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Zweiter Band.
Eros und die Evangelien


Erstes Kapitel.
Der Tod

Eines Morgens machte ich die Entdeckung, daß sich am Deckleder eines meiner Stiefel eine Naht zu lösen begann, so daß eine Spalte klaffte, wenn ich den Fuß streckte. Es setzte mich in Erstaunen, da meine Stiefel, mit Ausnahme der Sohlen, eigentlich noch in einem recht brauchbaren Zustand waren, zumal wenn man nicht absichtlich den Blick auf die Absätze richtete, die nicht mehr ganz grade aussahen. Da ich damals eine für meine Verhältnisse und Ansprüche angesehene Stellung in einer Buchdruckerei bekleidete, mußte ich Wert auf meine äußere Erscheinung legen und begab mich deshalb zu einem Schuhmacher, der Stevenhagen hieß und in der Nähe meiner Behausung auf einem Hofe wohnte.

Er war, wie alle Schuhmacher, ein Mann von Nachdenklichkeit und Bildung, besonders für die erste seiner Eigenschaften gaben meine Stiefel ihm Gelegenheit. Er hielt sie mit einer Unnachsichtigkeit ans Licht, die etwas Rohes an sich hatte, und sah mich dann mit einem Ernst an, der meiner Meinung nach in keinem Verhältnis zur Bedeutung des vorliegenden Falls stand.

»Es handelt sich vorläufig nur um die Naht, ich springe nur eben so auf meinem Weg zu Ihnen herein«, sagte ich.

»So«, antwortete er mit genauer Beachtung meiner Worte, »lange werden Sie auf diesen Stiefeln nicht mehr springen.«

Der Mann war ohne Takt, er sprach nur zur Sache, ohne in Betracht zu ziehen, daß zu dieser Sache auch eine Person gehörte. Zudem kostete er die zufällige Überlegenheit, die die Lage ihm einbrachte, zu auffällig aus. Ich hätte auch vielleicht besser daran getan, nichts davon zu sagen, daß ich nur auf einen Sprung zu ihm gekommen sei. Wenn ich die Stiefel mürrisch und wortlos hingehalten, ins Zimmer gespuckt und geflucht hätte, so wäre ihm von mir und meinen Stiefeln ein Gesamtbild entstanden, das er besser überblickt und ohne inneren Widerstand hingenommen hätte. Offenbar war er jetzt der Meinung, daß ich beabsichtigt hatte, mehr zu scheinen, als ich war, daß ich gewissermaßen den schlimmen Zustand meiner Verkleidung als zufällig hinzustellen beabsichtigte und mich für etwas Besseres hielt als andere Leute mit zerschlissenen Stiefeln.

Ich dachte, am besten ist es, man spricht offen mit dem Mann über diese Dinge, und ich hätte es sicher getan, wenn draußen nicht der Regen vom grauen Himmel geströmt wäre. Die eintönige Pflicht meines Tages lag mir schwer im Sinn. Der Sommer ging zur Neige, und die ratlose Trauer über mein Geschick und meine Zukunft quälte mich. Welch eine Kluft gähnte zwischen meinen Erwartungen und den Aussichten, die sich mir boten, ich lebte Tag um Tag nur von meiner Hoffnung, sie war mein Brot. Solche Leute sind vom Sonnenschein abhängig, wer dagegen weiß, was er zu tun hat, tut es auch im Regen, und ein Ziel läßt sich selbst im Sturm verfolgen, aber die Hoffnung hängt vom Licht und von der Wärme ab wie ein Keim in der Erde.

Ich fühlte, während die Geräte des Handwerkers erklangen, die Unruhe mit ihrem tödlichen Nachbarn, dem Hang zu zerstören, in mir wachsen. So erhob ich mich von meinem Sitz auf der Fensterbank und schritt auf Strümpfen durch die angelegte Tür auf den Hausflur hinaus, nur um mich in meinem hilflosen Ungenügen zu bewegen. Die Stube des Schuhmachers lag zu ebener Erde, ein finsterer Gang führte weiter in das eng und dürftig gebaute Hinterhaus hinein, rechts und links waren Türen und am Ende eine Treppe, auf der es zum ersten Stockwerk emporging. Da vernahm ich in der Dämmerung ein hoffnungsloses Weinen, es wurde durch kein Schluchzen unterbrochen, es klang wie ein öder, stiller Gesang. Unter diesen Lauten, die mich festhielten, wo ich stand, brach in meiner Brust eine Quelle auf, und mir war, als sei ihre Leere, an der ich eben noch gelitten hatte, ausgefüllt wie durch eine jähe Begünstigung. Es wurde mir warm, und ich empfand Dankbarkeit. Wie im Gehorsam gegen einen inneren Befehl, öffnete ich die Tür, hinter der die Stimme zu klagen schien, und trat in ein niedriges Zimmer ein, in dem eine Frau an einem Herd vor dem erlöschenden Feuer kniete und dicht am Fenster ein Bett stand, in dem ein Mädchen schlief. Aber es war alles still im Raum.

Von den nur leicht verhangenen Scheiben fiel der glanzlose Tagesschein, eine stille Lichtdecke, auf das Gesicht der Ruhenden, das weiß und unwirklich schimmernd in das lose Haar eingebettet lag, das schwarz wie Kohle war. Die Arme waren zur Rechten und zur Linken an den Körper angelegt, der sich unter der leichten Decke abhob, grade gebettet wie bei einer Toten. Aber die Ruhende lebte, denn ich sah, wie ihre Brust sich unter ihren Atemzügen hob und senkte, aber ich erkannte zugleich, daß sie krank war und an der Grenze ihres Lebens stand. Ich sagte zu der Frau, die sich langsam aufrichtete und mich wortlos ansah:

»Wenn Sie erlauben, werde ich Sie besuchen.«

Die Frau gab mir zögernd die Hand, nickte langsam und schob mir einen Stuhl hin, den sie mit ihrer Schürze abwischte.

»Schickt Sie jemand zu uns?« fragte sie.

Die anfängliche Ratlosigkeit ihres von Entbehrungen elenden Gesichts wich einer ruhigen Aufmerksamkeit, die ohne Neugier in meinen Zügen zu lesen trachtete. Ich antwortete nicht auf ihre Frage, weil sie meine Antwort nicht verstanden hätte und weil ich keine Worte machen wollte, die meinem inneren Zustand nicht entsprachen. Die Traurigkeit gibt den Menschen eine eigenartige Freiheit, weil sie die Augen aus dem Wirrsal der kleinen Sorgen auf ein einziges Ziel richtet, so dunkel es auch sein mag, sie hat mit der Freude die Ausschließlichkeit gemeinsam und richtet unsere innere Haltung aus den Regionen der täglichen Beengung in eine Welt höherer Erwartung empor. Vielleicht vermochte diese Frau deshalb das Seltsame meiner unvermuteten Ankunft nicht als etwas Ungewöhnliches oder Hinderndes zu betrachten, sie nahm sie gleichmütiger hin, als es andere, in ihren Gewohnheiten gesicherte Menschen getan hätten.

»Wie geht es Ihrer Tochter?« fragte ich.

Diese Frage wirkte nicht ungewöhnlich, denn eine Mutter setzt immer voraus, daß die Welt von ihrem Kummer um ihr Kind erfüllt ist, so antwortete sie einfach:

»Wenn Asja nur ein einziges Mal eine Klage aussprechen wollte, wäre mir wohler. Ich habe immer gedacht, diese Krankheit bliebe den Leidenden verborgen, aber sie weiß sie und spricht ohne Kummer von ihrem Tod.«

»Vielleicht ist dies eine Erleichterung«, antwortete ich.

»Es ist doch mein Kind«, sagte sie und sah mich an.

Darauf vermochte ich keine Antwort zu geben und sah zu Asja hinüber. Die Ruhe ihres Gesichts erfüllte das Zimmer. Die Lider über den Augen waren das hellste der bleichen Landschaft dieses Angesichts aus Menschenarmut, Schlaf und Ferne. Neben dem Bett standen auf einem kleinen Tischchen eine Tasse, eine Kerze und ein Krug. Ein Buch in rotem Einband, aus dem ein paar lose Blätter Papier hervorschauten, lag zwischen einer Blumenvase und einem Stück Brot.

»Liest Asja viel?« fragte ich.

Die Mutter nickte. »Ich gehe um Bücher, aber die Leute leihen sie ungern. Wenn Sie Bücher hätten ...«

»Ich kann bringen«, antwortete ich, »heute noch.«

Die Mutter lächelte.

»Das wäre wirklich schön, Asja wird mit Ihnen darüber sprechen, was in den Büchern zu lesen steht. Wenn man Tag für Tag und Nacht für Nacht auf einem Fleck daniederliegt, wird man dankbar und ist mit weniger zufrieden, als die Menschen wissen, die alles haben und gehen und leben, wie sie wollen. Wenn die Toten noch Empfindungen hätten, so wären sie sicher dankbar für jeden Wassertropfen, der durch ihre Sargwand sickert. Ich hätte gewiß noch Kraft, vieles zu tun, was dem Kind Hilfe brächte, aber es gibt keine mehr für uns, und das Warten, ohne etwas bewirken zu können, macht mutlos, weil keine Hoffnung mehr da ist ... Oft überwältigt mich dies Leben jetzt, und ich meine, es nicht mehr ertragen zu können.«

»Als ich an Ihrer Tür vorüberging, dachte ich dasselbe.«

»Wenn Sie noch bleiben wollen, bis Asja erwacht ...«, sagte die Frau mit zögernder Erwartung. Sie hatte ein Tuch um die Schultern gelegt, eine Tasche über den Arm gehängt und schickte sich nun an, das Zimmer zu verlassen.

»Herr Stevenhagen hat meine Stiefel, es kann noch eine Weile dauern, so bleibe ich also noch ...«

»Asja wird sich freuen, daß man sie besucht.«

Sie stellte noch eine kleine Glocke neben das Bett, seufzte auf mit einem langen Blick auf die Kranke und gab mir die Hand. »Wenn Sie an die Bücher denken wollen?«

Ich versprach es und begleitete sie an die Tür. Sie kam noch einmal zurück: Es stünde Kaffee im Rohr, wenn ich etwas wollte, oder vielleicht auch, daß Asja darum bäte. Sie selbst ginge bis zum Mittag in die Papierfabrik.

Als die Tür sich geschlossen hatte, sah ich zu der Schlafenden hinüber und begegnete ihrem Blick, der groß und dunkel auf mir ruhte. Ein kaum bemerkbares Lächeln, ein wenig schelmisch, belebte ihre Züge und wurde zu einem leisen Lachen, als ich meine Gegenwart zu begründen suchte.

»Ich weiß schon«, sagte sie, »Sie warten auf Ihre Stiefel. Aber warum tun Sie es bei uns?«

»Sie haben gewacht?«

»Die Mutter findet schwer fort, wenn ich nicht schlafe, und da es doch sein muß, daß sie geht, schlafe ich, damit sie leichter fortfindet. Wie kommen Sie zu uns?«

»Als ich über den Hausflur ging, hörte ich jemanden weinen und trat ein, man kann nie wissen ...«

»Niemand hat in diesem Zimmer geweint.« »Mir schien es so.«

»Sie wollen mir Bücher bringen? Da bin ich doch gespannt, was es sein wird. Haben Sie viele Bücher?«

»Wenn ich ehrlich sein soll, so habe ich überhaupt keine, sie sind mir abhanden gekommen oder liegen auf dem Dachboden meines Elternhauses, das nicht in dieser Stadt ist. Aber ich werde welche beschaffen, das wird mir nicht schwer.«

»Machen Sie sich keine Mühe«, sagte sie langsam, lächelte und sah vor sich nieder. In ihrer Ablehnung, die keinesfalls Bescheidenheit war, lag trotzdem nichts von einer Kränkung.

Mir war zumut, als habe die Welt, in der ich mich eben noch befunden hatte, sich jählings gegen eine andere vertauscht, als sei ich aus einer lauen, bedrückenden Luft, die von Bedürftigkeit und einem vagen Hang zu bereitwilligem Mitleid gesättigt war, plötzlich in einen herben Windzug geraten und in einen Bereich, in dem es nicht zu helfen galt, sondern zu bestehen. Ein leiser Unwille, dessen ich mich schämte, machte mich unsicher. Ich dachte: Da sieht man es nun, jetzt sitzt du hier.

Aber als ich dann den Blick hob und ihn ruhig in die Augen dieses Mädchens senkte, begriff ich, auf welche Art ich ihr mit dem Gefühl des Mitleids unrecht getan hatte. Es wird das beste sein, ich sage es ihr, dachte ich, und begann zögernd:

»Als ich dies Zimmer betrat und Umschau in ihm gehalten hatte, als ich Ihre Mutter und Sie gewahr geworden war, hatte ich das Schuldbewußtsein, in das uns Mitleid zu stürzen vermag, aber seit ich nun in der ruhigen Helligkeit Ihrer Augen stehe, bin ich nichts mehr schuldig, Ihre Augen machen das Herz frei.«

Das Mädchen richtete sich auf, stützte sich auf ihre Ellenbogen und sah mich in so großem Erstaunen an, daß ich, wie vor mir selbst, erschrak. Was habe ich denn gesagt? dachte ich. Ein leiser Schwindel ergriff mich, ich besann mich, als hätte ich jahrelang etwas Unnennbares vergessen, das ich heimlich dennoch gesucht hatte.

»So bist du nun doch gekommen«, sagte das Mädchen schüchtern und langsam, aber mit großer Deutlichkeit, und als ich den Blick wieder hob, sah ich, daß sie so bleich war wie das Leinen ihres Betts.

Da ich keinen Mut hatte, zu glauben, fragte ich zögernd:

»Wen hast du erwartet?«

»Es gibt für uns alle nur einen Menschen, zu dem wir du sagen.«

Nie hat mein Herz so schmerzhaft geschwankt wie unter diesen Worten, nie war es so von unfaßbaren Gewalten hin und her geworfen. Hoffnung und Mut, Zweifel, Aberglauben und Zuversicht stürzten sich wie Lichtströme und Nachtwolken über mich. Die Welt und die Menschen haben mich verdorben, dachte ich, denn wie kann mein Glaube am Tor dieser Wohltat zaudern, was hindert mich, den Garten zu betreten und zu sein, was ich bin und zugleich immer zu erweisen gehofft habe, mir selbst und allen? Ich schäme mich, ein Mensch zu sein, dachte ich, daran sind wir alle krank. Aber darüber ward die Helligkeit der Genesung, die mir entgegenströmte und die zugleich aus mir hervorbrach, so mächtig in mir, daß ihr Licht meine Augen blendete.

Asja erhob sich von ihrem Lager, trat auf mich zu und legte ihren Arm um meinen Hals. Ich sah ihr Gesicht dicht vor meinem, und unter der nun ruhig gewordenen und zuversichtlichen Aufmerksamkeit ihrer Blicke wußte ich, daß ich bestehen würde. Da begriff ich, was Dank ist; wieviel erlebte ich doch in diesen Augenblicken, ein ganzes Leben vermag es nicht auszumessen. Ich glaube, in Wahrheit leben wir alle nur ein paar Augenblicke, alles andere ist Ahnung, Erinnerung und Hoffnung. Dies aber war Wahrheit, und so sagte ich es Asja, denn sonst wußte ich im drohenden Ernst meines Glücks nichts zu sagen.

Die Lichtabgründe ihrer großen Augen schienen das einzige zu sein, vor dem ich mich befand. Sie lag nun wieder still und gerade vor mir auf ihrem Lager und sah mich an. Eine Weile sprach keiner von uns, ich ließ mich so an ihrem Bett nieder, daß ich ihr gegenübersaß, sie öffnete meine Hand und legte die ihre hinein, warm und fest, mit dem Rücken nach unten, als bettete sie sie in ein lebendiges Lager.

»Bist du sehr krank?« fragte ich.

Sie nickte und lächelte.

»Wirst du gesund werden?«

Sie schüttelte den Kopf, aber ihr Lächeln blieb.

