.«

»Dieses Mädchen ist keine Gans«, sagte ich.

»Jannot kann die Eigenschaften einer Frau nur würdigen, wenn er sie liebt, und selbst dann weiß er nicht, daß er es tut. Dies Mädchen hat ihm alles gegeben, was sie hat und ist. Wieviel gilt an Seele und Körper, die ihm gehören, der Schmuck, den man von ihnen ablösen kann?«

»Sie hat ihn nicht angeklagt.«

»Sie hat etwas viel Schlimmeres getan, sie hat ihn nicht verstanden. Deine Seitenwege führen in flaches Land. Dort gibt es saubere Wege für mäßigen Trott, keine Heiligen und keine Verbrecher, nur Spaziergänger.«

»Weißt du, ob sie ihn überhaupt geliebt hat? Nur Liebe verpflichtet zu Verständnis. Er hat sich ihrer bemächtigt, was kann sie dafür, daß sie ihn nicht gleich erkannte. Sollte sie voraussetzen, daß er sie berauben würde?«

»Das ist es ja eben, worin du irrst«, antwortete Els. »Ich glaube nie und nimmer, daß Jannot diesem Mädchen auch nur einen Schritt nachgegangen ist oder daß er die Absicht gehabt hat, sie zu berauben. Der Anlaß ihrer Bekanntschaft ist sicher eher das Gegenteil gewesen, er wird ihr irgendwie geholfen haben. Ich habe noch niemals bemerkt, daß er sich nach Weibern umgesehen hat, aber oft, daß er ihnen auswich. Er hat mir niemals von dieser Clio ein Wort erzählt, nur einmal sagte er nachts zu mir: ›Laß doch, ich komme ja eben von einem Mädchen.‹ Und dabei sah er mich an, als ob er des Trostes bedürftig sei, fast traurig, und mich fror. Ich hab' ihm das Haar gestreichelt, als er schlief, dann nahm ich die Kerze und sah sein Gesicht an. Was willst du denn viel aus dem Angesicht eines Wachenden erfahren? Sein schöner, starker Mund war bitter, wie bei einem Knaben, dem ein Unrecht geschehen ist. Ich sah mich lange in seine Züge hinein, bis mein Sinn ruhig wurde, und küßte seine Hand, damit mein Herz fest bleibe. Ach, eure Wege, mein Lieber, eure Wege ...«

Sie schaute vor sich hin, den Mund ein wenig geöffnet. Ich fühlte, daß ein inneres Bild von großer Kraft sie erschütterte, daß sie sich, wie so oft, widerstandslos an diese Vision hingab, die sie inständig erlebte. Meine Gedanken durchforschten alle Lücken und Fehler ihrer Art, Jannot und seine Lebenshaltung darzustellen, ich erschrak vor der Einseitigkeit ihres Urteils und der wahllosen Kühnheit ihrer Einteilung von Recht und Unrecht, Pflicht und Erleiden. Schon schloß sich mir der Gedankengang zu einer starken Erwiderung, da sah ich sie im Geist über die Hand des Schlafenden gebeugt und schwieg.

»Sein Lächeln, wenn du sein Lächeln kenntest«, fuhr Els leise und langsam fort. »Sein Zorn, seine bittere Kraft, sein harter Unmut sind mir verständlich, aber sein Lächeln flößt mir Schrecken ein. Damals bei Gericht war es furchtbar. Ich habe es dir erzählt, wie man einen Scherz erzählt, denn ich wußte noch nicht, daß dich das Leben wirklich bekümmert, aber es war ganz anders. Als die arme Clio die Fassung verlor, weil sie erkannte, daß sie der unschuldige Anlaß seines Verhängnisses geworden war, und einsah, daß sie ihn nicht mehr retten konnte, wandte Jannot sich nach ihr hin und lächelte. Er lächelte nie, und hier nun lächelt er, aber seine Kraft bricht nur in einem lauten Lachen aus, da dankte ich Gott. Niemand wußte, weshalb er lachte, aber alle schwiegen, keiner empörte sich. Der Richter sagte endlich zögernd, es klang wie ein Gemurmel:

›Ist hier etwas noch nicht ganz klar?‹ Er sah Jannot dabei nicht an.

Das war es freilich nicht. Siehst du, niemand empörte sich. Alle wechselten, ohne daß sie es wollten, ihre Haltung, und in jedem Gesicht konntest du lesen: ›Sind wir denn im Irrtum? Sind wir denn Narren, und gibt es denn noch eine andere Welt, aus der dieser Hall von kalter Heiterkeit stammt, der unseren Halt erschüttert?‹

Denn es klang teuflisch heiter, Jannot war im Recht.

Erst als Jannot auflachte, fühlte ich wieder, daß ich ein Mensch war, und alle anderen umher erholten sich von diesem Lachen langsam zu der Gewißheit, daß er ein Unmensch sei.

Aber halt, warte, versteh nur nicht zu rasch. Meinst du, dies sei der Grund, aus dem Jannot lachte? Ich glaube kaum, daß er beachtet hat, was ich eben erzählt habe, es ist nicht seine Art, daß er die Kälte erst an den Eisblumen am Fenster erkennt. Nein, er lachte, weil er den Wirrwarr von Interessengerümpel und Herzenslärm plötzlich übersah, den er heraufbeschworen, in dem seine Füße sich verfangen hatten, und daß man ihm zumutete, dies alles ernst zu nehmen und sich zu rechtfertigen. Er empfand bei dieser Szene das unerhörte Mißverhältnis seiner Kraft zu den Kräften, die ihn zu richten und zu retten glaubten. Er sah sie siegen, wo er nie gewünscht hatte, stark zu sein, er sah sie erliegen und in Ängsten verzagen, wo er nie Anteil gehabt hatte, und in Geschehnissen allen Halt verlieren, die er noch niemals wert erachtet hatte. Wie aus Mitleid mit ihnen, ließ er sich wortlos verurteilen. Er lächelte auch nicht mehr. Er war ernst, heiter und bei sich und betrachtete seinen Verteidiger mit freundlicher Neugier. Nicht einmal gelangweilt sah er aus, o nein, damit hätte er sich etwas vergeben, so was interessiert schon.«

 

Ich erschrak, als sich eines Nachmittags ein Fremder nach sanftem Klopfen durch die Tür schob, er trat leise auf, den Hut hatte er schon in der Hand und die Tür öffnete er nur so weit, wie es unbedingt notwendig war. Seine Blicke fragten mich: »Was willst denn du hier?«, und seine Verbeugung erkannte die Berechtigung meiner Gegenwart mit Beflissenheit an. Er setzte sich, als ich ihn darum bat, sprang aber sofort wieder auf. Seine unruhigen Augen fielen mir als erstes auf, die aus dem Absuchen der Örtlichkeit und aller Gegenstände nicht herauskommen, sie lauerten und huschten, betasteten und beurteilten und überzogen alles wie mit einem Schleier von Entwertung. Mir war, als hätte ich kein Recht, ihn nach seinem Begehr zu fragen, auch meinte ich, er müsse von selbst vom Grund seines Kommens sprechen, aber wahrscheinlich wollte er zuerst die Ursache meiner Gegenwart in diesem Raum erforschen.

»Wir haben einen Verlust, einen Unglücksfall zu beklagen«, sagte er nach der gezierten Vorstellung, »natürlich nur einen Unglücksfall. Sie scheinen nicht verstanden zu haben: Mein Name ist Süßenhut, Ullrich Süßenhut.«

Ich fragte, welchen Unglücksfall er meine und wen er hier zu finden hoffe.

»Das Gefängnis meine ich«, antwortete er, »wie sehr ich es bedaure, für einen solch energischen Menschen, solchen Kenner der Welt. Wie? Sie sagten, daß Sie es bedauern?«

»Nein«, antwortete ich, »ich sagte es nicht.«

»Natürlich hat die Internierung auch ihre guten Seiten, ich verstehe, nicht nur in einer Hinsicht«, rief er lebhaft, »die Gerechtigkeit will ihren Lauf. Wahrscheinlich stehen Sie der Gerechtigkeit ähnlich gegenüber wie ich?«

»Kaum«, sagte ich.

»Kaum? Nun, Sie sehen sie vielleicht von einer anderen Seite. Ich bin Agent, aber nur im Nebenberuf, der meine Existenz sichert. Meiner Anlage nach neige ich mehr zu wissenschaftlicher oder künstlerischer Betätigung, zur Forschung, Sammlung von Gegenständen der Kunst, vornehmlich von Altertümern, Pretiosen und Kostbarkeiten in Stein, Metall und Holz. Meine Spezialität sind Heiligenbilder des Mittelalters, Skulpturen und Gemälde. Wie ich Sie einzuschätzen mir erlaube, liegen Ihre Interessen diesen Gebieten nicht fern ... ein wenig bläßlich ... darf man zu einer Genesung nach kurzer Erkrankung Glück wünschen? Übrigens erwecken auch alte Geigen meine Teilnahme – Cremonensis –, Sie verstehen, Seltenheiten, aber warum sollte man nicht hier und da vom Glück begünstigt sein? Ich verkaufe übrigens ungern, eher um Mittel für neue Anschaffungen zu bekommen als aus schnöder Gewinnsucht. Der Umgang mit den Musen und ihren Produkten erzieht den Menschen zur Moralität, er verwandelt die materiellen Einschläge der Natur langsam in einen mehr idealen Standpunkt. Man liebt seine Pfleglinge. Ich bekenne, daß ich Statuen habe, billig erworben, von hohem Wert, welche ich mich zuweilen bemüßigt sehe zu streicheln, ja geradezu zu streicheln.«

Er sah mich an, als habe er mir eine sakrale Rechnung vorgewiesen, deren Begleichung meine Pflicht sei. Mein Schweigen beruhigte ihn zusehends in einer Besorgnis, die nicht zu erkennen und doch vorhanden war, er schien nichts mehr zu fürchten als Antworten, denn er gab sie auf seine Fragen immer selbst und so rasch, daß kaum eine Erwiderung von anderer Seite möglich war. Nichts schien ihn mehr zu erstaunen, als daß Grobheit ausblieb, und stets lauerte in seinem Gesicht die bereitgehaltene Abwehr gegen Erniedrigungen. Ich faßte Geduld, ließ ihn gewähren und betrachtete ihn aufmerksam. Er trug ein durchsichtiges Bärtchen, unter dessen weißblondem Schimmer man die Umrisse des spitzen Kinns erkannte. Besonders fesselte mich seine Kleidung, die zugleich verbraucht, aber von übertriebener Sorgfalt der Fügung und Ordnung war. Die blankgescheuerten Knie der Hose waren gebügelt, im Rock prangte die Spitze eines genau gefalteten farbigen Seidentuchs, im fadenscheinigen Schlips eine erbsengroße Perle in einem Kranz von Brillanten. Ich versuchte, sein Alter zu erraten, und schloß auf etwa vierzig Jahre, obgleich ihm der rosige Teint Jugendlichkeit verlieh. Sie war kein Ausdruck unverbrauchter Kräfte, sondern der Widerschein einer unsinnlichen und pedantischen Sparsamkeit.

Im Hinundherschreiten versuchte er ein paarmal in den Verschlag zu spähen, in welchem mein Lager stand, aber die Tür war fest angelehnt, so daß er nichts zu erkennen vermochte. Er schien mit der Einrichtung der kleinen Wohnung vertraut zu sein und mir nicht recht zu glauben, daß Els abwesend sei. Endlich öffnete er die Tür und schaute rasch hinein.

»O Pardon«, rief er, »ich bin ganz in Gedanken, entschuldigen Sie, ich wußte nicht, daß dort ein Bett steht; wahrscheinlich Ihre Schlafgelegenheit für ein Weilchen ... nicht übel, nicht übel so was! Wissen Sie, wie lange Zeit unser gemeinsamer Freund hinter schwedischen Gardinen, bedauerlicherweise, zuzubringen hat?«

»Els erwartet ihn in diesen Tagen zurück.«

»In diesen Tagen?! Aber da sind wir denn bei der Person angelangt, um die es sich wohl hier wie dort handelt, und ich verstehe, daß Sie ein wenig darauf drängen, daß von ihr die Rede sei. »Els, einfach Els, ei, sieh da. Nun, ich will ganz offen gegen Sie sein, obgleich nichts mir dafür bürgt, daß ich nicht in diesem wie in so manchem anderen Fall meine Offenheit zu bereuen haben werde. Aber sie ist ein Zug meiner Natur, die zum Freimut neigt. Kürzlich erst erklärte ich einem Dorflehrer den Wert einer mittelalterlichen Figur, einer geschnitzten Josephstatue, nachdem ich sie von ihm erworben hatte. Ich tat es ganz ohne eigentlichen Grund, nur um ihn zu belehren, und damit er künftig nicht wieder ... nun, damit er eben künftig dieses Wissen habe. Was war die Folge? Der Mann verlangte, daß der Handel rückgängig gemacht würde. Sie erkennen, daß Freimut gefährdet. Ich will Ihnen den Ausgang des Prozesses nicht ausführlich erzählen, genug, daß ich ihn gewonnen habe. Man kann bei Gericht ziemlich sicher sein, daß wenig Verständigkeit in Kunstdingen vorliegt, wenn es sich nicht um Gold- und Silbersachen oder um Steine handelt. Gleichviel, Sie sprachen von Els, ich will darauf eingehen, viel gegen wenig setzen, denn in einem können Sie unmöglich von meiner Betrachtung der Dinge abweichen: Das Mädchen ist hier in einer äußerst ausgesetzten Lage, ja geradezu gefährdet, es ist einfache Menschenpflicht, sich ihrer anzunehmen, wer könnte da, ehrlich und als ein Mann, widersprechen? Sie, mein junger Freund, bestimmt nicht, wie ich mir erlaube Sie einzuschätzen, denn Jannot ist Ihnen bekannt. Setze ich letzteres mit Berechtigung voraus?«

»Ja, ein wenig kenne ich ihn«, antwortete ich ruhig.

Süßenhut ging rasch und lautlos im Zimmer auf und ab, scheinbar hier, scheinbar dort ein wenig abgelenkt durch Gegenstände, die er betastete. Einmal klopfte er mit spitzem Knöchel an die Wand.

»Ihr Nachbar?«

»Ich weiß es nicht.«

»Gleichviel. Auch mit Jannot habe ich kleine Geschäfte gemacht, meist befriedigend, geringfügige Unebenheiten ungeachtet, die eben der Beruf mit sich bringt. Auch Sie werden bereits die Erfahrung gemacht haben, daß einem im Lauf der Welt und im Kampfe ums Dasein kein Vorteil nachgeworfen wird. Was Jannot betrifft, so habe ich ihn immer großmütig, ja geradezu generös entschädigt, was mich um so weniger reut, als ich nun ja weiß, daß sich der Erwerb seiner Ware mit aufreibenden Tributen verbindet, und sollte er mich wirklich übervorteilt haben, so ist, wie bekannt, die Strafe nicht ausgeblieben.« Er meckerte mir das Gewissen für eine Zustimmung wach. »Beides kommt mir zustatten, wenn auch keinesfalls zu eigenem Vorteil, den ich nicht im Auge habe. Leider bin ich erst gestern, also erst recht spät, von Jannots Mißgeschick unterrichtet worden. Unsere Freundin nun wird sich keinesfalls gegen die Erfahrungen verschlossen haben, die dieser Kriminalfall ihr beigebracht hat, und das Vertrauen, das sie in ihren Galan setzt, wird Erschütterungen erlitten haben, die ihr die Augen über ihn geöffnet haben.«

»Nach ihren eigenen Worten zu schließen, hat sie Neues erlebt«, bestätigte ich.

Er trat auf mich zu und streckte mir die Hand hin, ich ließ aber die meine unter der Decke, in die ich auf meinem Sessel eingehüllt war.

»Sie geben mir Mut«, rief er.

»Schon gut«, lenkte ich ab, »einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.« Ich dachte an Jannots Worte über »Glassplitterchen« und mußte lächeln.

»Auch das ...«, meinte Süßenhut.

Es war abenddämmerig im Zimmer geworden, und aus Winkeln und hinter Gegenständen hervor krochen Schatten. Erregt und vorsichtig huschte Süßenhut zwischen ihnen hindurch, seine Gestalt wurde undeutlicher, aber sein Wesen wurde mir verständlicher. Es war klar, er ging von der Voraussetzung aus, daß auch ich in Jannot einen Rivalen erblickte, an dessen Mißerfolg mir gelegen sein mußte. Mir schien sogar zuweilen, als sei er von meiner Gegenwart schon vor unserem Zusammentreffen unterrichtet gewesen. Es ging hier um Els' Gunst, soviel war mir deutlich geworden. Das alles wäre zuletzt harmlos gewesen, wenn nicht ein tiefer, arger Trumpf in den Zügen dieses Menschen gelauert hätte. Das Hinterhältige seines Gebarens ließ mich aber doch wieder darauf schließen, daß er Macht hatte, Macht über Els. Oder ging seine anmaßende Einbildung wirklich so weit, daß er sich für geliebt oder begehrt hielt? Ich beschloß, es in Erfahrung zu bringen. Vergeblich suchte ich einen Grund für sein Vertrauen zu mir, als er nun sagte:

»Das Erlebnis dieses schönen und klugen Mädchens, das übrigens, wie Ihnen wahrscheinlich noch unbekannt ist, aus weit besseren Kreisen stammt, als diejenigen sind, in denen sie sich jetzt bewegt, ich sage, das traurige Erlebnis wird seine Folgen bei ihr zeitigen und sie zu anderen Entschlüssen kommen lassen als bisher. Sie wird nun doch so manches erneut überdenken und erwägen. Das wird sie.«

»Von welchen Entschlüssen reden Sie?« fragte ich.

»Sie hat bisher«, antwortete Süßenhut mit Würde, »meine ihr dargebotene Hand zu einem Ehebündnis ausgeschlagen. Selbstverständlich, und ich betone dies, hat mir nie ein anderes als ein durchaus legitimes Verhältnis vorgeschwebt, denn ich ersehne achtunggebietende Lebenszustände und Verhältnisse von beruhigendem Bestand. Mir war ihre Weigerung einerseits verständlich, da ich den starken, ja faszinierenden Einfluß dieses Jannot zugebe und keinesfalls unterschätze, es ist eine Art Hypnose, die er über sie ausübt, andrerseits ist es mir unbegreiflich, da es ihr nicht an Verstand und Mitteln fehlt, das ihr von mir Gebotne vergleichsweise abzuschätzen und vernünftig zu beurteilen. Eine sichere Lebenslage in auskömmlichen Verhältnissen, die sich deutlich in einer aufsteigenden Linie bewegen, ein gefahrloses Heim, keinerlei Anforderungen an greifbare oder zukünftige Mitgift und nicht zuletzt ein aufrichtig liebendes Herz, dessen ich auch Sie bei dieser Gelegenheit aufs eindringlichste versichere, und endlich – zwei großmütig geschlossene Augen gegen ihre Vergangenheit. Bedenken Sie vor allem auch dies letztere.«

Ich schwieg und sah ruhig zu ihm hinüber.

»Legte ich vorhin den Ton mit einigem Recht auf das Wörtlein ›gefahrlos‹?« fragte er. »Ich tat es mit Recht, soviel müssen sogar Sie erkannt haben, daß hier dagegen ein unersprießliches Lüftchen durch die Fugen geht. Mitgefangen, mitgehangen. Noch ist dem Mädchen ein Weg in gesicherte Gefilde eines reinen und unantastbaren Wandels offen, und ich selbst würde, wie gesagt, unter ihre Vergangenheit einen Strich zu ziehen wissen, ohne selbst in intimeren Lagen nur persönlichen Umgangs jemals darauf zurückzukommen. Sie darf sich frei und geborgen in meiner Obhut fühlen, da ich mein Leben den Regionen einer vornehmeren Haltung anzupassen gedenke, soweit eben meine Mittel dies gestatten, und sie gestatten immerhin einiges, auch dies will erwähnt sein.«

»Warum sagen Sie das alles mir?« fragte ich geradezu. Ich hätte vielleicht nicht so offen gefragt, wenn Licht im Zimmer gewesen wäre.

»Rechnen Sie mich unter die Menschenkenner«, sagte Süßenhut. »Ich gestehe, daß ich zu Anfang nicht im Sinn hatte, mich Ihnen zu offenbaren, daß ich aber im Verlauf unserer Unterhaltung mehr und mehr den Eindruck gewonnen habe, daß auch Sie ein Freund dieses wundersamen jungen Mädchens sind und sicherlich mein Bemühen unterstützen werden, ihre Lebenslage zu sichern und zu bessern, sie einer Obhut zuzuführen, wie ich sie ihr zu bieten vermag.«

»Woher wissen Sie, ob nicht Els mir gleichgültig und Jannot mein Freund ist?« fragte ich.

Süßenhut lächelte nur.

»Sie können mich unmöglich kennen«, sagte er. »Wer vermutet auch rasch unter dem zertragenen Gewand des oft gescholtenen Mannes, der im scharfen Tageskampf der Geschäfte verhärtet scheint, ein überschwengliches Herz voll zarter und wärmster Regung? Darf ich Ihnen die Versicherung geben, daß oft der Anblick der Schönheit mich bis zu Tränen ergreift? Von der Musik schweige ich, obgleich auch sie ihren Eindruck auf mich selten verfehlt. Ich bin ein verwandelter Mensch, seit mich die Liebe zu diesem Mädchen ergriffen hat, meine Gedanken umkreisen seit jener Zeit Neigungen zu guten Werken, ja, sie streifen das Erhabene, und ich kenne Augenblicke, in denen ich mich meines Kinderglaubens in einer gewissen Sanftmut erinnere. Ich habe Entschlüsse gefaßt, die dem Feind meines Lebens Achtung abnötigen würden, wenn sie zur Ausführung kämen, und habe Pläne zu großartigen Opfern geschmiedet, die mich so erschüttert haben, daß ich fast Tränen vergoß. Oft gedenke ich jetzt meiner Mutter – nein, mein Herr, obgleich Sie offenkundig noch jung sind, Zweifel an meiner Gesinnung sind nicht angebracht, und ich glaube zu wissen, was ich zu bieten habe. Hier sei es einmal ausgesprochen.«

Er schwieg, ehrlich ergriffen, kaum daß die Augen sich Muße nahmen, den Eindruck seiner Worte bei mir festzustellen. Seine Hände auf den Knien tasteten unbeherrscht, er hatte den Ausdruck eines Verkannten, der verzeiht. Ich hütete mich energisch, hier an Heuchelei zu glauben, und wußte, weshalb ich mich hütete.

Noch einmal glitt ihm der Sinn, voll lauernder Hoffnung, in gutgläubige Überredung, aber es wartete dahinter der Zorn dessen, der die Erfahrung fürchtet, sein Herz einem Unwürdigen gezeigt zu haben.

»Und so denn«, fuhr er fort, »soll auch die Hilfe, die ich von Ihnen mit Bestimmtheit erwarte, nicht ohne Lohn angenommen sein. Keine Widerrede, mein Freund, ich glaube richtig zu gehen, wenn ich behaupte, daß für Sie die gute Tat den Lohn in sich schließt und daß Sie sich weigern werden, etwa Geld oder Geldeswert anzunehmen. Und doch, bedenken Sie Ihre Lage, die zur Zeit unmöglich rosig sein kann, und die herzliche Gesinnung, aus der heraus ich Ihnen eine bescheidene Erleichterung zukommen lassen möchte, über die noch zu reden sein wird.«

Die beringte Hand spielte an der Brillantnadel.

»Wie denken Sie sich meine Hilfe?« fragte ich.

»Natürlich kann von einer Vergütung im voraus, die zu fordern Ihnen ja wohl auch fernliegt, nicht die Rede sein, es sei denn, daß ein gewisser Betrag als Vorschuß hier oder da einen Plan nachweislich erleichterte, der freilich zuvor von mir gebilligt sein müßte. Aber es scheint mir unmöglich, daß ein Mann wie Sie seinen Einfluß vergeblich bei einem so klugen und einsichtsvollen Mädchen aufwenden sollte, zumal Sie ihr tagtäglicher Gast und Begleiter zu sein scheinen, ihre Tagesstunden teilen und vortrefflich zu erspähen vermögen, bei welcher Schwäche oder bei welchem Zweifel geschickte Arbeit am besten einzusetzen wäre. Natürlich rate ich durchaus zu liebevoller, feinsinniger Überredung, denn so offenkundig zur Zeit die Dinge für uns sprechen, bleibt doch zu bedenken, daß dieses Mädchen eher mit seelischen Argumenten, ich möchte sagen von der Seite hochherziger Einwirkung, zu überwinden sein dürfte als durch die Mittel nur praktischer Erwägungen oder durch Versprechungen allein. Sie erkennen nun den Grund, weshalb ich mit Gesinnung und Charakter nicht zurückhielt, wie konnte ich auch von Ihnen Hilfeleistungen erwarten, wenn nicht aufrichtige Überzeugung, das Rechte zu tun, bei Ihnen zugrunde läge.«

»Ich wünsche freilich Els das Beste«, sagte ich.