Ich befand mich in einem Zustand überbotenen Gefühls, wie in einem Seelenraum, der weder Glück noch Schmerz zu fassen vermag, mir war zumut, als zöge das Leben ohne mich an mir vorüber, und ich fühlte doch, daß ich zum erstenmal ganz in seinem Strom trieb. Es sind die Ufer, die dahinziehen, dachte ich, es erscheint mir, als stünde ich selber still und als zögen die Ufer dahin, aber in Wahrheit bin ich es, der zum erstenmal in die Bewegung des Lebens geraten ist, und ich sehe nun, wie die Werte alten Bestands davonziehen.

Sie ist krank und wird sterben, dachte ich dann, sonderbar nüchtern, aber zu erfassen oder zu glauben vermochte ich den Sinn meines Gedankens nicht. Es kann nicht wahr sein, wie ich es bisher für wahr gehalten habe, sann ich schwerfällig, denn was bedeutet sonst dieses Lächeln, dieses Lächeln, das ich aus alter Erinnerung her kenne? So lächelte meine Mutter, wenn sie mir scherzend eine arge Botschaft brachte, hinter der sich im Grunde doch eine frohe Verheißung verbarg, sie, die damals noch alles möglich machen konnte, was mein Kinderherz begehrte, und von der ich wußte, daß sie es zuletzt doch tun würde, da mein Leid ihr schmerzlicher war als mir ...

Da sagte Asja:

»Die Gesunden ahnen das Wesen der Krankheit nicht und fürchten sie immer. Wer aber krank gewesen ist, weiß, daß die Erinnerung an diese Zeit nicht immer trüb und trostlos ist, wie vorher die Befürchtung war, sondern daß eine Helligkeit über diesen Tagen und Nächten liegen kann, die sogar die Schmerzen vergessen läßt. Dieses Licht bricht aus der Freiheit, in die uns unsere Anspruchslosigkeit führt, die sich langsam mehr und mehr mit unserem Daniederliegen einstellt. Krank zu werden ist viel schmerzlicher, als krank zu sein, denn zu Anfang fühlt sich unsere Seele noch an die Welt der Sinne gebunden, in der sie gefangen lag, und wir verstehen ihre neue Freiheit nur langsam. Aber sie stellt sich wider unseren Willen ein, und mehr und mehr gelangen wir aus den Regionen des Vergänglichen in die Bereiche des Unvergänglichen. Alle Krankheiten sind Entfesselungen der Seele aus der Welt der Sinne. Ich glaube, daß der Tod der hellste Wipfel dieser Höhen der Freiheit für unser Bewußtsein zu werden vermag.«

Das Mädchen sprach eifrig und einfach, aber ohne den Wunsch, zu überzeugen, ich habe niemals im Leben etwas so deutlich gehört wie den Sinn dieser Stimme. Es war, als stünde eine aufrechte Gestalt hinter der liegenden, eine andere, die doch dieselbe war, ein Wesen, das keiner Worte bedurfte, um sich verständlich zu machen, sondern das klar und selbstverständlich dadurch sprach, daß es so und nicht anders beschaffen war. Eine schweigsame Herrlichkeit der Verkündigung ging von ihr aus, wie von Wert und Unwert genesen.

Draußen schien der Morgen sich ein wenig aufzuhellen, es regnete nicht mehr, und der Lichtschimmer, der ins Zimmer fiel, verriet, daß Wolken und Sonnenschein sich hoch über uns im Freien vermischten. Die Gegenstände des Zimmers, das sorgfältig geordnet war, nahmen in meinen Augen eine nüchterne Selbständigkeit an, wie Wesen von Sinn und Lebendigkeit, die in einer erstarrten Bereitschaft warteten. Ich betrachtete diese Dinge, und die Eigenart dieser Morgenstunde beschäftigte mich. Solche Morgenstunden in einem Wohnzimmer sind mir fremd geworden, dachte ich, wo war ich denn stets um diese Zeit? Seit meiner frühesten Kindheit habe ich grade diese Stunden nicht mehr erlebt. Wenn ich krank war und nicht zur Schule konnte, erfuhr ich sie, oder sonntags, aber schon dann waren sie anders. Asjas Hand lag immer noch in der meinen. Sie hatte die Augen geschlossen, und ich sah auf ihr Gesicht nieder. Das Lebenslicht der Züge floß über die mattfarbigen Formen der Schläfen und Wangen, deren Töne sich nicht unterschieden, alles war in ein ruhiges Blaß gebettet. Die Bogen der Brauen waren breit und tiefschwarz und die Augenlider am hellsten. Die Wimpern auf den Wangen ruhten dicht und dunkel wie aus Samt, und der Mund, dessen Lippen kaum einen Schimmer von Rot trugen, war von einer Lebendigkeit, die mich erbeben ließ.

Mich ergriff ein Taumel von Armut und Gram, der mich durch und durch verwandelte, aber zugleich blühte mein Herz. Da wußte ich: Dies ist der Anfang und das Ende. Es ist die Bestätigung, dachte ich und nahm das Urteil hin. Ich hatte das Empfinden, uralt zu sein, und maß und erkannte dies Bewußtsein doch in der Allgewalt einer unbestürmbaren Jugend. Schlag deine Augen auf und sprich wieder zu mir, ich bin verwirrt und möchte doch meine Sicherheit nicht an Wesen und Dingen zurückgewinnen, an die ich nun nicht mehr glauben kann und die ich niemals wieder lieben werde. In einem einzigen Augenblick hat das Lebenssinnbild deines Mundes eine Welt in Trümmer geworfen.

Wir haben noch mancherlei miteinander gesprochen, dieses und jenes, wie der Augenblick es uns eingab, aber wenn auch von nichtigen Dingen die Rede gewesen sein mag, so war doch alles, was uns im Geist begegnete, von jener reinen Wichtigkeit des Wesens, die die Achtung und die beglückende Vorsicht der Liebe schaffen. Ich ahnte die Durchsichtigkeit der Welt, in der diese Seele lebte, und meine Begierde wachte in mir auf wie Durst. Als ich gewahrte, daß das Mädchen müde wurde, ohne daß sie die Erschöpfung ihres Körpers spürte, verließ ich sie und ging, ohne ihr zu versprechen, daß ich wiederkommen würde, denn es verstand sich von selbst, und mir wäre eine solche Zusage vorgekommen, als hätte ich gesagt, daß es Tag sei oder wieder Nacht werden würde.

Irgendwo, mir aus weiter Ferne der Erinnerung noch dunkel bekannt wie auf einem anderen Stern, saß der Schuster Stevenhagen, der meine Stiefel in Kur genommen hatte. Er sah mich erstaunt an, als ich bei ihm eintrat, wies nur schweigend in einen Zimmerwinkel und rückte den Schuh auf seinen Knien wieder in den Lichtkegel der gläsernen Wasserkugel, hinter der eine Lampe brannte. Ich suchte mein Eigentum unter den arg mitgenommenen Fremdlingen heraus, die wie eine Schar flüchtig geordneter Landstreicherpaare am Boden umherstanden, und fragte nach meiner Schuldigkeit.

»Das läßt sich aufbringen«, sagte der Alte.

Ich ließ mich auf einem Hocker nieder und zog die Stiefel an. »Wo sind Sie gewesen?« fragte der Schuster.

Ich sagte es ihm, und er hielt in seiner Arbeit inne, wandte sich mir zu und sah mich an

»Kennen Sie Asja?«

»Ja«, sagte ich, »noch nicht lang, aber für immer.«

Er fuhr fort, mich prüfend zu betrachten, lächelte scheinbar dankbar über dieses Bekenntnis, schwieg aber und wandte sich endlich seiner Arbeit wieder zu. Als ich ihm Geld zum Wechseln gab, schob er die Münze fort, schüttelte den Kopf und forderte mich durch eine Bewegung auf, das Geld zurückzunehmen.

Ich verstand plötzlich, nahm die Münze und ging davon.

Ist es so, dachte ich draußen, als ich ziellos und doch eilig die nasse Straße durchschritt, daß es genügt, mit dir bekannt zu sein, Asja, um alle zu Freunden zu haben, die von dir wissen?

Die Gesichter der Menschen, der Lärm der Straße und die Mauerwände der Häuser begannen auf mich zu drücken. Wenn ich doch Horizonte, Wiesen und Pflanzen sähe, dachte ich, ich würde meinen Glauben besser zu wahren wissen, und meine Fröhlichkeit würde standhalten. Was ruft ihr mich an, bemächtigt euch meiner und zerrt mir die Seele aus dem Leib, ihr Namen und Bilder, Inschriften und Auslagen, Glocken und Stimmen? Eure traurige Hast und leere Mühe, eure Sucht ohne Sehnsucht und euer Weh ohne Heimweh verführen und verraten mich und machen mir alles verächtlich, um dessen willen ich allein leben möchte. Ihr betrügt die Seele um die Heimat.

Über solchen Gedanken kam mir in den Sinn, daß ich Asja Bücher versprochen hatte, und wenn ihre Worte, die mich gleichmütig und zurückhaltend nach diesem Vorsatz gefragt hatten, auch kein sonderlich starkes Vertrauen zum Wert dessen verraten haben mochten, was ich etwa bringen würde, so beschloß ich doch, mein Vorhaben auszuführen und das Mädchen womöglich auf das angenehmste zu enttäuschen.

Während ich über die Straße dahinschritt durch den Regen, überfiel mich plötzlich der Gedanke an meine Beschäftigung, an meine Tagespflicht, an die Druckerei und meinen Brotherrn. Seit drei Stunden wartete man auf mich, ich war unentschuldigt ausgeblieben, in Gefahr, ernstlich verstimmt zu haben und entlassen zu werden. Aber als ich auf eine Erklärung sann und erwog, ob ich die Angelegenheiten Asjas nicht besser in meinen freien Mittagsstunden erledigen sollte, überkam mich ein jäher Entschluß, der mir das Bewußtsein einer beseligenden Freiheit einbrachte. Ich nahm mir vor, überhaupt nicht mehr in die Druckerei zu gehen und meine alte Verpflichtung gegen eine wertvollere einzutauschen, gegen die, Asja zu Diensten zu sein, solange sie noch lebte. Was galten mir äußerliche Verluste gegen das Glück der inneren Entbundenheit, in der ich nach diesem Vorsatz, wie neugestärkt, dahinschritt. Eine noch ungewisse Ahnung, daß ich Vergängliches gegen Unvergängliches eintauschte, erfüllte mich durch und durch mit Fröhlichkeit. Auch wußte ich, daß es mir für den Fall der Not nicht schwerfallen würde, wieder irgendeine Beschäftigung zu finden, die mich vor Hunger schützte, wie sie einem Menschen stündlich zu Gebote steht, der bereit ist, jede Arbeit zu übernehmen.

Es mochte zwischen zehn und elf Uhr sein. Ich genoß für eine kurze Weile diese ungewöhnliche Stunde, die ich in den letzten Wochen nur mit Bedrücktheit und Verlangen von dem nüchternen Zifferblatt der Geschäftsuhr abgelesen hatte. Es galt aber, sie zu nützen, und ich überdachte, auf welche Art ich mich am besten in den Besitz von Büchern zu setzen vermochte. Meine Barmittel waren gering, und ich sah ein, daß ich nicht nur der Gelegenheit, Bücher zu erwerben, sondern zugleich auch eines wohlmeinenden Rates und teilnehmender Fürsorge bedurfte. Da erinnerte ich mich dessen, daß ich zuweilen Korrekturbogen aus der Buchdruckerei zu einem wohlgebildeten und sehr vermögenden Herrn gebracht hatte, der Doktor der Philosophie, Kunsthistoriker und Schriftsteller war. Ich war genötigt gewesen, im Vorzimmer dieses Herrn auf dessen Einblick in die Satzproben zu warten, und hatte, als der Diener in das Arbeitszimmer trat, einmal durch die Tür eine gewaltige Bücherwand erblickt, die bis an die Decke hinauf in den gedämpften Gold- und Farbtönen alter und neuer Bücher leuchtete. Ohne Besinnen entschloß ich mich, einen Versuch zu machen, hier zu Büchern zu gelangen, und indem das Ungewöhnliche meines Vorhabens mir die Brust ein wenig beengte, erwachte zugleich jene unbändige Lust am Wagnis und am Besonderen, jener Hang, alle Fesseln einer hergebrachten Lebensform gegen die einfache Bewegung eines mutigen Menschentums einzutauschen, der mir meine ganze Jugend hindurch viel Leid und Seligkeit eingebracht hat, Erniedrigungen und Triumphe, Haß und Liebe.

Während ich den Weg in die Gartenvorstadt nahm, in der das Landhaus des wohlbekannten, ja auf seinem Gebiet berühmten Mannes lag, verbannte ich alle Vorsätze zu einer bestimmten Art des Auftretens und beschloß, mich ganz der Gunst oder Ungunst des Augenblicks zu überlassen. Werde ich abgewiesen, dachte ich, so befinde ich mich bald wieder an dieser Stelle der Straße, auf der ich mich jetzt bewege, und ich befinde mich hier sehr wohl. Aber dann wurden meine Gedanken in einen verschleierten Ernst hinübergezogen, denn Asjas Gestalt stand vor ihnen auf, und ihr Lächeln begleitete mich. Da glaubte ich zu wissen, daß alles kommen würde, wie es kommen mußte, und fühlte mich im Recht.

Als ich an dem hohen eisernen Gartentor anlangte, setzte ich die Glocke in Bewegung und wartete darauf, daß der Hausdiener den Kiesweg herabkommen würde, um die Gruppe der Lebensbäume herum, die den seitlichen Eingang zum Haus verdeckte. Es war aber diesmal ein Stubenmädchen. Sie machte nicht auf, sondern fragte mich durch das Gitter, was ich wollte.

»Hinein«, sagte ich einfach.

»Ach so«, meinte sie und musterte mich, »Sie kommen von der Druckerei.«

Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern zog die Gittertür auf, schloß sie sorgfältig hinter mir und schritt mir dann voran bis in das Wartezimmer, das ich kannte. Vorsichtig begab sie sich dann an die Tür zum Arbeitszimmer, beugte sich vor, zögerte eine Weile und pochte dann leise und außerordentlich zurückhaltend dreimal. Es sah aus, als wäre die schwere Eichentür zerbrechlich. Mir schien, daß der Gemeinte, wie manche verwöhnten Leute, durch allzu große Rücksicht auf seine Wünsche ungeduldig wurde, denn es ertönte ein sehr unfreundliches »Was ist los?«, und das Stubenmädchen wagte kaum, die Tür zu öffnen. Sie tat es, nachdem sie mir einen inhaltslosen Blick zugeworfen hatte, einen Blick, wie ihn Leute haben, deren innere Augen anders gerichtet sind als die äußeren.

»Ein junger Mann von der Druckerei ist da«, sagte sie auf der Schwelle.

»Also. Was bringt er? Geben Sie her!«

Das Mädchen winkte mit der Hand eifrig zu mir herüber, damit ich ihr einhändigen sollte, was sie für ihren Herrn bei mir vermutete.

»Ich bringe nichts«, sagte ich, »ich möchte den Herrn Doktor sprechen.«

Jetzt trat sie ganz ein, lehnte aber die Tür nur hinter sich an, so daß ich die laute männliche Stimme deutlich vernahm.

»Etwas abholen? Ich habe nichts, es ist alles geschickt worden.«

Als die Tür sich wieder öffnete, rief der Herr Doktor mich selbst an:

»Was ist denn? So kommen Sie herein.«

Ich trat ein und war erstaunt über die vornehme Pracht dieses großen Zimmers. Ein schwerer roter Teppich fiel mir auf, von den Erkerfenstern brach gedämpftes Licht auf den mächtigen Schreibtisch, der mitten im Raum stand, umlagert bis zur Decke hinauf von hohen Bücherschränken und -borden, die in die Wände eingelassen waren. Ein dunkler Eichentisch mit rundlehnigen Ledersesseln bot sich zur Rechten aus dämmrigem Hintergrund den Augen dar, und neben ihm stand ein breites Ruhebett, belastet mit gewirkten Decken und einer großen Menge vielfarbiger Kissen, deren Zahl ich in der Eile auf etwa hundert schätzte.

Der Herr Doktor saß an seinem Schreibtisch und hatte sich mir zugewandt, die eine Hand auf die Lehne des Sessels aufgestützt, so daß er über seinen emporgestemmten Ellenbogen hinweg zu mir herübersah. Zwischen den Fingern hielt er eine Zigarre, so groß und dick wie ein Tannenzapfen, von der eine hellblaue Rauchlinie emporstieg, deren lichtes Leben wundervoll über die Dämmerung des Hintergrunds dahinzog.

Mir schien, als mißfiele dem Herrn die Aufmerksamkeit nicht, die ich seinem Zimmer entgegenbrachte, erst nach einer Weile sagte er mit einem etwas selbstgefälligen Lächeln:

»Also, was ist denn?«

Ich trug mein Anliegen in einfachen Worten vor, es war nicht meine Schuld, daß unser Gespräch bald darauf einen Fortgang nahm, der den Hausherrn aufbrachte.

»Bücher wollen Sie von mir?« fragte er gedehnt und mit einer Betonung, als hätte ich von einem Schreiner einen Schuh verlangt. »So ohne weiteres, das ist denn doch ... muß ich sagen, ein höchst sonderbares Anliegen. Wer sind Sie denn überhaupt, ich meine eigentlich ...«

»Ich will Ihnen meinen Namen und meine Adresse später aufschreiben, wenn Sie mir Bücher gegeben haben. Als ich im Auftrag der Druckerei einmal bei Ihnen war, sah ich durch die Türspalte den Reichtum an Büchern, über den Sie verfügen, und ich dachte an Sie, als ich heute früh bei der Kranken war.«

»Und daraufhin ... ich glaube, Sie sind verrückt. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber einem daraufhin ohne weiteres mit dieser Bitte zu kommen, ist denn doch wohl mehr als ungewöhnlich. Sie glauben wohl, in mir einen Dummen gefunden zu haben?«

»Nein«, sagte ich, »man kommt nicht immer gleich auf das Rechte.«

Der Angeredete schien den Satz daraufhin zu prüfen, ob sein Sinn eindeutig sei, und schaute dabei auf den Teppich nieder, als läse er ihn noch einmal in seinen Ornamenten nach, dann erhob er sich und schritt auf mich zu.

»Das war allerdings kaum das Rechte, so mir nichts, dir nichts bei mir einzufallen. Gibt es nicht Buchhändler oder, wenn es Ihnen an Barmitteln fehlen sollte, Leihbibliotheken genug? Aber es wird wohl zu guter Letzt auf etwas anderes herauskommen.«

Er zog seine Geldbörse und begann mit kurzsichtigen Augen darin zu suchen, während seine Finger die Münzen hin und her schoben. »Wundert mich nur, wie Sie es fertiggebracht haben, bei mir einzudringen. Sie haben das Vertrauen Ihres Chefs mißbraucht, mein Lieber ... Bücher! Wie lange kennen Sie denn dieses Mädchen schon?«

Ich wollte bei der Auswahl des Geldstückes nicht stören und wartete deshalb ab, auf welches die Wahl meines erzürnten und unfreiwilligen Gastgebers fiele. In Erfahrung gebracht habe ich es niemals, denn es wurde mir mit viel Takt in der geschlossenen Hand geboten; jeder andere hätte die Münze sicherlich zwischen zwei Fingern erhoben dargereicht.

»Sie sind sehr freundlich«, sagte ich, ohne zurückzutreten, »aber mir ist mit einer kleinen Geldsumme nicht gedient. Wenn Sie keine Bücher verleihen wollen, so muß ich unverrichteter Sache wieder meines Wegs gehen. Aber ich will es nicht tun, ohne einen letzten Versuch zu machen, Sie davon zu überzeugen, daß weder ein unbedachter und leichtfertiger Einfall noch die Gier nach einem unverdienten Vorteil mich zu Ihnen geführt haben. Wenn ich den Reichtum an Unterhaltung, Belehrung und Erhebung, an menschlicher Freude und menschlichem Erleiden überdenke, den Sie in Ihrem Zimmer angesammelt haben, all das erschlossene und unerschlossene Glück, das diese Bände bergen, so erscheint es mir für einen Augenblick ungerecht, daß diese farbige Welt mit ihren Landschaften der Seele und der Erde verborgen und ungenutzt liegen soll, während ein paar Häuser weiter ein Mensch, der dies alles und mehr in kurzer Zeit für immer aufgeben muß, Verlangen danach trägt, für eine Stunde seine Armut und sein Geschick zu vergessen.«

Es entstand eine kleine Pause, als ich schwieg. Ein sonderbarer Blick voll Gift und Staunen traf mich, haftete wider Willen an meinen Zügen, umglitt mich, verächtlich geworden, und löste sich endlich in einem Lächeln, voll Neugier und Herablassung.

»Schon gut, schon gut«, sagte er, »Sie werden mich nicht beschwatzen.«

Nach diesen häßlichen Worten brach plötzlich eine befangene Gutmütigkeit im Ausdruck seines Gesichts durch, die ich nicht erwartet hatte und die ich mir nicht erklären konnte, obgleich sie das einzige war, was auf mich wirkte. Wahrscheinlich hat er zuvor seine Kraft beweisen wollen, ehe er mir seine Schwäche verrät, dachte ich, und darüber wurde ich mutlos, denn ich erkannte aufs neue, was unter den Menschen als stark gilt und was als schwach.

Da es in meiner Art und unbewußten Neigung lag, den Fortgang eines Wegs immer dort zu suchen, wo ich am tiefsten durch das Wirrwarr der Erscheinungswelt blickte, sprach ich als Antwort von dem, was ich erkannte, und sagte:

»Nun Sie mir durch Ihr Wort bewiesen haben, wie wohl Sie gegen meine Tücke gewappnet sind, wird Ihr Herz einen freien Weg für seine Güte finden können.«

Mein Gegenüber lachte breit und ungeschickt, so daß ich ihn für einen Augenblick bedauerte, aber ich gab dieser Ablehnung nicht nach, sondern wappnete mich aufs neue, ich war entschlossen, zu meinem Ziel zu kommen. Ein leise quälender Zweifel nagte tief in mir, und für einen Augenblick haßte ich diesen Mann, der den Wert der feinen Fügung meiner Gedanken verstieß, als spräche ein Narr zu ihm. Ich haßte die Kraft in ihm, die nichts als Roheit war, die ich hassen werde, solange ich atme, die am Tor aller Vernunft und Freiheit lauert und sich Männlichkeit nennt. Da er nun auch noch sagte: »Das war nicht schlecht geantwortet«, verzagte ich fast, denn ein Lob aus der Welt, die wir verachten, ist ärger als ein Tadel aus der Welt, die wir lieben.

»Woher kommen Sie denn eigentlich, wer sind Sie, haben Sie eine Schule besucht? Nun antworten Sie einmal.«

»Lassen Sie mich in Ruh«, sagte ich schroff. »So wohlfeil werden Sie Ihr Gefühl der Überlegenheit, das Sie vermissen wie eine Krücke, nicht zurückbekommen. Was geht Sie das an, woher ich komme? Wollen Sie mir ein Mittel geben, Sie sichtbar zu täuschen, damit es leichter wird, mir nicht zu glauben? Sie glauben mir längst. Ich lasse mich nicht auf ein Gebiet locken, auf dem Sie schon deshalb recht behalten, weil Sie eine hohe Haltung gegen eine niedrige vertauschen.«

»Das ist also einfach eine Unverschämtheit«, sagte mein Gegner freundlich, lachte und setzte sich breit und sicher mitten auf seinen Sessel.

»Nehmen Sie Platz«, fuhr er in einem veränderten Ton wohlwollenden Befehls und skeptischer Neugier fort, in dem seine Niederlage lag. »Sie haben vollständig recht. Ich müßte ein Lump sein, wenn ich das nicht zugäbe. Aber Bücher bekommen Sie keine.«

Welch ein armseliger Seitenweg ist diese halbe Freundlichkeit, dachte ich. Er zieht die Pfeile aus seiner Brust, bricht sie ab und tut, als seien sie stumpf gewesen. Eher werden die Ströme zu den Bergen zurückfließen, als daß einem Menschen meiner Zeit sein fanatischer Glaube an den Triumph der Mittelmäßigkeit abhanden kommt. Ich fürchtete den aufsteigenden Ekel, der mich noch immer entwaffnet hat, und warf mich übereilig auf die Bahn eines neuen Mittels. Ich darf nicht auf diese halbe Belustigung eingehen, wußte ich, dieser Mann reißt mich anders in seine Niederlage hinein, und am Ende erhalte ich doch noch die Münze, die er immer noch zwischen den Fingern drückt, als stammte sie aus einem Taschendiebstahl. Zudem kam mir über dem Gedanken an diese Münze in den Sinn, daß ein paar Bücher, die ich vielleicht doch endlich leihweise erhielt, der Freundin wahrscheinlich wenig genug bedeuten würden, denn nicht nur ihre Frage nach meinen Beständen, sondern auch ihre Miene hatten mir verraten, wie schwer ihrem Anspruch Genüge getan werden konnte. Auch erschien es mir, als sei der ganze Kraftaufwand dieser Stunde schon viel zu groß, als daß ein paar entliehene Bände ihn endlich zu rechtfertigen vermöchten. Ich mußte viel mehr erreichen. Mein Mißerfolg lag daran, daß mein Kraftaufwand in keinem Verhältnis zu meiner Forderung stand; was konnte diesen bedrängten Ungläubigen mißtrauischer machen als meine Anspruchslosigkeit?

Während ich sann, betrachtete mein Gegenüber mich mit unverhohlener Aufmerksamkeit, mit einer etwas benommenen Neugier, deren Lebenslicht mir aber keineswegs die Furcht einjagte, er möchte mich mit diesen aufgetanen Augäpfeln auch durchschauen. So sagte ich, meiner selbst sicher:

»Wenn ich den Ring betrachte, den Sie an Ihrem Finger tragen, der sicher nur einen geringen Teil Ihres großen Besitzes ausmacht, und bedenke, daß schon in ihm die Macht liegt, einem Menschen, der bald sterben wird, noch einmal die irdische Landschaft in Freuden und Ruhe zu erhellen, so meine ich, Sie müßten ihn mir geben um Ihrer Freude und Ruhe willen.«

Der Angeredete lächelte betroffen und überlegte, aber nicht mehr mißbilligend. Vielleicht war er mir, ohne es zu wissen, dankbar dafür, daß ich die Haltung nicht einnahm, die er vorgeschlagen hatte und deren er sich heimlich schämte.

»An diesen Ring fesselt mich eine Erinnerung, ein teures Andenken. Nun?«

Die Herausforderung in diesem letzten Wort empörte mich, die lässige Aufforderung darin, in meiner Mühe fortzufahren, war herabwürdigend.

»Und nun haben Sie dieses Andenken entweiht«, sagte ich rasch.

»Was habe ich getan? Junger Mensch – wenn eines mich wundert, so ist es, daß ich Ihnen nicht längst die Tür gewiesen habe ...«

»Ich will Ihnen sagen, wie ich denke, damit Sie sich nicht erzürnen«, antwortete ich und faßte mich. »Ist dieser Ring ein teures Andenken an einen Menschen, der Ihnen in Liebe nahesteht oder -gestanden hat, so ist er ein Sinnbild der Gemeinschaft, unvergänglichen Guts, heiligen Daseins über allem, das verfällt. So ist die Sendung, die ihn gehen und wirken hieß, mit der er untrennbar behaftet ist wie mit seinem Glanz, die des wahrhaftigen Lebens, und nur indem es sich mit ihm erfüllt, ist die Erinnerung an den Geber geheiligt. Ich nehme nach Ihren Worten an, dieser Mensch liegt begraben, Ihnen oder uns allen; wird es nicht sein, als sei er auferstanden, wenn die teure Glut in heimlicher Glorie um seine Gabe neu ersteht?«

Es wurde still im Zimmer, der Angeredete sah starr vor sich hin, ohne daß mir irgendein Zeichen verriet, ob meine Worte ihn im Guten bewegt oder aufs neue erzürnt hatten. Dann sah er langsam auf, sein Blick überging mit beinah trauriger Entschlossenheit die prächtigen Dinge seines Raums, die Geräte seines Schreibtisches, die Blätter und Bücher darauf, und wurde endlich, als habe er sein eigenes Leben verloren, in das Leben des Lichts gezogen, das durch das Fenster eindrang, und dort verirrte er sich im wesenlosen Geist der Helligkeit.

Ich dachte daran, daß Asja nun auf ihrem Lager lag und in das gleiche Tageslicht schaute, und mir wollte scheinen, als müßten sich die Blicke dort drüben und draußen in der Höhe begegnen, so daß der Fremde von dem Ausdruck in Asjas Zügen überwunden würde wie vor kurzem ich selbst und mir so das Ende des schweren Wegs erspart bliebe.

»Hören Sie einmal«, sagte da plötzlich die tiefe Stimme, und das langbärtige Gesicht wandte sich mir zu. »Sei das, wie es wolle, ich möchte nicht dieses oder jenes, nicht Wohltaten tun noch Segen stiften, aber ich möchte einmal wieder glauben, auch an mich. Sie haben da eine Erinnerung in mir wachgerufen, auf eine eigene Art wachgerufen, das will ich Ihnen lassen. Weit mehr taucht mit ihr mein eigenes Leben vor mir auf als dasjenige der Toten, von der dieser Ring stammt. Ich weiß nicht, wer Sie sind und welch merkwürdiges Unterpfand des Wesens Ihnen diese Kraft gibt, ich möchte es nicht prüfen noch ergründen, denn ich fürchte mich vor Eingeständnissen, für die ich noch nicht alt genug bin. Ich will Ihnen glauben, lassen Sie sich daran genügen, ich will es, es ist mir gleichgültig, ob Sie es verdienen. Diesen Ring selbst werde ich nicht fortgeben, jetzt weniger als je, denn die Macht seiner Mahnung ist von dieser Stunde ab größer geworden, und ich bedarf ihrer, mehr vielleicht als andere, mehr sicherlich als Sie. Aber der Sinn, den Sie diesem Ring beimessen, soll sich nach Ihrer Erwartung erfüllen, und ich werde Ihnen die Summe zur Verfügung stellen, die seinen bezahlbaren Wert ausmacht. Es wird Ihnen gleichgültig sein, ob ich ihn Ihnen abkaufe oder ein Händler. Dann können Sie Bücher und alles beschaffen, was Sie wollen und brauchen oder was Ihre bedürftige Freundin nötig hat.«

»Gut. Handeln Sie so.«

»Sie danken mir nicht, nun das ist wohl auch in Ordnung so ... Mir liegt die Zeit im Sinn, in der ich noch so jung und erwartungsvoll, so zuversichtlich und gläubig war wie Sie. Damals, als ich diesen Ring erhielt, stand ich am Beginn meiner Laufbahn, ich fing damals an, berühmt zu werden, man las mein erstes Buch, es ist jetzt vergessen. Die Zeit geht eben rasch; nun, es kamen andere Werke und trugen meinen Namen in die Welt, aber wissen Sie, was mir über Ihren Worten vorhin so durch den Sinn gegangen ist – daß diese anderen Bücher auch einmal – vergessen sein könnten ... Aber nicht das allein, sondern vielmehr eine seltsame Gewißheit, als sei jene vergangene Zeit, ohne Ruhm und Besitz, durch einen ganz bestimmten Wohlstand reicher gewesen, als die heutige es ist mit ihrem Erfolg.«

»Sagen Sie mir das nicht«, lehnte ich ab, »ich wollte Sie nicht demütigen.«

»Demütigen? Sonderbarer Mensch ...«

Unsicher und gequält sah ich ins Leere. Mir war, als habe ich unrecht getan, aber erst später sollte ich erfahren, worin dies Unrecht bestanden hatte.