»Bei allen romantischen oder mehr idealistischen Färbungen, die ein junges Weib in ihrem Seelenleben zu bevorzugen pflegt und wohl auch benötigt, gibt bei diesem Geschlecht doch zuletzt der materielle Vorteil den Ausschlag. Ich lobe mir den Mann, der die materiellen Interessen einem Weibe im Spiegel edler Gesinnung darzustellen vermag, ihm wird Erfolg zuteil werden. Die Einstellung der Jugend dem Idealismus gegenüber entbehrt durchwegs der praktischen Grundlage und ist deshalb in der Regel verurteilt zu scheitern. Gleichviel. Wünschen Sie, daß unsere Abmachungen durch eine jetzt schon festgelegte Summe bekräftigt werden? Ich schätze zwar unter Männern die Gewähr, die ein einfacher Handschlag gibt, würde jedoch in diesem Fall auch nicht vor einer Unterschrift zurückschrecken.«

Ich lehnte beides ab, Süßenhut kam mir nah und forschte in meinem Gesicht nach einer Bestätigung jener Auffassung, die er wünschte. Er sagte:

»Natürlich müßte eine Unterredung zwischen der jungen Dame, ich meine Els, und mir auch noch herbeigeführt werden. Wollen Sie ihr meine Vorschläge hierfür unterbreiten und mir später von Fall zu Fall Nachricht zukommen lassen?«

Er zog einen Notizblock hervor und begann darauf zu kritzeln, gegen das Fenster gebeugt. Mit einem Seufzer hob er den Blick: »Wann, sagten Sie, daß Jannot zurückzuerwarten sei? So, Sie vermögen es nicht mit Sicherheit zu bekunden. Sie werden sich schwer eine Vorstellung von der Bedrückung machen, in der mein Gemüt sich befindet, von der hoffnungsfreudigen Erregung, in die ich seit der Kenntnis von seiner Internierung versetzt worden bin. Alles drängt zur Eile, zu Entschlüssen. Noch eines jedoch darf nicht ungesagt bleiben, es geschieht im Vertrauen, obgleich eine zurückhaltende Erwähnung Els gegenüber nicht ganz unangebracht wäre: Wie wohlgemeint alles Gesagte und Gebotene ist, muß Ihnen deutlich geworden sein, Liebe, Mitleid und Güte sind die Leitsterne meines Verhaltens, deren Bestand und Dauer ich ersehne, jedoch ist dieser Gesinnung eine Grenze gesetzt ...« Er stockte und lächelte. Die geheime Angst, die mich wie eine unerklärbare Atmosphäre von Anfang an bei allem Wirken dieses Menschen bedrängte, die mich nie verlassen und die mich zu steter Vorsicht gemahnt hatte, beschlich mich als eine Gewißheit drohender Gefahr.

»Sollte Els die Befreiung aus dem Bannkreise dieser verbrecherischen Natur schwerfallen, sollten Hemmungen irgendwelcher Art ihr den Entschluß zu ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigen, so würde ich Wege wissen und, ich bitte Sie, mir dieses zu glauben, auch beschreiten, die ihr diesen Entschluß endgültig erleichterten.«

»Ist das eine Drohung?« fragte ich.

Er hob beide Handflächen gegen mich, immer noch lächelnd, aber sacht verzerrt, unsicher durch die Schatten, welche die Gefahr, die er beschwor, auch über ihn warf.

»Nicht doch, mitnichten«, sagte er rasch, »mißverstehen Sie mich nicht. Mir ist keinerlei Vergehen bekannt, keinerlei Verschulden gegenwärtig, das etwa dieses Mädchen selbst begangen haben könnte ...«

Nun verstand ich. Ausgleichend antwortete ich leichthin, als habe sein Wort meine Zweifel zerstreut:

»Um so besser, ich würde auch ungern etwas auf Els kommen lassen. Immerhin soll ehrlich ausgerichtet werden, was ihren Interessen dient.«

Er erwog den Doppelsinn der letzten Worte nicht, war aber doch nicht ohne Mißtrauen.

»Recht so, recht so. Es soll Sie nicht gereuen, jedoch wäre mir lieb, wenn deshalb meine letzte Erwähnung Beachtung fände.« Er blieb vor mir stehen. »Haben Sie, mein junger Freund, im allgemeinen den Eindruck gewonnen, daß die Triebfedern meiner Handlungsweise aus echter Gesinnung stammen, so werden Sie, auch im Interesse des Mädchens, das Rechte zu tun wissen. Überdenken Sie alles mit Ruhe. Sie sind berufen, ein gutes Werk zu vollenden, einem Akt der Befreiung zur Durchführung zu verhelfen und ein junges, verführtes Wesen, das durch die besten Anlagen ausgezeichnet ist, auf den Weg eines ehrbaren Wandels zurückzuführen. Unbegreiflich übrigens, für ewig unbegreiflich, wie dieses Mädchen auf solche Wege hat geraten können.«

Er reichte mir den Zettel für Els und schrieb mir gesondert seine Adresse auf. Sein Rückzug war leise und scheu, ich hörte kaum seine Schritte auf der Treppe. Im Raum blieb eine qualvolle Stille zurück, es war fast dunkel geworden, und die Luft war schwer. Ich entzündete die Kerze nicht und überdachte alles Gehörte, mein Blick hing an der geschlossenen Tür, diesem Ausgang zu meinem neuen Leben, an das ich noch eine Stunde zuvor voll Hoffnung und Glück gedacht hatte. Ich bin gefesselt und verpflichtet, sann ich, in die Bewegungen des Lebens verwoben und verwachsen, unabhängig von unserm Wünschen und Wollen zieht es uns in sein Walten, hier wie dort.

 

Els kam spät, hinter den Dachfenstern draußen brannten schon längst Lichter, die warm und rötlich glommen, unter dem blauen Nachthimmel, an dem Gewölk über den Halbmond trieb. Sie blieb in der Tür stehen und redete mich an, sie erkannte meinen Umriß gegen das Fenster und war erstaunt, daß das Zimmer dunkel war. Als sie die Lampe angezündet hatte, fragte sie mich:

»Wer war hier?«

»Woher weißt du, daß ich Besuch gehabt habe?«

»Also, wer?«

»Ullrich Süßenhut«, antwortete ich.

Sie warf den Mantel ab und setzte sich, beides, ohne den Blick aus meinen Augen zu nehmen. Ich unterdrückte den Scherz, mit dem ich meine Erzählung hatte beginnen wollen, und sprach so ernst, wie ihre Augen fragten. Els nahm alles gleichmütig hin, trieb mich ein wenig zur Eile, fragte selten, aber fast immer dort, wo meine Darstellung eine Lücke im Hergang ließ oder den Ereignissen vorangeeilt war. Die Nachricht von seiner Bewerbung hörte sie ohne Spott und ohne ein Anzeichen von Kränkung an, einmal unterbrach sie mich:

»Süßenhut hat mit Jannot früher einmal zu tun gehabt, darüber hat er auch mich kennengelernt, und sein Wunsch, mich meinem Glück zu überliefern, ist zuweilen als persönlich überbrachte Nachricht bei mir angelangt. Seine Verbindung mit Jannot ist nur von kurzer Dauer gewesen, Jannot hat ihn schlecht behandelt und endlich die Treppe hinuntergeworfen, dann hat er sich nicht mehr zu mir heraufgewagt, nur Briefe kamen noch. Wenn ich doch wüßte, wozu Jannot ihn gebraucht hat ...«

Sie starrte die Tapete an, als suchte sie dort ein Wort zu entziffern, ich empfand, daß sie mir nicht mehr zuhörte. Erst als ich die letzte Botschaft Süßenhuts erwähnte, sah sie mich an:

»Sprich genau, sag alles.«

»Es war eine deutliche Drohung, und er erklärte unumwunden, daß kein Vergehen von dir ihm Macht verliehe, dich zu zwingen, sondern daß ... Er hat es nicht ausgesprochen, aber mir war aus dem Zusammenhang deutlich, daß er Jannot meinte.«

»Hast du ihm gesagt, daß Jannot im Gefängnis ist?«

»Er wußte es.«

»Schon lange?«

»Seit gestern.«

Els schwieg, und ich verlor mich für eine Weile im Anblick ihres Gesichts, das voll Ruhe und Aufmerksamkeit war, aber ohne Verachtung oder Empörung. Endlich erhob sie sich, stand still und aufrecht und sagte:

»Das ist er ganz, wie Gott ihn erschaffen hat. Hast du denn seine Adresse?«

»Du willst doch nicht zu ihm?«

»Wo ist sie? Gib her. Ich habe seine Briefe verbrannt. Hast du Furcht, weil du ihn schmähst?«

»Er ist zu allem fähig, und Jannot ist behindert.«

»Nur noch bis morgen! Furcht an seiner Seite? Ach, du Kind! Soll ich dir sagen, wie ich mich freue?«

Sie legte in heißer Aufwallung ihre Arme um mich und küßte mich auf den Mund.

»Ach, mein Kleiner, mein Lieber«, rief sie.

»Jannot kommt frei?« fragte ich entzückt.

»Ja. Die Bewährungsfrist ist ihm zugestanden, er hat ein Führungszeugnis wie keiner. Der Direktor sagte mir heute, die Leute liebten ihn geradezu, er selbst habe eine Neigung für ihn gefaßt. Und er fügte scherzend hinzu, er hoffe, ihn bald wiederzusehen, wenn er auch nicht recht daran glaube. Ach, was weißt du Lieber denn von Jannot!«

»Hat er nicht vielleicht dich gemeint, der Direktor?«

»Vielleicht. Ist es meine Schuld, wenn er nicht trennt und unterscheidet? Ach, könnte ich einmal etwas für Jannot tun! – Er würde es nicht einmal gewahr werden. Dankt denn ein böser Knabe der Sonne? Er tritt aus dem Schatten, wenn sie scheint, und stellt sich in ihr Licht. Jannot kennt keine Dankbarkeit, sein Dank ist sein Dasein, ich aber, ich danke Gott!«

Ich weiß nicht, ob ich im Leben schon eines Mädchens Hand so innig geküßt habe wie nun die ihre. Sie zog sie mir fort.

»Warte, höre ...« Aber sie schwieg und sah in die Lampe. Dann ließ sie sich noch einmal alles genau berichten, womit Süßenhut seine Drohung umkleidet hatte. »An die Wand hat er geklopft?« unterbrach sie mich und lachte, »an alle Tapeten malt er sein schlechtes Gewissen und streichelt seine Heiligen.«

Aber sein Schatten war wieder im Raum.

»Ich möchte nur wissen, aus welchem Grunde er so zuversichtlich mit meiner Hilfe rechnet. Sehe ich aus wie einer, der leicht zu mißbrauchen ist?« fragte ich.

»Er hat dich schon mißbraucht. Kann man, die Furcht vor Jannot im Nacken, eine Drohung besser übermitteln als durch Andeutungen einem Dritten gegenüber, der sie weitergibt und die man im Notfall drehen und wenden, als ein Mißverständnis hinstellen oder ableugnen kann? Es kam ihm nur auf diese Drohung an, alles übrige war vertuschendes Geschwätz. Ein Brief wäre ein Dokument, mich selbst hat er nicht angetroffen. Nein, was mich beschäftigt, ist etwas ganz andres. Eine Drohung verrät zunächst nur den, der sie ausspricht, aber es ist sehr gut möglich, daß er uns etwas als eine zukünftige Maßnahme hinstellt, was er schon ausgeführt hat. Du unterschätzt ihn. Er bringt es fertig, zu warnen und zu drohen, um zu verbergen, daß er längst handelt.«

Ich überlegte.

»Nein, Els«, sagte ich dann, »weshalb sollte er dich dann überhaupt warnen, weshalb handelt er dann nicht, ohne sich zu verraten, und schweigt gegen uns beide? Nein, ich glaube zuversichtlich, daß er nicht drohen würde, wenn er sich nicht immer noch mehr von einer Warnung verspräche als von einer direkten, heimlichen Tat, bei der er selbst gefährdet ist.«

»Möglich, ich hätte ihn vor mir haben müssen, Worte sagen das wenigste. Jannot ist in beiden Fällen zu fürchten. Hat Süßenhut bei mir Erfolg, so hat er zugleich den meisten Grund zur Angst vor Jannot. Am liebsten wäre ihm sicher, Jannot käme überhaupt nicht mehr frei.«

»Was kann er von ihm wissen?«

»Es gibt vieles, das besser nur Jannot weiß. Wenn sie Geschäfte zusammen gehabt haben ...«

Ich schwieg bedrückt, Els sah ernst mit großen Augen ins Licht. »Ich habe keine Ruhe«, sagte sie endlich, »bis ich nicht Jannot gesprochen habe. Ich werde ihn morgen ohnehin vom Gefängnis abholen.«

»Vielleicht gehst du doch noch heute abend zu Süßenhut.«

Sie schüttelte den Kopf: »Hat er Jannot schon angezeigt, so ist es für mich zu spät, hat er es noch nicht getan, so wird es für ihn zu spät werden. Jetzt wird Jannot nicht mehr scherzen. Als ich ihn damals vor Süßenhut warnte, sagte er nur: ›Musenzuhälter!‹ Was kümmern ihn diese Schakale, die sich immer an der Beute beteiligen, aber deshalb nicht weniger mitgehangen werden, weil sie zum Raub zu feige waren. Aber die Beharrlichkeit dieses Menschen als Romeo war nicht vorauszusehen.«

»Er wird nichts zu tun wagen«, sagte ich, einem neuen Einfall folgend, »bevor er nicht Gewißheit darüber hat, ob nicht seine Vorzüge und Angebote auch ohne Gewalttat bei dir verschlagen.«

Els lächelte. Aber dann versank sie in Nachdenken und sprach nicht mehr. Ihr vom Lampenlicht zur Hälfte beschienenes Gesicht war ruhig. Der leise Gesang der Flamme feierte dies stille Angesicht, von dem Schönheit und Kraft ausgingen und jene erschütternde Lebensgelassenheit, welche Naturen eigentümlich ist, deren Gemütskräfte und deren Schicksal eins sind. Nur solche Harmonie ist die Gewähr dessen, was ein gutes Gewissen bedeutet, jenes gute Gewissen, das die meisten Menschen dadurch zu erreichen hoffen, daß sie ihre Handlungen in Einklang mit dem Willen und den Kräften anderer zu bringen suchen.

Als ich mich niedergelegt hatte und die Lampe im Nebenraum erloschen war, als Els' ruhige Atemzüge die Dunkelheit bewegten, sann ich über die Ereignisse des Tages nach, und mein Herz wollte nicht schlafen, so daß ich lange auf seine eilende Mühe lauschen mußte. Zukunft, o Zukunft, pochte sein erster Schlag, und der zweite pochte: Vergangenheit. Ich ermaß den Raum zwischen ihnen, um die Gegenwart hineinzubetten, aber er war zu klein.

 

Am folgenden Tag war es, daß ich Jannot zum erstenmal mit Bewußtsein für kurze Augenblicke sah. Els, die offenbar fürchtete, Süßenhut könnte ihren Freund offen oder versteckterweise angezeigt haben, schien zu Anfang nicht zu wollen, daß Jannot sie in ihrer Wohnung besuchte, aber ihre Vorsicht kümmerte ihn nicht, denn er kam mitten am Tag, zu einer Stunde, als ich meinen Abzug aus Els' Kammer erwog und eben beschlossen hatte, einen ersten Gang hinab auf die Straße zu wagen. Es war ein ermutigend klarer Wintertag, und im Herd brannte ein Feuer, Els war gegen Mittag fortgegangen, nun mochte es drei Uhr sein, die Sonne schien noch, und die Dächerwelt lag heiter und friedlich unter einer Schneedecke.

Ich erschrak sehr, als er den Raum betrat, und erkannte ihn sofort, ohne auch nur den geringsten Zug seines Gesichts oder seine Gestalt noch im Gedächtnis zu haben. Ich mußte mich setzen, als er eintrat, und zugleich darüber lächeln, daß ich es tat, ich war so wenig auf sein Erscheinen vorbereitet, daß ich mich wohl oder übel gab, wie ich war, und keinerlei Maßnahmen zu meinem Verhalten zu treffen vermochte. Es war gut so und wäre nach ganz kurzer Zeit ohnehin nicht anders gewesen, denn nichts von allem, was meine Natur und meine Gedanken herausgefordert hatte, als ich von diesem Manne hörte, wurde von seiner persönlichen Erscheinung bestätigt. Seine Blicke prüften mich nicht, sondern er nahm mich einfach wahr, ich finde keinen anderen Ausdruck für die gelassen-heitere Sendung seiner Augen.

»Es scheint Ihnen besser zu gehen«, sagte Jannot, »was wollen Sie tun, wenn Sie gesund sind?«

»Ich fahre heim«, antwortete ich, um allem auszuweichen, was meine Lebensart hätte berühren können.

Aber er fragte mich nicht, sondern sah sich im Zimmer um, ein klein wenig spöttisch, als unterdrücke er ein Gefühl der Freude in sich angesichts des vertrauten Raums. Wann Els käme, er habe sie am Mittag verpaßt. Gegen Abend, hätte sie gesagt, antwortete ich. Er ließ sich auf einem Stuhl nieder.

»Lesen Sie viel?« fragte er und zeigte auf das Buch, das vor mir lag.

»Ja«, sagte ich. »Sie nicht?«

»Das Lesen verdirbt mir die Laune«, antwortete er, »ich beschäftige mich ja auch selbst.«

Kein Schatten meines inneren Zustandes ging auf ihn über. Ich sah ihn an. Er wich meinem Blick nicht aus, was aus Schonung oder Takt hätte geschehen können, denn mein Blick war unsicher, aber er erwiderte ihn auch nicht. Er konnte meine Blicke annehmen, ohne sie einzulassen.

»Womit beschäftigen Sie sich?« fragte ich in heller innerer Verzweiflung. Jetzt half er mir:

»Quatsch nicht«, sagte er. »Wer sechs Wochen bei Els herumliegt, der weiß Bescheid.«

»Sie verrät nichts«, sagte ich, glücklich darüber, ein Wort über Els sagen zu können, ohne selbst die Rede auf sie gebracht zu haben. Hier schien mir ein Weg zu gehen, auf dem wir uns begegneten.

»Aber sie erzählt alles«, meinte er wohlgelaunt. »Els kann das vereinen. Du hast Glück gehabt.«

Ich zitterte vor Dankbarkeit. »Ja«, sagte ich rasch und nahm allen Mut zusammen, »du« zu sagen, wie er es tat, »du hast eine starke und kluge Freundin, was immer du tun magst. Was hast du aus ihr gemacht!«

»Ich aus ihr gemacht ...«, wiederholte er und schien ernstlich nachzudenken. »Das könnte mir passen«, meinte er dann, und die Stirn glättete sich wieder. »Wer erzogen werden muß, kommt nicht in Betracht. Man hält sich, wo Pfähle sind. Els ist hübsch und gut, vielleicht ist sie sogar klug, wie du sagst, aber so was merkt man doch sowieso. Jedenfalls hat sie die Röcke nicht im Kopf und den Kopf nicht unter den Röcken.«

»Und das Herz?« fragte ich.

»Ach so, ja ...«, antwortete er, sichtlich besorgt um mich, aber bereit, höflich auf alles einzugehen. Dann schien es ihm aber doch notwendig abzulenken, und er sagte:

»Sie wird das Herz haben, wo es halt bei den Weibern sitzt.«

Er war aufgestanden und hatte einen kleinen Eckschrank geöffnet, in dem er etwas zu suchen schien.

»Höre«, sagte er in den Schrank hinein, »laß dich hier nicht erwischen. Wenn die Stränge halten, Schaukel ab. Eis meint es gut mit dir.«

»Ich bin schon im Aufbruch«, antwortete ich, »ich bin dir und Els dankbar und hoffe, daß ich euch eines Tages vergelten kann, was ihr mir an Gutem getan habt.« Und aus irgendeinem Grunde, den ich nicht verstand, fügte ich hinzu:

»Els wird mich begleiten.«

Jannot schlug die Schranktür zu und sah mich mit gutmütigem Gesichtsausdruck an:

»Willst du etwas an sie ausrichten, wenn sie heimkommt?« fragte er. »Ich kann nicht länger auf sie warten. Mich hält es in keinen vier Wänden mehr, auch will ich die Stadt verlassen, ich muß ein Land finden, in dem ich mich bewegen kann, ohne überall anzustoßen.«

»Alles, was gewünscht wird«, sagte ich, erfreut über seine Worte über sich selbst, die mir eine größere Gabe bedeuteten, als ich für meinen törichten Ausspruch zu verdienen glaubte.

»Nur, wo sie mich treffen kann. Hier schreib ich es an den Buchrand. Gib her.«

Ich sah auf seine leicht gebeugte Gestalt hin, während er schrieb, das dunkelblonde, dichte Haar, die breiten Schultern und die ungewöhnlich schöne Hand kamen mir nah. Ich erinnere mich dieser Hand gut, die, ohne sonderlich gepflegt zu sein, nicht groß und von einer Wohlgestalt war, die Güte ausströmte und Vertrauen einflößte. Wie oft habe ich später die Hände der Männer, die mir begegnet sind, mit dieser Hand verglichen, und wie viele darunter haben mir den Glauben an die Kräfte verdorben, die ich aus vielerlei guten Eigenschaften glaubte annehmen zu dürfen. Die Hand des Menschen ist von allen sichtbaren Sinnbildern der Seele das gewichtigste Merkmal von Wert oder Unwert und sagt weit mehr über den Charakter eines Menschen aus als die Züge des Gesichts, denn sie ist nicht verstellbar wie jene. Die schweigsame Beredsamkeit ihrer Gestalt bleibt als ein beständiger und von keiner Willkür beeinträchtigter Ausdruck in allen Bewegungen des Gemütes oder des Verstandes gegenwärtig, und an ihr offenbaren sich die Gegensätze und Widersprüche von Absichtlichkeit und Folgerichtigkeit im Verhalten einer Natur, verglichen mit ihrer Beschaffenheit, am lebendigsten. Wie oft hat eine Hand, die auf einem Knie lag, mich über die Häßlichkeit, Bosheit und Armseligkeit beruhigt, die ein verführter Mund hervorstießen.

Sonst weiß ich nur noch wenig Einzelheiten von der Erscheinung Jannots, sosehr ich mein Gedächtnis bemühe. Ich vermöchte über seine Kleidung so wenig auszusagen wie über seine Größe und weiß nicht mehr, ob sein Gesicht schön oder häßlich war, wie man von schön und häßlich zu sprechen pflegt. Für gewöhnlich fällt nur die Unverhältnismäßigkeit einer Erscheinung in ihren Merkmalen auf, gute Verhältnisse vereinen sich zu jener Gesamtwirkung, die uns als Kraft und Schönheit in Erinnerung bleibt.

Ich verstand damals alles, was ich über die Wirkung dieses Mannes gehört hatte, aber keine seiner schlechten Eigenschaften, die ich um der Voreingenommenheiten willen anzunehmen genötigt war, welche uns allen in der Jugend anhaften. Ohne Unterbrechung, wie ein heiß flimmerndes Licht, umfing mich in diesen kurzen Augenblicken unserer Begegnung Els' Wesen und ihre Liebe zu diesem Mann, ich empfand sie als gegenwärtig, und sie lächelte süß und traurig, voll verhaltenen Stolzes, wie ich sie niemals in der Wirklichkeit hatte lächeln sehen. In keinem Schmerz, keiner Verlassenheit und keiner Not meines Lebens hat mich je wieder ein Gefühl so tiefer Einsamkeit beschlichen als in diesen Augenblicken.

Jedoch im Gang der Geschehnisse vollzog sich alles einfach, natürlich und nüchtern. Ich erinnere mich noch, daß Jannot nach einer Weile vor den kleinen Wandspiegel trat und mit besorgtem Ausdruck sein Gesicht absah. Dann blieb er noch eine Weile mitten im Zimmer stehen, beide Hände in den Taschen und den Blick gesenkt. Ich war nicht mehr da, das war deutlich. Er ging auch ohne Gruß.

Allein geblieben, betrachtete ich die Schriftzüge auf dem Blattrand der aufgeschlagenen Seite, ich tat es unruhig und schmerzlich ergeben, das Unnennbare meines Erlebnisses peinigte mich. Ich betrachtete die kurze Zeile, die in den Drucksatz der Buchseite überlief, als sei das ganze Blatt leer, und zog die Buchstaben mit den Blicken nach. Sie waren sorgfältig und klar erkennbar, eher gezeichnet als geschrieben, und einzelne von ihnen standen, auch mitten im Wort, gesondert, andere hingen in wunderbar sinnvoller Verbindung zusammen, so daß ein kleines Wort eine einzige, maßvoll eilende Linie bildete, als lebte sie noch, bewegte sich und bedeutete mehr, als sie verriet. Das J., mit dem der Satz unterzeichnet war, bestand aus einem nach rechts geschwungenen Halbkreis, der in der Mitte von einer waagerechten Linie durchschnitten war, sonderbar naiv, grob und klug, so knapp, als sei er in höchster Eile hingeworfen, aber schwerfällig genau gezeichnet und langsam vollendet, wie eine Rune im Holz.