»Also gut denn«, hörte ich ihn wieder sprechen, »lassen wir ruhen, was ruht, und leben, was leben soll. Ich biete Ihnen tausend Mark an Stelle des Rings und der Bücher; sind Sie einverstanden?«

»Ja, aber Sie sind es nicht.«

»Ich bin es. Sie hatten recht, meine Anwandlung zu Eingeständnissen, meine melancholische Selbstbetrachtung abzulehnen. Vielleicht hoffte ich, mich von einer Niederlage wiederherzustellen, indem ich ein geringes Bild von mir entwarf, um, wenn Sie davongingen, in dem Bewußtsein zurückbleiben zu können, daß ich doch um einiges mehr sei, als ich Sie zuzugestehen genötigt hatte.«

»Also tausend Mark wollen Sie geben?«

Er schwieg mit schräg gesenktem Blick.

»Sie nehmen mir die Freude daran«, sagte er langsam und in erkennbarem Verdruß über sein erneutes unfreiwilliges Geständnis. Aber er holte dann zögernd, mit zurückgelegtem Oberkörper seine Schlüssel hervor, öffnete ein Schubfach des Schreibtisches, räumte etwas zur Seite, als seien es seine lästigen Gedanken, und entnahm einer Stahlkassette eine lederne Brieftasche.

»Hier«, sagte er kurz und unsicher, als fürchtete er durch sich selbst bei einem Diebstahl überrascht zu werden, »nehmen Sie und stiften Sie Segen und Gutes.« Er tastete an den Geldscheinen herum, als wollte er ihnen noch einmal vor dieser Willkür seine ganze besorgte Neigung zukommen lassen. »Möge das Geld auf einen Acker fallen, besser bereitet, als es mein Herz noch ist. Und Sie, Sie selbst ... Wer sind Sie denn, so reden Sie doch! Dies alles ist doch höchst eigentümlich. In die Hosentasche stecken Sie die Scheine?«

Plötzlich befiel mich eine wilde, heiße Fröhlichkeit. Es war mir, als erwachte ich mit dem Bewußtsein dieses Erfolges endlich aus einer Welt von Beziehungen, Kräften und Verstrickungen, die nichts mit jener zu schaffen hatte, in die ich nun gehen wollte, um der Freundin den Weg zu ihrer Gesundheit und zu glücklichen Tagen zu ebnen.

»Ich – –?« fragte ich plötzlich wie verwandelt, »ich komme mir vor wie einer, der sich beim Satan eine Leiter geliehen hat, um Gott in den Himmel steigen zu lassen.«

»Auch ein Dank«, sagte er verständnislos und sah mich beinahe gierig an, mit einem Ausdruck, den ich sowenig auf seinen Ursprung zu prüfen vermochte wie er meine Worte.

»Grüßen Sie Ihre Freundin«, sagte mein Gastgeber, als er sah, daß ich meinen Hut nahm, »berichten Sie mir, lassen Sie sich einmal wieder sehen, tun Sie es, vielleicht wird Ihre Teufelsleiter doch noch zu einer Brücke zwischen uns zwei.«

Ich ließ es offen.

»Weiß der Kuckuck, was mir dies bedeuten soll, nun, was geschehen ist, soll recht bleiben, leben Sie wohl. Wie eilig Sie es haben.«

Er gab mir die Hand, als sollte ich ihr Gewicht prüfen, ich fühlte mich erlöst und eilte rasch von dannen, benommen in einem merkwürdigen Unterbewußtsein, in dem mir zumut war, als freute meine Freude mich nicht und als sei ich für meine Kraft nicht stark genug gewesen.

Wohl drängte es mich, mit meinem Schatz zu Asja zu eilen, aber ich wartete und begab mich zuvor in meine Behausung. Ich beschloß, eine Reihe nützlicher und erfreuender Einkäufe zu machen, führte meinen Vorsatz jedoch nicht aus, da alles mir in heimlichem Widerspruch zu den Bedürfnissen dieses Mädchens zu stehen schien. Auch fehlte es mir an Erfahrungen, und ich schämte mich, an jene belanglosen oder nur äußerlich nützlichen Dinge zu denken, für deren Beschaffung den Frauen ein so sonderbares Talent eigentümlich ist, das in gleichem Maße von Liebesbereitschaft wie von glückhafter Schamlosigkeit zeugt. Sie bringen es fertig, Pulswärmer, Zahnstocher, Pfeifenreiniger oder unbedeutende Bruchteile von Nahrungsmitteln durch Ankauf in ihren Besitz und durch Schenkung in die Hände geschätzter Persönlichkeiten zu bringen. Auch auf kleinere Vasen, auf Löschblätter oder Bleistifte verfallen sie zuweilen, und die Anmut ihrer Darbietungen läßt uns in bestürzter Rührung erkennen, daß diese Dinge in kleinen, schwachen Händen zu Sinnbildern der großen, ewigen Liebe werden. Wir Verdorbenen und Ungläubigen dagegen vermögen uns nur auf Blumen oder Bücher zu beschränken, weil wir an die Allmacht der Liebe nicht glauben können, wenn unsere Gabe nicht schon ein Sinnbild der Geisteswelt ist.

Als ich meine Dachkammer betrat, erschien sie mir fast fremdartig, es war gewissermaßen notwendig, daß ich mich allen Einrichtungsgegenständen erneut vorstellen mußte, was nicht lange dauerte. Ich warf meinen Hut aufs Bett, das noch nicht geordnet war, und sah in das Buch hinein, das von der letzten Nacht her noch aufgeschlagen neben der Kerze lag. Dies alles steht jenseits, dachte ich, eine neue Welt beginnt, es hat sich eine Straße vor mir aufgetan, ich weiß den Weg. Eine unbestimmte Traurigkeit machte mich ruhelos, ein plötzlich erwachtes Bewußtsein für die Sinnlosigkeit alles dessen, was ich bisher zur Erhaltung meines Daseins begonnen hatte, überfiel mich und füllte mich mit Zweifeln am Wert alles Zukünftigen. Auch du wirst alle Fragen der Brust nicht beantworten, Asja, dachte ich, du selbst bist die Antwort, und wenn ich dich nicht habe, so werden meine Kämpfe nicht enden.

Gegen Mittag kam ein Bote aus der Druckerei, um sich nach mir zu erkundigen. Ich schrieb auf einen Zettel, daß ich nicht mehr käme, siegelte den Brief mit dem Wachs der Kerze und war sicher, daß man mich in Ruhe lassen würde. Da draußen im Hof die Sonne schien, entschloß ich mich, fortzugehen, aber mein Gewand machte mich nachdenklich, und ich nahm den Spiegel von der Wand. Offenbar mußte der Kragen gewechselt werden, aber der andere war in der Wäsche. So nahm ich auch seinen ausdauernden Gefährten ab, suchte mein Halstuch, ergriff Stock und Hut und ging davon. Das Tuch machte mich fröhlich, ich weiß nicht, weshalb. Ich, dein Bruder, dachte ich und sprach zu Asja, möchte in Armut und Schande, in Lumpen zu dir kommen. Ist es denn wahr, daß ich von ganzem Herzen glaube, daß deine Augen es nicht einmal sehen würden, es sei denn aus Erbarmen?

Ich vergaß über solchen Gedanken die Geldsumme, die ich bei mir trug, wie man auf einem Feldweg die Straßen der Stadt vergißt. Auch als ich zu Asja kam, dachte ich lange Zeit nicht daran, aber als ich mich an ihrem Bett niederließ, empfand ich eine große Müdigkeit, die mir fremd war, und ich atmete tief auf und mußte seufzen, ohne daß ich Kummer hatte.

Sie nickte und sagte: »Du ruhst dich nun von allem aus, was dir bisher schwer gewesen ist, weil du allein warst, deshalb bist du jetzt müde.« Da verlor ich unter dem Frühling ihrer Augen meine Beherrschung, aber sie schien kaum darauf zu achten, sondern blieb von wunderbarer Festigkeit, weil sie die Kraft hatte, die Gabe ihres Wesens nicht zu verkleinern.

Ich sagte nach einer Weile, indem ich das Geld hervorzog und ihr auf die Decke des Betts legte:

»Nun werden gute Tage für dich kommen, du wirst dieses dunkle Zimmer gegen ein helles mit Sonne vertauschen, die Stadt gegen das Land. Du wirst gesund werden.«

In ihr Gesicht kam ein Zug von Schrecken, ihr Lächeln verschwand, ihre Augen sahen mich forschend an, und sie unterbrach mich ängstlich: »Woher hast du das Geld? Du hattest kein Geld.«

Ich erzählte von Anfang bis zu Ende alles. Sie störte meinen Bericht durch kein Wort und keine Frage und schwieg auch noch, als ich am Ende war und, unsicher mit den Geldscheinen spielend, mein Verlangen verriet, eine Zustimmung von ihr zu hören.

»Nimm es und bring es zurück«, sagte sie.

Sie beobachtete die Wirkung ihrer Worte auf mich kaum, sondern schien nun vielmehr durch etwas anderes beschäftigt und bewegt; sie fragte unvermutet:

»Hast du von dem fremden Herrn diese Summe nur deshalb bekommen, weil du mit ihm gesprochen hast, hast du ihn überwunden, sie dir zu geben, nur durch den Willen, hat sich alles so zugetragen, wie du es mir gesagt hast?«

»Denke doch jetzt nicht an das Geld, Asja, denke daran, was es für dich tun soll.«

»Ach, es war so, wie du gesagt hast! – Ich denke nicht an das Geld, ich denke an dich.«

Sie sah mich schweigend an, dann kam Sorge in ihren Zügen auf, und sie bat noch einmal:

»So nimm es und bring es wieder fort.«

»Du weist das Geld zurück, Asja?«

»Alles, was man für Geld haben kann, ist nichts wert. Ja, ich weise das Geld zurück.«

»Du wirst sterben, Asja.«

»Wie wir alle«, sagte sie einfach.

»O Asja, du machst aus der Not, daß du nicht leben sollst, die Tugend, daß du sterben willst.«

Das Mädchen sah mich an, aber ich spürte wohl, daß sie nicht über den Sinn meiner Worte nachdachte, sondern daß sie nur die Besinnung prüfte, die hinter ihnen stand. Ich empfand plötzlich, daß es bei ihr immer so gewesen war und als läge in solcher Prüfung und ihrem Ergebnis der Ursprung der Harmonie und Gemeinschaftlichkeit, die zwischen uns geherrscht hatten und die nicht zu beugen waren. Asja war nicht in die Befangenheit eines meiner Worte geraten, sondern sie hatte darüber hinausgesehen, wie sie auch über die Erscheinungs- und Tatsachenwelt des Lebens fortzublicken schien – wohin nur? Ich wußte es noch nicht, aber ich fühlte, daß ich ihre Freiheit bedroht hatte.

»Ich will dir antworten«, sagte sie endlich ohne Aufwand und, wie meistens, mit einem beinahe schmerzlichen Zögern, »ich mache aus keiner Not eine Tugend, aber es ist ganz gleichgültig, ob du es so nennst. Wie könnte ich dir aber so unrecht tun, daß ich dort deine Kräfte zu Recht bestehen ließe, wo sie dich verderben werden? Du bist so jung, wie willst du verstehen, wieviel du mir bedeutest? Du kennst dich nicht, und nun sollte ich dieses Geld nehmen und dir dadurch antworten: So bist du. – Ich weiß, daß ich sterben werde, aber ich weiß, daß es so gut ist und daß ich zu meiner Stunde sterbe und mit Willen.«

»Liebst du das Leben nicht, Asja?«

»Oh, über alles«, sagte sie, und ihre Augen glänzten, »aber ich denke anders darüber als du. Laß uns doch nicht von diesen Dingen sprechen. Wenn du bei mir bleibst, wirst du bald alles wissen, auch wenn ich schweige.«

»Wie meinst du das?«

»Was ich nicht bin, das will ich auch nicht sagen, was ich aber bin, wirst du fühlen, ohne daß ich es sage, und nachher wird dir sein, als hätte ich zu dir gesprochen. Ach, sei nicht besorgt, gib mir deine Hand und öffne dein Herz, laß mich Einkehr bei dir halten, dann wirst du bald empfinden, wie gut und groß du bist.«

»O Asja«, sagte ich, »nun weiß ich, wie sehr du das Leben liebst, Asja.«

»Nicht wahr?« sagte sie glücklich, »und ich habe dir nichts erklärt.«

Sie lächelte entschuldigend, da sie diese Zustimmung ausgesprochen hatte, als sei es etwas Geringes, die Fröhlichkeit ihres Wesens war von einer Bescheidung, daß ich sie empfand, als stünde ich über und über in Licht. Welch ein Wunder geschieht mir, dachte ich, dies alles ist ein heller Traum, nicht Fleisch und Blut verwaltet dieses Erlebnis, nicht die alten Dinge der Welt kommen darin vor. Mir war, als wendete ich mich fort zu anderen, zu Fremden, und riefe ihnen zu: Wie arm waren wir doch bisher, ihr und ich!

Aber wieder erwachte der Wille in mir, alles zu tun, was Menschen zu tun vermögen, um dies Leben dem Leben zu erhalten, das wir alle vollbringen. Ich empfand, daß ich irrte, aber ich wußte nicht, worin. Welchen Opfers wäre ich nicht in dieser Stunde fähig gewesen! So sprach ich denn aufs neue und bat von Herzen darum, sie möchte ihr Leben zu erhalten suchen. Sie antwortete mir, sie wolle es nicht so, wie ich es dächte.

»Sieh«, sagte sie, »was ist denn Leben, und was nennst du so? Ist das kleine Maß deines Daseins vom Aufgang bis zum Niedergang das Leben? Je öfter wir solch bemessene Tage und unseren vergänglichen Wohlstand darin so nennen, um so mehr verleugnen wir das Leben. Das ist sicherlich wahr, und du wirst es verstehen lernen.«

»Ich verstehe diesen Gedanken, Asja, aber begreifst du nicht, daß meine Liebe sich wünscht, daß du bei mir bleibst? Ich habe dich erst heute gefunden.«

»Sei ruhig, ich verspreche dir, immer bei dir zu bleiben. Aber hindere mich nicht, laß mir mein Wesen. Ich bin nur ein Weg. Was über mich hin zu dir kommt, ist viel mehr als ich. Weshalb ereiferst du dich? Glaube mir doch, damit du fröhlich sein kannst.«

»Du willst immer bei mir bleiben?« fragte ich, als hätte ich nur diesen Satz gehört. Eine schmerzhafte, verräterische Neugier bewegte mich, ich zitterte vor Begierde und Widerstand und begriff meinen Wunsch nicht, das Mädchen möchte mir eine Antwort geben, die mir ein Recht zur spöttischen Abkehr gab. Aber sie antwortete mir nicht.

So schwiegen wir lange. Endlich sagte ich:

»Ich will das Geld nun fortbringen.« Ich erhob mich, um zu gehen.

In diesem Augenblick haßte ich das Angesicht, den Menschen, der vor mir lag, der, ohne mich anzuschauen, mich doch zu sehen schien, der sich mit seinem Schweigen von mir abgewandt hatte und der mich doch umfing und dessen Unterlassen mich leidenschaftlicher beriet, als es der kühnste Eifer vermocht hätte. Aber mein Trotz war mächtiger als alles andere in mir, und ich sagte:

»Nein, Asja!«

Mir war, als habe ich alles mit diesem Nein gesagt. Es klang rauh und böse, wie eine ewige Absage, in dem stillen, einfachen Raum und erschütterte mich so mächtig, als hätte ich den schwachen Körper vor mir durch einen Schlag verwundet. Da sah das Mädchen zu mir auf, voll Hilflosigkeit und Schmerz, nahm meine Hand und küßte sie. Es war kein Kuß der Andacht oder Demut, sondern ein kindlicher Kuß, eifrig und innig, ein herzliches Tun.

Das Alter wünscht sich, noch froh zu sein, aber die Jugend liebt es, für ihr Glück zu leiden.

So verstehe ich heute, daß mein Gemüt vor dem Wesen Asjas schwankte, in Sorge sich zu verlieren oder in Begierde zu begreifen und sich hinzugeben.

Wenn ich diese Worte niederschreibe, so spreche ich schon von dem Geistesgut, das dieses besondere Wesen stellte. Ich schämte mich ihres Menschentums, ihres unverhüllten Fühlens und ihrer Tränen.