 

Ich habe keine Gelegenheit gehabt, diese Nachricht Jannots an Els weiterzugeben, denn sie ließ sich den Abend über nicht mehr sehen und kam auch zur Nacht nicht. Der kommende Tag verlief still, und ich blieb bis zum Mittag allein, Stunden, die ich dazu benutzte, mich für meine erneute Wanderschaft zu rüsten. Ich wagte den ersten Gang auf die Straße hinab, um mir Brot und Milch zu besorgen, fror aber nach kurzer Zeit zu arg, um meinen Weg zu einem Spaziergang durch die Straßen ausdehnen zu können. Aber ich sah die schmale Gasse zum erstenmal, in der ich nun nahezu zwei Monate gewohnt hatte, sah wieder Menschen, Tiere, Häuser und Läden und erlitt den Lärm und das Getriebe der Stadt in allzu verschonten Sinnen, zugleich als eine schmerzhafte Bedrängnis und als erregende Neugier. Trotz meiner Schwäche und Zaghaftigkeit empfand ich die Regungen des neugeschenkten Lebens tief in mir, wie aufbrechende Quellen von Kraft und Glück, und meine Entschlüsse waren heiter und mutig, als ich mit zitternden Knien, die Hand am Geländer, die dunklen Stiegen emporklomm, um in mein Bereich der langen Rast zurückzufinden.

Ich fand die Kammertür angelehnt, obgleich ich mich deutlich entsann, sie geschlossen zu haben, mitten im Raum stand eine hohe Frauengestalt, die ich nicht gleich erkannte, so daß ich zögernd auf der Türschwelle stehenblieb. Ich fühlte mein Herz mächtig pochen und erkannte die fragende Bedrängnis seines Schlages mit Schrecken. Hatte ich so inbrünstig darauf gehofft, Els möchte zurückgekehrt sein, Els, die mir so wenig gehörte wie ferne schimmernde Schlösser am Meer oder wie die warme blasse Gunst der Frauenliebe an Frühlingstagen, wie der Reichtum der Reichen und Glücklichen, wie Macht und Ruhm ...

Es war Clio, Jannots unglückliche Bekannte, deren Armband zum Anlaß seines Mißgeschicks geworden war und deren Unterredung mit Els ich wider meinen Willen von meinem Verschlag aus angehört hatte. Ich stand ihr nun mit großer Befangenheit gegenüber, denn sie ahnte nicht, daß ich zum Mitwisser ihres traurigen Geheimnisses geworden war, und mich überfiel die quälende Vorstellung, als habe ich sie weit empfindlicher und rechtloser beraubt als Jannot.

Sie sah mich prüfend und ungewiß an und fragte endlich nach Els, denn es mußte ihr so erscheinen, als sei ich kein Fremder im Raum, war ich doch nicht wie einer bekleidet, der einen weiten Weg durch die Straßen hinter sich hatte, auch glaubte ich, daß ich ihr einen Stuhl angeboten habe, als hätte ich Gastgeberrechte.

»Seit Jannot aus dem Gefängnis entlassen ist, hat Els ihre Kammer nicht mehr betreten«, antwortete ich, denn ich wollte ihr mitteilen, wie es mit Jannot stand, bevor sie fragte.

Sie saß unbeweglich und starr auf ihrem Stuhl und schaute zu mir auf. Ich sah erst nun recht, wie schön sie war, ihr schmales, bleiches Gesicht rührte mich tief, aber ohne daß sich Mitleid bei mir regte, denn die klugen, ruhigen Augen schauten ernst aus einem beherrschten Land des Leids, und mir wollte nicht aus dem Sinn, daß diese Seele einen guten Kampf gekämpft haben mußte.

»Ich bin Els' Freund«, sagte ich, »ich kenne Ihre Begegnung und Unterredung mit ihr, die vor einigen Tagen in diesem Raum stattgefunden hat. Ich lag damals noch krank in jenem Verschlag, als Sie hier waren, und es steht Ihnen frei, mich fortzuschicken oder zu verlassen, wenn Sie das Vertrauen nicht aufzubringen vermögen, es möchte jedes Ihrer damaligen Worte mir heilig sein, solange ich lebe.«

Sie sah mich unbeweglich an; ein gramvolles Forschen, ohne kleine Pein, drang tief in meine Blicke, ich senkte die Augen nicht, sondern schaute ruhig in ihr Gesicht. Dabei dachte ich: Was liegt viel daran. Nach nicht allzu langer Zeit, du und ich, stehen wir am anderen Ufer des großen Stroms und lächeln, ein wenig betroffen, versagend und bereit zu versöhnen.

Da kam in ihren schönen Zügen ein Hauch des Lächelns auf, das ich meinte, und sie gab mir die Hand.

»Leben Sie hier schon lange bei den beiden?« fragte sie.

Ich erzählte ihr mein Geschick und sprach von Els, die mir geholfen hatte. Sie hörte eine Weile ohne ein Anzeichen von Teilnahme oder Ablehnung zu, dann senkte sie den Blick, so daß ich schwieg.

»Und Sie selbst?« lenkte sie ab, »wer sind Sie und was führte Sie in die Stadt?«

»Mein Weg«, sagte ich, »sonst weiß ich nichts zu sagen.«

»Steht es so ...«, meinte sie und lächelte, so daß ich plötzlich meine große Jugend empfand und Dankbarkeit gegen ihr Lächeln. Aber zugleich wurde mir klar, daß ich mich in meinen Worten über Els wohl verraten haben mußte, denn Clio sagte, als bestätigte sie mir etwas:

»Dieses Mädchen hat auch mir viel geholfen.«

Dieses Geständnis mißfiel mir. Wollte ich denn Teilnahme für mich, glaubte diese Fremde, ich litte gar an Els und grämte mich, daß sie Jannot angehörte und nicht mir? Dachte sie etwa, ich säße hier in einer ähnlichen Lage wie sie selbst in dieser Dachkammer? Aber darüber empfand ich, wieviel mehr Grund Clio hatte, ihren Stolz zu schützen, als ich und wie sie es liebevoll vermied, mich fühlen zu lassen, daß ich ohne ihren Willen ihr Vertrauter war. Ich schwieg bestürzt und hilflos und beneidete alle Unbedachten. Zwischen uns stand, wie eine gläserne Wand, das Glück der anderen, ihre Zugehörigkeit zueinander. Da lief es mir brennend durch die Kammern meines Herzens: Du muß dich von Els trennen.

Aber Clio dachte an sich:

»Ich bin so unerfahren, verglichen mit diesem wunderbaren Geschöpf, dessen Wert ich ahne. Meine Unerfahrenheit hat Unheil angerichtet, und doch ist nichts zurückgeblieben, das ich gutmachen könnte.«

Sie besann sich und schwieg, und plötzlich bedeckte eine tiefe Röte ihr Gesicht.

»Ich werde diese Wochen meines Lebens niemals vergessen«, sagte ich rasch und möglichst heiter. »Ich habe hier viel erlebt, mehr, als ich bei gesunden Kräften in Jahren erleben könnte. Die Rolle des Zuschauers ist uns selten gegönnt, meist verdirbt uns die eigene Lebensgier den reinen Blick auf Bilder und Gestalten.«

Ich stockte. Wir schwiegen beide.

Nach einer Weile sagte Clio:

»Wie gut Sie es haben. Sie sind ein Mann, und Ihre Einsätze gelten, Ihr Gewinn braucht sowenig Ihr Schicksal zu sein wie Ihr Verlust, und immer können Sie die bereicherte Erfahrung retten. Wir haben nur einen Weg, oder wir verderben den Kern.«

Ich nahm in jäher Aufwallung ihre Hand, aber sie entzog sie mir freundlich, nicht anders, als ob sie sie für ein gutes Erfordernis brauchte.

»Ja«, sagte ich, »es ist wahr, zwischen aller Gunst, die uns einander näherbringen könnte, steht die Furcht vor dem Mitleid.«

»Gespenster, die man mutig mit Namen nennt, verlieren oft ihr Grauen«, antwortete sie.

Ich erglühte vor Freude über ihre Antwort und sah sie dankbar an, eine reine Zuneigung im Gemüt.

»Was liegt an der Gesinnungsgunst«, sagte ich, »die man für eine flüchtige Stunde einem Vagabunden gewährt, der morgen wieder auf die Wanderschaft geht? Die Freiheit im Geist ist mächtiger als die Lichtfackeln des Erdgeistes und heller.«

Irgendein Wort in meinem Satz schien ein dunkles Land ihrer Seele zu erschließen. Sie lächelte trüb, und mir war, als sagte sie:

»Ich bin ein Weib!«

Und so antwortete ich, als habe sie es gesagt:

»Es gibt keinen Unterschied der Geschlechter im Licht der Freiheit, von der ich spreche. Sie ist das erste und das letzte Licht, zwischen seinem Aufgang und Niedergang huschen die schmerzlichen und lichtreichen Flammen, die entstehen, wenn es das Vergängliche berührt. Ist dieses Licht uns einmal aufgegangen, schließen sich uns in ihm das Augenpaar und einst der rasche Tag.«

Clio sah mich mit wachen, brennenden Augen an. Dann sagte sie:

»Was bauen Sie für ein helles gläsernes Haus!? Wenn sich die Tür dort öffnen würde und er käme herein, so würfe sein erster Schritt alles zu entsetztem Gehorsam nieder, in Scherben und Splitter.«

»Wer?« fragte ich.

Sie erhob sich, als sei sie dessen gewiß, mich gekränkt zu haben, vielleicht auch, daß mein Wort, das keine Frage war, ihr zum Bewußtsein gebracht hatte, daß sie zuviel eingestanden. Ihr Blick schien mir getrübt und aller Täuschung zugängig. Aber sie ernüchterte sich, und an den Türpfosten gelehnt, sagte sie rasch:

»Ich wußte schon, daß Jannot frei ist. Ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand, um ihm behilflich zu sein, sein Los zu erleichtern oder seine Frist abzukürzen. Aber seit meine Familie sich von mir abgewandt hat, bin ich beinähe rechtlos geworden und habe allen Einfluß verloren, der ehedem nicht gering war, denn man hörte unter den Meinen auf mich, und es sind einflußreiche Persönlichkeiten darunter. Aber seit ... es ist sonderbar, wie einmütig alle sich von mir abgekehrt haben, als wäre ich krank, aussätzig – mein Geld wird mir durch die Bank überwiesen, und meine Mutter, deren Haus ich nicht mehr betreten kann, besucht mich nur abends und sorgfältig verschleiert. Wenn sie bei mir ist, weint sie.«

Ich war verstimmt und ernüchtert, schalt mich heimlich einen Toren und fand gleichgültig, was da erzählt wurde.

»Sie werden Ihren Weg auch allein finden, Clio«, sagte ich.

»Clio?« wiederholte sie gedehnt und lächelte gequält. »Nun ja, warum auch nicht. In diesen Kreisen macht man es sich einfach, Sie mit den anderen. Warum nicht Clio und Els ... wie in einem öffentlichen Haus.«

»Oder wie im Himmel«, sagte ich erbittert, »auch da wird man die Erwählten ohne viel Umstände intim anrempeln.«

Aus Clios weit offenen Augen tropften Tränen, hielten sich eine Weile wie Perlen im Pelzbesatz ihres Mantels und zersprangen am Boden. Sie sah mich an, als hielte sie mir ihr Weinen hin, und schien doch nichts von diesen Tränen zu wissen. Es klang auch ganz ruhig, als sie sagte:

»Wissen Sie, wo ich ihn treffen kann? Ich wollte hier sonst nichts.«

»Ich weiß es nicht, aber ich will Sie benachrichtigen, sobald ich es erfahren habe.«

»Und Els?«

»Meinen Sie das gnädige Fräulein?« und ich nannte Els' Familiennamen.