Wie ungern denke ich an jene Stunde zurück, in der ich am Tage darauf meinem widerwilligen Gönner in der Villenstraße sein Geld zurückbrachte. Er empfing mich freundlich, aber seine Entrüstung stieg, als ich ihm sein verschmähtes Gut überreichte. Ich verließ ihn eilig, da es mir widerstand, etwas zu erklären, unter dem ich selber noch litt.

»Narr!« schrie er voll Wut.

Sein Wort begleitete mich. Als ich in meiner Dachkammer anlangte, wiederholte ich es mir, ohne zu denken, starrte vor mich hin und ließ die Stunden verstreichen. Ich muß fort, dachte ich, wieder durch Wälder, über Heidehügel dahin, an Flußufern entlang, wo das Wasser mich lebendig begleitet. Habe ich den Aufgang der Sonne über der Landschaft vergessen, den glitzernden März, die Sommersonne im Schilf oder die schweigsame Herrlichkeit der Sternbilder? Aber ich verwarf alles. Das alles ist es nicht, dachte ich, es ist nur ein Trost, ein Gleichnis, ein wahrsagerischer Weg auf das eine zu, nicht mehr. Warum bin ich so mutlos? Bin ich nicht durch die Pracht des Vielerlei dahingeschritten, Jahre um Jahre, um das eine zu finden, liebte ich nicht alles allein als ein Sinnbild jenes einen, vor Hoffnung ruhelos und aus Zuversicht trunken? Nun scheint sein Licht aus einem Herzen, es ruft mich und ich zaudere. Ach, ich ahne, wieviel es ist, dachte ich, weil es längst in mir glimmt.

So geschah es, daß ich mit diesen Gedanken eines Tages zu Asja kam. Sie hob mir beide Arme entgegen, und ich beugte mich, zitternd vor innerer Not, unter ihren Liebesgruß.

»Asja, glaubst du an Gott?«

»Wie fragst du so rasch, so böse?« sagte sie erschrocken.

»Antworte mir!«

»O Freund, ich kann nicht sprechen.«

»So sieh mich an. Antworte auf deine Art, aber antworte.«

»Du Lieber, wie es dich quält! Ach, wäre ich, was du ersehnst!«

»Du bist es. Sieh mich an.«

»Ich glaube an die Liebe«, sagte sie, und mir war, als habe sie mich vergessen. »Ich will kein Bild von Gott. In der Liebe ist alles beschlossen, der Vater, das ist der Gehorsam in uns, der Sohn, das ist die Offenbarung in uns, und der Geist, das ist die Gemeinschaft. Sei doch ruhig, du Lieber, in deinem Sinn, so brennend und allein. Es ist alles geschehn. Nicht wir sollen die Liebe erwählen, sondern sie hat uns erwählt.«

»O Asja, du machst das Herz froh.«

»Ich tue nichts.«

»Glaubst du an Christus, sag es mir.«

»Wie du doch fragst! So kann ich nicht antworten. Ich glaube nicht an ihn, aber ich glaube wie er. Er war reinen Geistes, ein freier Weg der Liebe, die vor ihm war und immer ist. Sagt nicht er selbst, er sei der Weg? Sieh, so versteh es. Nicht mit ihm kam die Liebe in die Welt, sondern durch ihn, wie durch viele vor ihm und viele nach ihm. Zuweilen erwählt sie einen Menschen, in dem sie sich ohne Makel offenbart, dann ist es, als sähest du die Liebe selbst oder Gott. Sagt er nicht, daß Gott die Liebe sei? Oh, welch eine Offenbarung der Liebe war sein Wesen! Aber alles, was uns von ihm bekannt ist, ist uns durch Menschengedanken und -sinne übermacht, es ist besser, an die Liebe selbst zu glauben, von ihr aus wirst du ihn verstehen, besser als umgekehrt. Immer ist der Vater die Quelle.«

»Der Vater, Asja?«

»Ja, durch den Gehorsam, sagte ich es dir nicht?«

»Was nennst du Gehorsam?«

»Oh, frag mich nicht, du wirst alles erleben, bald oder spät, ich aber möchte mich irren, wer wird einem Wort vertrauen, das so schnell gesagt ist, wie eine Antwort es herausfordert? Gehorsam sein heißt der Liebe kein Hindernis bereiten. Es gibt kein anderes Gebot, keinen anderen Gehorsam.«

»Und alle Gesetze, die Kirche?«

»Die Lieblosigkeit, der Zweifel, der Unglaube haben die Kirche erschaffen. Die Liebe bedarf ihrer nicht. Als Luther die Gesetze der alten Kirche zertrümmerte, trieb ihn die Liebe, als er neue erschuf, quälte ihn der Zweifel. Aber wie spreche ich denn, du drängst mich in meine Armut.«

»Oh, sprich weiter, Asja.«

»Nein, ich will nicht sprechen. Ich habe Furcht vor dem eigenen in mir. Immer wieder drängt es sich noch herzu. Es muß aus mir sprechen, ohne mich. Komm, sieh die Sonne an, erzähle mir. Sprich von dir. Wie du bei mir von dir sprechen mußt, wird es dich frei und glücklich machen, denn unter meinen Augen verstehst du dich. Oh, wie ich dich liebe, weil du durstig bist.« »So sag mir noch eins, nur eins, was ist die Liebe? Ist sie ein Element, außerhalb unserer, eine Kraft, die in uns einzieht, eine Gnade, der wir teilhaftig werden? Wo ist ihr Ursprung, wo ihr Ende, wo ist ihr Sinn?«

Da hob Asja ihr Kinderhaupt aus dem weißen Kissenlager, neigte sich mir zu und sah mich an. Mir war, als bedrohte ihr Auge mich in einem unirdischen Schein, ich erbebte und tauchte in ihren Blick, der klar und still war. Ein unbeschreibbares Lächeln voll süßer Traurigkeit trug diese Stille zu mir. Da fühlte ich mein Herz wie Feuer brennen, schwieg und wußte, daß ich nie mehr im Leben diese Frage stellen würde.

 

Ihr sonderbaren Tage meines Lebens; Menschen, Wind und Sternbilder, Raum und Stunden aus dieser Zeit, wo seid ihr? Ich war ausgefüllt von innerem Erleben und Gesichten, getragen von Fülle und Licht ohne Ende, und wußte es kaum. Die Dinge der Umwelt zogen fremd an mir vorüber, ich beachtete sie nicht und begreife heute schwer, wie es hat möglich sein können, daß ich mein äußeres Dasein ohne Not fristete. Es geschahen Wunder, aber ich empfand sie nicht, merkwürdige Umstände traten ein, die mir alles erleichterten und möglich machten, ich nahm sie hin, als seien sie selbstverständlich wie das Tageslicht oder die Luft. Wenn ich heute zurückdenke, so staune ich mit heimlichem Erschauern, und wo ich einst kleine Geschehnisse verwundert belächelte und ihnen kaum Beachtung schenkte, wo Fügungen eintraten, die ich Zufälle nannte, ohne mehr als einen Blick auf sie zu verlieren, die ich rasch vergaß und ohne Dank hinnahm, da sehe ich heute himmlische Engel, die in gewaltiger Macht Abgründe überbrückten und Berge versetzten, die die Nacht zum Tage machten und meine Augen vor allzu blendendem Erstrahlen schützten. Heute erkenne ich das Gesetz, das über meinem Leben waltete, das mich, aus mir stammend, in sich verwob und ward, indem ich war. Du eines und du alles, was suche ich nach deinem Namen? Es war alles gut! Das ist dein Name.

Eines Abends, als ich von Asja kam, empfing meine Zimmerwirtin mich wartend in meiner Kammer. Sie schien sich im Raum umgesehen zu haben, der Schrank stand offen, ich verschloß ihn für gewöhnlich nicht, da er leer war. Sie hatte ein paar Wäschestücke in der Hand, die aber wahrscheinlich nicht mir gehörten, und schien auf dem Tisch umhergesucht zu haben. Als sie mich ansah, erstarben der Unwille und die Besorgnis auf ihren Zügen, und sie setzte sich auf den Bettrand.

»Soll das so weitergehen?« fragte sie mütterlich.

Ich beschloß, alles einzusehen, um den Wohlstand ihres Gesichts nicht zu stören, und sagte eifrig:

»Ich werde es ändern, es wird schon gehen.«

»Sie gehen nicht mehr in die Druckerei?«

»Nein, das nicht, ich habe zu tun.«

»Ich weiß nicht, auf was für Wege Sie so plötzlich geraten sind«, sagte sie, »aber Abwege sind es nicht.«

Ich schwieg.

»Ich möchte Sie um etwas bitten«, fuhr die Frau fort und sah ein Bild an der Wand an.

»Es soll alles bezahlt werden«, entgegnete ich rasch. »Noch ein paar Tage und ich habe Geld. Ich werde bestimmt bekommen.«

»Woher denn? Aber das wollte ich nicht bitten. Vor ein paar Tagen haben Sie mir von ihrer neuen Freundin erzählt, von der Kranken. Wie geht es ihr?«

»Krank?« fragte ich erstaunt, aber dann besann ich mich und antwortete auf ihre Frage.

Die Frau sah mich still und aufmerksam an. Ihren Namen habe ich vergessen, aber ihres Gesichts erinnere ich mich noch gut, jedoch nur deshalb, weil in seinen Zügen einst ein Widerschein meines inneren Erlebens stand. Sie schien verlegen und fuhr unbeholfen fort:

»Sie haben mir vor ein paar Tagen von diesem Mädchen erzählt. Wie war doch ihr Name?«

»Asja.«

»Ja, Asja. Jetzt denke ich daran und beschäftige mich damit. Ich wollte Sie nicht wegen Ihrer Schuld mahnen, deshalb bin ich nicht gekommen; meine Bitte geht dahin, Sie möchten von Asja noch erzählen, nur so dies und das, was sie sagt und von ihren Ansichten.«

»Gewiß«, sagte ich rasch, »aber natürlich.«

»Früher«, fuhr sie fort, »waren Sie stumm und fast verschlossen, gingen und kamen wie ein Schatten, aber Sie hatten, was Sie brauchten. Jetzt sind Sie ärmer als ein Straßenbettler, essen nicht, ihre Kleidung verkommt, Ihr Gesicht ist elend, aber Sie sind fröhlich. Nicht, daß Sie lachten oder scherzten, aber man spürt es und weiß nicht wie, es bleibt im Zimmer zurück, wenn Sie fortgegangen sind.«

Sie schwieg befangen und erweckte den Anschein, als schäme sie sich oder als habe sie sich verirrt. »Ich meine ja nur so«, sagte sie und lächelte ausgleichend, »nehmen Sie es nicht übel, junger Herr. Ich bin nicht arm, lebe mit den Mietern und arbeite, aber das Leben wirft nichts Besonderes für unsereinen ab, und man hört gern solche Dinge, wie Sie erzählt haben. Daß einer glücklich ist in seiner Lebensnot, wie dies Mädchen ... Sie werden schon verstehen.«

Ich schwieg und sah in das abendliche Licht des Hofs hinaus. Die gegenüberliegende rötliche Ziegelwand mit ihren kahlen Fenstern lag im spätherbstlichen Dämmerlicht, und vom Hofe herauf drangen Geräusche und Stimmen, es wurden Kisten verladen, und in den dumpfen Lärm der Fuhrwerke drangen Kinderstimmen, dieser grelle, leere Jubel, der sinnlos und wehmütig klingt wie das Zwitschern gefangener Vögel hinter den Stäben ihrer Käfige.

Meiner Wirtin mochte sein, als sei sie nach ihrer ihr selber kaum verständlichen Bitte noch etwas schuldig:

»Denken Sie nicht an die Miete und das Essen«, sagte sie, »wer entbehrt denn etwas, es wird schon ins reine kommen. Wenn ich bisweilen am Abend mit der Lampe kommen darf und Sie erzählen mir, sprechen wie damals, aus der Seele und froh, so soll es gut sein.«

Ich nickte und blieb dem Fenster zugewandt. Im spiegelnden Glas sah ich, wie die Alte sich vorbeugte und zur Seite, um zu erkunden, ob ich mit Wohlwollen oder widerwillig zustimmte. Dann ging sie still hinaus.

Ich fand Asja am anderen Nachmittag schlafend. Das Zimmer schimmerte still im Licht des ersten Schnees, der vorzeitig gefallen war und auf den schrägen Dächern draußen lag, den grauen Himmelsschein über sich. Im Herd brannte ein Holzfeuer, das Zimmer war darin nun längst ein vertrauter Gast, und auch die Mutter hatte sich an meine Gegenwart gewöhnt, froh darüber, daß ihr Kind in den langen Stunden ihres Fortseins Gesellschaft und Unterhaltung fand. Sie achtete unsere Angelegenheiten mit einer Art ehrfürchtiger Scheu, ohne Eifersucht, aber ein klein wenig zögernd und ablenkend, als gäben wir uns Hoffnungen hin, die enttäuschen müßten. Aber sie schien längst damit abgefunden, daß ihre Tochter in einer anderen Welt lebte als sie selbst, und sowenig sie früher besondere Teilnahme gezeigt hatte, so gleichmütig beachtete sie die meine; zumal da Asja in ihrer Gegenwart mit derselben Gelassenheit und Selbstverständlichkeit sprach, in der sie früher geschwiegen hatte. Sie empfand meine Schonung und Sorgfalt gegen ihr Kind, und nur zuweilen sah sie erstaunt in Asjas leicht erglühtes Gesicht, nachsichtig, wohl auch ein wenig stolz, und riet zu Ruhe und Schlaf, wie der Arzt es sie gelehrt hatte. Mit den ein wenig aufs Materielle gerichteten Sinnen einer alternden Frau, die die Last des täglichen Erwerbs und den Wert der kleinsten Münze kennt, vermutete sie hinter meiner Erscheinung mehr und anderes, als sich ihr durch den Augenschein bot, denn sie hatte Sinn für den Gegensatz, in dem meine Sprechweise und mein Benehmen zu meinem bedürftigen Wandel standen.

Ich war an jenem Tag noch von der Frühe her verkümmert und sorgenvoll, wie so manchen Morgen hindurch, den ich allein verbrachte und nicht zu verwenden wußte, da er ein einziges Warten auf die Stunde war, in der ich Asja zu Gesicht bekommen sollte. Auch war ich zu jung und ungebärdig, als daß ich in solchen Stunden des Alleinseins ein volles Genüge an meinem Leben und Denken empfand; mächtiger als je drängte alles in mir zu Entschlüssen und Taten, ziellos stand ich im Walten eines bohrenden Triebs, und meine Ruhelosigkeit peinigte mich übermächtig, solange ich nicht Asjas Hand und Augenlicht auf meiner Stirn fühlte. Es war ein erstes Bewußtsein von Verantwortlichkeit, das sich vor ihrem Herzensgut erhob; ich war voll seligen Eifers, aber ohne Geduld. Meine hohen Entschlüsse setzten mich oft in heiliges Feuer, aber es lohte sinnlos in mir empor wie ein Reisefeuer auf einer Frühlingswiese, dessen Blut nur die Überreste des verflossenen Jahres verzehrt, aber keinen Keim des Bodens fördert.

Ich schritt leise durchs Zimmer, legte lautlos Holz aufs Feuer und sah kniend zu Asja hinüber: Sie schlief fest. Wie meistens lag sie grade ausgestreckt auf dem Rücken, und die leichte Decke ließ die Linien ihres Körpers erkennen. Sie war nicht groß, und das farblose Gesicht mit dem überschmalen Kinn lag im Nachtgrund des offenen Haars, das den Scheitel mit den Schultern verband und grade von der Decke abgeschnitten wurde, merkwürdig feierlich wie nach einem Gesetz. Das Schneelicht machte das Zimmer seltsam unwirklich, es lag jene Erneuerung aller Dinge im Raum, die mit dem ersten erkennbaren Wechsel der Jahreszeiten eintritt und die solchen Menschen, die allein leben, oft wie ein Rücken des Zeigers an der großen Lebensuhr des Daseins erscheinen kann.