»Ja«, sagte sie hilflos, »ja doch, ich meine Els.«

»Els ist nicht mehr hier gewesen, seit Jannot frei ist.«

»Auch ...«

»Ja, auch nachts nicht.«

»Wieso? Habe ich danach gefragt?«

»Ja, Sie haben danach gefragt.«

»Wer Geheimnisse hinter Türen erlauscht, vermag freilich rasch Schlüsse zu ziehen.«

»Sie verwechseln ein Krankenlager mit einem anderen«, sagte ich, »und wider Willen aufgefangene Geständnisse mit einem verspielten Armband.«

Wieder verwandelte sie sich und trat mir einen Schritt näher. Dabei legte sie mir die Hand auf die Schulter und sah mich mit forschenden, verschleierten Augen an:

»Was ist Ihnen geschehen? Ich kenne Sie nicht wieder, habe ich Sie gekränkt? Verstehen Sie doch ...«

»Zwischen uns ist es besser, nicht zu verstehen«, sagte ich. »Wunden zu verstehen, die man nicht heilen kann, ist schamlos, und Mitleid ist die Krankheit der Zeit, in der wir leben. Lieber bin ich böse als gütig aus Schwäche. Güte aus Schwäche ist schon halbe Schlechtigkeit.«

»Ja, ich sehe, ich habe Sie gekränkt. Aber womit nur?«

Ich schwieg.

Sie sah sich um und lauschte, dann zog sie die Tür auf und horchte die Treppe hinab. Es kamen Schritte herauf, aber sie verstummten im Stockwerk unter uns, und eine kleine Glocke bellte brüchig hinter der Wohnungstür unten. Clio zitterte.

»Schreiben Sie mir«, bat sie, »schreiben Sie mir gleich, wenn Sie seine neue Wohnung wissen, die alte hat er aufgegeben. Ich bitte Sie darum. Auf dieser Karte finden Sie meine Adresse, es ist nicht weit von hier, nur ein möbliertes Zimmer. Wollen Sie es tun, vielleicht selbst kommen? Ein Brief dauert so lange ...«

»Ja«, sagte ich. Eine bleierne Traurigkeit umfing mich, ich fand für kein ausgleichendes Wort den Aufwand, kaum zu einem teilnahmsvollen Abschiedsgruß. Sie flüsterte ihr Lebewohl in der halboffenen Tür und ging auf den Fußspitzen hinab, rasch und wie verscheucht. Ich stand und lauschte, bis unten das Tor zuschlug. Das Zimmer war leer und grau, und ich mußte mich niederlegen. Ich denke nicht an dich, Clio, und nicht an meine zukünftigen Tage, nicht an mein Bündel dort im Winkel, mit den abgetanen Dingen meiner vergangenen Tage, nicht an Glück noch Schmerz, nicht an Schicksal, Schuld noch Recht, sondern ich warte auf Els.

 

Die Nacht hindurch war ich wieder allein in der Wohnung geblieben. Als ich am Morgen vor dem Herd kniete und das Feuer anfachte, hörte ich den raschen, leichten Schritt auf der Treppe, den ich gut kannte und oft erlauscht hatte. Ohne meine Haltung am Boden zu ändern, blieb ich hocken und wartete, sah die Flammen an und hörte mein Herz schlagen. Meine Blicke tanzten im Feuer, das Feuerlicht tanzte in meinen Augen, und unter dem Flimmern pochte der dumpfe Hammer.

Els mußte klopfen, denn sie hatte ihren Schlüssel nicht bei sich, und die Tür war noch verschlossen. Ich hatte mich gefaßt, und eine neue Kleidung, die mir ihre Erscheinung fremd machte, half mir über die erste Befangenheit fort, so daß sie nichts merkte als meine große Freude.

»Er lebt und macht sich nützlich«, sagte sie heiter, warf ein paar Päckchen ohne viel Sorgfalt auf das Bett und machte sich den Kopf frei von einer kleinen Pelzkappe, deren Rand, blond umsponnen, die Stirn kühl und fremd machte, die Augen neu und streng. Sie war nicht mehr Weib und Mädchen, sondern eine Dame, aber natürlich und ohne neuen Aufwand, sie war nicht verkleidet, sondern verwandelt. Was mich überraschte, war doch selbstverständlich, denn die Einfachheit ließ weder Kritik noch Tadel zu. Aber wie hätte ich zum einen oder anderen Blick oder Laune finden können, da ich aus ihrer neuen Einkleidung doch nur, bangen Sinns und traurig betroffen, auf eine Änderung der vertrauten, liebgewonnenen Lebensformen schloß und auf den nahen Abschied.

»Wird nun alles anders? Wollt ihr fort?«

»Ja«, sagte sie, »es geht in die Weite, mein Lieber, mit dir und mit uns. Komm zu mir, sieh mich an, sag mir, daß du nun zu Kräften kommen willst und von mir nehmen, was du noch brauchst.«

»Ich brauche nichts.«

»Das weiß ich besser.«

Sie hatte nun das Pelzjäckchen und die Handtasche abgelegt und saß in einem dunklen Tuchkleid ohne Schmuck vor mir, in kleinen hohen Stiefelchen.

»Ich weiß nicht, Els, ob ich dich erst wiederfinden muß oder ob ich dich jetzt erst erkenne.«

»Du mußt mir ein wenig helfen«, sagte sie, »es gibt hier allerlei zusammenzusuchen. Du kannst übrigens die Kammer so lange behalten, wie du willst, sie ist bis zum Frühling bezahlt.«

»Du kommst nicht wieder?«

»Hierher? Nein. Jannot ist doch kein städtischer Beamter. Städte, Sterne, Wälder, Gold und Herzen sind überall dieselben. Wem sag' ich denn das? Was hast du mir nicht alles von deiner Wanderschaft erzählt. Ich spreche ja mit deinen Worten, du Handwerksbursche zwischen Träumen und Zäunen. Wenn du einmal zur Ruhe kommst, so schick mir eine Ansichtskarte, inzwischen will ich raten, was drauf als Zeichen deiner Landung zu sehen sein wird, ein Weib, ein Schloß, ein Säckel voll Gold oder immer noch ein Herz in einem Schuh.«

»Ich werde es schon zu etwas bringen«, sagte ich trotzig, halb herb verschlossen in meinem Kummer, halb schmerzlich aller Klage aufgetan. Aber ich stand schon wieder im stärkeren Strom ihrer Kraft und Frische. Welch eine Lebenshilfe ist ein starkes Dasein.

»Es wird schon gehen«, sagte ich.

Sie sah mein Gesicht, legte den Arm um meinen Hals und küßte mich: »Freilich wird es«, antwortete sie.

Ich fragte nach Süßenhut.

Sie sah mich an: »Wieso? Hast du etwas gehört?«

»Nein, er war nicht hier.«

»Das mein' ich nicht. Schau her.«

Sie nahm ihr Täschchen vom Bett, zog ein Zeitungsblatt hervor und entfaltete es auf dem Tisch. Ich folgte nach einem fragenden Blick in ihre ruhigen Augen ihrem Finger und las:

»Bei den Schleusen wurde in den städtischen Anlagen im Kanal die Leiche des Antiquitätenhändlers und Agenten Ullrich Süßenhut geborgen. In der Kleidung des Ertrunkenen wurden die Uhr, Schmuckgegenstände und die gefüllte Brieftasche vorgefunden, so daß, da die Leiche auch keinerlei Verletzungen aufweist, ein Unglücksfall oder Selbstmord angenommen werden muß ...«

Mich schwindelte, ich hob den flimmernden Blick. Unter Els' hellen großen Augen, die mich weit offen anschauten, trat ich zurück ... einen Schritt, zwei Schritte. Ich stützte mich an der Wand und sprach Worte, die nicht erklangen.

Die hellen großen Augen hielten mich und machten schaurige Aussagen, wild, kalt und schmerzhaft deutlich. Meine Lippen zitterten, kraftlos spiegelte mein Bewußtsein das Wissen der starren Lichter vor mir, des todernsten Angesichts, der gefaßten Zustimmung, des hemmungslosen Lebenstriumphes.

»Hat ... Jannot ...«

»Schweig!« sagte Els hart und böse, aber dann milderte sich der Ausdruck ihres Gesichts zu einem nachdenklichen Bedauern, und mit leicht gehobenen Achseln sagte sie:

»Er wußte zuviel. Nun streichelt er seine Heiligen im Himmel.«

Aber ich vermochte ihren Umschwung nicht mitzumachen, meine von Krankheit und Einsamkeit geschwächte Widerstandskraft versagte, und meine Erschütterung überwand mich völlig.

Els runzelte kaum merklich die Brauen, verwarf aber rasch die Sorge, die angesichts der Wirkung dieser Mitteilung auf mich und vor meiner Schwäche in ihr aufgestiegen sein mochte. Sie sah mich an.

»Und doch«, stammelte ich in ihren Blick hinein, der wahr und groß die Klarheit und Stärke ihrer Natur auf mich niederströmte: »Und doch, es war ein Mensch.«

»Nein«, antwortete Els, »er war kein Mensch. Krankt weiter daran, daß alle gleiche Rechte haben, ich weiß, daß nur die wenigsten Menschen Menschen sind. Und wenn ich einmal so fühle und glaube ... der Rest ist eine Kraftfrage. Man soll den Starken mit den Maßen messen, mit denen er gemessen hat. Abzutreten ist das Schwerste nicht, aber ein halbes Dasein ist gemein.«

Da sprang mir das Wasser in die Augen, und ich vermochte wieder zu atmen. Els sah mich liebevoll an, sie wußte, wie immer, die Quelle von Qual und Entzücken.

»So rinnen ihm doch ein paar Tropfen aufs nasse Grab«, sagte sie heiter. »Er würde wohl nicht wissen, woher sie stammen, aber dein Weg, auf den sie niederfallen, geht nicht in die Dunkelheit, denn du weißt es, und mit dir ich. Mach einen guten Gang, mein Lieber, auf deine Art, und werd mir nicht irre an dir, weil du allein bist. Das wünscht dir Els.«

 

Welch große Stille, welch tiefe Verlassenheit kann es im Lärm und in der Menschenfülle einer großen Stadt geben! Zuweilen, wenn ich nun unter den schrägen Brettern erwachte und das kleine, trübe Dachfensterchen sah, auf dem Sonne, Wasser oder Schnee durchschimmerten, nahm ich die letzten, losen Kleider, die, wie auch ich, von Els zurückgelassen worden waren, von der Wand und redete mit ihnen wie zu Gefährten. Ich ließ den Tag langsam, langsam über mich hereinbrechen und nahm ihn Stunde für Stunde untätig an, mit nichts beschäftigt als damit, Els zwischen den Geräten und Möbeln der Kammer heraufzubeschwören. Dort stand die niedrige Holzbank, das Mädchen hockte darauf, hob die starke kleine Hand ins Licht, und »Glassplitterchen« erschien auf der Fläche, zart und traurig, den wunden, leeren Blick ins Helle gerichtet. Nun wandte Els sich mir zu, und aus den lebenshellen Quellen ihrer Augen floß ein Schein und traf Rassos Knabenhaupt. Er lächelte glücklich und verloren, so daß ich mich rasch abwandte. Nun, in der Dämmerung, erhob sich die hagere Herrengestalt des alternden Grafen, der Rassos Vater war. Er stand wie in der Beleuchtung von Els' Augen, lebensergeben, leidensgewiß, besorgt, sich ohne falsche Gunst von einer Welt zu trennen, der seine Teilnahme nur wie in Herablassung zugewandt gewesen war. »Geht eure raschen, lauten Wege, spottet, lärmt und richtet, ich tilge die Flecken aller Tat, die die Verflossenen meines Geschlechts begangen haben, indem ich keine andere Zuversicht zu erlangen suche als die, daß unsere Abkehr ohne Klage geschehe.«

Die Gestalt tauchte in der Dämmerung unter, aber nun löste Süßenhuts Schatten sich aus dem finster gewordenen Winkel.

»Alles für Els!« rief er.

Nun war es ganz dunkel in der Kammer geworden, aber ich sah Süßenhut immer noch, der träge, aber eindringlich flüsterte. Seine Haltung hatte sich geändert, er war ein unbeweglicher Schattenstreifen.