Ich nahm meinen Stuhl sacht vom Tisch fort, stellte ihn an Asjas Bett und ließ mich nieder. Auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett lag ein Stück Brot, von dem die Hand ein Stückchen abgebrochen hatte. Obgleich ich in Armut lebte und das Brot in dieser Gestalt kannte, bewegte mich sein Anblick an Asjas Bettstatt bis in die Tiefen der Seele, ich begriff nicht, woher die schmerzhafte Bestürzung voll Rührung kam, und sah das Brot an, als verklagte es mich.

Aber je länger ich es betrachtete, zur Stille genötigt durch die gleichförmige Lebensmelodie der Atemzüge Asjas, und je andächtiger ich in dies Gesicht sah, um so inbrünstiger begannen dies Brot und dies Angesicht zu mir zu reden und trösteten mich.

Du Brot bewegst mich nicht, weil du Armut verrätst, dachte ich. Du bist das ewige Maß, nicht Fülle noch Entbehrung, sondern ein edles und einfaches Genug. Du erhältst, ohne zu gefallen und ohne zu schmeicheln, du befriedigst, ohne daß Aufwand oder Fülle die Kräfte beanspruchen, du forderst keine Beachtung, und die Selbstverständlichkeit deines Gebens wehrt dem Unfrieden. Wie begreife ich, daß einst Christus dich und dein Wesen mit dem seinen verglich, daß er dich brach und gab wie auch sich, als er das Opfer seiner Liebe und Erkenntnis feierte. Du bist das Sinnbild der Erhaltung, der Wandlung und Wiedergeburt, Abschied und Auferstehung.

»Warum siehst du das Brot an?« fragte Asjas Stimme plötzlich in mein verlorenes Sinnen, »bist du hungrig?«

»Ich habe ewig, ewig Hunger!«

Sie richtete sich auf, kam mir nah mit dem durchscheinenden Licht ihrer unstillbaren Augen. Dann senkte sie mit einem unaussprechlichen Lächeln ihre Stirn auf meine Hand:

»Ach, Bruder ...«

 

Aber die schwermütigen Bewegungen, in die mein Geist geriet, und die Beunruhigungen, die mit meiner Liebe zu Asja über mich kamen, zerstörten mir die letzte Eintracht, in der ich mich zu den Dingen meines Lebens geglaubt hatte, und so gering meine Zufriedenheit gewesen sein mochte, nun erst spürte ich, daß ich aufgescheucht worden war. Wie handle ich nun töricht, dachte ich oft, daß ich mich auf einen fremden Weg locken lasse? Stehe ich denn im Zeichen des Abschieds oder im Zeichen des Beginns? Aber dann war mir, als begänne mit allem bewußten Leben in uns Menschen der Abschied und als erwachten wir nur zur Erde, um Abschied von ihr zu nehmen. War denn, gemessen am Gang der Tage und Jahre, das Stündlein Zeit, das ich vielleicht länger verweilte als diese zum Abschied so froh Gerüstete, gar so groß und gewichtig, und flogen die Stunden nicht eilig und unaufhaltsam dahin, von Hoffnung zu Hoffnung getrieben, und rissen mich mit auf einem fremden Weg, der nicht der meine war? Und so beschäftigte mich der Sinn dieses eigenen Wegs, den ich suchte, und ich sagte es Asja:

»Ich finde den Weg nicht!«

Sie sah mich an. Es war Abend, auf dem Tisch brannte eine Kerze, von draußen hörte man den schon winterlichen Wind, und Asjas Bett war ein wenig vom Fenster abgerückt worden, das von unten her zum Teil verhängt worden war, so daß es kleiner und höher erschien.

»Den Weg?« fragte sie langsam, »du suchst etwas vor dir und um dich her, was du selbst sein solltest. Wenn nicht du selbst der Weg bist, so findest du keinen, bist du es aber, so suchst du nicht mehr. Der Weg für was oder für wen, fragst du mich? Ich will es sagen: der Weg der Liebe. Mehr kann niemand finden und sein, und alles andere Suchen verlohnt sich keiner Lebensmühe, es macht arm und führt mehr und mehr zur Verlassenheit.

Bedenke doch recht, wie viele Wege du gefunden, verworfen und längst vergessen hast. Aus ältester Zeit her klingt das Wort: der Weg. Keiner der Vollendeten suchte oder nannte den Weg; forsche nach, sie alle riefen: Ich bin der Weg! Begreife nun, welche Gewißheit diese Worte bergen, die Flut der Liebeskraft zog durch sie in den großen, lebendigen Strom der Liebe zurück, den wir Gott nennen. So nur ist er. Glaube mir, die Liebe ist nicht ohne deine Liebeskraft, erst du und alle sind sie. Sprach nicht auch Christus: Ich bin der Weg? Die Menschen verstehen dies Wort, als hieße es: Ich bin der Weg für euch. Nicht so ist Wahrheit darin, sondern es bedeutet, daß er selbst der Weg der Liebe ist, die durch ihn hindurch ohne Hemmung in die Welt scheint. Und fährt er nicht fort, in der Zuversicht jener Allmacht, die ihn mit diesem Gehorsam durchdrang: Ich bin die Wahrheit und das Leben? Seine Worte bedeuten: Ich habe der Liebe kein Hindernis bereitet, sie strömt durch mich, ihren Weg, so rein in die Welt, daß ihr Wesen offenbar wird wie Gottes Wesen. So nur vermochte er frohen Sinns zu rufen: Wer mich sieht, der sieht Gott, der sieht die Liebe. Meinst du, dies sei sein Vorrecht gewesen? Es ist das deine. So suche nun keinen Weg mehr, die Erde hat keine Wege, die zur Ruhe führen, aber du bist der irdische Weg Gottes, seine Offenbarung und Auferstehung, sein Leben ...

Oft liege ich still, im Tageslicht oder in der Dunkelheit der dahinziehenden Nacht, und Gedanken kommen zu mir wie Lichtvögel, farbige Bilder voll Helligkeit und Gewißheiten, die mich so erfreuen, daß ich schluchze. Ich liege in ihrem Glanz wie der Tauschnee in der Sonne, fühle mich dahinschwinden, aufsteigen und schweben, in unfaßlicher Gestalt. So dankbar ist das Herz in solchen Stunden, und die Zeit ist nicht mehr. Dann weiß ich, daß ich nicht sterbe und nicht den Tod sehe, sondern daß ich mich verwandle, bevor ich den Tod schmecke. Das ist kein Traum und seliger Rausch, du Lieber, nicht Schwäche noch rasche Glaubenswilligkeit, es ist Zuversicht.«

Ihre Worte waren in ein Flüstern übergegangen, und ihre Augen waren geschlossen, als schliefe sie. Im Schein der Kerze sah ihr Angesicht wie Stein aus, alt und jung, zeitlos wie eine Landschaft aus weiter Ferne und so rein wie Schnee. Ich sah das stille Gebilde aus Fleisch und Blut an und begriff zum erstenmal im Leben die Hoheit eines Menschenangesichts, dies Alles und dies Letzte der Natur, die Quelle und die Mündung ihrer Fülle, das Sinnbild ihres Triumphs. Vom Keim auf den Wiesen bis zum Glanz dieser Stirn, welch ein unnennbarer Weg! Und der Weg ward mir im zweifachen Sinn deutlich, und zum erstenmal war mir, als formte sich in meiner Seele ein Gebet, nicht in Gedanken und in Worten, sondern im Geist und in der Wahrheit.

Oft, wenn die Kerze niedergebrannt war und die Mutter längst in ihrer Kammer schlief, wenn die Nacht zu uns kam und ich im Dunkel nichts mehr erkannte, war mir, als sähe ich Asja deutlicher als jemals am Tage. Zuweilen lag ihre Hand in meiner, und wir schliefen beide, sie auf ihrem Lager, ich in meinem Korbsessel, der bei jeder Bewegung knisterte. Brannte im Herd noch das Feuer, so umflatterte uns der Widerschein von den Wänden, zeigte uns einander und verbarg uns, aber unserer Nähe taten Licht oder Finsternis nicht Schaden an, sie war im Schlaf und Wachen der Zustand unsres Daseins.

Es kamen über solcher Erfahrung merkwürdige Gedanken, wunderartig und flüchtig, voll Trost.

So erstand uns in den armen vier Wänden dieses kleinen Raums eine Welt, die keiner andern Welt zu vergleichen war, die uns von Himmel und Erde abschloß, aber die ihren eigenen Himmel und ihre eigene Erde hatte. Unsere Gemeinschaft wuchs so selbstverständlich heran, wie das Tageslicht anbricht, sie war von großer Herbheit und so ernst, wie nur die Jugend zu sein vermag.

Wenn ich nachts, am Abend oder am Tag diese Welt verließ, so kam ich mir verirrt vor und wie ein verstoßener Fremdling, aber so zuversichtlich und geborgen zugleich, wie ich es im Leben nicht wieder empfunden habe. Ich wußte das große Geheimnis, daß die Welt nicht an den Erscheinungsformen, die unsere Sinne wahrnehmen, ermeßbar ist, sie wurde mir frühzeitig zu einem Gleichnis, und ich fühlte, was uns allein heiter und wahrhaft gerecht macht.

Wenn ich mich aber fragte: Was bin und was habe ich denn?, so wußte ich nur zu sagen, ich liebe aus tiefster Seele und habe Gemeinschaft. Und darüber begriff ich, daß dies alles sei. So sagte ich denn zu meinem Herzen für immer: Was dich die Liebe nicht lehrt, das sollst du nicht wissen.

Aber es kamen Stunden, in denen mich der glühende Wunsch ergriff, Herz und Mund zu öffnen, um alle an dem teilnehmen zu lassen, was mich erfüllte. Mir erschien es, als brenne und verlösche ein Licht im Verborgenen und ich müsse aufstehen und seinen Schein verkünden. Ich sprach darüber einmal mit Asja, voll Ergriffenheit und betört von Eifer. Sie sah mich an, als verstünde sie mich nicht, endlich erfaßte sie, was ich meinte, und sagte:

»Hast du etwas zu sagen, das schön und wahr ist, so ereifere dich nicht, sage einfach und geduldig, was dich bewegt, und bemühe dich nicht, der Wahrheit Flügel zu verschaffen, damit sie zu den Menschen dringt; das ist die Besorgnis des Zweiflers. Was dagegen Wahrheit ist, ist es nur deshalb, weil es längst Teil und Gut aller Wahrhaftigen und Erkennenden ist. So sprich nur, als sprächest du zu Brüdern. Alles andere ist Torheit.

Frage nicht danach, ob die Menschen dich verstehen, darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß du sie verstehst. Wappne dein Herz nicht, gib es ruhig dahin, sein Heldentum ist ohne Waffen. Aus Quellen wird der große Strom, das Meer, das Reich. Nur wer auf solche Art sein Herz preisgibt, weiß, was er tut, wenn er spricht: Dein Reich komme.

Oft will es mir erscheinen, als seien die wahrhaftigen Menschen unsrer Zeit in der Gemeinschaft ihrer Geistesentwicklung heute noch nicht weiter gekommen als bis zu dieser Bitte. Das Vaterunser mißt die ganze Geschichte des Reichs aus, zugleich den einfachen Tag des Lebens. Es betrifft zugleich die Stunde der Gegenwart, das Wesen der Welt und dein Wesen von der Geburt bis zum Tode. Es ist prophetisch wie sonst kein Wort und einfältig wahr wie alles Prophetische. So ist es zugleich von Anfang bis zu Ende auf diesen Tag zutreffend, wie es ein Sinnbild der Bahnen aller Geisteskulturen ist und endlich der Menschheitsgeschichte selbst. Liegt nicht das ›Geheiligt werde dein Name‹ in Opfern, Weihrauch und Domen hinter uns, so sichtbar, als stünde es mit großen Zeichen über der Vergangenheit? Es wird eine Zeit nach uns kommen, die wird im Zeichen des dritten Worts stehn, das lautet: ›Dein Wille geschehe.‹ Wie weit, weit liegt noch die Zeit, in der den Menschen das tägliche Brot die einzige Bitte wird, so sie keines anderen irdischen Guts mehr bedürfen, wie nah werden sie der Liebe sein! Welch eine Zeit aber wird endlich anbrechen, die mit Zuversicht ausruft: Nun ist dein das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit.«

»Es ist wahr, tausend Jahre sind wie ein Tag. Nicht an Zeit, sondern im Wesen, das ist das Geheimnis.«

 

Es war sonderbar genug, wie Asjas Leben langsam in mir ein eigenes Leben begann, als hätte ihr Geist in meinem Einkehr gehalten in einer mystischen Hochzeit. Ihre Worte, schwer und einfach, sanken in mein Gemüt, keimten und blühten.

So kam es, daß ich Asja seltener fragte und mir an ihrem Dasein genug sein ließ, vielleicht kam es auch deshalb, weil sie einmal eine Frage mit Zorn von sich gewiesen hatte, ich vergesse ihr Wort nicht, es ist wahr gewesen:

»Meinst du, es läge mir daran, dich zu überzeugen, oder ich gäbe dir Ratschläge? Ich spreche, wie ein Baum blüht, aber nicht, damit jemand Nutzen davon habe.

Die Menschen haben die Folge der Liebe zu ihrem Zweck gemacht und haben die Liebe dadurch entheiligt. Sie glauben, durch die Liebe die Welt zu bessern, und empfehlen sie den Ungläubigen und Lieblosen. Sie raten den Menschen, ihre Seele zu erhalten, und nennen sich die Priester dessen, der gesagt hat: Wer da sucht seine Seele zu erhalten, der wird sie verlieren.

Weißt du, was das heißt? Es ist der gleiche Geist, aus dem du zweifelst. Wer seine Seele zu erhalten sucht, hat nichts gemein mit der Liebe ...«

Sie schwieg und sah mich ratlos und erschrocken an. Und langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen, mir war, als erblickten diese Augen nichts mehr um sich her. Sie saß still und aufrecht in ihrem Bett und weinte, wie ohne Grund und Anlaß, ein verlorenes Kind in der traurigen Welt, deren Wege voll Steine sind.

Es mag Menschen geben, dachte ich, die eines Tages in Tränen ausbrechen, weil es ihnen an Kraft gefehlt hat, sich zu erweisen. Aber du, Asja, weinst nicht deshalb, denn du weißt nichts von diesem Wunsch, du weißt nicht einmal deinen Wert. Du bist geistig arm. Du bist wie der Klang einer Glocke oder wie der Morgenschein auf den Bergen. Wir sind geistig reich, wir wissen von Glocken aus Erz und von Bergen aus Gestein, aber das Reich ist nicht unser.

Darüber wurde mir in meinen Gedanken an Asja und ihre Art, das Menschenwesen und die Welt zu schauen, mehr und mehr deutlich, daß jenes geheimnisvolle Wort der Evangelien, das von den Berufenen und Erwählten handelt, wie ein aufklärender Stern der Einsicht über ihren Betrachtungen und Einschätzungen stand. Meine Jugend und ihr Innenleben waren zu tief von jenem tätigen Mitleidsgedanken der Nächstenliebe durchtränkt, der alle Wohlgesinnten leitet, die unsere Kindheit bewacht haben, als daß Asjas einsame Haltung mir nicht zuweilen wie voll unerhörten, kindlichen Hochmuts erschienen wäre. Mir war, als läge viel Unbarmherzigkeit, ja Grausamkeit in solcher unerprobten Gewißheit. Wo blieb bei solchem Glauben, solcher Heilsgewißheit die unübersehbare Schar derer, die nach jenem Worte nicht erwählt waren? Mein Sinn empörte sich oft bis zum Haß, wenn ich lange allein war, aber ich schwieg beharrlich im selbstsüchtigen Genuß einer vermeintlichen heimlichen Überlegenheit. Du liegst auf deinem weißen, stillen Ehrenlager des hochherzigen Abschieds, dachte ich, was bekümmert dich das große, allmächtige Leben, der heiße Strom, der unter dem Lichthorst deiner traumhaften Wolkenburg des Glaubens dahinflutet? Du hörst das Geschrei der Gebärenden sowenig wie das Seufzen der Sterbenden, das gepeitschte Glutmeer des Kampfs der Geschlechter ist dir wie das seelenlose Brausen des Meers, und wer ist dein Nächster, den du lieben sollst wie dich selbst?