»Plötzlich auf der Straße geht sie neben mir, so war es. Wie kommt denn Els in diese Stadtgegend? Ich sah sie noch niemals hier. Sie geht neben mir zur Linken, als ginge sie so schon lange Zeit, sie mußte mich erkannt und eingeholt haben, ich bin nicht genötigt haltzumachen, ich setze einfach meinen Weg neben ihr fort. Es war, als habe sie mir den Schreck herausgefangen, so traurig und natürlich. So klingt auch ihre Stimme: ›Er ist aus dem Gefängnis entlassen‹, sagt sie, ›er läßt mir keinen Augenblick Ruhe, er beobachtet mich auf Schritt und Tritt, aber ich möchte mit dir sprechen, Ullrich Süßenhut, man hat mir hinterbracht, was du von mir willst. Ich möchte wieder frei sein, Ullrich Süßenhut, ein sittlicher, geachteter Mensch, wie du es bist. Kann ich zu dir kommen, zu dir in die Wohnung?‹

›In meine Wohnung? Die kennt er. Er wird dir auflauern, Els, bei mir sind wir nicht sicher.‹

›Das ist wahr. Wie klug du bist, Ullrich Süßenhut. Er hat Verdacht auf jeden, den ich kenne. Aber abends in den Anlagen, heute nacht, spät, wenn er mich verlassen hat, können wir uns treffen, und ich will dir Antwort geben. Komm gleich nach Mitternacht. Willst du kommen? Nein, nein‹, widerruft sie dann ihren Vorschlag, ›nicht in den Anlagen, ich fürchte mich dort allein. Auch hast du Jannot verraten.‹

›Ach was‹, sage ich, ›wer wird sich fürchten, dort ist keine Seele, und ich werde dich nicht warten lassen. Kein Wort habe ich gesagt, nichts verraten.‹

Und nun geht sie ohne Gruß, rascher als ich, so daß ich zurückbleibe. Nicht einmal begegnet sind wir uns, niemand hat gesehen, daß wir auf der Straße beieinanderstanden, uns etwa trafen oder plauderten.

Unter den treibenden Wolken ist es zur Winternacht nicht hell, aber der Schnee am Boden beleuchtet im Umkreis ein wenig, man sieht Gestalten und Baumstämme, sie gleichen einander in der Entfernung eine Weile, bis nur noch Bäume kommen. Der Nebeldunst des flüsternden Wassers und sein leises Geräusch sind alles, der Rest der Welt. Das Wasser sieht schwarz aus, man hält sich an die Baumseite, aber auch dort ist es nicht geheuer. Über den eisernen Steg gleiten noch, lautlos im Schnee, ein paar dumpfe Formlose, nicht Mann noch Weib, aber nun wird es still und leer, bis aus der Ferne das Donnern des Wasserfalls bei den Schleusen klingt, noch verhalten, wie Tannenrauschen. Die Stadtkirchen schlagen von Viertel zu Viertel, es ist kalt, und die Nässe der Luft dringt durch.

Ganz fern, drüben am Fluß, schimmert ein kleines rötliches Licht. Ein Alter hinkt mir entgegen. Der Alte schwankt, ei, der ist am Ende seiner Kraft, gebückt humpelt er an mir vorüber. Aber nein ... doch nicht vorüber ... es richtet sich neben mir empor, dreht sich sonderbar rasch mir zur Rechten. Es sammelt sich alle Seinsgewalt in furchtbarem Anprall mir zwischen Herz und Magen. Das reißt dem Menschen den Mund weit auf, und kein Schrei kann hervor. Jedoch man hilft ja! Man trägt mich, man läßt es mir eiskalt und sausend in den offenen Mund fluten, ins brennende Eingeweide. Ein Gesicht geht im Kalten mit, blitzschnell. ›Oh, Herr Elsbesitzer, Kräftiger, entschuldigen Sie doch, Herr Jannot ...‹ Die kalte Schwärze saugt mir den Odem aus – kein schwerer Tod, mein Lieber, kein schwerer Tod ...«

 

Ullrich Süßenhut, der Schatten im Raum, war aus den Nebellichtern meines Halbtraumes entschwunden. Das war der Tag am Fenster. Willkommener Tag, du fröhlich-kalter, entschlossener. Am Horizont, hinter den feinen Eisblumen der Scheibe, glomm ein rotes Band, und die Schneedächer rauchten.

Nun galt es, nach letztem Abschied, einen neuen Aufbruch ins Leben. Was hängst du dich noch als ein liebender Schein, begleitet von meinen Augen, an diese törichten Gegenstände, mein Herz? Ich ergriff die Flasche, die sich ängstlich in die Spinnweben der Fensterbanknische gedrückt hatte. Kann man denn an einer leeren Schnapsflasche zuletzt noch Gefallen finden? Ihr habt es noch nicht gewußt, ach, man kann es, auch an einem Stückchen billiger Seife in einer Blechschale, an einem Paar alten Pantoffeln aus braunem Samt, für die ein Trödler keinen Groschen geben würde.

Was mir aber nicht gefiel, das waren ein warmer Überrock, ein Paar Stiefel und saubere Wäsche, die schön geordnet, für mich bestimmt, auf einem Stuhl lagen, der Rock zuunterst. Aber ich mußte zuletzt doch, wie oft im Leben, das Ungefällige annehmen und mitschleppen und das Gefällige zurücklassen. Ich verließ die Wohnung am Morgen, ohne rechten Entschluß, ganz nebenbei und weil es sich endlich so ergab.

Auf der dämmerigen Stiege, im Schneelicht des Treppenfensters, erkannte ich Clio. Mein Herz krampfte sich schmerzlich zusammen, nun wußte ich, daß ich Abschied genommen hatte.

»Wohin gehen Sie?« fragte sie.

»Ich gehe fort. Das Nest ist leer, alles ausgeflogen.«

»Ich weiß«, antwortete sie.

»Weshalb kommen Sie dann hierher?«

»Ich wollte mich nach Ihnen erkundigen, nach Ihnen schauen.«

»Darum hat Sie niemand gebeten.«

»Doch«, antwortete sie, »Els.«

Ich lehnte mich an die Wand, öffnete im Geist weit ein Fenster in der Enge und winkte hinaus in die Weite der raumreichen Welt.

»Einen Gruß sollte man immer erwidern«, sagte ich.

Clio verstand mich: »Er trifft den Gemeinten«, sagte sie, »er trifft ihn wie eine Wohltat oder wie ein glückliches Aufatmen, als gäbe es eine Sonne, die nur der Seele scheint. Das ist solch ein Gruß, der uns aus der Ferne her trifft.«

»Sehr poetisch«, sagte ich, »wollen Sie hinauf?«

»Wenn Sie nicht hinaufwollen, so begleite ich Sie ein Stück Wegs.«

»Danke, das ist lieb von Ihnen, so hab' ich es mir gewünscht. Es ist richtig, daß wir uns für immer trennen müssen, aber es ist nicht notwendig, daß es so geschieht wie das letzte Mal. Es waren doch unsere Menschen, unverlierbar ...«

Wir schritten miteinander über die winterliche Straße, die nach den raschen Wegen der früh Beschäftigten wieder stiller geworden war. Es lag Schnee, und die Morgensonne schien. Ich sah mich in den Scheiben der Läden und empfand mich als gesund und wohlgerüstet.

»Es ist hier in der Nähe eine kleine Kaffeestube«, sagte Clio, »vielleicht lassen wir uns dort für eine Weile nieder. Ich habe keine rechte Bewirtschaftung meines neuen Heims, und Ihnen wird es in dem verlassenen Horst zuletzt auch nicht viel besser gegangen sein.«

Ich war einverstanden, und wir betraten bald darauf ein kleines Stübchen, an dessen leicht verhangenem Fenster wir an einem Marmortisch Platz nahmen und uns heißen Kaffee und Brot bringen ließen. Diesen Raum habe ich um der Erzählung Clios willen, die bald darauf erfolgte, niemals vergessen, er war warm und freundlich und um diese Stunde ohne andere Besucher. Das Kind, das uns bediente, ließ uns allein, und nur die lautlos im Schnee hinter der Scheibe vorüberziehenden Menschen belebten das Bild, das sich mir eingeprägt hat: Clios Gesicht dicht vor mir über dem Tisch, im Rahmen eines trüben Spiegels mit verblichenem Goldrand, der Hintergrund in halber Dämmerung, aus dem Reihen bunter Flaschen glitzerten, und ab und zu die Ladenglocke im Raum nebenan, in dem Gebäck und Brot verkauft wurden. Es kam wie von selbst, daß Clio sprach, ich habe nicht den Eindruck gehabt, als hätte sie den Vorsatz mitgebracht, zu mir zu sprechen, es ergab sich und war schön so und von Vertrauen gut.

»Eigentlich«, sagte sie, »ist es mir gleichgültig geworden, ob man mich versteht, aber zu Ihnen möchte ich sprechen, um mich zu beruhigen und weil Vagabunden und Beichtväter für entzündete Herzen vielleicht etwas Verwandtes haben, ihr glaubt, niemandem als dem Schöpfer verantwortlich zu sein, und teilt unseren täglichen Tag nicht mit uns. Aber das sind ja nur Vorwände, weil ich mich schäme, meines Glücks und meiner Not, und weil man sich in den Wüsten und Himmeln der Leidenschaft erst zurechtfinden muß und sich an die Verlassenheit gewöhnen, in die uns diese Zugehörigkeit wirft. Das sind keine Klagen, immer bin ich zu segnen und zu fluchen gleich bereit. Es kam so: Meine Eltern waren damals noch in der Sommerfrische, und ich bewohnte unser Haus allein mit den Dienstboten, es liegt außerhalb der Stadt in einer Villenniederlassung unter Alleebäumen. Ich hatte mich bei einer Freundin verspätet und fand keinen Wagen, auch tat ich den Gang durch die Nachtluft gern.

Ich wurde unterwegs, schon außerhalb der Stadt, von einem Herrn angesprochen, der mich arg belästigte. Ich hatte selber Schuld, weil ich stehenblieb, als ich seiner ansichtig wurde, ich tat es vor Schreck, als er plötzlich hinter einem Baum hervortrat. Es brannte nur wenig Straßenlicht. Wie ungeschickt ich mich benommen habe, weiß ich erst heute, o Gott, was wir für Püppchen sind! ›Mein Herr, was erlauben Sie sich ...‹ und derlei Unsinn. Kurz, er war nicht loszuwerden, und als er seinen Arm um mich legte, entstand ein regelrechtes, wenn auch schwächliches Ringen, vielleicht habe ich um Hilfe gerufen, vielleicht nur die Stimme erhoben. Jedenfalls wurde mein Bedränger plötzlich von der Seite her am Genick gepackt und mit einer halben Drehung von großer Kraft in die Knie gezwungen. Er bekam einen sicheren kalten Schlag an die Schläfe, der mich mehr als alles andere entsetzte, und wurde dann in sitzender Stellung an einen Straßenbaum geschleift. Das alles vollzog sich schweigend und fast lautlos, nur der Hieb war schrecklich, diese Mischung von Klatschen und Dröhnen, wenn ich daran denke, fällt mich noch heute ein Zittern an, und ich habe wieder die nächtliche Straße, die bewegten Gestalten und mein fliegendes Herz im Sinn.

Noch in höchster Erregung schickte ich mich nun stotternd an, die traditionelle Rolle der Befreiten zu spielen, die dem edlen Retter dankt, aber es gelang nicht.

›Lassen Sie nur‹, sagte der Fremde, ›wo wohnen Sie?‹

›Hier gleich‹, sagte ich zitternd, ›keine zwei Straßen weit.‹

›Nun, dann können Sie allein gehen‹, meinte er und wandte sich ab.

›Ist jener dort ... tot?‹ fragte ich.

›Nein, nein‹, antwortete er, aber ohne hinüberzusehen. Er schaute mich an, und wir blieben beide stehen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß es Jannot war.

›Ich möchte mich Ihnen erkenntlich zeigen‹, sagte ich nun, ziemlich ernüchtert und beruhigt durch seine Art. ›Begleiten Sie mich doch bitte. Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir.‹

›Tee?‹ fragt er und lacht.

›Nun, weshalb nicht, meinetwegen auch etwas anderes. Ich möchte nur ...‹

›Was Sie nicht möchten ... Aber wie Sie wollen.‹

Er schloß sich mir mit großen Schritten an, und ich mußte laufen, um nicht zurückzubleiben. Es hatte den Anschein, als nähme nicht ich ihn, sondern als nähme er mich mit sich. Ich wagte nicht, ihn anzuschauen, es war auch zu dunkel, um mehr zu erkennen als seine Gestalt. Bei der nächsten Laterne schielte ich hinüber und erschrak. Er sah einfach aus, sein Gesicht war nicht schön und nicht häßlich, aber etwas über allem an ihm machte mich schüchtern und gläubig.

›Sie gehen sehr rasch‹, sagte ich.

›Ach so‹, meinte er und ging langsamer. ›Bei Ihrem Getrippel ist es kein Wunder, daß Sie sich nicht zu helfen wissen.‹

›Ich bin doch kein Mann‹, sagte ich.

›Das sieht man‹, antwortete er.