Du! antwortete Asjas Stimme in meiner Brust. Dein Nächster ist nicht der, welcher dir örtlich am nächsten steht, sondern der, dessen Wesen deinem Wesen am nächsten ist. Ihn wirst du lieben wie dich selbst, das ist kein Befehl, sondern eine glückhafte Notwendigkeit. Nur in der Liebe gibt es einen Nächsten, nicht in der Leidenschaft. Welch ein Widerspruch entstünde zu der wahrsagerischen Verkündigung, daß der Erwählte Vater und Mutter verlassen würde, wenn sein Nächster der Mensch seiner örtlichen Nähe wäre? Denn wer steht dem Menschen näher als sein Vater und seine Mutter? Du wirst sie verlassen, wenn sie nicht im Geist deine Nächsten sind, um deinen Nächsten zu suchen.

Und mit Erschauern erhoben meine Gedanken sich vor den besonnten Schneewipfeln der Geistesreinheit und Liebeshoheit, die einst mit Schmerzen und Jubel, die kein Sinn ermißt, eine Liebesforderung sondergleichen, aus blendend erhelltem Herzen strahlten. Die Marterblume eines schweren Lächelns blühte mir aus den Wolkenzügen des Abendhimmels meines unruhigen Tags und meiner Zeit entgegen, ich ging ziellos und allein weit vor die Stadt hinaus, und ich verstand Asjas Wort des Willkommens, als ich einst zum erstenmal an ihr Lager trat: »Wir haben alle nur einen Menschen, zu dem wir du sagen«, und ihr einfaches Versprechen, bei mir zu bleiben. Es verwandelt sich mir langsam in die Verheißung: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Als ich in der Abenddämmerung heimschritt, begegnete mir auf einem verlassenen Feldweg, der auf öde Bauplätze und so auf die Vorstadt zurückführte, ein Mann, der etwa zehn Schritte vor mir mitten auf dem Weg stehenblieb und mich zu erwarten schien. Als ich ihn erreicht hatte, bemerkte ich seine Absicht, mich anzusprechen, hielt im Schreiten inne und sah ihn an. Er fragte mich auf eine Art nach dem Weg, der ich anmerkte, daß er keine Auskunft erwartete, sondern etwas anderes. Es war schon zu dunkel, als daß der Anstand von Wesen oder Kleidung für uns beide deutlich festzustellen gewesen wäre, bevor wir uns einander nicht ganz genährt hatten, und ich empfand nun, daß ich enttäuschte, und mir schien, als gäbe mein Gegenüber in etlicher Befangenheit seine Hoffnung preis, mehr bei mir zu finden, als er selbst besaß. So wurde seine Bitte, die er dennoch vorbrachte, auf eine vertraulichere Stufe kameradschaftlicher Mitteilung gehoben:

»Hast du Geld?«

Ich durchsuchte meine Taschen in großer Verlegenheit, und um sie zu verbergen, sprach ich von Dingen, die nichts mit meinem Betreiben zu tun hatten. Er betrachtete mich verdrossen und abwartend. Als ich endlich ein paar Münzen fand und sie hinreichte, trat er zurück und winkte mir ab.

»Hast du mehr?« fragte er.

»Nein«, sagte ich.

»Ist das alles?« wiederholte er seine Frage.

»Ja«

»Behalt's«, sagte er und schritt ohne Gruß davon.

Ich wandte mich langsam, um auch meinerseits meinen Weg fortzusetzen, aber als ich die paar Münzen wieder in meinem Rock bergen wollte, hatte ich nicht die Kraft dazu; ich wußte nicht, wem sie gehörten.

Als ich die Stadt wieder erreicht hatte, umschlich ich das Haus, in dem Asja wohnte, und sah, daß Licht in ihrem Zimmer brannte, es war gegen zehn Uhr abends. Ich konnte ihr Fenster, das auf einen Hof hinausführte, durch den Mauerspalt zweier Häuser von der Straße aus sehen. Der Schuster Stevenhagen, der neben dem Eingang im Hinterhaus seine Wohnung hatte, öffnete mir auf mein Pochen wie schon oft und ließ mich ein.

»Wie geht es Asja?« fragte er, ohne über mein spätes Eindringen ein Wort zu verlieren.

Ich mußte mich besinnen und erschrak fast darüber, wie ungewiß meine Vorstellungen von ihrem körperlichen Zustand waren.

»Wir werden sie bald verlieren«, fuhr er auf meine unsichere Auskunft hin fort. »Ihre Mutter war heute bei mir.« Er sah mich an, als erwarte er von mir irgendein ungewöhnliches Wort der Erklärung, eine rasche und zuversichtliche Mitteilung, die seine Befürchtung zunichte machte, als müsse irgendein Wunder geschehen, von dessen Art und Wirkung niemand einen Begriff hatte. Ich war mutlos und schwieg, alles, was mich auf meinem Wege beruhigt und erhoben hatte, verflog.

»Vielleicht bringt die Zeit Besserung, weil jetzt der Frühling kommt«, fügte der Alte hinzu, als sei es nun an ihm, ein Wort der Beruhigung zu sagen, da von mir keines gefallen war. Er nickte mir zum Abschied zu und ließ mich auf dem dunklen Gang allein. Ich lehnte mich an die Wand und dachte: Es wird Frühling. Unter Asjas Tür glomm eine schmale rötliche Lichtlinie, es war totenstill im Haus. Es wird Frühling, dachte ich, von den Bergen fallen warme Winde ins Land, über die Wiesen. Die Wipfel der Buchen färben sich rötlich, und die Bäche rauschen trüb und eilig zwischen ihren Ufern dahin, an denen Anemonen und Primeln keimen. Die Nächte sind voll warmer, glücklicher Unruhe. In der ländlichen Abgeschiedenheit krähten die Hähne von Hof zu Hof, da nun die Sonne schon eher aufgeht über den Feldern mit grünem Winterkorn. An besonnten Hängen erklingt über den stäubenden gelben Weideblüten das erste Bienensummen, und hier und da, in der kaum begrünten Landschaft, zwischen den braunen Winterfarben der Büsche und Wege, taucht in der glitzernden Märzsonne ein erstes helles Kleid auf zwischen den Hecken.

Aber Frühling, mein Bruder, was tue ich in deiner Gemeinschaft, wenn Asja begraben liegt? Ich fürchtete mich vor dem Eintritt in den grauen Raum der Entbehrung, des Verzichts und des Abschieds, der plötzlich zu einem Sterbezimmer geworden war wie einst das erstemal, als ich ihn vor Monaten betreten hatte. Ich versuchte, mir gewaltsam jene Güter als meinen und Asjas Besitz ins Gedächtnis zurückzurufen, die in hohen Stunden unser Teil gewesen waren, aber es wollte mir nicht gelingen, die Finsternis erwürgte mich.

Wie eine unüberschreitbare Feuergrenze zwischen Leben und Tod brannte am Boden die Lichtlinie der Tür, und ich vergaß, wo ich mich befand, und erschauerte wie in einem finstern Kerker. Ich entsinne mich meines Entschlusses nicht mehr, die Tür zu öffnen, wohl aber erblickte ich gleich darauf Asjas emporgerichtetes Gesicht und Licht der nahen Kerze, die es beschien, als wäre es allein in der Welt, und ich taumelte vor Ergriffenheit, wie über alles Vergleichen und Ermessen schön dies Angesicht war. Es sah aus der Nacht des Haars auf mich hin, ruhig und klar, das Lichtgebilde einer vor seligem Triumph trunkenen Weltenvernunft, ausstrahlend vor Lebendigkeit, still, ein Bild der Heimat. Und der Frühling, mein Bruder, den ich fern vermutet und weit von dieser Stätte verbannt hatte, kam mir aus der warmen Nacht der großen Augen entgegen, die Lerchenlieder über den Feldern, feuchter Wind und der süße Duft aus Schollen und Keimen, aus dem das lichte Blütenkleid sich bildet. Aber die Hoffnung, sein unruhiges Wesen, war hier in eine lautlose, mächtige Zuversicht verwandelt. Da wußte ich, daß ich es war, der zurück mußte, daß aber Asja in Frieden blieb.

»Hilf mir«, sagte ich, »wer hat dich erwählt? Ich kann mich nicht von dir trennen und weiß doch, daß es meine Armut und Schwäche sind, die mich von dir scheiden werden.«

Wie immer, erkannte Asja unmittelbar den inneren Zustand, in dem ich mich befand, sie war weder zu täuschen, noch irrte sie sich, und die göttlich-dämonische Macht ihrer Einsicht bestand darin, daß sie niemals bei ihren Schlüssen aus meinem Ungemach, oder bei dessen Benennung von etwas anderem ausging als von dem unerschütterlichen Glauben an eines Menschen Wert, Güte und Lebensrecht. Es ist unausdenkbar, daß jemals ein Mensch, selbst der schlechteste, solchem Glauben an seinen Wert etwas Geringeres hätte entgegensetzen können als ein erschrockenes Glück. Wer hoffte nicht darauf, er möchte einer Erlösung wert sein, wenn er leidet? Wer aber vermag einer Seele diese Ahnung ihrer Befreiung eher zu bringen als der, welcher ihr altes Kinderrecht der Zugehörigkeit zur Liebe glaubt? Die Macht eines solchen Glaubens, wenn er wahrhaftig ist, vermag Berge von Schmach und Finsternis, von Selbsterniedrigung und Verarmung zu versetzen, und auf den befreiten Boden bricht wieder das Himmelslicht, keimt das Leben. Die Macht eines solchen Glaubens, groß genug, vermag Wüsten der Herzen in fruchtbares Land zu verwandeln, vom trocknen Firmament brechen die feuchten Schauer, und der Sand begrünt sich.

»Was quält dich?« fragte Asja mich. Oh, über diesen unvergeßbaren Ernst ihrer Fragen, ich habe ihn niemals im Leben wiedergefunden. Warum lächeln diejenigen, welche sich für stärker oder erfahrener halten, und wieviel ist eine Gabe unter solchem Lächeln noch wert? Ihr rechnet alle auf freundliche Nachsicht, weil ihr nun die Hälfte gebt und weil ihr die Wahrhaftigkeit eines Anspruchs zu glauben verlernt habt. Euer Lächeln dieser Art ist der Erweis, daß ihr weder an eine echte Zugehörigkeit noch an Gemeinschaft glaubt, ja kaum an Verständnis, nur an gegenseitige Nachsicht und an ein ausgleichendes Mitleid der Hilflosigkeit. Als sei eines Menschen inneres Erleiden nicht erlaubt und als sei ihm durch Herablassung am sichersten beizukommen. An diesem Lächeln gleitet ihr aneinander vorüber und gebt eure herrliche Liebe in der armen kleinen Münze der Freundlichkeit aus, die jeder selber hat.

Asjas Augen öffneten mein Herz unter ihrer Frage bis auf den Grund, und ich sagte einfach, als wüßte sie schon alles:

»Das Wort von den Berufenen und Erwählten quält mich wieder und wieder. Du hast einmal davon gesprochen, daß das Wesen und Schicksal des Menschen mit diesem Gesetz offenbar würde und daß seine furchtbare Wahrheit der Anfang der Ordnung zu aller Einsicht sei. Du hast gesagt, dies Wort vor allen andern bezeichnete die Erkenntnis und Lehre Christi, aber mich läßt die Frage nicht ruhen, was mit allen jenen geschehen soll, die weder berufen noch erwählt sind. Sind es nicht Menschen wie wir, und sind nicht wir wie alle? Dieses Wort aber schließt aus und sondert, entscheidet und verwirft. Ist das das Wesen der Liebe?«

»Ja«, antwortete Asja, »ich habe es gesagt.«

Ich wartete und hoffte darauf, daß die Sicherheit ihrer Antwort mir die innere Haltung schenkte, selbst zu sehen, was ihre Augen schauten, aber es blieb alles ungewiß in mir, und die Wege meiner Gedanken verirrten sich im Dunkeln.

»Sag mir das Licht, in dem die Unerwählten stehen, und ich will schweigen und warten«, sagte ich.

»Sie stehen im Licht der Erwählten«, antwortete Asja. »Die Liebe scheidet und läßt sich nicht vermischen, das ist ihre Kraft und Herrlichkeit. Satan mischt und legt die Namen der Liebe an die laue und falsche Gestalt. Wer sind die Erwählten, daß du von ihnen sprichst, als seien sie im Sinn der Welt bevorteilt? Erwählt sein heißt von der Liebe erwählt sein, zum Weg ihres Lichts. Glaubst du, solch heilige Gunst raffte den Wert an sich, um ihn für sich zu besitzen, gesättigt, zufrieden, selbstsüchtig? Sie strahlt ihn aus! Und je reiner ein Herz dies Licht ausstrahlt, um so eher ist es erwählt. Wer hat das große Wort auf Gunst und Wohlstand des zeitlichen Lebens ausgelegt? Wer hat es unter den Schein von kleiner Tugend und armseligen Lohn gestellt und in einen Rangstreit des Vorteils gezogen? Ich bin betrübt. Wieviel Angst muß in der Welt sein! Was von der Erlösung galt, das haben die Menschen in den Widerstreit von Vorteil und Besitz getragen. Ich habe Angst vor der Macht des Satans!«

»Wer ist Satan?«

»Steht er neben dir, daß du so fragst? Satans Reich ist überall, wo Gottes Reich nicht ist. Wenn du zum Bild der Liebe das Bild Gottes setzt, so setze für das Bild der Nichtliebe das Bild Satans. Sagt nicht der Böse von ihm! Er möchte euch im Bild dessen überlisten, was ihr das Gute nennt.«

Ich raffte mich zu einer raschen Frage auf, aber sie sah mich drohend an und rief laut:

»Schweig!«

Und wieder, wie einst, als eine harte Absage mich betroffen hatte, neigte sie sich über meine Hand und drückte ihre Lippen darauf. Erst nach einer Weile hob sie die Stirn und sagte fröhlich:

»Ich kenne ein altes Lied, willst du es hören? Es lautet so:

Ich möchte dich beglücken
und kann nicht dunkel sein.
So tritt mit deinem Zweifel
in meiner Liebe Schein.

Mich quält nur eine Frage:
Hast du mich heb, sag an?!
So bleib in diesem Lichte,
das ich nicht trüben kann.

Frag nicht, weshalb ich frage.
Aus Zweifel frag' ich nicht.
Es gibt nur eine Klage
der Liebe, die um Licht.

Es wurde nun Frühling, er wehte auch in die Mauern der Stadt und verkündete seine Gegenwart überall.

Als ich nach einem unruhigen Tag, der mich zerstreut und gequält hatte, am Abend zu Ajsa kam, saß sie ruhig in ihrem Bett und richtete ihre Blicke auf mich, als sei sie um mich in Sorge. Ich empfand die Aussage ihrer Züge so deutlich,. als sagte sie zu mir: Leb nun wohl.

Ihre Mutter war noch eine Weile bei uns, und ich sprach über dieses und jenes mit ihr. Sie hatte am Tage eine Besprechung mit dem Arzt gehabt, und wenn sie auch nicht ahnte, wie nahe der Tod ihrer Tochter bevorstand, so war sie doch voll jener Ängste, die Herzen durchmachen, die sich bereitwillig täuschen lassen, wo sie hoffen.

Asja ordnete Feldblumen in ein kleines Gefäß und lächelte zuweilen flüchtig zu uns beiden herüber. Ihre Gedanken schienen auf den Wiesen zu sein, auf denen die Blumen gewachsen waren, die ihre Hände bewegten.

Einmal sagte sie leise zu mir, in ein Gespräch hinein, das ich mit ihrer Mutter führte: »Geh nicht fort.«

Kurz darauf schlief sie ein, ich sah es daran, daß die Blumen zur Erde niederfielen. Ihre Mutter ging zur Ruhe in ihre Kammer und bat mich, sie zu wecken, wenn es schlechter ergehen sollte, aber sie glaube es nicht, da die Kranke doch nun ruhig schlafe. Sie sah noch einen Augenblick in das Gesicht Asjas. Auch legte sie noch eine Kerze neben den Leuchter und ließ mich nicht ohne einen Händedruck in meinem Korbstuhl allein.

Asja hatte mich noch niemals gebeten, zu bleiben, zu gehen oder zu kommen. Ich weiß, daß ich ein tiefes, merkwürdiges Gefühl einer fast lieblosen Furcht hatte, wie sie mich fast immer befallen hat, bevor es galt, sich zu erweisen.

Ich schlief ein und träumte, daß ich von der Straße aus einen großen dunklen Garten sah, in dessen Tiefe ein verschwiegenes Haus stand. Vor den Fenstern erhoben sich schwarze, mächtige Stämme wie Säulen, und die hohen Kronen der Bäume legten die Mauern in geheimnisvolle Schatten. Aber hoch über dieser Ruhe mußte es stürmen, denn trotz der toten Versunkenheit dieses Bildes sah ich die Äste der Bäume sich in den Scheiben bewegen wie Fahnen, schwarzgrün in den dunklen Spiegeln. Es quälte mich zu erfahren, wer dies Haus bewohnte, und ich wurde mir dessen schmerzhaft bewußt, wie zerklüftet, wirr und staubig die Heimat der Straße war und wie friedlos die Freiheit der Suchenden. Wir haben unrecht, dachte ich, darum ist es so schwer. Unsere Liebe ist der Feind der Welt, und wir bringen Unfrieden in die Seelen und Gärten.

Da hörte ich eine klagende Stimme:

»O ewige Liebe, erbarm dich meiner!«

Das war Asjas Stimme.

Ich richtete mich in großem Erschrecken auf und streckte ihr meine Arme entgegen, aber sie sanken mir nieder, denn Asja sah mich nicht. Sie kniete in ihrem Bett, und ihre großen Augen waren weit geöffnet und in eine Ferne gerichtet, die sie entführte.

Da sagte sie mit zitternder und schwacher Stimme, mit einem tiefen Seufzer:

»Bist du nicht mehr bei mir? Ach, hilf mir! Wer kann mir helfen?«

Sie barg ihr Gesicht in den Händen und sank vor Schwäche nieder, ohne noch darauf achten zu können, wie sie lag, als sei sie tödlich verwundet.

»Bruder, ach Bruder«, klang ihre Klage.

Sie sah mich nicht und warf die Stirn weit zurück.

Es sprach in mir: Du sollst nun allein sein, Asja, liebe Schwester, wie einst ich, wie alle, die in Wahrheit Abschied von der Erde nehmen und die den Abschied von ganzem Herzen gewollt haben.

Langsam glättete sich nun der Leidenskrampf in Asjas Zügen, derweil der Morgen am Fenster herandämmerte und die Stube spärlich aufhellte. Der Körper wurde schwerer in meinen Armen, sie öffnete mit wehem Atmen den Mund, als tränke sie einen Trank der Linderung. Ein leiser Hauch streifte meine Stirn, er erklang und rief mich: »Mein Bruder.« Darauf sank ihr Gesicht zur Seite, die Augen schlossen sich, und sie verschied.

Der Kirchhof war ein weiter, großer Garten, in dem zu Anfang, dort, wo das eiserne Tor hineinführte, die Tannen hoch und dicht standen wie in einem Wald, kaum daß man alte Grabtafeln im Schatten noch entdeckte, nur zuweilen erhoben sich aus kleinen Efeubergen bemooste Steinkreuze unter ihnen. Als die Bäume niedriger und die Wege zur Rechten und Linken schmäler wurden, erblickte ich Rosen und Jasminbüsche, die in Blüte standen, Flieder und Weißdorn, oft in wilden farbigen Dickichten, von denen ein berauschender Duft aufstieg. Da ein Frühlingsregen niederfiel, glänzten die Blätter und Blüten vor Nässe, und aus ihrer Frische erklangen die Stimmen der Singvögel.

Langsam wurden nun auch die Bäumchen und Büsche immer spärlicher, der Garten lichtete sich zusehends, und die Grabsteine und Kreuze umher hatten helle Farben, standen, obgleich in graden Reihen, doch wirr und bunt da, und wäre der Gesang der Vögel nicht über sie dahingeklungen, durch die Frühlingsluft, hätte ihr Anblick mich verletzt. So aber standen sie geweiht unter dem warmen, trüben Himmel, der am Horizont einen rötlichen Lichtstrich zeigte, obgleich es noch nicht spät am Tage war, es mochte gegen fünf Uhr nachmittags sein.

Ich schritt neben der Mutter hinter dem Wagen her, der Schuster Stevenhagen schien ein wenig Mühe zu haben, uns zu folgen, obgleich der kleine Zug sich langsam dahinbewegte. Der alte Handwerker sah sonderbar in seinem sonntäglichen Aufzug aus, aber ich beneidete ihn doch, denn mein eigenes Gewand war weder feierlich noch auch nur ansehnlich. Ich hatte meinen Stock mit mir und nur ein Tuch um den Hals geschlungen, meine Habseligkeiten führte ich bei mir, in einem Bündel, denn ich wollte von diesem Grab aus nicht mehr in die Stadt zurückkehren, sondern hinausgehen, dem Sommer entgegen.

Es begleiteten uns noch einige Leute, die mir fremd waren, es mochten Bewohner des Hauses sein, in dem Asja gestorben war, arme, fremde Gestalten wie wir, die niemand kannte. Neben dem Wagen her schritt ein junger Pfarrer, dessen Gestalt und Bewegungen, in seiner Amtstracht, mich beschäftigten. Da der Weg schmaler wurde, blieb er stehen, ließ den Wagen an sich vorüber und trat an meine Seite.

»Wir sind gleich am Grab«, sagte er zu mir, »haben Sie die Tote gekannt?«

»Ja.«

»So können Sie mir vielleicht irgend etwas sagen, das Beziehung zu ihrem verflossenen Leben hat und was ich in meinen Worten am Grab zum Trost der Mutter anführen könnte.«

Der junge Geistliche machte mich sonderbar befangen; ich werde freundlich und höflich antworten, dachte ich, aber mir kam nichts in den Sinn, das mir, in Worte gefaßt, nicht sinnlos erschienen wäre. So schwieg ich unbeholfen und fühlte den Blick des Mannes forschend auf mir ruhen.

»Es ist gut«, sagte er endlich nachsichtig, und wie um auszugleichen, daß ich nicht vor ihm bestanden hatte, fügte er hinzu:

»So will ich denn das Wort aus Johannes über dieser Toten sagen: Ihr habt nicht mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.«

Ich erbebte und legte meine Hand auf den Sarg. »Asja«, sagte ich.

»Warum lächeln Sie?« sagte der Geistliche betroffen.

Ich schaute zu ihm auf, ohne auf ihn zu achten.

»Ja, ja ...« sagte er in meinen Blick hinein, »ja ...«

Er sah mich fortgesetzt verwundert an, der Wagen hielt, der Sarg wurde herausgehoben und ein paar Schritt weit vor ein offenes Grab getragen. Aber man hatte sich geirrt, hob ihn erneut auf und trug ihn ein Stückchen weiter, es war eine Reihe offener Gräber, vor denen wir uns befanden.

In einer Birke, die schon auf freiem Feld stand, sang ein Vogel. Ich lauschte und wartete, denn ich kannte ihn nicht, er sang überhell und in klaren, gejubelten Tönen, ähnlich wie das Rotkehlchen, aber sein Gefieder war hellbraun und er war kleiner. Ein sanfter Wind strich über das Feld hin und berührte uns. Zur Seite lag nun der große alte Friedhof, dessen Bepflanzungen aus Grabhügeln, Kreuzen und Buschwerk langsam zum hohen Wald anwuchsen. Ein paar dunkle Gestalten bewegten sich in naher Ferne zwischen neueren Gräbern, sie blieben stehen, als die Stimme des Pfarrers durch die stille Luft scholl, und sahen zu uns herüber.

Die Worte des Sprechenden brachten mich auf, mich ergriff ein mächtiger Zorn, mir kam darüber zum Bewußtsein, wie schwach und hinfällig ich geworden war, und plötzlich überkam mich ein Verlangen, mein Gesicht in einem Spiegel zu betrachten, denn ich kannte mich nicht mehr. Vielleicht war dieser Zorn auch nichts als Bewegung, die einen Ausweg suchte, da sie in meinem Schmerz, den ich nur wußte, keinen Ausweg fand. Da berührte mich der dumpfe Anschlag von Erde auf dem Holzsarg, ein jeder warf anfänglich eine Handvoll hinab. Der Geistliche führte der Mutter die Hand mit der Schaufel und umschlang sie hilfreich, denn sie wankte. Hierauf übernahmen die Totengräber die Beendigung dieser Arbeit, die wir nicht abwarteten. Langsam bewegte sich unser Häuflein wieder auf den Hauptweg zurück, der Wagen war fort, aber der Vogelgesang aus den Waldlauben erklang immer noch, und es hatte aufgehört zu regnen. Ich nahm Abschied von der Mutter, sie sah mich ängstlich an, als ob sie eine Frage stellen wollte, schwieg aber und nahm wieder den Arm des Schusters. Mir war, als sagte sie mir mit dieser Abkehr ein Wort anklagender Enttäuschung, als spräche sie: »Seht nun, es hat euch nichts genützt, ihr Kinder. Was habt ihr so viel miteinander gesprochen und wäret so ernst und tatet wichtig und feierlich und glaubtet, froh sein zu dürfen. Hättet ihr auf mich gehört, die Mutter, so ...« Aber hier brach ihre stumme Gedankenrede ab, denn dort wie hier stand für sie der Tod, und mutlos senkte sie die geröteten Augen auf den Weg.

Ich blieb zurück, fand zwischen den Tannen einen schmalen Seitenpfad, den ich einschlug, um so, von den andern getrennt, einen Ausweg aus dem Garten zu suchen. Eile hatte ich nicht, mein Weg war das ganze Leben, und ich wußte kein Ziel. Die nassen Zweige der Tannen warfen Tropfen auf mich, hier und da hoben sich graue Steinkreuze im feuchten Frühlingsschatten, sie standen in Duft und Stille feierlich in den Tannendomen und sonderbar erhaben durch die Lieder der singenden Vögel, deren Stimmen unermüdlich und überselig die Welt einhüllten wie ein klingender Schleier.

Als ich nahe am Ausgang nach einer guten Weile wieder den Hauptweg erreichte, sah ich, daß der junge Pfarrer in der Nähe der großen eisernen Pforte stand und scheinbar wartend auf mich hinschaute. Als ich ohne Gruß an ihm vorüberwollte, trat er auf mich zu.

»Da sind Sie«, sagte er freundlich, »ich möchte noch ein Wort mit Ihnen sprechen.«

Er lenkte die Schritte wieder in den Garten zurück, denn er schien den begangenen Weg und die Nähe der Menschen vermeiden zu wollen, und ich folgte ihm. Nach einer Weile begann er zögernd:

»Ich bin mir nicht darüber klar, was mich drängt, noch ein paar Worte an Sie zu richten. Sagen Sie mir, wer Sie sind und wohin Ihre Straße Sie führt.«

»Nein«, antwortete ich ohne Schroffheit, »so nicht. Was sollen solche Fragen, was kümmert es Sie, wer ich bin und wohin ich gehe? Wenn Sie etwas zu sagen haben, so reden Sie einfach und nur das, sonst lassen Sie mich gehen.«

»Sie haben recht«, sagte er schnell; und dann nach einer Pause: »Wer war diese Tote?«

»Sie weichen mir aus.«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Ja, aber Sie wollen es nicht bemerken und richten sich nicht danach.«

»Nicht doch«, bat er herzlich, »ich will offen sein. Ich habe kraft meines Amts viele Tote zur Ruhe gebracht, bekannte und unbekannte, aber niemals hat eine Grablegung mich so mächtig ergriffen, wie soll ich mich Ihnen erklären, da ich doch selbst wie in einem Bann befangen bin, den ich nicht verstehe.«

Da blieb ich stehen und blickte ihn an. Aber mein Mund blieb versiegelt. Da fuhr er befangen fort:

»Als wir vorhin miteinander neben dem Sarg dahinschritten, sagte ich Ihnen, fast wider meinen Willen, das Wort, über das ich am Grab zu sprechen vorhatte, es ist mir nicht gelungen, ich weiß, denn ich war tief erregt über Ihr sonderbares Verhalten im Augenblick vorher. Sie legten die Hand auf den Sarg, nannten den Namen der Toten und lächelten so, als sei Ihr Lächeln eine Antwort auf ein Wort, das aus diesem Sarg zu Ihnen herüberklang. Ich bitte Sie herzlich, halten Sie mich nicht für einen Schwärmer, der das Wunderliche an Stelle des Vernünftigen setzt. Dies ist es nicht, gewiß nicht, aber die Helligkeit in Ihrem Gesicht, die ich nie vergesse, brach aus dem Sarg hervor. Gott möge mir vergeben, wenn ich töricht bin ...«

Da wandte ich mich ab. Nun legst du deine Hand auf meine Augen, Asja, und hilfst mir, daß sich endlich ihr Brennen löst. – Aber meine Kraft war zu Ende.

Nach einer Weile saßen wir miteinander auf einer Bank. Mein Nachbar hatte übereifrige Worte der Entschuldigung gefunden, als sei er es gewesen, der mich bewegt hätte, aber mir schien es in der leidenden und wachen Aufmerksamkeit, die ich niemals auszuschalten vermag und die mich verzehrt, als sei er durch den Ausbruch meines Schmerzes sicherer und unbeteiligter geworden, ja, als sei er enttäuscht. Darüber fühlte ich mein Herz heilen wie unter einem mächtigen Gebot und begriff, daß wer sein Leid nur leidet, niemals Träger der Kraft sein kann, die heilt.

»Mach mich nicht schuldig«, sagte ich zu der Toten, »mach mich fröhlich!«

Vorsichtig begann mein Nachbar wieder:

»Möchte ich Ihnen doch weder voreilig noch allzu eindringlich erscheinen, wenn ich Sie bitte, mir von der Toten zu erzählen.«

»Niemals«, sagte ich.

Er sah mich erschrocken an, als sei ich wieder ein anderer geworden.

»Gut denn«, sagte er zögernd, »so sollen Sie heute schweigen, wie Sie es wollen, aber ich möchte doch, Sie verstünden mich recht. Glauben Sie an Wunder?«

»Was nennen Sie Wunder? Sie fragen wie ein Knabe. Entweder glaubt ein Mensch, oder er glaubt nicht. Glaubt er, so gibt es nichts, das für ihn unmöglich wäre, wie Menschen von möglich oder unmöglich sprechen. Glauben heißt schon, das Willkürliche und Zufällige der vergänglichen Erscheinungs- und Tatsachenwelt für nichts zu achten. Die Welt des Glaubens ist einfältig und wunderbar wie alles Glück.«

Ich stand auf und bot ihm die Hand zum Abschied.

»Bleiben Sie noch«, bat er, »Sie müssen doch fühlen, was mich bitten läßt. Was wußte diese Tote, was wissen Sie? Ich bin mir kaum über das klar, was ich hier fragen muß ...«

»So ist es, Sie wissen nicht, was Sie sagen, am wenigsten aber, was Sie hören. Jenes Wort, das Sie am Grabe gesprochen haben, ist mehr und größer, als die Geistesarbeit einer ganzen lebendigen Jugend zu ermessen vermag. Es ist das Wort gewesen, mit dem die Tote einst in mein Leben trat. Sie versprach mir, bei mir zu bleiben, auch wenn sie stürbe. Das ist das Geheimnis jener Ergriffenheit, deren Zeuge Sie gewesen sind, ich begriff über Ihrem Ausspruch den Sinn der Verheißung aufs neue, und der Mantel des Todes sank von der ruhenden Gestalt. Ich weiß, daß sie lebt, denn ihr Wesen war nichts anderes mehr als jenes Licht, das heute und morgen in die Menschenfinsternis scheint und ewig.«

Mein Nachbar schwieg wie auch ich und versank in sich. Er schien nicht zu bemerken, daß ich davonging, vielleicht auch war es ihm recht, daß ich ihn nun allein ließ auf seinem Weg zu sich selbst, jenem einzigen Weg, den wir gehen können, wenn wir wahre Gemeinschaft mit den Menschen finden sollen.


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