Ich hatte Angst vor seinen weiteren Erklärungen und fragte nicht. So unmittelbar hatte mich noch niemand eingeschätzt. Es befiel mich eine ganz sonderbare Art von Beben, die ich nicht vorher gekannt hatte, ein Frost ohne Kälte, und er war mit etwas verbunden, das mich maßlos ängstigte, mit einer hemmungslosen, frohsinnigen Neugier. Was wollte ich denn wissen? Du lieber Gott, was tat ich denn? So floh ich auf den Anlaß dieses Zusammenseins zurück:

›Sie haben diesen Schuft hart gestraft.‹

›Wieso denn Schuft?‹ fragte er. Er fragte ganz einfach, wie jemand, der überrascht ist und aufgeklärt sein möchte.

›Nun, ich meine doch ...‹

›Ach so. Nun, es wird schon jeder zu erreichen suchen, was er haben möchte. Aber man sollte nichts anfangen, was man nicht kann.‹

›Und wenn er es gekonnt hätte?‹

›So hätten wir uns fügen müssen.‹

›Wir? Nun ja ... Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, aber verachten Sie denn diesen Menschen nicht, obgleich er etwas zu erzwingen suchte, was nicht freiwillig gewährt wurde?‹

›Wenn verachten heißt, daß ich ihn stehen oder liegen lasse, so verachte ich ihn. Mehr ist nicht zu sagen. Überschätzen Sie meine Handlungsweise nicht. Das sind ritterliche Knabenpossen. Wohnen Sie noch weit? Ich habe nur bis zwei Uhr Zeit.‹

Ich weiß nicht, weshalb ich heiß erschrak. War es durch die Vorstellung, daß dieser Mensch seinen Besuch bei mir bis zwei Uhr auszudehnen gedachte oder weil diese Stunde unserem Beisammensein ein Ende setzte? Es war vielleicht Mitternacht. Im Hause war noch Licht, die Mädchen waren noch auf und erwarteten mich. Ich stellte mir meinen Begleiter plötzlich im Salon meiner Eltern vor, neben dem Flügel, zwischen den Bücherschränken. Was würden die Mädchen denken? Hätte ich die Rolle der Dankbaren spielen dürfen, die ihren edlen Retter begönnerte, so würde ich Sicherheit gehabt haben, aber hier war weder Dank noch Rettung, noch Edelmut. Im Nachtwind neben mir war eine bare Kraft, böse Freiheit und keine Handhabe aus der Welt der guten Gesellschaft. Ich ging schneller, um nur ja nicht langsamer zu gehen. Hätte doch der erste meiner Bedränger mich aus den Händen meines zweiten befreit, dachte ich. Die Verachtung gegen mich selbst, die mich nach diesem letzten Wunsch befiel, kann ich nicht schildern. Sie machte mich trotzig und entschlossen.

Aber ich zitterte doch zu heftig, um den Gartenschlüssel ins Schloß zu bringen. Er nahm ihn mir aus der Hand und sagte: ›Darauf versteh' ich mich.‹ Wir schritten miteinander durch den Vorgarten, ich läutete nicht, denn ich hoffte die Mädchen zu umgehen, andererseits wünschte ich sie herbei. Aber sie waren zur Stelle und hörten uns. Die Begegnung an der Tür war mir schrecklich.

›Der Herr bleibt eine Weile hier‹, sagte ich, ›zu Besuch, ich habe ihm meine Befreiung zu danken, man hat mich auf der Straße angefallen.‹

Die Mädchen wagten kaum ihr gewohntes Beifalls- und Teilnahmegeplärr, sie starrten Jannot an, der ihnen wenig wie ein Herr erschienen sein mag, und dann mich. Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer selbst und ordnete an, daß Wein gebracht werden sollte, dabei dachte ich: auch das noch.

Jannot fragte mich: ›Sind Sie Ihren Dienstboten Rechenschaft schuldig?‹

Ich schämte mich fürchterlich.

›Es ist das Haus meiner Eltern‹, sagte ich, ›wir sind abhängig ...‹

›Freilich‹, unterbrach er mich zustimmend.

›Ich meine das nicht so, wie Sie es jetzt heimlich deuten‹, rief ich ärgerlich und begann ihm umständlich zu erklären, daß solche Abhängigkeit zugleich eine menschliche Gemeinschaft bedeuten könne. ›Man verachtet die Gesellschaft gewöhnlich so lange, bis man ihr angehört‹, schloß ich. Ich war sehr stolz auf meine Rede, wie ich überhaupt von meinen Sermonen dieser Art viel hielt.

›Ja, ja‹, sagte er hin und wieder, während ich redete. Er hörte gar nicht zu. ›Schön haben Sie es hier‹, meinte er dann, stand auf und betrachtete die Gegenstände des Zimmers aufmerksam und einschätzend. ›Das steht nun alles hier so herum‹, sagte er endlich seufzend.

Es klopfte, das Mädchen brachte Wein und ging schweigend wieder hinaus, mit dummen, warnenden Augen. Ich hätte sie mit Füßen treten können, die gute Cilly. Wer uns dient, hat allein deshalb, weil er uns redlich dient, Qualität in unseren Augen, bis uns die Augen für das Wesen der Qualität aufgehen.

Was mich erbitterte, war, daß dieser Mann nicht den geringsten Versuch machte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Mir erschien das wie ein Mittel einer geheimen boshaften Absicht, um mir Gelegenheit zu lassen, mir Blößen zu geben, zu schwatzen, Dinge zu sagen, die er mißachtete. Heute weiß ich, daß er einfach seiner Natur gehorchte, die nicht schwatzhaft ist. Aber alle meine Instinkte waren verdorben oder schliefen, nur ihre ahnende Kraft, als mein heimlicher Wert, regte sich schmerzvoll. Das füllte mein Herz immer wieder mit Dank, wie ich niemals Dank gefühlt hatte. Dank wird mit dem aufkeimenden Bewußtsein unserer eigenen Kraft geboren, jeder andere Dank ist Phrase.

Merkwürdig, daß ich aus der Erinnerung an diese Stunden kaum noch eine Vorstellung von seinem Aussehen, seinem Gesicht oder von seinen Zügen habe. Man spürt den Wind, die Glut, die Helligkeit, aber sie haben keine Gestalt. Oh, wie schön ist diese Nacht gewesen!

›Kann ich irgend etwas für Sie tun‹, fragte ich, ›vielleicht rauchen Sie gern? Ich weiß, wo Vaters Zigarren stehen.‹

›Ja, geben Sie nur‹, sagte er, freundlich gestimmt, und goß sich das zweite Glas Wein ein. Die Flasche gehörte längst ihm, alles, was seine Hände berührten, gehörte ihm.

›Trinken Sie nicht?‹ fragte er.

›Doch‹, antwortete ich, ›wenn Sie wollen.‹

Warum sagte ich dieses ›Wenn Sie wollen?‹ Es fuhr mir heiß ins Blut, und ich sah entsetzt zu ihm hinüber, als hätte ich mich schändlich preisgegeben, aber er nahm es einfach hin, wie eine gewohnte Einfügung der – der Weiber, wie er sagte. Oh, wie ich dies Wort aus seinem Munde das erste Mal haßte! Wir sagen Damen. Später hat er dann einmal ›Damen‹ gesagt, da hätte ich ihn ins Gesicht schlagen können.

Ich kann, was weiter geschehen ist, weder begreifen noch recht erzählen, ich habe auch nicht den Wunsch. Zuweilen hatte ich, besonders anfänglich noch, das Verlangen, mein Verhalten mit den Maßstäben meiner versunkenen Welt zu messen, es doch irgendwie einzureihen und nach Rechtfertigungen zu suchen, die mich nach beiden Seiten hin freisprachen. Es ist unmöglich, hier führt kein Weg, es gibt keinen Ausgleich, diese beiden Welten sind geschieden, und es ist Feindschaft zwischen ihnen. Wir sind verurteilt, wie alle, die nach Freiheit trachten.

Damals, in der ersten Nacht, nach allerhand törichten Worten, die ich aussprach, wie jemand, der kaum noch nach dem Sinn seiner Sätze, sondern nur noch auf ihren Klang hört, zog er mich auf sein Knie nieder, denn er saß und ich stand. Von welch unsäglich geringen Einzelheiten oft unser Geschick abhängen kann, ich weiß, daß wenn auch nur ein kaum sichtbares Lächeln auf seinen Lippen oder in seinen Augen gestanden hätte, so würde ich um mich geschlagen, getobt und geschrien haben. Er sog die unmittelbaren Kräfte meiner Natur in das Bereich der seinen, ohne Vorsicht, ohne Umwege, ohne Scham, aber mit dem Takt der echten Begierde.

Als Kind fiel ich einmal von einem Steg ins Wasser, an einem bunten Herbsttag. Das Wasser war nicht tief, ich konnte mich aufrecht halten und stand bis an die Schultern in den kühlen, bewegten, goldenen Spiegeln der Herbstbäume, fassungslos, überlebendig, wie in einer verwandelten Welt, und atmete, atmete ..., bis ans Herz hinan.«

Hier schwieg die Erzählerin. Sie richtete sich nach langem Schweigen ohne Hast auf, ich sah ihren Augen an, daß sie bei unabänderlichen Mächten verweilt hatte und bei einer sichtbaren Gestalt.

»Aber Sie haben doch Jannot kennengelernt«, begann sie plötzlich wieder eifrig und beinahe froh, als sei nun alles verständlicher. »Auch die arge Geschichte, die dann folgte. Hat Els sie Ihnen erzählt?«

»Ja«, sagte ich, »ich weiß alles.«

»Daß ich damals nicht auf den Gedanken gekommen bin, daß Jannot das dumme Armband an sich genommen haben könnte. Was lag mir wohl viel daran. Was mir gehört, gehört auch ihm, das hatte ich ihm gesagt. Aber die Mutter hatte Cilly im Verdacht und erstattete Anzeige. Aber wozu darüber sprechen ... Es schmerzt. Wie arm einem zumute wird, wenn einem Schicksal gegenüber von gut und böse ausgegangen wird, wie die Menschen von gut und böse reden.«

»Wer hat davon gesprochen?« fragte ich. Die Furcht vor einem jähen Wechsel ihres Zustandes stieg in mir auf.

»Oh«, sagte sie abwehrend, »meine ich denn gesprochene Worte? Wo Gemeinschaft beginnt, hören Worte auf, aber wo Abschätzung anfängt, endet die Gemeinschaft.«

»Aus Ihrer Sorge spricht nicht mein Gewissen, Clio. Mag dem sein, wie es will, ich weiß, daß das Heimweh der Menschen die Freude ohne Schuld ist.«

Ihre Augen flammten zornig auf, aber dann sank ihr die Stirn in die Hand; sie verharrte so eine Weile, als besänne sie sich auf das Letzte, Ungesagte und Unsagbare. Ich empfand, wie sehr das Wort ›Schuld‹ die Gefahr in sich barg, verletzend zu wirken, und sagte, um es auf gute Art zu rechtfertigen:

»Ich wünsche der Liebe ihren Widerhall im Geist.«

»Was Sie nicht wissen, Lieber«, antwortete mir Clio, wieder ganz ruhig geworden. »Seit Jannot mich niedergetreten hat, bin ich zum Weg geworden, aber der Weg hinter ihm blüht! Ich bin ...«

»Ist das wahr?«

»Ja. Ich werde Mutter. Wünscht ihr der Liebe ihren Widerhall im Geist, so sagt mir die Wohnung des Geistes. Laßt mir die Stätte, die er sich in mir erwählt, und meinen Glauben, daß viele Wohnungen im Haus des ewigen Vaters sind. Seit ich Gewißheit darüber habe, was mit mir geschehen soll, schwebe ich wie entrückt über dem Meer von Schmerzen und Enttäuschungen, in dem ich vor Wochen noch glaubte, ertrinken zu müssen, und ich fühle, daß die Erde noch jung ist. Hätte mir Jannot nichts getan als die Zerstörung alles dessen, was mir an engen, armen Wertbegriffen und schalem Tugendtand anhing, ich würde ihn segnen. Ich habe in den Wochen meines lebendigen Lebens rasch und viel gelernt, und er, dessen Augen in kalter und entschlossener Kraft auf die Erde gerichtet sind, hat mir die meinen für eine große Weite aufgeschlagen. In einer Welt, die voller Heilande ist, die irdischen Besitz rauben, und voller Verbrecher, die das Heiligtum verwalten, haben meine Augen in ihm die kalte Kraft der Finsternis in unvermischter Macht erblickt, dem Leben tief und planvoll verbunden – so werden sie auch einst die Helligkeit schauen. Mir ist nicht bang. O großes, heiliges Leben ...«


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